Zweiter Teil
2. Die Neugestaltung der menschlichen Erkenntnis durch Anthroposophie
Hinsichtlich der Arbeit nun, die im Schoße der Anthroposophischen Gesellschaft in Wien gepflegt wurde, ist zunächst zu berichten, daß in den Jahren unmittelbar nach dem Tode Rudolf Steiners ihr Schwerpunkt weiterhin in der Erarbeitung der zentralen Ergebnisse und methodischen Momente der anthroposophischen Forschung lag, wie sie Steiner seit der "Weihnachtstagung" einerseits in den "Anthroposophischen Leitsätzen", andererseits in den auf Wiederverkörperung und Schicksal bezüglichen "Karma-Vorträgen" zur reifsten Darstellung gebracht hatte. Daneben wurden in Einzelvorträgen allerverschiedenste Themen behandelt, wie sie die je betreffenden Mitglieder als Früchte ihrer persönlichen Studien darbieten konnten. Außerdem beschäftigten sich verschiedene Arbeitsgruppen mit speziellen Themen aus den Gebieten der Wissenschaft, der Künste und des sozialen Lebens.
Was meine eigenen Erkenntnisbemühungen betrifft, soweit sie neben all dem Geschilderten einhergingen, so kreisten sie in den ersten Jahren nach Rudolf Steiners Tod, das heißt: nachdem sein Erdenwirken nun zum Abschluß gekommen war, immer wieder und von den verschiedensten Ausgangspunkten her darum, das Ganze seines Lebens, seiner Entwicklung und seines Schaffens, anders gesagt: das Wesen, die Entstehung und die stufenweise Entwicklung der Anthroposophie zu erfassen. Zwar war ich mir völlig klar darüber, daß, von außen her gesehen, die Bedeutung dieses Lebenswerkes in erster Linie in der Erringung neuartiger Erkenntnisse, in der Begründung einer wissenschaftlichen Erforschung der geistig-übersinnlichen Welt liege. Dennoch hatte ich zugleich die (S80) Empfindung, daß es, von innen her gesehen, vor allem ein Ereignis, eine Tat, ein nach einer inneren Gesetzmäßigkeit verlaufendes Geschehen darstelle. Wesen, Bedeutung und Gesetz dieses Geschehens zu ergründen, empfand ich als Aufgabe. Ihren ersten Niederschlag fanden meine diesbezüglichen Bemühungen in sieben Aufsätzen über "Rudolf Steiners Lebenswerk", die ich schon kurz nach seinem Tod im Jahre 1925 in meinen "Österreichischen Blättern" veröffentlichte . Im folgenden Jahr erschienen sie dann als mein erstes Buch mit dem Untertitel "Ein einführender Überblick über die Begründung der Anthroposophie" (Siehe: Lauer: Rudolf Steiners Lebenswerk). Den Grundduktus schon dieser Darstellung bildete der Aufweis, wie Steiner sich erst ganz die Grundimpulse der modernen Geistesentwicklung zu eigen machte und in diesen die Fundamente verwurzelte, auf denen er dann mit dem Beginn unseres Jahrhunderts die stufenweise Wiederaufschließung jener Geisteswelten in völlig neuer Art vollzog, mit denen die Menschheit in alten Zeiten in anderen Formen verbunden gewesen war.
Einen nächsten Ausdruck fanden diese meine Bemühungen in dem zweiten Buche, das ein Jahr später unter dem Titel "Rudolf Steiners Anthroposophie im Weltanschauungskampf der Gegenwart" herauskam (siehe: Lauer: Anthroposophie). Es war eine Sammlung von 7 selbständigen Abhandlungen, in denen ich von verschiedenen Gesichtspunkten aus Beiträge zur selben Thematik lieferte. Vielleicht darf ich hier nur den letzten der darin enthaltenen Aufsätze erwähnen, weil in ihm ein erster Vorklang dessen hörbar wurde, was im folgenden ausführlicher zu schildern sein wird. Ich charakterisiere dort die Situation unserer Zeit dahin, daß die Kräfte, aus denen ursprünglich und bisher die menschliche Kultur entstanden war und gespeist wurde, im Versiegen begriffen seien; dem Ruf, den angesichts dieser Situation im 18. Jahrhundert Rousseau hatte ertönen lassen: "Zurück zur Natur", stellte ich dann jenen anderen entgegen, in dem sich der Impuls der Anthroposophie zusammenfassen lasse: "Hinan zum Menschen im Menschen!"
Zu diesen Arbeiten gesellten sich in den nächsten Jahren noch mehrere in verschiedenen Zeitschriften erschienene Aufsätze hinzu, in denen immer wieder neue Anläufe auf dasselbe Ziel hin (S81) unternommen wurden. Bei all dem beschäftigten mich in besonderem Maße die - innerhalb der Gesellschaft damals noch wenig beachteten und in ihrer Bedeutung erkannten - Dokumente der geistigen Fundamentierung seiner späteren Mission, die dem vor der Jahrhundertwende liegenden Lebensabschnitt Steiners angehören.
Hand in Hand mit diesen Bemühungen gingen diejenigen, die durch meine persönliche Veranlagung bestimmt waren, nämlich jene um die erkenntnismäßige Durchdringung der Menschheitsgeschichte. Schon 1926/27 hielt ich durch den ganzen Winter hindurch eine lange Reihe von Vorträgen über die Geschichte der Menschheit. Diese meine Veranlagung drängte mich weniger zu einer Erforschung der im Raume ausgebreiteten Welt der Natur als vielmehr zu derjenigen der im Elemente der Zeit sich bewegenden Welt der Geschichte. Es mochte dies damit zusammenhängen, daß ich mich auf dem Gebiete der Künste vor allem in der Musik - der reinen Zeitenkunst - beheimatet fühlte, während die bildenden Raumkünste meinem Erleben fernerstanden. Und mit den Problemen der Geschichte waren es zugleich jene der Bildung und Wandlung der Gesellschaft, des sozialen Lebens, die mich immer wieder in ihren Bann zogen, - hatte doch, nach der Anthroposophie als solcher, die Idee der sozialen Dreigliederung mich am tiefsten ergriffen, als sie im Jahre 1919 von Rudolf Steiner erstmals in Wort und Schrift zur Darstellung gebracht worden war.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser vornehmlich der Geschichte zugewandten Interessen, deren Einseitigkeit mir völlig bewußt war, beschäftigten mich in jenen Jahren immer wieder aufs intenstivste das prinzipielle Verhältnis sowie die methodischen Unterschiede zwischen der Natur- und den Geisteswissenschaften. Nach Rickerts diesbezüglichen Darstellungen, die ich schon in Heidelberg kennen gelernt hatte, vertiefte ich mich jetzt in Diltheys einschlägige Schriften, besonders in seine "Einleitung in die Geisteswissenschaften". Sowohl Rickert wie Dilthey hatten, wenn auch in verschiedener Weise, sich um die Entwicklung einer gegenüber denjenigen der Naturwissenschaft selbständigen Erkenntnistheorie und Methodik der Geisteswissenschaften bemüht. Dasselbe (S82) Anliegen mußte, nach meiner soeben angedeuteten Interessenrichtung auch mich bewegen. Für mich komplizierte es sich jedoch dadurch, daß ich mich außerdem zwei "Geisteswissenschaften" gegenübergestellt sah: derjenigen, die durch Dilthey, Rickert und andere vertreten wurde, und der "anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft", wie sie mir in Rudolf Steiner entgegentrat. Beiden war gemeinsam, daß sie ein gegenüber der Naturwissenschaft methodisch selbständiges und ihr wissenschaftlich gleichwertiges, sie ergänzendes Gegenstück darzustellen prätendierten. Wodurch aber unterschieden sie sich unter sich selbst voneinander? Im Verfolg der Bemühungen um Klärung dieser Frage war es, daß mir im Frühjahr 1928 zuteil wurde, was ich als die zentrale geistige Inspiration meines Lebens betrachten muß. Auf den Jahrestagungen der Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich, die regelmäßig um die Pfingstzeit in Wien abgehalten wurden, pflegte ich jeweils einen Vortrag von besonderer Bedeutung zu halten, - und so hatte ich mir in jenem Jahr vorgenommen, wieder einmal die prinzipielle Bedeutung darzustellen, welche der Anthroposophie innerhalb der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Erkenntnislebens zukommt. Als ich an einem der Pfingstfeiertage vormittags einen Spaziergang auf der großen Allee durch den Prater unternahm, um meinen Vortrag in Gedanken auszuarbeiten, ging mir blitzartig die Erkenntnis auf, daß von der Zweiheit von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft her die eigentliche Wesensart und Bedeutung der Steinerschen Erkenntnisleistung nicht zureichend dargestellt werden könne, sondern nur dann, wenn man von einer Dreiheit ausgehe: nämlich derjenigen von Theosophie, Naturwissenschaft, Anthroposophie. Und zwar stellten sich mir die Beziehungen zwischen diesen, kurz gesagt in folgendem Sinne dar:
In alten Zeiten, das heißt in der Blütezeit der altorientalischen Kulturen, war alle Erkenntnis Theosophie, Gotteserkenntnis gewesen. Ihr Weltbild war ein auf das Göttliche bezogenes. Eine Naturwissenschaft als eine selbständige Zielsetzung gab es noch nicht. Die damals herrschende Theosophie hatte, soweit sie sich auf die "Welt" bezog, lediglich den Charakter einer Kosmo- beziehungsweise Astrosophie. Sie war Himmelserkenntnis, Sternkunde. (S83) Denn der Sternenhimmel erschien als die Wohnstätte des Göttlichen. Erst in der Griechenzeit begann eine Naturerkenntnis sich zu entwickeln, zuerst in der Naturphilosophie der Vorsokratiker und dann als Naturwissenschaft in Aristoteles. Damit rückte - qualitativ und räumlich - die Erde in den Mittelpunkt der Welt. Die letztere wurde gleichbedeutend mit dem Umkreis der ersteren. Diese Naturerkenntnis erfuhr ihre Fortsetzung und Weiterbildung seit der Renaissance in der modernen Naturforschung durch Leonardo da Vinci, Giordano Bruno, Galilei, Newton u.a. Sie hob nun zwar den Unterschied zwischen Himmlischem und Irdischem auf, indem sie die Erde für einen Stern unter Sternen erklärte; dafür betrachtete sie aber die Sternenwelt als eine rein materielle. Das heißt: sie verlor die Welt des Göttlichen immer mehr aus ihrem Blick - denn diese fiel als Glaubenssache nun ganz in die Kompetenz der religiösen Konfessionen, und so prägte sich immer bestimmter das rein naturwissenschaftliche Weltbild aus, für welches die Natur, der rein materielle Kosmos, eine in sich ruhende, durch sich selbst bestehende Welt, ja überhaupt die Welt schlechthin darstellt. Waren für die einstige Theosophie die verschiedenen Wege und Formen eines übersinnlichen, hellseherischen, okkulten, mystischen Erlebens das allein in Frage kommende Erkenntnisinstrument gewesen, so wurden für die moderne Naturwissenschaft jetzt die Sinneserfahrung, das Experiment und die auf das rein Quantitativ-Mathematische reduzierte denkerische Verarbeitung derselben die alleingültige Methode. Weder die erstere noch die letztere aber brachte es zu einer zureichenden Erkenntnis des spezifischen Wesens des Menschen. Für jene blieb er das Geschöpf oder der Nachkomme göttlich-geistiger Wesen, das Kind Gottes, - für diese wurde er zum bloßen Natur- oder Lebewesen, zum höchstentwickelten Tier. Was in der neueren Zeit neben die Naturwissenschaft als "Geisteswissenschaften" sich hinstellte, waren entweder theologisch gestimmte Nachkommensformen der einstigen Theosophie, wie etwa die Richtungen, die sich an die deutsche idealistische Philosophie und an die Romantik anschlossen, - oder es übernahm die Forschungsmethoden der Naturwissenschaft, wie etwa die Fechnersche Psychophysik, die Wundtsche Experimentalpsychologie, die (S84) Geschichtsforschung Karl Lamprechts oder Oswald Spenglers, die Soziologie Karl Marx' usw. In beiden Fällen wurde das spezifisch Menschliche verfehlt.
In der Anthroposophie, wie sie sich im Lebenswerk Rudolf Steiners darstellt, tritt nun erstmals eine Wesenserkenntnis des Menschen in Erscheinung, die in seiner geistigen Selbsterweckung und Selbstverwandlung gründet. Beginnend mit der Ich-Erfahrung im Erleben des eigenen Denkens, vertieft sie diese Schritt für Schritt, indem sie in analoger Weise das Fühlen und das Wollen für das vollbewußte Erleben erobert, und bringt dadurch stufenweise das im Menschen veranlagte eigene, das heißt: menschliche Geistige zur Entfaltung. Damit enthüllt sie als das zentrale Geheimnis seines Wesens dieses, daß es seiner Totalveranlagung nach eine dreigliedrige, leiblich-seelisch-geistige Organisation darstellt. In ihrer Leiblichkeit faßt diese die Welt der Natur, in ihrer Geistigkeit diejenige des Göttlich-Geistigen in sich zusammen und bildet in ihrem Seelenwesen eine eigene dritte Welt zwischen den beiden anderen, - eine Welt, welche zum Vermittler zwischen jenen befähigt und berufen ist.
Damit erweitert sich diese Menschenwesenserkenntnis zu einer Gesamtweltanschauung, die sich durch folgende Merkmale kennzeichnet. Im Unterschied von der altorientalischen Weltanschauung, die eine theozentrische gewesen war, und zu derjenigen des modernen Westens, die eine physikozentrische genannt werden kann, ist sie eine anthropozentrische. In ihrem Mittelpunkt steht der Mensch, - auf ihn ist sie in ihrer Gesamtheit bezogen. Da ihr aber der Mensch auch objektiv als die Mitte einer nach entgegengesetzten Seiten: nach dem Geistig-Göttlichen und dem Materiell-Natürlichen hin sich ausdehnenden Welt sich darstellt, ist sie zugleich auch die erste Weltschau, die das Ganze der Welt in dem Sinne umfaßt, daß sie jedem ihrer Teilbereiche seine relative Selbständigkeit zugesteht. Dem gegenüber beinhalteten die früheren Weltbilder je nur einen Pol des Weltganzen: für dasjenige des Orients bedeutete die Natur eine bloße Schweinwelt, Maja - oder war Asien der unterste Bereich der Geistwelt, und der Mensch, wie schon erwähnt, ein bloßes Kind Gottes. Für den Okzident sind die Begriffe, die auf eine Geistwelt hindeuten, bloße Ideologie, eine aus (S85) der Sinneswelt abgezogene Abstraktion, der Mensch nur das höchste Tier. Erst in der Anthroposophie kommen alle Teilgebiete der Welt zu ihrer relativen Selbständigkeit gewürdigt werden.
Das Mittel ihrer Erkenntnis ist die Selbsterkenntnis des Menschen, - denn für diese erweist er sich und verwirklicht sich zugleich erst voll als ihre Mitte. So wird alle Erkenntnis jetzt einerseits Menschenerkenntnis (wie sie früher Gottes-, dann Naturerkenntnis war) und weitet sich andererseits aus zur Welterkenntnis. Sie entfaltet sich, wie in einem Atemrhythmus, im lebendigen Hin- und Herschwingen zwischen menschlicher Selbsterkenntnis und Welterkenntnis. Man könnte auch sagen, sie gestalte sich in zweifacher Form aus: am einen Pol zur Menschen-, am andern zur Welterkenntnis; noch anders gesagt: zu einer Anthroposophie im speziellen und einer solchen im allgemeinen Sinne. Es ist also die übersinnliche Erkenntnis beziehungsweise die Erkenntnis der übersinnlichen Welt, zu welcher sich die Ich-erfassung in ihrer weiteren Entfaltung ausweitet, nicht Selbst- und Endzweck, sondern nur Mittel der Menschenerkenntnis, - allerdings einer solchen, die sich zu einer Gesamtwelterkenntnis ausweitet, weil das Wesen des Menschen sich ihr als der Vereiniger und zugleich freie Mittler gegensätzlicher Welten enthüllt.
Es ergibt sich hieraus eine Neugestaltung der menschlichen Erkenntnis im Sinne einer trinitarisch gearteten Neugliederung der Wissenschaften. An die Stelle der bisherigen Zweiheit von Natur- und Geisteswissenschaften tritt eine Dreiheit. Für die Glieder derselben wählte ich damals die Namen einer Gäasophie (in Anknüpfung an den Titel eines damals von der naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum herausgegebenen Jahrbuches), einer Psychosophie und einer Pneumatosophie, - eine Dreiheit, die als Ganzes die allgemeine Anthroposophie darstellt. Das Verhältnis zwischen den bisherigen und diesen neuen wissenschaftlichen Disziplinen aber stellte sich mir in der folgenden Weise dar:
Die bisherige Naturwissenschaft kennt in Wahrheit nur die Gegenwart der Naturwelt und vermag über deren Herkunft lediglich Hypothesen aufzustellen, außerdem bleibt ihr das wahre, sowohl (S86) ontologische wie genetische Verhältnis zwischen Natur und Mensch verschlossen. Der Gäasophie dagegen enthüllt sich das Werden, die Entstehungsgeschichte der Natur in ihrem wahren Zusammenhang mit der Genesis der menschlichen Leiblichkeit.
Die bisherige wissenschaftliche Psychologie versteht das Seelische nur als vom Leibe Abhängiges oder von ihm Hervorgebrachtes oder mit ihm Identisches, vermag aber seine konkrete Beziehung zum Leibe doch nicht zu enthüllen. Dem gegenüber erfaßt die Psychosophie sowohl im Konkreten die zweiseitige Bedingtheit des Seelischen vom Geistigen wie vom Leiblichen her als auch sein spezifisches Eigenwesen: als die Welt, in welcher durch die gegenseitige Neutralisierung jener Bedingtheiten die menschliche Freiheit sich entfaltet.
Gegenüber der alten Theosophie beziehungsweise den modernen "Geisteswissenschaften" schließlich enthüllt die Pneumatosophie die wahre Beziehung zwischen dem Menschlich-Geistigen und dem Göttlich-Geistigen.
Diese wahre Erkenntnis des Menschen und seiner Stellung im Ganzen der Welt ist identisch mit seiner vollen Wesensverwirklichung, zu der er noch immer erst auf dem Wege ist. So ist sie nicht nur Erkenntnis, sondern auch Ereignis, Tat, - nicht bloße Lehre, sondern zugleich Leben, - nicht bloße Theorie, sondern zugleich existentielle Wandlung. Und darum erfließen aus ihr auch für alle einzelnen Lebensgebiete Impulse der Um- und Neugestaltung.
In noch keimhafter Form hatte sich dieses Wandlungsgeschehen erstmals angekündigt in Schillers "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" von 1795. Ihnen zufolge kommt die volle Menschwerdung des Menschen zustande durch die Verschmelzung seiner beiden Grundtriebe: des Form- und Stofftriebes zum Spieltrieb, mit welchem gleichsam die Brücke gezimmert wird zwischen den beiden Welten des Geistes und der Materie, denen er durch jene beiden Grundtriebe sich zugehörig erweist. Schillers Ausführungen hatten Goethe dazu angeregt, diesen Wandlungsprozeß in prophetischen imaginativen Sinnbildern in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie (in den "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter") darzustellen.
(S88) In diesem Märchen ist die Rede von zwei Reichen diesseits und jenseits des großen Flusses. Im diesseitigen wohnt die Schlange, im jenseitigen die schöne Lilie. Die Verbindung zwischen beiden Reichen stellen bisher nur um die Mittagsstunde die Schlange als über den Fluß sich wölbender Bogen, in der Abendstunde der über den Fluß sich legende Schatten des Riesen her, außerdem - aber nur in der Richtung von jenseits nach diesseits - das Boot des Fährmanns. Durch das Opfer der Schlange aber kommt jene dauernde Verbindung zustande, die durch das Heraufsteigen des bisher unterirdischen Tempels entsteht. Gleichzeitig erfolgt in diesem die Vermählung des durch Tod und Wiederbelebung hindurchgegangenen Jünglings mit der Lilie. Er wird von den drei Königen, dem goldenen, silbernen und ehernen mit drei Gaben beschenkt, während der aus den drei Metallen gemischte König in sich zusammensinkt. Der Tempel auf der Brücke aber, welche beide Ufer jetzt für immer miteinander verbindet, wird zum besuchtesten der ganzen Erde.
In Vorträgen seines letzten Lebensjahres (über "Das Karma der anthroposophischen Bewegung") wies Steiner darauf hin, daß diese Märchenbilder in irdischer "Miniaturform" jene Geist-Ereignisse widerspiegelten, durch welche damals in der übersinnlichen Welt die Geburt der Anthroposophie vorbereitet wurde. Es ist darum bezeichnend, daß für ihn gerade der Vortrag, den er über diese Dichtung im Herbst 1900 im Hause des Grafen Brockdorff in Berlin hielt, zum Ausgangspunkte seines anthroposophischen Wirkens wurde. Mit diesem Vortrag begann das Geschehen, das in Goethes "Geheimer Offenbarung" - wie Steiner das Märchen nannte - prophetisch geschildert worden war, als menschheitsgeschichtliches sich zu verwirklichen. Obwohl mir der Hinweis des erwähnten Vortrages von 1924 bekannt war, stand im Zusammenhang mit meiner oben erwähnten Konzeption der Neugestaltung der menschlichen Erkenntnis diese Beziehung nicht vor meinem Bewußtsein. Sie ging mir erst einige Jahre später auf und ermöglichte mir, nach einem abermals mehrjährigen Ringen um eine Darstellungsform derselben, mein Buch über "Die deutsche Klassik. Urbild und Erdengestalt" zu schreiben, in welchem ich sie in einem (S88) umfassenderen Zusammenhang, vor allem auch mit Rudolf Steiners erstem Mysteriendrama ausarbeitete. Davon wird an späterer Stelle noch die Rede sein.
Verständlich kann es auch erscheinen, daß von dieser Konzeption her - im Hinblick darauf, daß die Struktur des Ganzen in derjenigen jedes einzelnen seiner Glieder sich abbildet - für mich auch erst ins volle Licht ihrer Bedeutung rückten die verschiedenen Dreiheiten, die von Rudolf Steiner in der stufenweisen Entfaltung der Anthroposophie ans Licht der Erkenntnis gehoben wurden: nach der Gliederung des Menschen in drei mal drei Wesensglieder (des Leibes, der Seele und des Geistes), wie sie schon in seinem grundlegenden geisteswissenschaftlichen Buche "Theosophie" sich findet, - die Unterscheidung von je drei Funktionssystemen des Leiblichen (Vorstellen, Fühlen, Wollen) und des Geistigen (Imagination, Inspiration, Intuition) sowie deren Zusammenspiel im irdischen Leben, wie sie in dem Buche "Von Seelenrätseln" (1917) erstmals zur Darstellung gelangten. Schließlich erschien es von daher erneut und in noch tieferem Sinne verständlich, daß, der dreigliedrigen Struktur von Mensch und Welt entsprechend, auch das soziale Leben für die Zukunft eine dreigliedrige Ordnung hinsichtlich seiner Verwaltung erfordere. Viele Jahre später (1958) brachte ich in meiner Schrift "Erkenntnis und Offenbarung in der Anthroposophie. Das Motiv der Trinität im Lebenswerk Rudolf Steiners" in einer speziellen Untersuchung zur Darstellung, wie die gesamte Folge - nämlich eine Siebenzahl - von Dreiheiten, die in Steiners Leben und Schaffen als das durchgehende Grundmotiv desselben in Erscheinung traten, sich in einer Reihe von gesetzmäßigen Metmorphosen auseinander entwickelte.
Aus all dem mag es begreiflich werden, daß ich von der oben nur in ihren Umrissen angedeuteten zentralen Erkenntnis die Meinung hegte, Kleines mit Großem vergleichend, daß sie in bezug auf das "Ereignis" Rudolf Steiner ein Analoges bedeute, wie es die Lehre des Paulus in bezug auf das Christusereignis bedeutete. Sie wurde mir jedenfalls zum Schlüssel, der mir in der Folge immer wieder neue Aspekte sowohl hinsichtlich der Anthroposophie wie der (S89) Menschheitsentwicklung erschloß. Zu einer ersten skizzenhaften Darstellung brachte ich sie in dem schon erwähnten Tagungsvortrag in Wien, ein zweites Mal geschah es in dem Vortrag, den ich im Herbst desselben Jahres auf der Tagung zur Eröffnung des zweiten Goetheanum-Baues in Dornach hielt. Inzwischen hatte ich, während des Sommers, bereits damit begonnen, sie zum Inhalt eines Buches zu machen. Allein dazu war sie noch viel zu wenig ausgereift, - ich mühte mich sowohl in diesem wie im folgenden Jahre vergeblich damit ab, dieses Buch zustandezubringen. Erst zwei Jahre später gelang es mir, das, was ich darin zur Darstellung hatte bringen wollen, in wesentlich verkürzter und komprimierter Form in einer längeren Abhandlung zusammenzufassen. Ich fügte diese unter dem Titel "Die Neugestaltung der menschlichen Erkenntnis" dann der Sammlung von Aufsätzen ein, welche unter dem Titel "Vom neuen Bilde des Menschen" im Jahre 1932 im Heitz-Verlag in Straßburg erschien. Diese Sammlung enthielt auch noch eine Reihe anderer Früchte meines geistigen Ringens der vorangegangenen Jahre und speziell auch solche der skizzierten Zentralerkenntnis. So konnte sie als die gewichtigste und umfassendste meiner bisherigen Veröffentlichungen gelten und bedeutete zugleich den Abschluß meiner wesentlich im Elemente des Gedankens erfolgten Ausarbeitung der Anthroposophie. Ich hatte diese damit innerlich in den Griff bekommen.
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