Ein Artikel von Bodo Hamprecht, durch den der Verfasser dieser Webseite auf ihn aufmerksam wurde, was später zu einer beruflichen Zusammenarbeit führte. Und danach Aufsätze von Karl-Heinz Kaesebier:
Eine Wissenschaft vom Geist
Bodo Hamprecht
12.10.1940 - 20.4.2005
- ein Flugblatt für die Anthroposophie und Rudolf Steiner, März 1975, mit einer autobiographischen Notiz von Rudolf Steiner -
Dr. Bodo Hamprecht. Geboren 1940 in Hannover, besuchte dort die Freie Waldorfschule, seit 1968 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und nach Studien in England, Italien und den USA ab 1970 Professur für theoretische Physik an der FU Berlin, *
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Nach einem naturwissenschaftlichen Studium in Wien, nach der Promotion mit einer philosophischen Arbeit und nach der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften verzichtete Rudolf Steiner als 39jähriger auf die Fortsetzung seiner literarischen Karriere und begann im September 1900 mit der Darstellung der Anthroposophie, zunächst im Rahmen der bestehenden theosophischen, später in der von ihm selbst begründeten anthroposophischen Gesellschaft.
Die unmittelbare Wahrnehmung der mit jedem Geschehen verbundenen Welt des Geistes stand im Mittelpunkt von Rudolf Steiners Darstellungen, mit denen er eine neue nicht-materialistische Anschauung der Welt aus seinem unmittelbaren Erleben - nicht als philosophische Spekulation - begründete.
Als dann Steiner vor fünfzig Jahren am 30. März 1925 starb, da glaubte wohl mancher Beobachter, auch die Todesstunde der Anthroposophie selbst sei gekommen. Hatte doch Rudolf Steiner allein in seinen letzten beiden Lebensjahren über 800 Vorträge gehalten (neben vielen vertiefenden Darstellungen der Anthroposophie war ein Teil dieser Vorträge der Begründung der biologisch-dynamischen Landwirtschaftsweise und der anthroposophischen Heilpädagogik gewidmet), wobei die Vertreter der zuvor schon begründeten Einrichtungen und Bewegungen wie anthroposophischer Medizin, Waldorfschule und eurythmischer Kunst in solchen Vortragskursen beraten und gefördert wurden. Wie sollte die Lücke geschlossen werden?
Konnte eine Pädagogik, die die Anschauung wiederholter Erdenleben mit allem, was sich daraus für die Entwicklung und das Schicksal eines Kindes ergibt, in den Mittelpunkt ihrer Methodik stellt, beliebige Phantastik einerseits wie dogmatische Gläubigkeit andererseits vermeiden?
Konnte eine Landwirtschaft, die als magisch-kultische Pflege am Wesen der Erde inauguriert worden war, sich sachlich, ohne Selbstüberhebung, in die menschliche Sozietät eingliedern und doch kein Opfer des Gesundheits- und Ernährungsegoismus werden?
Konnte eine Medizin, die den menschlichen Leib von der Tätigkeit wohlbestimmter geistiger Wesen hervorgebracht und durchwoben sieht, diese Anschauung mit den Ergebnissen moderner materialistischer Medizin in Einklang bringen, ohne die Besonderheit und Bedeutung ihres eigenen Ansatzes dabei aus den Augen zu verlieren?
Heute, fünfzig Jahre nach Rudolf Steiners Tod, können diese Fragen in einem beachtlichen Umfang bejaht werden.
Es scheint sehr dem Selbstverständnis unserer Zeit zu widersprechen, wie in dieser anthroposophischen Gesellschaft Menschen über Wiederverkörperung und Karma, übersinnliche Wesensglieder des Menschen, ja über Engel, Erzengel, geistige Hierarchien, über das Leben vor der Geburt und nach dem Tode und manches andere so selbstverständlich wie von Steinen und Pflanzen, Sternen oder Maschinen sprechen. Und doch sind es dieselben Menschen, die Schulen, heilpädagogische Institute, Altersheime, Krankenhäuser, Banken usw. betreiben.
Der Lebensquell der Anthroposophie fließt auch nach dem Tode Rudolf Steiners weiter. Er macht den Kern der ganzen Bewegung aus: die Forschung auf geistigem Gebiete. Ein jeder kann sich zumindest verstehend an sie heranarbeiten, indem er den Weg zur Schulung seiner übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten geht, die heute noch chaotisch und unbeachtet in ihm angelegt sind. Dieser Schulungsweg ist von Rudolf Steiner in einer für die heutige Zeit zugeschnittenen Form dargestellt worden. Anthroposophische Forschung betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, schneller und besser Antworten auf die Fragen der Hochschulwissenschaften zu finden, sondern versteht sich durch die Entwicklung einer eigenen, neuen Fragestellung als Ergänzung und Weiterführung der heute üblichen Wissenschaften.
Die Hochschulwissenschaften suchen eine Welterklärung nach Maß und Zahl. Im Idealfall muß eine vollständige Welterkenntnis jede einzelne Welttatsache aus ihrem Verhältnis zu allen anderen begreifen. Nun ist aber auch die Fragen stellende, Urteile bildende und Antworten auf ihren existenziellen Wert hin prüfende Individualität eine Welttatsache. Ihr wird das Messen und Zählen eines biochemischen Menschenbildes nicht gerecht, denn Individualität ist nicht begreifbar als räumliches Zusammenklingen von Atomen und Molekülen. Das menschliche Selbst wird mindestens ebenso unmittelbar im Denken erfahren wie nur irgendeine Maßbeziehung, eine Zahl oder ein sonstiger Teil der Welt. Man muß entweder mit dem soeben genannten Wissenschaftsideal vor dem innersten menschlichen Wesenskern resignieren, oder man muß die Grundelemente der Weltanschauung über den Atomismus als Repräsentanten einer Maß- und Zahlerklärung hinaus so erweitern, daß sie an das menschliche Geisteswesen heranreichen. Eben dies tut die Anthroposophie.
Einer alles auf räumlich-materielle Elemente zurückführenden Wissenschaft stellt die Anthroposophie zum einen eine solche an die Seite, die statt der Atome die Prinzipien des Lebens als Grundbausteine, als neue, nicht räumliche "Atome des Lebendigen" nimmt. Der Platz der Atome als Wissenschaftsgrundlage kann aber nicht nur von den Lebensprinzipien, sondern zum anderen von den Grundelementen des Seelischen und schließlich auch von Elementen nach dem Muster der menschlichen Individualität, also Geistwesen, eingenommen werden. "Imagination", "Inspiration" und "Intuition" heißen die höheren Erkenntnismethoden dieser Wissenschaft.
Nachdem Rudolf Steiner von etwa 1900 bis 1919 in einer Reihe von Schriften und in über 3000 heute zum größten Teil gedruckt vorliegenden Vorträgen die Methoden dieser neuen Wissenschaft vom Menschen, die sich selbst als Anthroposophie ( = Weisheit vom Menschen) oder Geisteswissenschaft bezeichnet, dargelegt hatte, unternahm er in einem breitangelegten Wirken für seine "Dreigliederung des sozialen Organismus" den Versuch, mit einer Übersinnliches einbeziehenden Anschauung der sozialen Vorgänge in die Öffentlichkeit zu treten. Diese Dreigliederung betritt im Bemühen um eine alle einbeziehende menschenwürdige Gesellschaft an entscheidenden Punkten einen Weg, der dem heute verbreiteten Sozialismus entgegengesetzt ist. Sie sieht in dessen vereinheitlichender und kultureller Verarmung: ihre eigenen Bestrebungen gipfeln in der Ablösung des Einheitsstaates durch ein Gebilde, in dem Kultur und Bildung, Recht und Politik sowie das Wirtschaftsleben jeweils aus eigenen autonomen gesellschaftlichen Impulsen gleichberechtigt verwaltet werden. Der Versuch ist zunächst gescheitert. Von vielen sozialen Ansätzen hat sich nur die Waldorfschule durchsetzen können.
Mag es schwer fallen, die eigentlichen Beweggründe der Anthroposophie voll zu verstehen, so muß dagegen geltend gemacht werden, daß "Verstehen" oft nur heißen soll: "in die eigenen Urteilsgewohnheiten eingliedern". Was jene Urteilsgewohnheiten verändern will, kann derart nicht verstanden werden. Den Problemen der Menschen, der Gesellschaft, der Völker, der Umwelt und der Erde mit einer Wissenschaft zu begegnen, deren Methoden begreifend an den Mittelpunkt aller dieser Probleme, den Menschen selbst, nach seinem Ursprung, Wesen und möglichen Entwicklungszielen heranführen, kann in unserer Zeit als unbedingte Notwendigkeit erkannt werden.
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Autobiographische Notiz von Rudolf Steiner
Rudolf Steiner, geboren am 27. Februar 1861 zu Kraljevec in Ungarn (jetzt Slowenien) als Sohn eines österreichischen Südbahnbeamten. Die Familie stammt aus dem Waldviertel in Niederösterreich und gehörte dem Bauernstande an. Studierte zunächst in Wien Naturwissenschaften und Mathematik an der Technischen Hochschule, wandte ich daneben auch literhistorischen Studien und der Philosophie zu. Dadurch zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften geführt, suchte er von diesen ausgehend den Kern der Goetheschen Weltanschauung zu durchdringen. Angeregt und vielfach unterstützt wurde er dabei durch den ihm zum väterlichen Freunde werdenden Wiener Goetheforscher K.J.Schröer. Die Goethestudien führten Steiner dazu, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Kürschners "Deutscher Nationalliteratur" Goethes naturwissenschaftliche Schriften mit ausführlichen Einleitungen und Kommentar herausgeben zu können. Während der Herausgabe schon ergab sich für ihn die Notwendigkeit, eine philosophisch-erkenntnistheoretische Begründung der Goetheschen Weltanschauung in seiner "Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" zu geben. Durch diese seine Goethe-Publikaionen wurde er zum Mitarbeiter an den naturwissenschaftlichen Schriften der Weimarischen Goethe-Ausgabe berufen und lebte 1890-1897 in Weimar. Während dieser Zeit versuchte er eine systematische Darstellung seiner auf Erkenntnis der Geisteswelt durch unmittelbare Intuition beruhenden Weltanschauung in seiner "Philosophie der Freiheit" (1894). Dieses Buch brachte ihn in Beziehung zu Friedrich Nietzsche, deren Frucht die Schrift "Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit" (1895) ist. Die in Weimar erweiterten Erkenntnisse über Goethe stellte er in seiner Schrift "Goethes Weltanschauung" (1897) dar.
Von 1897-1900 (Berlin) redigierte er das "Magazin für Literatur", 1900 und 1901 veröffentlichte er "Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert". Die schon in der "Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" und der "Philosophie der Freiheit" lieegenden Keime einer Weltanschauung der Intuition, die geistige Erfahrungen sucht ganz analog den Erfahrungen der äußeren Sinne - die "Philosophie der Freiheit" trägt das Motto: "Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode" -, führte er dann in seinen Schriften weiter aus: "Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens" (1901); "Das Christentum als mystische Tatsache" (1902); "Theosophie" (1904); "Geheimwissenschaft" (1909). Er suchte sie darzustellen in szenischen Bilderfolgen in "Die Pforte der Einweihung" (1910); "Die Prüfung der Seele" (1911); "Der Hüter der Schwelle" (1912); "Der Seelen Erwachen" (1913). Dazu kamen noch die Darstellungen der intuitiv-geistigen Beobachtungsmethoden in den Schriften "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" (1909), "Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen" (1912) und "Die Schwelle der geistigen Welt" (1913) und anderes.
1902 wurde Steiner durch die zustimmende Aufnahme seiner Weltanschauung von seiten leitender Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft - mit dem Mittelpunkte in Adyar - veranlaßt, sich äußerlich dieser Gesellschaft anzuschließen; er wirkte dann im äußeren Anschluß an diese Gesellschaft für die von ihm vertretene intuitiv-geisteswissenschaftliche Weltanschauung auch in zahlreichen Vorträgen und in der Zeitschrift "Lucifer-Gnosis". Seiner gegenüber der Theosophischen Gesellschaft selbständige Richtung führte 1913 zu dem Ausschlusse Steiners und seiner sämtlichen Anhänger von dieser Gesellschaft und von seiten der letzteren zu Begründung der unabhängigen "Anthroposophischen Gesellschaft".
Walther von der Vogelweide "Palästinalied"
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