Anthroposophie        =           Dreigliederung
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Öffentlicher Vortrag, Wien, 8. April 1914

Was hat die Geisteswissenschaft über Leben, Tod und Unsterblichkeit der Menschenseele zu sagen?

 

(S40) Wenn es schon in einer gewissen Beziehung schwierig ist, sich über die Grundlagen der Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, so auseinanderzusetzen, wie es im Vortrag von vorgestern geschehen ist, so darf wohl gesagt werden, daß die Mitteilungen in bezug auf diejenigen Forschungsergebnisse, die den Gegenstand des heutigen Vortrags bilden sollen, in gewisser Beziehung eigentlich ein Wagnis sind gegenüber den Vorstellungsarten und Denkgewohnheiten der Gegenwart. Denn wird man in dem, was der Vortrag von vorgestern ausdrückte, schon manches Paradoxe finden müssen von diesen Vorstellungsarten und Denkgewohnheiten aus, so wird man von einem solchen Gesichtspunkte aus ganz gewiß und begreiflicherweise es nicht leicht haben, in dem, was heute zu sagen ist, ernstes Forschen zu sehen. Man wird viel eher in weiten Kreisen der Gegenwart geneigt sein, dafrin nur zu sehen die Schwärmereien eines sonderbaren Phantasten. Dessen muß man sich voll bewußt sein,wenn man über diese Dinge redet; bewußt sein dessen, daß alles das, was in einer späteren Zeit in das allgemeine Bewußtsein übergeht, vieles sogar von dem, was dann später eine Selbstverständlichkeit wird, in der Zeit, in der es zuerst auftritt, etwas Paradoxes, etwas Phantastisches ist.

   Dies möchte ich nur vorausschicken, um zu charakterisieren, wie sehr sich der Geistesforscher dessen bewußt ist, was alles begreiflicherweise empfunden werden kann, wenn er seine für die heutige Zeit durchaus noch paradox erscheinenden Forschungsresultate mitzuteilen sich gestattet.

   Bevor ich auf diese Forschungsergebnisse zu sprechen komme, möchte ich in ein paar einleitenden Worten die Grundstimmung der Seele des Geistesforschers charakterisieren. Diese Grundstimmung ist ja eine ganz andere als die Stimmung gegenüber einem anderen Forschungsfelde. Während man in seiner Erkenntnis dem äußeren Leben (S41) gegenüber und auch der gewöhnlichen Wissenschaft gegenüber heute mit einem gewissen Rechte das Gefühl hat, man habe die Erkenntniskräfte in sich, man brauche sie nur sozusagen in Wirksamkeit überzuführen, dann könne man urteilen über alles das, was die Natur selbst und was der Forscher aus der Natur darbietet - während man bei dieser Forschung alle Mühe darauf verwendet, um eben zu forschen, um eben die Dinge zu beobachten und durch den Verstand ihre Gesetze zu erkennen, ist die Stimmung des Geistesforschers gegenüber der Wahrheit, gegenüber allem Erkenntnisstreben doch eine ganz andere. Da bekommt man, indem man sich in diese Geistesforschung hineinarbeitet, immer mehr und mehr das Bedürfnis, alle Arbeit der Seele, alles innere Streben zunächst auf die Vorbereitung zu verwenden; und immer mehr und mehr bekommt man das Gefühl: Wenn man sich irgendeiner Wahrheit aus diesem oder jenem Gebiet nähern will, so möchte man eigentlich immer noch warten, immer noch weiter und weiter sich vorbereiten, weil man das Bewußtsein hat: Je mehr Mkühe und Arbeit man auf jenen Weg der Seele verwendet, der zurückgelegt werden muß, bevor man forscht, desto mehr macht man sich reif, die Wahrheit zu empfangen. Denn ein Empfangen der Wahrheit, das ist es, um was es sich bei der eigentlichen, wirklichen Geisteswissenschaft handelt. Und so stark kommt dieses Gefühl, diese Stimmung über die Seele, daß man eine heilige Scheu empfindet, die Dinge so an sich herankommen zu lassen und daß man immer wieder und wiederum gegenüber wichtigen, wesentlichen Erkenntnissen der Geistesforschung lieber wartet, als daß man die Dinge zu früh in das Bewußtsein hereinkommen läßt. Das bedingt eine ganz besondere Stimmung in dem Geistesforscher selber, jene Stimmung, die all die Arbeit, von der vorgestern als einer inneren Seelenarbeit in Übungen gesprochen worden ist, allmählich durchdringt, die beim Geistesforscher herbeiführt eine gewisse Stellung gegenüber der Wahrheit, eben die Stellung von heiliger Scheu gegenüber der Wahrheit.

   Nachdem ich dies vorausgeschickt habe, möchte ich nun. ich möchte sagen, unbefangen auf dasjenige eingehen, was über wichtige, bedeutungsvolle, jeder Seele so naheliegende Thema des heutigen Abends zu sagen sein wird. Gewiß, es sind nicht die schlechtesten (S42) Gemüter in unserer Gegenwart, die noch immer festhalten an der Meinung, daß die Wahrheiten des Glaubens besondere seien und die Wahrheiten des Wissens auch besondere seien, und die da glauben, daß alles das, was der Mensch sich vorstellen kann als über Geburt und Tod hinausgehend, daß alles das nur ein Gegenstand des Glaubens, nicht strenger Wissenschaft. Gerade diese strenge Trennung zwischen Glauben und Wissen, sie wird durch die Geisteswissenschaft aufgehoben.  Und man fühlt sich doch im Einklang mit dem, was längst hereinwollte in das moderne Geistesstreben, wenn man in dem Sinne die Wahrheiten, die jenseits des Todes liegen, entwickelt, wie es hier geschehen soll; man fühlt sich im Einklang damit, wenn man sich immer wieder und wiederum so etwas vor Augen hält, daß der große Lessing doch mit einer der Hauptwahrheiten dieser Geisteswissenschaft sich auseinandersetzte, auseinandersetzte noch in jener Schrift, die er wie sein geistiges Testament kurz vor seinem Tod als reife Frucht seines Denkens und Sinnens verfaßt hat: in seiner >>Erziehung des Menschengeschlechts<<. Es scheut Lessing nicht davor zurück, zu sagen, daß die Anschauung von den wiederholten Erdenleben nicht deshalb ein Irrtum zu sein brauche, weil sie auftrat gleichsam als etwas Erstes, worauf das Menschengeschlecht kam, bevor die Vorurteile der Schule und der Philosophen noch etwas wie einen trüben Schleier gebreitet haben über das, was als vom Jenseits des Todes die Menschheit im Beginn ihrer Kulturentwicklung wußte. So fühlt man sich dann im Einklang - es könnten noch viele Geister angeführt werden - mit den besten Persönlichkeiten, die ihr Streben eingefügt haben in die Kulturentwickelung der Menschheit, gerade wenn man auf dem Boden dieser Geisteswissenschaft steht.

   Gesagt worden ist nun vorgestern, daß die Dinge des geistigen Lebens, die Vorgänge desselben nur erforscht werden können dann, wenn wirklich der Mensch durch das vorgestern Geschilderte dazu kommt, in seiner Seele die in ihr schlummernden Kräfte so zu erstarken, so zu erkraften, daß diese Seele die Möglichkeit findet - es wurde gesagt vergleichsweise: Wie durch den Chemiker der Wasserstoff sich aus dem Wasser herauszieht -, daß so die Seele des Geistesforschers die Möglichkeit findet, durch die Seelenübungen sich (S43) herauszuziehen aus dem Physisch-Leiblichen, und sich zu erleben abgesondert von dem Physisch-Leiblichen, so daß sie dann einen Sinn verbinden kann mit dem Worte: Ich erlebe mich als seelisch-geistiges Wesen außerhalb meines Leibes, und mein Leib mit allem, was in der Sinneswelt zu ihm gehört steht vor mir wie ein äußerer Gegenstand vor uns steht, wenn wir ihn mit den Augen anschauen, mit den Händen berühren. - Und schon als ich das letzte Mal hier einige öffentliche Vorträge halten durfte, konnte ich aufmerksam machen auf den bedeutungsvollen Augenblick, der im Leben des Geistesforschers eintritt, wenn wirklich dieser Geistesforscher, durch die vorgestern erwähnten Übungen, reif geworden ist - wer weiteres über diese Übungen wissen will, der findet es in meinem Buche <<Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft im Umriß>>. Auch hier soll nur prinzipiell hingewiesen werden auf das, was der Geistesforscher erlebt. Wenn er seine Seele dahin gebracht hat, daß sie heraustreten kann aus ihrem Leibe, dann kommt dies Erlebnis eines Tages, man könnte auch sagen eines Nachts; denn beides ist möglich: mitten in den gewöhnlichen Vorgängen des Tages, mitten in der Nacht, und es wird, wenn es richtig vorbereitet ist, weder das eine noch das andere stören. Es kann in hundertfach verschiedener Weise auftreten, ich möchte nur den typischen Charakter schildern. Es kann auftreten so oder so, es wird immer in einer typischen Art auftreten, was ich jetzt anführe: Da kommt es, daß der Mensch wie aufwacht aus dem Schlafe; er weiß, etwas geht vor, was nicht ein Traum ist. Er ist entrückt allem äußeren Wahrnehmen, allen Bekümmernissen, allen Leidenschaften, all dem, was ihn mit dem Tag verbindet. Oder mitten im Tage tritt das Ereignis ein, wo man mit seinem Vorstellen stillstehen muß, wo etwas ganz anderes in das Vorstellen, in das Bewußtsein hereintritt. Das, was dann hereintritt, das kann so sein - es wird immer ähnlich sein dem, wie ich es schildere; ich möchte möglichst konkret schildern, wie sich dieses erschütternde Ereignis für den Geistesforscher wirklich zutragen kann -, da kann man das Gefühl haben: Du bist jetzt wie in einem Haus, in das der Blitz eingeschlagen hat. Deine Umgebung zerfällt wie ein Haus, in das der Blitz eingeschlagen hat. Der Blitz geht (S44) durch dich selber durch. Man fühlt, wie alles, womit man materiell verbunden ist, wie durch die Elemente von einem abgetrennt wird, so fühlt man sich aus sich herausgelöst, sich aufrechterhaltend als ein geistiges Wesen. Es ist das der denkbar größte, erschütterndste Eindruck. Von diesem Momente an, oder einem ähnlichen, weiß man, was es heißt, außer seinem Leibe in der Seele selber sich erleben. Und die Geistesforscher aller Zeiten, sie haben einen Ausdruck gebraucht für dieses Erlebnis, der voll zutreffend erscheint demjenigen, der dieses Erlebnis kennt. Denn es hat zu allen Zeiten, eben so, wie es die verschiedenen Kulturen bedingten, eine Art von Geistesforschung gegeben. Die heutige ist verschieden von denjenigen der früheren Zeiten; sie ist angemessen den Fortschritten der modernen Naturwissenschaft. Aber das, was durch sie erreicht wird, wurde auch erreicht durch die Methoden, die durch die verschiedenen Kulturen möglich geworden waren. So haben die Geistesforscher der verschiedensten Zeiten das eben angedeutete Erlebnis mit den Worten belegt: man sei als Mensch angekommen an der Pforte des Todes. Und tatsächlich, was man sich zunächst vorstellen kann als erlebbar durch den Tod, das tritt ein. Es tritt nicht ein unmittelbar als eine Wirklichkeit; denn der Geistesforscher kehrt ja wieder in seinen Leib zurück und alles ist wie früher; er nimmt wieder die äußere Welt wahr. Alles das aber, was er erlebt, das ist das Bild von demjenigen, was sich wirklich zuträgt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, wenn das äußere, physische Leben aufhört und das Leben nach dem Tode beginnt.

   Will man nun verstehen, wie der Geistesforscher zu den Dingen kommt, von denen hier die Rede ist, so muß man sich vergegenwärtigen, daß er durch die sorgfältige Vorbereitung seiner Seele, von der gesprochen worden ist, dahin gelangt, ganz anders wahrzunehmen als man mit den äußeren Sinnen wahrnimmt; daß er wirklich hineinschauen kann in diejenigen Sphären des Daseins, von denen gesprochen werden soll.

   Das erste, wozu der Geistesforscher kommt, wenn er einen solchen Moment überwunden hat, durch den man an der Pforte des Todes steht, das erste könnte man in einem gewissen Sinn nennen: Man (S45) gelangt jenseits des menschlichen Gedächtnisses. Das menschliche Gedächtnis, die menschliche Erinnerungskraft, ist ja etwas, was gewissermaßen in unserer Seele lebt als der Anfang, möchte man sagen, von einem Geistigen. Das sehen selbst schon äußere philosophische Forscher, die nichts von Geisteswissenschaft wissen, ein. Der zu so glänzenden Erfolgen gekommene französische Forscher Bergson sieht schon in dem Gedächtnis des Menschen etwas rein Geistiges, das mit biologischen oder physiologischen Vorgängen nichts zu tun hat. Und wenn erst die Vorurteile der Naturwissenschaft, die heute noch fast an jedem haften, vorüber sein werden, dann wird man einsehen, wie in dem Schatz unseres Gedächtnisses für die Menschenseele schon etwas vorliegt, was gleichsam der Anfang ist zu einem Übergehen dessen, was an Sinne und Gehirn gebunden ist, zu einem rein Geistig-Seelischen. Indem wir gleichsam unsere Vorstellungen zurückschieben in das Gedächtnis, bewahren wir sie nicht auf durch irgendwelche körperlichen Vorgänge, sondern rein in der Seele. Das kann ich nur andeuten. Die naturwissenschaftliche Rechtfertigung dessen, was eben gesagt worden ist, würde sehr viel Zeit und besondere Vorträge in Anspruch nehmen. So nun, wie man im gewöhnlichen Leben Erinnerungsbilder wahrnimmt, die aus dem Schatze unserer Seele heraufkommen, die so, wie sie auftreten, nichts haben, was uns verleiten könnte, sie etwas zu einer Illusion oder Halluzination zu machen, so treten, aber jetzt nicht aus dem Seelenschatze herauf, sondern aus geistigen Welten heraus, vor die Seele des Geistesforschers die geistigen Vorgänge und geistigen Tatsachen; und man merkt dann, daß hinter dem, was wir den Gedächtnisschatz nennen, die menschliche Seele noch etwas anderes erleben kann. Der Geistesforscher sieht dann gleichsam das Folgende: Nun bist du aus deinem Leibe mit deiner Seele herausgezogen; nun kannst du erst recht überblicken, weil es wie ein äußeres Objekt geworden ist, dasjenige, was du dir durch die Sinneswelt erworben hast: den Schatz des Gedächtnisses. Aber dieser Schatz des Gedächtnisses ist wie ein Schleier, der etwas zudeckt, was immer in der Seele, nur unbewußt, lebt, was immer in ihr ist; was aber durch Erinnerung und Gedächtnis zugedeckt wird, verschleiert wird. Ja, in diesen menschlichen Seelentiefen ist etwas unten, das (S46) immer in ihnen lebt; aber indem der Mensch seine Erinnerungen ausbreitet in seiner Seele, deckt er dieses unterbewußte Geistig-Seelische zu. Indem der Geistesforscher in das Geistig-Seelische sich herein erhebt, hat er allerdings, man möchte sagen, wie den Kometenschweif seines geistig-seelischen Wesens anhängen seine Erinnerungen, aber er kann durch diese Erinnerungen durchschauen auf etwas, was man nennen könnte: Kräfte höherer Art als die Kräfte sind, die uns die Erinnerungen aufbewahren. Wenn der Ausdruck nicht so verpönt wäre - aber es ist schwierig, für diese Gebiete, die nichts mit der Sinnenwelt zu tun haben, gehörige Ausdrücke zu finden -, so könnte man den Ausdruck anwenden: Man steigt zu einem Übergedächtnis auf von dem Gedächtnis. Man kommt allmählich in das hinein, was vorgestern imaginatives Vorstellen genannt worden ist. Während man bei dem Gedächtnis immer das Gefühl hat: Die Bilder des Gedächtnisses steigen herauf, sie stellen sich vor die Seele hin, indem du dich ihnen passiv hingibst -, taucht man nun unter in das, was hinter dem Gedächtnis ist und weiß, daß man aktiv mit hervorbringen muß das, was dann als Imagination, als Inhalt eines Übergedächtnisses heraufstrebt. Aber man weiß auch durch die zu diesen Dingen vorbereitete Seele, daß das, was sich da offenbart als hinter dem Gedächtnis liegend, immer da war, daß es nur zugedeckt war durch das Gedächtnis, und man weiß, indem man es erkennt in seiner Wesenheit, daß das, was sich da hinunterschiebt in die Gründe, die unter dem Gedächtnisschatze liegen, selber etwas ist, was nun an unserem physischen Organismus arbeitet, was tätig ist an ihm. Man macht noch eine ganz andere Entdeckung. Man macht die folgende Entdeckung -  und diese Entdeckung ist außerordentlich bedeutungsvoll für das Verhältnis der Geistesforschung zur Naturforschung. Die Naturforschung tritt uns heute entgegen, indem sie sagt: Alles das, was der Mensch empfindet, denkt und will, ist gebunden an Vorgänge des Nervensystems. Recht hat sie damit; aber sie kann mit ihren Mitteln nicht die Art, wie das Seelenleben an das Nervensystem gebunden ist, wie zum Beispiel das Denken an das Gehirn gebunden ist, herausbekommen.  Man muß zu viel tieferen Grundlagen des Seelenlebens gehen. Wenn man mit der Geistesforschung kommt, da merkt man: Ja, es ist für das (S47) gewöhnliche Vorstellen des Alltags, auch für die wissenschaftliche Arbeit, durchaus richtig, daß alle Gedanken, die wir uns bilden, auch alle Empfindungen zum Beispiel, an das Gehirn gebunden sind; aber wie sind sie an das Gehirn gebunden? Das tiefere Seelische, von dem das gewöhnliche Bewußtsein gar nichts weiß, das erst durch Geistesforschung entdeckt wird, das bearbeitet erst, sagen wir, eine gewisse Gehirnpartie, das sendet erst seine Arbeitskräfte hinein in Sinne und Gehirn; und dadurch, daß dieses <<hinterbewußte>> Seelische das Nervensystem bearbeitet, wird dieses zum Spiegel, um das, was im gewöhnlichen Leben auftritt, zu spiegeln. Was im gewöhnlichen Leben auftritt, ist das Spiegelbild des Seelisch-Geistigen. Geradeso wie wenn ein Spiegel hier hinge und Sie sich ihm nähern würden; wie Sie nicht sich sehen, oder sich erfühlen würden, sondern das Spiegelbild, geradeso verhalten Sie sich, indem Sie Ihr alltägliches Denken, Vorstellen, Fühlen und Wollen entwickeln. Das tiefere Seelische arbeitet speziell am Nervensystem und Gehirn, und was es da erarbeitet, das macht, daß etwas wahrgenommen werden kann. So ist es das Seelisch-Geistige, das das Auge bearbeitet, und was im Auge gewisse Vorgänge hervorruft. Wenn diese Vorgänge hervorgerufen sind, dann spiegelt das Auge in das Geistig-Seelische dasjenige zurück, was wir die Farbe nennen. So ist es das tiefere Seelisch-Geistige, was im Leibe arbeitet.  Und dazu wird die Geistesforschung die Menschheit führen: zu erkennen, daß wir es selber sind, die im Inneren unserer Vorstellungen leben, und die mit ihrem tieferen Wesen erst selber den Leib zubereiten, daß er zum Spiegelungsapparat dafür wird, was dann die Seele erlebt. So ist es im gewöhnlichen,, äußeren, räumlichen Leben. In dem Augenblick aber, wo unsere Vorstellungen zu Erinnerungsbildern werden, muß noch etwas anderes vorgehen; wir müssen, wenn nicht die Vorstellungen wie Träume an uns vorüberhuschen sollen, damit sie Erinnerung werden, Aufmerksamkeit verwenden. Alles, was zur Erinnerung werden soll, was uns bleiben soll in der Seele, auf das müssen wir uns länger hinkonzentrieren, al notwendig ist, sagen wir, zum bloßen Vorstellungsbilde. Ein Farbeneindruck würde uns nicht in der Erinnerung bleiben, wenn wir ihn nur gerade so lange anschauten, als es notwendig ist, daß die Farbe hervorgerufen (S48) wird. Schauen wir ihn länger an, so appellieren wir an jene Kraft, welche alles das in unserer Seele als Erinnerung erhält. Wir schieben gleichsam zurück unsere Seelentätigkeit in ein tieferes Wesen und dieses stellt sich heraus nicht als der der physische Leib, sondern als etwas, was feiner, ätherischer ist als der physische Leib; und was man in der Geistesforschung eben mit dem allerdings verpönten, heute gar nicht beliebten Ausdruck <<ätherisch>> bezeichnen kann - doch hat das Wort nicht den Sinn, den man gewöhnlich damit verbindet -, er stellt sich dar als ein ätherischer Leib, der schon geistiger Art ist.

   Aber nicht nur so wirkt unsere Seele, daß sie diese Erinnerungsbilder schafft, sondern sie wirkt viel mehr durch ihren Verkehr mit der Außenwelt im Leben zwischen Geburt und Tod in sich hinein. Und da entdeckt der Geistesforscher das Merkwürdige, daß unsere Erinnerungen nur deshalb Vorstellungen bleiben, weil sie aufgehalten werden vom Ätherleib, nicht in den physischen Leib hineingelassen werden. Würden sie in den physischen Leib hineinrinnen, würden sie darin zur Tätigkeit werden, diese Vorstellungen, so würden sie übergehen in die Bildungskräfte, in die Lebekräfte des physischen Leibes, würden diesen durchorganisieren. Dadurch, daß wir unsere Vorstellungen Vorstellungen sein lassen, sie nicht in organische Kräfte übergehen zu lassen brauchen, behalten sie den Charakter der Erinnerung, erhalten wir sie in ihrer Vorstellungskraft. Sie können Erinnerungen bleiben.

   Aber die Seele entwickelt auch im Leben viel stärkere Kräfte als diejenigen sind, die die Erinnerungen entwickeln, und diese stärkeren Kräfte werden nun ebenfalls zunächst in der Seele bewahrt. Aber sie liegen wie ein Übergedächtnis hinter dem gewöhnlichen Gedächtnisschatz; sie sind in uns. Das ist das, was nun der Geistesforscher erlebt, wenn er durch das Gedächtnis hindurchschaut auf diesen übergedächtnismäßigen Schatz, daß er weiß: Da lebt in deiner Seele etwas, was nicht hineinwirken kann in deinen physischen Leib, was unter der Oberfläche des Gedächtnisses liegt, aber auch nicht zur Wirksamkeit kommt in deinem physischen Leibe, jetzt, wie er ist zwischen Geburt und Tod. Da ist etwas, was nicht Vorstellung bleibt, was doch aber nicht zur organisch wirksamen Kraft wird. Der Geistesforscher erlebt (S49) dieses, indem er außerhalb seines Leibes ist. Aber erlebt zugleich das andere, das er ausdrücken kann, wenn er sich über die Tatsache klarwerden wird, damit, daß er sagt: Ja, so erlebe ich etwas in meiner Seele, was in ihr ist, was gewissermaßen keine Anwendung findet, weil es nicht hinein kann in den Leib, der gebildet ist seit der Geburt oder, sagen wir, der Empfängnis, weil es darin keine Unterkunft findet. Und indem sich nun der Geistesforscher hineinvertieft in dies, was ich hier angedeutet habe, erlebt er es so, daß er es erkennen kann, wie man erkennt den Keim,, der in einer Pflanze ist. Die Pflanze entwickelts sich von der Wurzel bis zur Frucht, in welcher der Keim ist. Der Keim ist aber schon veranlagt in der ganzen Pflanze. Das, was der Keim ist, hat für die Pflanze keinen Sinn, es kann seine Kräfte nicht in diese Pflanze hineinsenken; es ist aber darinnen, es ist die Anlage zu einer folgenden Pflanze, sagen wir, des nächsten Jahres. Indem der Geistesforscher hinuntertaucht, taucht er ein in etwas, was in ihm ein Seelenkern, ein Seelenkeim ist, von dem er weiß, er wird gebildet in diesem Leben zwischen der Geburt und dem Tode, aber er entwickelt seine Kräfte nicht in diesem Leben; er taucht da unter in die tieferen Schichten der Seele und liegt bereit für ein folgendes Leben, wie in der Pflanzenfrucht der Keim bereitliegt für die folgende Pflanze, die sich nicht ohne die vorhergehende entwickeln könnte.

So kommt man zu der Einsicht des Einklanges der menschlichen, aufeinanderfolgenden Erdenleben mit aller äußeren Natur hinein, wenn man so untertauchen versteht in das Seelische. Das, was wichtig ist, ist nur, daß der Geistesforscher nie aus dem Auge verliert: Das, was du da erleben mußt, das kann nur ein solches sein. bei dem du immer wieder und wiederum dir deiner eigenen Tätigkeit bewußt wirst; denn ist man das nicht, überschaut man nicht, wie das entstanden ist, dann wird es zur Illusion, Halluzination oder zur bloßen Phantasie. Es ist völlig ein Irrtum, wenn eingewendet wird: Ja, wie kann der Geistesforscher wissen, daß das, was er so entdeckt, keine Halluzination, keine Illusion, keine Phantasie ist? Es könnte ja eine selbst suggerierte Halluzination sein. Wenn der Geistesforscher sich so stellen würde zu dem, was er so erlebt,, wie es geschildert worden ist, wie sich das krankhafte Gemüt zu einer Halluzination stellt, dann (S50) würde dieser Einwand voll berechtigt sein. Denn sie stellt sich gegenüber im Gemüt wie eine äußere Wahrnehmung, man durchschaut sie nicht. Das aber lernt der Geistesforscher genau kennen durch die richtigen Vorbereitungen - wie Sie in meiner Schrift <<Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> lesen können -, daß er unterscheiden kann das, was nur Reminiszenz ist der Außenwelt, und was Phantasie und Halluzination ist, zu dem er sich passiv verhält, daß er dies unterscheiden muß von dem, was sich so hinstellt, daß er es ebenso erkennt, wie man von einem Buchstaben oder einem Worte weiß: Das, was da auf dem Papier steht, das bedeutet nicht sich selbst, sondern etwas anderes. Denn so verwendet der Geistesforscher das Erschaute nicht, wie man Halluzinationen verwendet, sondern so, daß man es vergleichen kann mit einem geistigen Lesen in einer Schrift von Imaginationen, die sich vor ihn hinstellen. Erst wenn man lernt, in freier Weise in seinem Gemüt das, was man da durch eigene Aktivität hinstellt, so zu verwenden, daß man darin lebt, wie man in den Schriftzügen lebt, durch die man hindurchsieht auf das, was sie bedeuten; erst indem man sich in so innerlich erkrafteter Weise zu dem erhebt, was da in das Seelenschauen tritt, kann man dahin gelangen, wirklich zu erschauen, was Vorgänge und Wesenheiten der geistigen Welt sind. Dann aber kommt man, weil man dadurch sich allmählich einlebt in das Element unserer Seele, das nicht mit dem Leib einerlei ist, hinein in das Wesen, von dem man sagen kann, daß die Eigenschaft der Unsterblichkeit ihm zukommt.

   Geisteswissenschaft ist nicht eine spekulative Philosophie, worin man nachdenkt, welche Gründe sich ergeben für die Unsterblichkeit der Seele: Geisteswissenschaft zeigt, wie man zur Seele selber kommt und dieser wahrhaftigen Seele zeigt sie, was sie wirklich ist. Sie legt gleichsam die Seele bloß; und dann stellt sich heraus, daß das, was als die Seele bloßgelegt wird, nicht ein Ergebnis der äußeren Leiblichkeit ist, daß vielmehr diese Leiblichkeit das Ergebnis dessen ist, was man da entdeckt. Denn wenn man auf der einen Seite entdeckt in sich den Seelenkeim, dem man es anfühlt, aus dem man herauserlebt, daß er der Keim zu einem nächsten Erdenleben ist, so erlebt man in diesem über dem Gedächtnisschatz liegenden (S51) Bewußtseinsinhalt auch das, was in den Menschen als das Leiblich-Physische hereingezogen ist, bevor er als physisches Wesen sein Dasein begonnen hat mit der Geburt oder, sagen wir, der Empfängnis. Geradeso wie die Seele selbst es ist, die räumlich, wenn wir wahrnehmen, ihr Gehirn zubereitet, damit dieses ihren Inhalt spiegelt, so erlebt man, daß das Geistig-Seelische, zu dem man vorgedrungen ist vor der Geburt, vor der Empfängnis in einer geistigen Welt vorhanden war und in dieser sich die Kräfte erworben hat, um sich zu verbinden mit dem, was an physischer Substantialität gegeben wird von Vater und Mutter, um sich zu durchdringen mit dieser Substantialität, diese sich anzuorganisieren. Man erlebt, daß der Mensch, so wie er in die Welt hereinzieht, nicht bloß das Ergebnis ist von Vater und Mutter, sondern daß sich verbindet das Geistige mit dem Materiellen, mit dem, was von Vater und Mutter gegeben wird; das Geistige, das aus geistigen Welten herunterkommt, wo es gelebt hat zwischen dem letzten Tod und dieser Empfängnis. Und der Geistesforscher kann, indem man also kennenlernt dasjenige in der Seele, was jenseits des Gedächtnisses liegt, er kann dadurch auch erkennen lernen, wie die Seele sich verhält, wenn nicht mehr das Leibliche sozusagen die Tätigkeit dieses Geistig-Seelischen zurückhält, wenn der Tod über den Menschen gekommen ist. Wenn der Tod über den Menschen gekommen ist, dann lebt die Seele zunächst - das ist die Tatsache, die sich der Geistesforschung darbietet - in dem, was während des Lebens nicht physisch-leiblich geworden ist; sie lebt in ihrem Gedächtnisschatz. In der ersten Zeit nach dem Tode breitet sich aus vor der Seele ein weites Erinnerungsbild von alledem, was der Mensch erlebt hat zwischen Geburt und Tod. Auch alle diejenigen Erlebnisse kommen herauf, welche vergessen worden sind im Leben. Dieses Erleben seiner ganzen Erinnerung dauert nur wenige Tage. Der Geistesforscher kann das durchschauen, was da als das erste Erlebnis nach dem Tode auftritt, weil er ja kennenlernt die Natur des Gedächtnisses. Wenn die Seele aus dem Leibe heraus ist, dann wird wirklich für den Geistesforscher so etwas zum Bewußtseinsinhalt, wie es für den Toten wird, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist. Vor dem Geistesforscher tritt auch dasjenige auf, sobald er außer dem Leibe ist, was sein (S52) gesamter Gedankeninhalt ist, aber jetzt so wie eine Welt; wie man sonst Berge und Wolken und Sterne und Mond und Flüsse und Städte um sich hat, so hat man außer seinem Leibe zunächst ein Tableau desjenigen, was man erlebt hat, vor sich; nur kann man dieses Tableau durchschauen, man kann seine Wirkungskraft ersehen. Indem man - um den trivialen Ausdruck zu gebrauchen - sich hingewöhnt hat, wirklich außerleiblich diese Dinge zu durchschauen, gelangt man auch allmählich dazu, wirklich den Blick bewußt hinwerfen zu können auf das, was die Seele nach dem Tode durchlebt, was sie durchlebt hat nach dem letzten Tode, was ihr bevorsteht nach dem Tode, der da kommen wird. Erst ist es dieses Erinnerungsbild, das breitet sich aus, die Gedanken, die sich angesammelt haben. Aber hinter dem tritt eine andere Seelenkraft auf. Jetzt, da der Tod vorübergegangen ist, ist diese Seelenkraft nicht mehr durch den Leib gehemmt, jetzt wirkt sie so, daß dieses Erinnerungsbild nach einigen Tagen verschwindet aus der Umgebung des Menschen.

   Man kommt ja, wie schon eingangs gesagt, auf gewagte Dinge, wenn man über das Thema des heutigen Vortrags sprechen will, aber man kann doch nicht umhin, diese Dinge zu berühren, wenn man nicht in allgemeinen Redensarten sich ergehen will. Ich habe versucht darzustellen, was der Geistesforschung sich ergeben hat über die Dauer dieses ersten Erlebnisses nach dem Tode. Da hat sich ergeben, daß diese Rückschau auf die Gedankenbilder der Erlebnisse des letzten Lebens für die verschiedenen Menschen verschieden lang dauert, für den einen Menschen länger, für den andern kürzer; aber im allgemeinen ungefähr so lange, als die Kraft dauern kann während des Lebens, durch die sich der Mensch wach erhalten kann, wenn er verhindert ist, einzuschlafen. Der eine Mensch kann kaum eine Nacht sich wach erhalten, ohne daß ihn der Schlaf übermannt, ein anderer viele Nächte. Diese innere Kraft, den Schlaf zu bekämpfen, die ist der Maßstab für die Zahl der Tage, nach denen diese Rückerinnerung nach dem Tode dauert. Dann verschwindet diese, und etwas anderes tritt auf.

   Was jetzt auftritt, in das kann man sich nur vertiefen, wenn man es auch schon kennt durch die außerleiblichen Erlebnisse; aber es ist sehr (S53) schwierig, Worte zu finden für diese Erlebnisse der Seele, die ganz andersgeartet sind als diejenigen, die man im Alltage erlebt. Unsere Sprache ist ja für die sinnliche Welt geprägt. Was außerhalb der Sinneswelt liegt, erlebt die Seele ganz anders als hier in der Sinneswelt. Daher bitte ich Sie, zu entschuldigen, wenn Ihnen manche Ausdrücke ungelenk, paradox vorkommen werden; aber Sie können versichert sein: Wenn jemand sich anschickt, mit ganz gewöhnlichen Worten der Sprache das zu schildern, wofür sich nur schwer Worte finden lassen, so wird er nicht unmittelbar aus den Erlebnissen der Seele heraus schildern können dasjenige, was nach der Rückschau erlebt wird. Das, was nunmehr die Seele erlebt, was der Geistesforscher außer dem Leibe erlebt, das ist das, was ich nun eben mit dem Ausdruck belegen möchte - es ist nämlich kein Fühlen und ist kein Wollen, es ist etwas zwischen dem Fühlen und Wollen -, was ich nennen möchte ein <<wollendes Fühlen>>, ein <<fühlendes Wollen>>. Man hat diese Seelenkraft, die man innerlich entwickelt, gar nicht im gewöhnlichen Leben. Man kennt sie als Geistesforscher. Es ist, wie wenn der Wille mit uns sich dahin bewegte, in der Welt; und wie wenn dieser Wille, ich möchte sagen, indem er sich dahin bewegt, auf seinen Flügeln oder seinen Fluten trägt das, was uns nun als Gefühl so entgegentritt, daß es wie außer uns ist, wie heranspielt auf den Wogen des Willens. Während wir sonst gewohnt sind, dieses Gefühl als etwas zu empfinden, was innerlich verwachsen ist mit uns, wird das jetzt so wie wogend und webend auf den Wellen des Willens; und wir wissen dennoch, da wir uns bei diesem Erleben ausbreiten in die Welt, daß wir in dem, was da draußen ist wie die Farben- und Tonwahrnehmungen der Sinneswelt, daß das von unserem Wesen durchdrungen ist. Ein Fühlen ist da draußen, das wir wie Licht wahrnehmen; aber wir wissen uns zugleich mit ihm verbunden.

   Aber in der ersten Zeit nach der Rückschau erlebt dies der Mensch so, daß seine einzige Welt, die er zunächst wahrnimmt, im Grunde diejenige ist, aus der er sozusagen mit dem Tode herausgegangen ist. Nachdem sich das Erinnerungstableau abgedämmert hat, entfaltet sich, erkraftet sich in der Seele dieses fühlende Wollen, wollende Fühlen; (S54) aber dieses drückt nur Dinge aus, die mit dem letzten Erdenleben noch zusammenhängen; so daß wir diese Dinge, die wir da erleben, etwa in der folgenden Art charakterisieren können: Das Erdenleben gibt dem Menschen niemals in seine Erfahrung alles das, was es ihm geben könnte. Eine Menge Dinge bleiben so, daß wir sagen können: Wir haben nicht alles genossen, was hätte genossen werden können, was Eindrücke hätte machen können zwischen Geburt und Tod. Es ist immer sozusagen zwischen den Zeilen des Lebens etwas von Begierden, von Wünschen, von Liebe zu anderen Menschen und so weiter zurückgeblieben. Unerledigtes - um den trivialen Ausdruck zu gebrauchen - im letzten Leben, das ist das, auf das wir begehrend geistig zurückblicken, und zwar jetzt auf Jahre hin begehrend geistig zurückblicken. In diesen Jahren ist es so, daß wir sozusagen unsere Welt hauptsächlich in demjenigen haben, was wir gewesen sind. Wir schauen in unser letztes Erdenleben hinein, schauen in ihm das, was unerledigt geblieben ist. Und erst dadurch, daß wir in einer Sphäre jahrelang leben, in der davon nichts befriedigt werden kann, wie es auf Erden befriedigt wird, weil wir ja die leiblichen Organe dazu abgelegt haben, arbeiten wir uns in der Seele heraus aus solchen Zusammenhängen mit dem letzten Erdenleben.

   Auch hier hat wiederum die Geisteswissenschaft die Länge dieser Erlebnisse zu überblicken, und da kann das Folgende gesagt werden: Die Zeit, die der Mensch durchlebt, in der allerersten Kindheit bis zu dem Zeitpunkt, wo er sich zurückerinnert, die hat keinen Einfluß auf die Dauer der Erlebnisse, die jetzt geschildert worden sind. Ebenso hat die Zeit, die wir nach dem fünfundzwanzigsten, sechsundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten Jahre weiter durchleben, keinen Einfluß mehr. Die Jahre etwa vom vierten bis in die Zwanzigerjahre hinein, die deuten auch die Länge an, in der nun - so zusammenhängend mit seinem letzten Erdenleben - Erfahrungen zu sammeln hat in der geistigen Welt, sich herauszuziehen hat aus dem Erdenleben. Es stellt sich heraus für die geistige Beobachtung: So lange man gebraucht hat, um nach dem vorigen geistigen Leben, nachdem man durch Empfängnis und Geburt gegangen ist, seinen Leib gleichsam mit den aufwärtsstrebenden Kräften aufzubauen, bis in die Mitte der Zwanzigerjahre (S55) hinein, also so lange man gebraucht hat, um das Leben mit den körperlichen, organisch-fruchtbaren Kräften zu durchsetzen, es zu durchsetzen mit den Kräften, die im Leben begehren, genießen, ungefähr so lange dauert auch die Zeit, durch die man sich wiederum herausfinden muß aus dem letzten Erdenleben. So daß man, wenn man also sagen wir, zwölf Jahre alt wird, vielleicht nur fünf Jahre braucht, um herauszukommen aus dem letzten Erdenleben, oder sieben Jahre; wenn man aber, sagen wir, fünfzig Jahre alt geworden ist, so tragen die Jahre nach der Mitte der Zwanzigerjahre nichts mehr Sonderliches bei an der Verlängerung der jetzt genannten Periode.

   Von dieser Periode muß gesagt werden, daß in ihr schon in einer gewissen Weise das eintritt, was man nennen kann: Der Mensch nimmt wahr geistige Vorgänge und geistige Wesen in seiner Umgebung. Ich habe ja schon vorgestern angedeutet, daß, wenn der Geistesforscher in seinem Geistig-Seelischen sich erlebt, er in einer wirklichen geistigen Welt darinnen ist. In diese geistige Welt zieht ja der Tote ein; aber er ist zunächst so beschäftigt mit seinen Zusammenhängen mit seiner vorhergehenden Wellt, in der Weise, wie wir es vorher besprochen haben, daß er nur auf dem Umwege durch sein früheres Leben einen Zusammenhang gewinnen kann mit dem, was in seiner geistigen Umgebung ist. Um ein Beispiel zu sagen: Nehmen wir an, jemand ist durch die Pforte des Todes gegangen. Die Rückschau ist vorüber. Er lebt in dieser Zeit des Sich-Herausreißens aus den Zusammenhängen mit dem vorhergehenden Erdenleben. Jemand, den er geliebt hat, ist noch im physischen Leibe. Derjenige, der noch in diesem Stadium des Erlebens ist, von dem wir sprechen, kann nicht unmittelbar auf die Seele hinschauen, die noch auf der Erde ist; aber es bildet sich gleichsam eine Art von Umschaltung: Im letzten Erdenleben haben wir den Menschen geliebt, der zurückgeblieben ist; auf das Liebesgefühl blicken wir, wenn wir in dem Stadium sind, das wir jetzt besprechen. Die Gefühle sind unsere Außenwelt. Indem wir auf sie hinblicken, finden wir den Weg zu der Seele, die noch auf der Erde ist. Ebenso müssen wir über das Gefühl den Weg finden auch zu einer Seele, die schon durch die Pforte des Todes gegangen ist. So kann man sagen: Der Mensch lebt mit den Menschenseelen als (S56) Seele nach dem Tode, aber zunächst auf dem Umweg durch sein eigenes Leben.

   Aber immer mehr und mehr entwickelt sich im Menschen eine Kraft, eine seelische Kraft, die wiederum nur der Geistesforscher kennt, wenn er sich geistig-seelisch außer dem Leibe erlebt. Für diese ist nun schon gar kein Ausdruck mehr da. Für die andere Kraft kann man wenigstens noch sagen: <<Wollendes Fühlen>> oder <<Fühlendes Wollen>>, weil sie etwas Ähnliches hat mit dem Wollen und dem Fühlen. Wenn auch das Wollen und Fühlen objektiviert sind, sie haben doch etwas Ähnliches, die Dinge, die da draußen in Wollungen und Fühlungen herumwogen, etwas Ähnliches mit den Gefühls- und Willensimpulsen, die wir sonst im Leben haben. Das aber, was nunmehr die Seele erlebt, was als eine Kraft in ihr erwacht, je mehr sie sich entfernt in der geschilderten Weise von dem letzten Erdenleben, das kann ich nur bezeichnen mit einem Ausdruck, der ungeschickt klingen mag in bezug auf die gewöhnliche Sprache, der aber doch bezeichnend ist; ich kann es nur benennen: kreative seelische Kraft, seelische Schöpferkraft. Es ist etwas, was die Seele jetzt unmittelbar erlebt. Daß man in eine Aktivität übergeht, das erlebt die Seele völlig; aber zugleich, daß diese Schöpferkraft wirklich sich entwickelt, wirklich von der Seele ausstrahlt in die Umgebung und - wiederum ist es ungeschickt, aber es muß eben, damit man sich verständlich machen kann, dieser Ausdruck gebraucht werden - es ist diese Kraft etwas, was in die Umgebung wie ein geistiges Licht ausstrahlt, was die geistigen Vorgänge und Wesen ringsherum beleuchtet, so daß wir sie sehen; wie, wenn die Sonne aufgeht, wir durch die Sonne die äußeren Gegenstände sehen, so sehen wir durch die eigene innere Leuchtekraft, die sich hinergießt, die geistigen Vorgänge und Wesenheiten. Jetzt tritt die Zeit ein, wo die Seele in dem Maße in der Umgebung ist, als in ihr diese kreative Kraft erwacht, diese Welt zu beleuchten. Und hier haben die Religionen keinen unbedeutsamen Ausdruck gebraucht, wenn sie sagen, um das Leben nach dem Tode zu bezeichnen: Dieses Sich-Fühlen in der schöpferischen Kraft, dieses Sich-Einleben in eine geistige Umgebung, die dadurch sichtbar wird, daß man seine eigene Schöpferkraft hineinsendet, dieses Sich-Erleben (S57) in dem Ausgießen des Lichtes ist ein Gefühl von Seligkeit. Selbst die Schmerzen werden so als Seligkeiten erlebt in dieser Welt. Da erlebt die Seele nun ihr weiteres Leben.

.   Nun handelt es sich darum, daß die Seele nur in abwechselnden Zuständen dieses Erleben durchmachen kann, das eben beschrieben worden ist. - Ich komme dabei allerdings in Gebiete, die für ein gewöhnliches Leben ganz im Phantastischen schwimmen; aber nach den vorbereitenden Mitteilungen, die nun gegeben sind, darf ich auch diese Dinge auseinandersetzen; denn klar muß man sein, daß der Geistesforscher niemals anderes behaupten wird, als daß nur dann ihm solche Dinge aufgehen können, wenn er außerleiblich erlebt. - Die Seele erlebt also Wechselzustände. Nicht immer ist sie in dem Zustand, daß sie ihre geistige Leuchtekraft seelisch ausstrahlt über die Uumgebung, so daß Menschenseelen und andere Wesenheiten nun um sie herum sind und geistige Vorgänge von ihr erlebt werden. Nicht immer ist es so, daß die Seele also in der äußeren geistigen Welt lebt, sondern dieser Zustand muß abwechseln mit dem Zustand, daß die Seele dieses Ausstrahlen der geistigen Leuchtekraft gleichsam sich herabdumpfen fühlt. Die Seele wird innerlich stumpf, sie kann nicht mehr hinstrahlen ihr Licht auf die Umgebung, sie muß in sich selber zusammennehmen ihr ganzes Sein. Und jetzt kommt derjenige Moment, wo in der Zwischenzeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt die Seele ein völlig einsames Leben lebt. Das dauert lange. Wenn man es vergleichen will mit dem gewöhnlichen Leben, so kann man sagen: Wie im gewöhnlichen Leben der Mensch abwechseln muß zwischen Schlaf und Wachen, so muß er nach dem Tode abwechseln zwischen einem Leben, das sich ausgießt in die äußere Welt, und einem Leben der inneren Einsamkeit. Wo hereingenommen ist alles, was man früher im Zustand der Verbreiterung erlebt hat, wo aber die Seele weiß: Du bist jetzt ganz einsam mit dir. So wie man im Schlafe bewußtlos wird, so zieht man sich hier in sich zurück, wird aber nicht bewußtlos. Die Seele erlebt ein erstarktes Bewußtsein gerade in diesen Zeiten der Einsamkeit, aber sie erlebt das so, daß sie weiß: Da draußen ist die geistige Welt, du aber bist mit dir allein, alles, was du erlebst, erlebst du in dir. - Was man in sich erlebt, sind die Nachklänge (S58) dessen, was man außer sich erlebt hat. Nur dadurch kann die innere Leuchtekraft wieder erstarken und aus der Seele wieder heraustreten. Und dann wacht man geistig wiederum auf und erlebt wiederum den anderen Zustand.

   Es gehört zu den merkwürdigsten Erlebnissen, wirklich einmal zu lernen, einen Sinn zu verbinden mit den Worten, daß für die Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt die Seele lebt in geistiger Geselligkeit und Einsamkeit, daß für dieses Abwechseln der Zustände von geselligem Erleben und Einsamkeit in der geistigen Welt, allerdings durch viel längere Zeiträume als Tag und Nacht, daß es für dieses Nach-dem-Tode-Erleben etwas ähnliches bedeutet wie Schlafen und Wachen für das physische Erleben. Ich habe diese Verhältnisse angedeutet in meinem Buche: <<Die Schwelle der geistigen Welt.>> Aber die Seele erlebt so, indem sie weiterlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, allmählich ein Herabdumpfen, eine Verglimmen ihrer Leuchtekraft. Man möchte sagen: Die Erlebnisse der inneren Einsamkeit werden immer stärker und stärker. Sie werden allmählich so, daß der Mensch innerlich eine ganze Welt erlebt, man möchte sagen, einen ganzen Kosmos. Wahrhaftig, so wird sie, daß berechtigt ist zu sagen: den Menschen überkommt etwas wie das Gefühl der Furcht vor sich selbst, wenn er entdeckt, was da alles unten ist in den Untergründen der Seele, und was jetzt herauskommt ungefähr in der Mitte des Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.
   Und dann kommt die Zeit heran, die ich versuchte darzustellen in meinem vierten Mysteriendrama: <<Der Seele Erwachen>>, ich suchte sie darzustellen, diese Zeit, wo der Mensch nur mehr vermag innerlich Erlebnisse zu haben; wo die Nächte der Einsamkeit immer länger und länger werden; wo der Mensch nicht mehr aufwachen kann geistig zu einem Bewußtsein, in dem er seine Leuchtekraft ringsherum ausstrahlt. Ich habe versucht auszudrücken das, was dann der Mensch erlebt, mit einem symbolischen Ausdruck, mit dem Ausdruck: Die Mitternacht des geistigen Daseins zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Es ist die Zeit, in der der Mensch alles, was in den Tiefen seiner Seele ist, als seine Welt erlebt, wo er nur weiß: Jenseits der Ufer deiner Seele sind die geistigen Welten, in denen alles das ist, (S59) was es von geistigen Wesen gibt, in denen alle Menschenseelen sind, die entkörpert oder auch verkörpert sind, und in denen alle anderen Wesen sind; aber man weiß es nur, weil man die Nachklänge davon in sich hat. Und jetzt entsteht etwas in der Seele, was wieder nicht mit einem gewöhnlichen Wort bezeichnet werden kann. Nicht wahr, die gewöhnliche Sprache hat das Wort <<Sehnsucht>> für das Passivste in der Seele. Wenn wir sehnsüchtig sind im physischen Erleben, so sind wir am passivsten. Wir ersehnen etwas, wir begehren etwas, was wir nicht haben - und die Sehnsucht kann das gewiß nicht hervorbringen, was wir ersehnen. Wir können uns nur passiv verhalten. Aber die Seelenkräfte gewinnen einen anderen Charakter, wenn die Seele außerhalb des Leibes ist. Aus der Tiefe der Einsamkeit heraus, aus dem. was die Seele in der geschilderten Weise in der Weltenmitternacht des Geistes erlebt, bildet sich die Sehnsucht, wiederum in die Welt sich hineinzuleben, aus der man in seiner Einsamkeit herausgerissen ist. Und die Sehnsucht wird jetzt aktiv, und aus ihr wird etwas, was geistig real ist, eine organisierende Kraft. Sie wird wirklich eine neue Seelenkraft, wiederum eine solche Kraft, die nun eine äußere Welt wahrnehmen kann, aber eine Welt, die zugleich eine äußere und eine innere ist: eine äußere, weil sie wirklich außerhalb unseres Wesens da ist; eine innere, weil wir auf sie schauen als diejenige Welt, die wir im vorhergehenden Leben durchlebt haben, die Welt unserer früheren Erdenverkörperung. Das wird jetzt aus unserer Sehnsucht heraus unsere Außenwelt. Wir schauen hin auf all das, was unerledigt geblieben ist im vorigen Leben, und in uns zimmert die Sehnsucht Kräfte, um Ausgleich zu schaffen für das, was die Seele im vorhergehenden Erdenleben Schlechtes, Törichtes, Böses, Häßliches getan hat, um Ausgleich zu schaffen dafür in einem neuen Leben.

   Das ist die Zeit, in der jeder Mensch zurückblicken kann auf seine früheren Erdenleben, die Zeit, wo wirklich zwischen dem Tod und einer neuen Geburt dem Menschen vor Augen stehen - vor dem geistigen Auge stehen - all die Taten seiner früheren Leben, und in ihm erwacht die Tendenz, in einem neuen Erdenleben solche Ausgleiche zu schaffen, daß die neuen Erdenerlebnisse ausleben und gutmachen, (S60), was in früheren Erdenleben erlebt worden ist. Ich habe schon Menschen kennengelernt, die sagten, sie haben mit dem einen Leben genug; sogar einen Menschen, der nahe daran war, etwas Vernünftiges an diesen wiederholten Erdenleben zu finden -, dann hat er mir aber von der nächsten Eisenbahnstation aus eine Karte geschrieben, daß er doch nichts wissen wolle von einem nächsten Erdenleben. Aber darauf kommt es nicht an, daß wir uns von diesen wiederholten Erdenleben eine Vorstellung bilden können, sondern darauf, daß jede Seele in der Lage, die jetzt beschrieben worden ist, auf ihre früheren Erdenleben zurückblickt und zugleich die Tendenz in sich aufnimmt, ein neues Erdenleben zu erleben, das Ausgleich ist für die früheren Erdenleben. Und man erlebt weiter, daß es Menschen gibt, denen man manches schuldig geworden ist. Und in anderen Menschen tritt die gleiche Tendenz auf, wiederum mit den Menschen zusammenzuleben, denen man etwas schuldig geworden ist, um auszugleichen, was man schuldig geworden ist. Dadurch treten Kräfte auf in verschiedenen Menschen, die früher zu gleicher Zeit gelebt haben; da werden geistige Kräfte erregt, welche zur Erde hinunter tendieren. Dadurch kommt es, daß in dem neuen Erdenleben solche Menschen zusammenkommen, die früher beisammen gewesen waren. Es muß sich ausgleichen, was sich diese Seelen schuldig geblieben sind. Wie gesagt, die Tendenzen treten da zusammen. Und dann erlebt man immer weiter und weiter dieses geistige Leben zwischen Tod und neuer Geburt: immer mehr und mehr prägen sich ein, kraften sich ein die Tendenzen, von denen gesprochen worden ist. Sie werden lebendige Tendenzen. Und der Mensch schafft sich aus dem, was er also erfahren hat über frühere Erdenleben, das Urbild, das geistige Urbild des neuen Erdenlebens.

   Das schafft er nun selbst, indem die Zeit weiterrückt; da schafft er nun selbst, was sich verbindet mit der materiellen Substanz, die von Vater und Mutter gegeben wird, um in ein neues Erdenleben einzutreten. Und je nachdem die vererbten Eigenschaften von Vater und Mutter in der materiellen Substanz sein können und verwandt sind mit dem geistigen Urbild, wird das geistige Urbild hingezogen zu dem (S61) Materiellen vor der Empfängnis So daß man sagen kann: Die Wahlverwandtschaft zwischen den ererbten Eigenschaften und dem Urbild, die entscheidet, zu welchem Elternpaar die Seele sich wie magnetisch hingezogen fühlt, in welches Leben man sich hineinfindet. Dadurch kommt der Mensch wiederum zur Erde zurück, vereinigt sich wiederum mit einem physischen Leibe. Und die Geistesforschung kann nun sehen, was im Kinde, man möchte sagen, auf so mysteriöse Weise - wer ein Kindeleben zu beobachten versteht, wird sehen, es ist so - sich herausbildet, indem von innen heraus die ausdrucksvollen Mienen allmählich treten, indem die geschickten Bewegungen aus den ungeschickten sich entwickeln, indem das, was so ersichtlich aus dem Inneren arbeitet, den Körper modelliert und plastiziert; in all dem schaut der Geistesforscher dasjenige, was die Erlebnisse zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durchgemacht hat, von denen jetzt die Rede war, wie es sich da immer mehr und mehr mit dem Leibe verbindet - das schaut der Geistesforscher. Nunmehr sieht er ein, warum zunächst keine Erinnerungen an diese Erlebnisse vor der Geburt vorhanden sein können: Die Kräfte, die zu Erinnerungskräften werden könnten, die werden aufgebraucht, um den Leib zu organisieren. Das Kind würde sich erinnern an alles Frühere, denn es hat diese Kräfte; aber die Kräfte werden umgewandelt; ebenso wie die Druckkräfte, die ich entwickle, wenn ich über den Tisch fahre mit dem Finger, sich in Wärme verwandeln, so verwandeln sich diese Erinnerungskräfte in organisierende Kräfte. Was das Kind innerlich durchorganisiert,, was das Gehirn plastisch macht, so daß das Kind später denken kann, daß es im physischen Leib Erinnerungskräfte entwickeln kann: das ist umgewandelte, rückschauende Kraft; das verschwindet in dieser Gestalt, in der es die Rückschau entwickeln kann, und durchorganisiert den Leib. Und das Geistige, das den Leib durchorganisiert, das ist das umgewandelte Seelische, das ist hineingeflossen in den Leib. Und so begreifen wir das Leben, in dem wir gerade stehen, indem wir verstehen, was außerhalb des Lebens jenseits des Todes vorging.  Was da wirkt im Menschen im irdischen Leben, hat sich seine Kräfte angeeignet zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die Kräfte, die da rein geistig zutage treten, das sind (S62) die Erinnerungskräfte, die sich umgewandelt haben, die in den Leib hineinfließen und ihn durchorganisieren.

   Die Naturforscher werden einmal darauf kommen, wie die Kräfte, die rein in der Vererbung liegen, auch im Menschen eine Erschöpfung erfahren in der Zeit, wo die Vererbungsfähigkeit auftritt. Gewisse niedere Tiere sterben zugleich, indem sie zur Geburt eines anderen Wesens reif werden; das, was der Mensch an Kräften entwickeln muß, um physische Nachkommen zu haben und auf sie etwas zu vererben, das muß mit seiner Geschlechtsreife abgeschlossen sein; das kann ich nur andeuten. Darüber wird die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft zusammen wichtige Aufschlüsse geben können. Aber in alldem, was da im Menschen als physische Kräfte wirkt, wirkt Geistiges. Die geistigen Kräfte sind es, die sich im physischen Leibe betätigen so, daß sie diesen physischen Leib durchdringen. Der physische Leib ist gleichsam die Spiegelung des Geistigen. Und im Grunde genommen sind es eigentlich Zerstörungsprozesse, die die vorhin erwähnte Spiegelung bewirken. Immer sind es Zerstörungsprozesse, wenn wir Farben sehen, wenn wir Töne hören; auch wenn wir Erinnerungsvorstellungen bilden, machen wir Zerstörungsprozesse in uns. Darauf beruht die Notwendigkeit zu schlafen, damit der Mensch die Zerstörungsprozesse nicht allein wirken läßt.

   So leben wir, indem wir unsere  Leib durchdringen und durchkraften mit den Kräften, die wir außerhalb des Leibes erwerben, und das Leben begreift sich nur, wenn wir das im Leben tätige Geistig-Seelische ins Auge fassen. Geisteswissenschaft hat es nicht so gut wie andere, daß sie von dem Tode bei Pflanzen und Tieren in der gleichen Weise sprechen kann wie beim Menschen. Was ich jetzt gesagt habe, gilt nur für den Menschen. Auf diese Weise erweitert die Geistesforschung den Blick über das hinaus, was zwischen der Geburt und dem Tode liegt. Ja, auch Einzelheiten werden der Geistesforschung erklärbar. Ich kann mir sehr gut denken, daß diejenigen der verehrten Zuhörer, welche ein wenig etwas übrig haben für diese Ergebnisse der Geistesforschung, gerne über Einzelheiten hören wollen; aber ich kann nur einzelne Beispiele anführen.

   Zunächst sei ein Beispiel angeführt, das insbesondere den (S63) Forscher selber, trotzdem es paradox klingt, wie ein rechtes Mysterium des Lebens anmuten kann. Das ist das Dasein verbrecherischer Naturen. Nicht wahr, die Geistesforschung steht durchaus nicht auf dem Standpunkte, daß Verbrecher nur Mitleid verdienten, nicht bestraft werden sollten. Es obliegt nicht dem Geistesforscher, sich in die äußeren Angelegenheiten der Welt einzumischen; aber verstehen das, was im Menschenleben uns entgegentritt, das will der Geistesforscher, und er will es aus den Tiefen der geistigen Welt heraus. Da fragen wir uns: Wie liegt es denn mit einem Leben, das sich verbrecherisch offenbart? Nun, leicht sind die Dinge gesagt, aber die Antworten auf solche Fragen muß sich der Geistesforscher erst abringen, und abringen muß er sich im Grunde genommen auch, über diese Dinge zu sprechen, weil sie gar so paradox erscheinen für das Vorstellungsleben der Gegenwart. Wenn der Verbrecher angeschaut wird, hellseherisch, so stellt sich heraus, daß verbrecherische Naturen eine Art geistiger Frühgeburten sind.  Es gibt für jede Seele eine Möglichkeit, herunterzukommen aus den geistigen Welten, sich mit der physischen Materialität zu verbinden, die gewissermaßen die normale ist; aber die Tendenzen, die zu diesem Normalen hinführen, kreuzen sich mit anderen Tendenzen, so daß die meisten Menschen - aber Verbrecher besonders stark -. viel früher ins Erdenleben heruntergehen, als es normalerweise geschehen sollte. Das stellt sich sonderbarerweise heraus. Nun hat das etwas anderes im Gefolge. So richtig sich durchdringen mit der ganzen Leiblichkeit, daß man in der Leiblichkeit der Erde steht als ein Vollmensch, das kann man nur, wenn man wenigstens annähernd zu dem normalen Zeitpunkt sich wieder verkörpert. Aber wenn Gründe vorliegen durch vorhergehende Erdenleben, früher herunterzukommen auf die Erde, so nimmt man etwas mit, was im Unterbewußtsein lebt, wovon man gar kein Bewußtsein hat. Es lebt nämlich in den Tiefen der Seele etwas, was wie ein Leichtnehmen des Erdenlebens ist, weil man nicht zu dem Zeitpunkt heruntergekommen ist, wo man sich am vollkommensten hätte verbinden können mit dem Physischen. So verbindet man sich nur oberflächlich. Aber man weiß nichts davon. Das wird eine innere Seelenstimmung; das Leben nicht voll zu nehmen. Und so kann es sein, daß man in seinem (S64) gewöhnlichen Oberbewußtsein sogar einen abnorm entwickelten Selbsterhaltungstrieb hat, so daß man mit Feindschaft der sozialen Welt gegenübersteht, den stärksten Egoismus entfaltet, so daß man Verbrecher wird - und dennoch in seiner inneren Natur, die man nicht kennt, ein gewisses Oberflächlichnehmen, ein Leichtnehmen des Lebens hat, keinen Wert legen will auf dieses Leben. Das ist durch eine geistige Frühgeburt bewirkt. Wenn das der Fall ist, dann tritt dieses Leben auch so ins Dasein, daß der Mensch den überhandnehmenden Selbsterhaltungstrieb anfeuern kann durch das, was er nicht kennt, was ein Leichtnehmen des Lebens ist, und das sieht man aufsprießen in Verbrecherseelen. Erst als ich wußte, daß dies so ist, wurde mir ein anderes klar: Es gibt ein Lexikon der Gaunersprache. Man versteht innerlich die eigentümliche Art der Verbrechersprache, diese Leichtnehmen des Lebens in den Worten, die ja aus dem Unterbewußtsein der Seelen herauskommen -, das versteht man erst, wenn man kennt, was oben jetzt angedeutet worden ist. Es muß aber immer wieder darauf hingedeutet werden, daß in der Gesamtheit der menschlichen Erdenleben sich das wiederum ausgleicht, was ein Erdenleben verbricht, so daß der Verbrecher gerade durch das, was er als Folge seiner Verbrechertaten zu erleben hat, zu anderen Erdenleben aufsteigt, in denen ein Ausgleich eintritt.

   Aber auch anderes wird verständlich, wenn wir mit Geistesforschung die Mysterien des Lebens betrachten. Da sehen wir Menschen, die meinetwillen durch ein Unglück hinweggerafft werden. Merkwürdigerweise stellt sich heraus, daß bei Menschen, die durch ein Unglück hinweggerafft werden in der Zeit, in der sie sonst die Erde noch nicht zu verlassen hätten, also in einer Zeit, über die die irdisch-physischen Kräfte herausragen; wenn zum Beispiel jemand im fünfunddreißigsten Lebensjahre von einer Lokomotive überfahren wird, ohne daß er den Tod sucht, so stecken noch die Kräfte in seinem Leibe, die noch hätten wirken können. Indem man hinausgeht aus der physischen Welt, gehen diese Kräfte nicht in Nichts über, sondern man sieht, wie das Seelisch-Geistige, die Intelligenzkräfte, die Kräfte des genaueren Denkens, sich gerade durch einen solchen Unglücksfall verstärken können, so daß ein solcher Mensch mit stärkeren (S65) Intelligenzkräften wiedergeboren werden kann als ein anderer, der eines natürlichen Todes stirbt. Man muß sich schon damit bekanntmachen, daß Geistesforschung, indem sie das Leben von einem größeren Horizont überblickt, über manches anders reden muß, als man im gewöhnlichen Leben redet. Jemand, der in früherer Zeit des Erdenlebens stirbt, sagen wir, durch eine Krankheit, der vieles durchmacht durch diese Krankheit, der bereitet durch dieses Kranksein seine Seele so, daß seine Willenskräfte verstärkt werden können. Frühzeitiges Sterben durch Krankheit verstärkt die Willenskraft.

   Ja, es mag schon manches erscheinen wie eine Phantasterei; aber ich bin mir aber auch bewußt - das darf ich wohl einflechten -, daß ich eine gewisse Verantwortung habe, wenn ich diese Dinge bespreche, und daß ich sie nicht besprechen würde, wenn ich nicht die Mittel der Geistesforschung kennte, mit denen diese Dinge mit ebensolcher Gewißheit gewußt werden können wie die Dinge der Außenwelt gewußt werden können. Ich würde es als die größte Frivolität empfinden, wenn diese Dinge gesagt würden , ohne daß in der Seele ein Wissen liegt, das von einer solchen Stimmung durchdrungen ist, wie sie eben angedeutet worden ist.

   So wird das Leben des Menschen gerade verständlich durch das, was außerhalb des physischen Lebens liegt; und so, wie sich das Leben zwischen Geburt und Tod entwickelt, ist es ein Ergebnis des Lebens, das jenseits von Geburt und Tod liegt. Für manchen mag das erscheinen wie eine Entwertung des Lebens. Damit es den verehrten Zuhörern nicht so erscheint, möchte ich etwas ganz kurz wiederholen. Jemand kann sagen: Da werden wir aufmerksam gemacht, daß das, was wir in einem Erdenleben erleben, wir uns selbst zubereitet haben. Wahr ist es. Aber erleben wir ein Unglück - wir erleben es, weil wir vorher unserer Seele die Tendenz eingepflanzt haben, in dieses Unglück hineinzusteigen. Wie die Alpenpflanze nicht in der Ebene gedeiht, sondern die Höhe aufsucht, so sucht sich die menschliche Seele die Lage auf, wo ihr das Unglück widerfahren kann; sie wächst hinein in das, was sie als Schicksal erlebt. Wie das Schicksal selbstverständlich ist, in den Alpen zu leben für jene Pflanze, so ist es selbstverständlich für die menschliche Seele, sich ins Unglück (S66) hineinzustürzen, wenn sie in sich die Tendenz aufnjimmt durch die Einsicht: nur wenn du dieses Unglück überwindest, kannst du vollkommener werden in einer Beziehung, wo du unvollkommener bleiben müßtest, wenn dir das Unglück nicht passierte. Wenn jemand sagt: so werden wir doch zu Schmieden unseres eigenen Unglücks gemacht; und wenn gesagt wird, daß wir unser Unglück nicht nur ertragen und erdulden sollen, sondern es in gewisser Weise sogar überirdisch verdient haben: Das kann uns kein Trost werden! - so muß demgegenüber gesagt werden, was ich schon früher durch einen Vergleich klarmachte: Wenn jemand bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr gelebt hat aus der Tasche seines Vaters im Überfluß und ohne etwas gelernt zu haben, und sein Vater wird dann bankerott, dann kann es, von außen gesehen, ein großes Unglück sein, wenn jetzt das Leben ihn hart anläßt. Und er hat recht, wenn er jetzt das Leben unglücklich findet. Aber nehmen wir an, er ist fünfzig Jahre alt geworden und sieht sein Leben von einem anderen Gesichtspunkt aus an, dann sagt er sich: Hätte mich das Unglück nicht getroffen, ich wäre nicht geworden, was ich jetzt bin. Für meinen Vater war es ein Unglück, für mich war es ein Entwicklungsferment meines Lebens. - So sind wir auch nicht immer in der Lage, den richtigen Gesichtspunkt zu finden für ein Unglück in dem Zeitpunkt, in dem wir es erleben. Wir stehen vor der Geburt auf einem ganz anderen Gesichtspunkt als nachher: daß das erlebt werden muß in einem neuen Leben, was einen Ausgleich schafft für das, was früher geschehen ist. Da bereiten wir uns das Unglück, das wir später mit Recht leidensvoll erdulden, und über das wir mit Recht klagen, weil wir es dann nur vom Gesichtspunkte des physisch-irdischen Erlebens aus betrachten.

  Ich möchte noch ein Weniges sagen über die Zeit, die verfließt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die kurze Zeit der Rückschau nach dem Tode, die nur nach Tagen dauert, ich habe sie schon angegeben; die Zeit, die nachher kommt, dauert länger, sie dauert nach Jahrzehnten. Der Geistesforscher kommt etwa in der folgenden Weise darauf, wie lange diese Zeit dauert. Er muß sich fragen zunächst, damit er überhaupt die Kräfte, um so etwas einzusehen, in (S67) sich entwickeln kann: Was in deiner Seele ist es denn, was dir, wenn du dich außer dem Leibe erlebst, was dir da so erscheint, daß es in der Seele ist wie etwas, was von ihr durch den Tod getragen werden kann? Und da erlebt man merkwürdigerweise, daß man etwas aus dem Leibe heraus nimmt, während man sonst alles zurückläßt. Die Leidenschaften, Erinnerungen und so weiter läßt man zurück als Geistesforscher, wenn man sich aus dem Leibe heraus begibt; aber mit nimmt man seine Überwindungen, mit nimmt man das, was man sich erst aneignen kann in einem Erdenleben, sagen wir, nach den Zwanzigerjahren. Man wird das heute nicht gerne hören, weil heute die Leute auch schon zu dem Höchsten reif gehalten werden vor dem zwanzigsten Lebensjahre. Das kann man ja sehen in den Zeitungen, über und unter dem Strich schreiben ja heute vielfach Menschen, die nicht das zwanzigste Jahr erreicht haben. Aber in Wahrheit ist es doch so: was man so recht durch sich selbst erlebt, so erlebt, daß es wirklich aufgespeicherte Lebensweisheit wird, das geschieht dadurch, daß man schon etwas erlebt hat und mit einem späteren Erlebnis auf das frühere zurückblickt. Dieses innerliche Emporarbeiten durch seine Überwindungen, dieses innerliche Erleben der Seele ist das, was schon ein Vorkeim ist - so stellt es sich heraus - zu dem, was dann die Seele durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Und so muß in fortwährendem solchem Überwinden, im Umwandeln von Kräften die Seele leben. Normalerweise bleibt die Seele so lange in der geistigen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, als sie etwas umzuwandeln hat. Von der anderen Seite betrachtet, sei Folgendes angeführt: Wir leben uns in eine gewisse Zeit hinein; wir nehmen dies oder jenes auf, erfahren dieses oder jenes, indem wir diesem oder jenem Volksstamme angehören. Indem wir durch den Tod gegangen sind, haben wir uns aus dem heraus unsere Lebenserfahrungen gebildet. Aber die Erde verändert sich. Nicht nur daß sich die physischen Verhältnisse ändern. Es mögen nur einmal die verehrten Zuhörer zurückdenken, wie sich etwa um die Begründung des Christentums die Gegenden hier, wo jetzt Wien liegt, ausgenommen haben. Aber in noch kürzeren Zeiträumen verändert sich das Kulturantlitz der Erde, des geistigen Inhalts unserer Umgebung, woraus wir unsere (S68) Erinnerung, unseren Gedächtnisschatz nehmen. Nun kommt die Seele normalerweise nicht früher zurück in ein neues Erdenleben, bis sie in eine vollständig neue geistige Umgebung treten kann. Dazu muß sie alles ändern, was sie im vorhergehenden Erdenleben erlebt hat, zum Beispiel die Fähigkeit, sich in einer bestimmten Sprache auszudrücken. Das muß sie umwandeln, sie muß sich andere Sprachfähigkeit aneignen. Das also ist die Zeit - sie dauert nach Jahrhunderten. Sie umfaßt normalerweise etwas wie ein bis eineinhalb Jahrtausende. Aber durch gewisse Verhältnisse können, wie gesagt, geistige Frühgeburten entstehen.
   Die Zeit drängt, ich kann mich in der Ausmalung der besonderen Verhältnisse nicht weiter ergehen. Das möchte ich nur noch sagen, daß derjenige der verehrten Zuhörer, der etwa heimgehen sollte mit dem Gefühl: Ja, das ist ja alles wirklich nicht zu glauben; wie soll denn der Mensch etwas darüber wissen können! - der sei aufmerksam gemacht auf das, was ich schon eingangs erwähnte, daß in der Tat spätere Selbstverständlichkeiten - Erkenntnisse, die in alle Seelen eingedrungen sind - zuerst als paradox sich der Erdenkultur mitteilten. Und derjenige, der heute Geisteswissenschaft pflegen will, muß sich schon damit bekanntmachen, wie begreiflich es ist, daß als Phantasterei das hingenommen werden kann, was sich so sicher in die Geister einleben wird, wie sich die Kopernikanische Weltanschauung eingeprägt hat, nachdem sie zuerst als Phantasterei, als etwas Schädliches sogar von vielen angesehen worden ist. Aber noch einmal darf ich auf das Bild aufmerksam machen, das sich dem Geistesforscher und demjenigen, der in dem vorgestern erwähnten Sinn Geisteswissenschaft zu verstehen vermag, hinstellt, um ihm das starke Bewußtsein zu geben von der Wahrheit, die sich allmählich durchringen wird. Sollte sie sich auch durchdrücken müssen durch die engsten Felsspalten, so daß auf sie drücken die stärksten Felsmassen der Vorurteile, sie wird sich doch durchdrücken. Erstarken wird das Bewußtsein daran, wenn man hinblickt auf Giordano Bruno; da hat man das Bild vor sich: Er trat vor die Menschheit so, daß er jahrhundertealte Vorurteile zerbrach, indem er sagte: Die Menschen haben geglaubt, wenn sie hinaufschauten in den weiten (S69) Raum da oben, breite sich das blaue Himmelsgewölbe aus; Sonne und Planeten kreisten daran und das blaue Himmelsgewölbe ist eine Wand, eine blaue Wand! - Damals konnte Giordano Bruno sagen: Diese Wand erscheint euch nur deshalb, weil euer Wahrnehmungsvermögen nur bis dahin reicht. Ihr baut euch diese Grenze selber auf; sie ist gar nicht vorhanden. Unendlichkeiten des Raumes breiten sich aus. Und Unendlichkeiten des Raumes sind erfüllt von unendlichen Welten.
   Heute muß der Geistesforscher dieser Erweiterung des Blickes in die Unendlichkeiten des Raumes gedenken, er muß daran denken, wie Giordano Bruno zuerst darauf aufmerksam machte, daß die Grenzen des Raumes im Himmelsgewölbe nur von der Beschränktheit des menschlichen Wahrnehmungsvermögens selbst gemacht sind; er muß hinweisen darauf, daß es auch für die Zeit des menschlichen Erlebens ein solches Firmament gibt. Indem man mit den physischen Wahrnehmungsorganen und dem Verstand das menschliche Leben überschaut, sieht man auf diese Grenzen, die Grenzen von Geburt und Tod, wie man einmal gesehen hat die Grenze des Raumes im blauen Himmelsgewölbe, die aber in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. So ist auch die Grenze für die Zeit des menschlichen Erlebens zwischen Geburt, oder sagen wir Empfängnis und Tod nur hingesetzt von der Beschränktheit des menschlichen Anschauungsvermögens. Und jenseits von Geburt oder Empfängnis und Tod breitet sich aus die zeitliche Unendlichkeit und in diese zeitliche Unendlichkeit sind eingebettet die nach rückwärts und nach vorne verlaufenden Wiederholungen des menschlichen Erdenlebens und jener Leben, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt verfließen. Das kann ich allerdings nicht ausführen, daß die ganzen Wiederholungen einmal einen Anfang genommen haben, daß der Mensch aus dem Geistigen geboren wurde und hier seinen Wohnplatz fand - dazumal ist die Erde selbst aus der geistigen Welt heraus entstanden -, und daß der Mensch, nachdem er durch die Erdenwiederholungen gegangen ist, wenn die Erde selbst abfällt von den menschlichen Seelen, daß dann der Mensch in ein anderes, wieder vergeistigtes Leben übertritt. Das kann nur angedeutet werden, darüber findet man Genaueres in meiner <<Geheimwissenschaft>>. (S70)
   Wenn man sich auch in der angedeuteten Weise mit den Erkenntnissen der Geisteswissenschaft in Widerspruch zu dem Denken der heutigen Zeit befindet, so muß man sich doch sagen: In den Ahnungen derer, die die Führer der Menschheit waren - ich habe vorgestern in derselben Weise die Betrachtung geschlossen -, findet man dennoch das, was heute in der Geisteswissenschaft wiederum auflebt. Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, haben die Menschen nicht gehabt; denn sie ist ein Kind unserer Zeit, und wird aus der Bildung unserer Zeit entstehen; aber diejenigen, die sich in ihrer Seele verbunden wußten mit dem Geist des Alls, der in allen Menschen wallt und webt, die prägten in die Worte hinein dasjenige, wozu die Geisteswissenschaft in vollem Sinne Ja sagen kann . Geisteswissenschaft zeigt uns, wie wir das Leben zwischen Geburt und Tod verstehen, indem wir in diesem physischen Leib, im ganzen physischen Leben wirken und weben sehen das, was unsterblich ist, das, was auch in einer geistigen Welt leben kann. Geisteswissenschaft zeigt uns, daß wir das Leben im Leibe haben durch das Leben außer dem Leibe, so daß niemand das Leben zwischen Geburt und Tod verstehen kann, der nicht das Leben außerhalb dieses (leiblichen) Firmaments versteht. Das drückt Goethe mit Worten aus - ahnend die späteren Erkenntnisse der Geisteswissenschaft -, mit Worten, die nicht nur Goethes Bekenntnis zu einem unsterblichen Leben klar darlegen, sondern auch ausdrücken, wie er wußte, daß der wirkliche Wert im Erkennen des gegenwärtigen Lebens, im Erleben des irdischen Daseins davon abhängt, daß man dieses irdische Dasein durchglüht, durchleuchtet, durchwallt weiß von dem, was außerirdisch, überirdisch, unsterblich ist. Deshalb sei gerade diese Erkenntnis der Geisteswissenschaft, daß eine wahre innere Wesenheit des Sterblichen durch das Unsterbliche erkannt wird, wie in einer Empfindung zusammengefaßt wird durch die Worte, in denen Goethe seine Überzeugung einmal ausdrückte: Denen gegenüber, die sich gar nicht wollen aus der eigentümlichen Wesenheit des gegenwärtigen Lebens eine Anschauung bilden über ein anderes Leben, denen gegenüber <<möchte ich>> - das sind die Worte Goethes <<mit Lorenzo von Medici sagen, daß alle diejenigen auch für dieses Leben tot sind, die kein anderes hoffen.>>

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Rudolf Steiner, Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt, Erster Mitgliedervortrag