Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Theodor Maurer schickt seinem Buch eine bewußtseinsgeschichtliche Betrachtung voraus, die den Maximen der von Dr. Hans Erhard Lauer begründeten Geschichtswissenschaft sehr verwandt sind.

Sagen aus dem Elsaß sind für Geschichtsforscher eine Fundgrube. Nicht nur, daß in der germanischen Mythologie das Rheingold (Nibelungen) dort einmal zu finden war. Auch die Gralssage (Lothar Greub) und das iro-schottische Christentum  (Theodor Maurer) haben dort mittelalterlich eine Lokalität gefunden. Der "Gottesfreund vom Oberland" ist in Straßburg aufgetreten (Wilhelm Rath) und die Inkarnation des "Christian Rosenkreutz" darf in diesem Raum vermutet werden (Karl-Heinz Kaesebier). Auch die Fürstentochter und Äbtin "Odilie" hat sich dort dem hellgefühlten christlichen Impuls hingegeben (Theodor Maurer). 

 Später trat eine scheinbar abseitige historische Linie des "Odilienberges" zur schweizerischen "Arlesheimer Eremitage" zutage, die an dem Fluß Birs liegt und in den Rhein mündet. Dies wurde von Rudolf Steiner erläutert und schließlich von seinem Geistesschüler Theodor Maurer dargestellt, der all dieses weiter ergründet hat.

Im Beginn des postfaktischen Zeitalters, wo "Wahrheit und Wissenschaft" ihre neuzeitliche Relevanz durch den gewissenhaften Rudolf Steiner gefunden haben, trat ein scheinbar abseitiger Bezug des "Odilienberges" zur "Arlesheimer Eremitage" zutage. Die liegt an dem Fluß Birs, der in den Rhein mündet. Die geschichtliche Dimension dieser Gegebenheiten erschloß Rudolf Steiner einem seiner Geistesschüler, der all dieses weiter ergründet hat: 

Theodor Maurer

"Die Elsässischen Sagen"

unter Zugrundelegung der Sammlung A.Stöbers

Heizt & Co., Strassburg 1943


Vorrede

   August Stöbers <Sagen des Elsasses>, die als ein unveräußerlicher und wohlgeborgener Besitz nur in den Bücherregalen eifriger Alsatica-Sammler noch zu finden sind, konnten nicht in einem unveränderten Neudruck herausgegeben werden, wenn man das in ihnen Enthaltene in ihrem vollen Werte erkennen sollte. Die charakteristischen Merkmale ihrer Zeit tragen diese Erzählungen ohnedies an der Stirne: Eine gewisse behäbige Bürgerlichkeit, die in ihrer gemütlich eingerichteten Wohnstube ein farbiges Fenster besitzt, das man je nach Wunsch öffnen kann, um die romantische Schönheit der Landschaft auf sich wirken zu lassen. Stöbers Beziehungen zu den Angehörigen des schwäbischen Dichterkreises, der im katholischen Mittelalter und in der Burgen- und Kapellenherrlichkeit einen Strahl der vielbesungenen, "mondbeglänzten Zaubernacht" einfing und damit die eigene nüchterne Gegenwart zu verklären unternahm, haben auch ihre Spuren bei Stöber und seinen Freunden hinterlassen. Ab und zu blitzt ein Stück jenes elsässischen Rationanalismus auf, der so symptomatisch für die damalige Zeit ist, und der sich in einer gewissen modernen Abwandlung bis in unsere Tage gerettet hat.

   Der breiten Fülle des Überlieferten galt es jetzt in einer Gliederung gerecht zu werden, die nicht nur Älteres und Jüngeres unterscheidet, sondern auch die Struktur der verschiedenen Aspekte mit größerer Deutlichkeit heraustreten läßt. Daß ich bis in die ureuropäische Zeit vorzustoßen wagte und Material heranzog, das Stöber noch nicht kannte oder doch noch nicht auszumünzen verstand, wird wohl die Billigung aller derer finden, denen ein Zurückgehen auf die Urform, auf das Urphänomen als eine methodologisch notwendige Maßnahme zu einer wesensgemäßeren Erfassung der Variationen innerhalb des Metamorphosenkomplexes erscheint. Was die Kritik hiergegen vorbringen könnte, ist mir nur zu bekannt. Ich möchte die einzelnen Gegenargumente hier nicht besonders anführen und widerlegen, da ich aus Erfahrung weiß, daß selbst solche Beurteiler, die von sich aus auf dergleichen Gedanken nicht gekommen wären, sofort zugreifen würden, um ihre Superiorität dem - harmlosen Leser gegenüber wenigstens beweisen zu können.

   Die Hauptdifferenz, die zwischen der bisherigen Auffassung der meinigen besteht, konzentriert sich in der Beurteilung der iro-schottischen Mission, in der Hervorhebung ihres wurzelhaften Unterschiedes von der römisch-katholischen Kirche. Wenn ich mit <<petrinisch>> und <<johanneisch>> die Wesensmerkmale zu kennzeichnen suche, so geschieht dies in Anlehnung an die Distinktionen Schellings. Wie sehr der - eine Zeitlang zu Unrecht vergessene oder geschmähte und jetzt wieder zu Ehren gekommene (Kurt Hildebrandt, einer seiner temperamentvollsten Lobredner, hat freilich das Spezifische seiner positiven Philosophie noch nicht voll zu würdigen vermocht. Er sieht in ihm lediglich die echtdeutsche Art, und darum stellt er ihn mit Eckhart, Nicolaus von Cues, Hamann, Herder, Goethe und Hölderlin auf eine Stufe.) - Philosoph in der Tat zwei Grundtendenzen der christlichen Haltung getroffen hat, ergibt sich für jeden, der unbefangen - nicht wie die moderne Bibelkritik, namentlich nicht wie Emanuel Hirsch in seinen Veröffentlichungen: Studien zum vierten Evangelium (1936) und: Das vierte Evangelium, in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt (1936) - das wundervoll durhkomponierte Johannes-Evangelium auf sich wirken läßt. Im letzten Kapitel des künstlerisch gegliederten und in gewaltiger Symphonie hinflutenden Werkes treten petrinische und johanneische Art in erhebender Dramatik einander gegenüber, und hier enthüllt sich auch die Rolle, die das johanneische Christentum, als das tiefere, dem in starre äußere Formen aus volkserzieherischen Gründen gebannten und darum entwicklungsgeschichtlich durchaus notwendigen petrinischen Christentum gegenüber zugewiesen bekam. Wenn Petrus, von Jesus Christus dreimal in feierlicher Weise mit seinem Hirtenamt betraut, sich plötzlich umwendet und, auf Johannes deutend, fragt: <<Was soll aber dieser>>?, so ist dies eine Haltung, die den einseitigen Anhängern der petrinischen Richtung auch heute nur zu verständlich erscheint. Die Antwort Jesu Christi: <<So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?>> gibt nicht nur den Gesichtswinkel an, unter dem Johanneisches überhaupt zu beurteilen ist, sie eröffnet zugleich die Perspektive eines esoterischen Christentums neben dem exoterisch-petrinischen.

   Die iro-schottische Religionsgemeinschaft war ein echter Zweig johanneischen Christentums, aber sie unterlag Rom und mußte Rom unterliegen, da auf die Dauer das hohe geistige Niveau, das eine solche Einstellung verlangt, nur von einigen wenigen gehalten werden konnte, da die statutarische Abgestimmtheit und Begrenztheit Roms dem Bedürfnis und den Fähigkeiten des Menschendurchschnitts in bequemster Weise entgegenkam. Das Gefühl des Auf-sich-selbst-Gestelltseins, das nur starke Naturen ertragen, wurde durch die Eingliederung in ein wohlgeordnetes Ganze beseitigt: Man kam sich im Schoße der römisch-katholischen Kirche so geborgen vor und war der Schwierigkeiten und Gefahren eigener Entscheidungen enthoben.

   Eine Elite, die sich nicht mit dem römischerseits geforderten Mittelmaß zu begnügen gewillt war, suchte sich den inneren Frieden dadurch zu sichern, daß sie im verborgenen ihrem Ideal nachstrebte. Sie entzog sich darum recht bald der scharf einsetzenden kirchlichen Kontrolle, indem sie die Heimat verließ und in treuer Verbundenheit mit der Hochtradition der ersten Zeit in andere Gegenden, in die Einsamkeit flüchtete. Und so haben wir in schwer zugänglichen, unwegsamen Distrikten der Vogesen Anhänger des iro-schottischen Glaubens, die sogar in geheimen Zusammenkünften das Gut alter Mysterien-Weisheit zu wahren unternahmen.

   Wer, mit einem feineren Sensorium ausgestattet, gewisse Gegenden des Wasgenwaldes betritt, kann noch heute einen feinen Hauch jener Geistigkeit verspüren, die wie eine feinste Atmosphäre allem Wechsel zum Trotz verblieb, wie ja auch den Reisenden, der Sizilien betritt, noch die Aura des Empedokles geheimnisvoll anweht. - -

   Der II. Band soll den Themen: Engel und Dämonen, Burgen, Kirchen und Kapellen gewidmet sein.

   Der III. Band soll die Münstersagen und die neuesten Umgestaltungen alter Sagenmotive enthalten. Er wird außer einer Karte, die eine topographische Orientierung über die einzelnen Sagengebiete vermittelt, ein vollständiges, alphabetisch geordnetes Verzeichnis der Autoren bringen, auf die ich mich stütze oder beziehe.

   Die Orthographie der Stöberschen Vorlage wurde der neuesten Schreibweise angeglichen. Auch sah ich mich genötigt, stilistisch da und dort einzugreifen, indem ich einige zu altertümliche Wendungen durch moderne ersetzte. Ich hoffe damit, die Stöberschen Sagen lesbarer gemacht zu haben, ohne die Stimmung zu zerstören oder zu schwächen, um deretwillen der Erzähler manchen Abschnitt mit einer etwas zu auffälligen, künstlichen Patina versehen hatte.


   Straßburg, im Oktober 1942

Th.M.

(Theodor Maurer)


Zur Einführung

   Sagen vermögen uns aus den verschiedensten Gründen anzuziehen. Bald ist es das völlige Andersgerartetsein in einem aller Erdenschwere und Erdengesetzlichkeit enthobenen Reich, in das wir uns aus der Aufgeregtheit und inneren Zerrissenheit der Gegenwart in einer Art von romantischer Sehnsucht flüchten. Bald fesseln uns die in den Sagen erhaltenen Züge unseres eigenen Volkes, und wir versenken uns - mehr feststellend, wissenschaftlich interessiert - in die untergegangene Welt der Vorfahren.

   Die Brüder Grimm waren wohl von beiden Tendenzen erfaßt, und die romantische bildete wohl den Unter- und Grundton für die registratorische und exegetische der Sammler und Forscher. In den Bahnen der Brüder Grimm bewegt sich namentlich der Elsässer August Stöber. Ist doch sein Hauptwerk: <<Die Sagen des Elsasses>>, an das wir uns in der Hauptsache anlehnen, dem Altmeister der deutschen Sagenforschung Jakob Grimm ehrfurchtsvoll gewidmet. August Stöber hat mit Gleichstrebenden und Gleichgesinnen einen Hort gehoben, dem sonst, wenn auch nicht der Untergang, so doch eine sehr kümmerliche oder fragwürdige Existenz beschieden gewesen wäre.

   In der Zeit von 1871 bis 1918 wurde das von Stöber gesammelte Material vielfach erweitert und ergänzt. Emsige Sammler haben landauf und landab nach den letzten Spuren der alten Sagen gesucht und dankenswertes Neues zu Tage gefördert.

   Selbst in der Zeit nach dem Weltkriege erlahmte das Interesse an der elsässischen Sage nicht. Das politische Element spielte freilich oft in einer der Klarheit der Sacherfassung wenig dienlichen Weise hinein. Man sah weniger auf die ursprünglichen Zusammenhänge als auf eine gewissen Wünschen gemäße Spiegelung oder Zurechtlegung derselben. Es soll nicht verkannt werden, daß manches gefunden wurde, das man wohl früher nicht beachtet hatte. Es soll beispielsweise nicht bestritten werden, daß keltische Bestandteile, auf die man jetzt nachdrücklich hinwies, auch im elsässischen Sagengut zu finden sind. Darauf hatte übrigens Wilhelm Hertz schon 1872 in seinem Buche <<Deutsche Sage im Elsaß>> aufmerksam gemacht. Doch darüber darf das spezifisch Germanische nicht vergessen werden. Schon die Tatsache, daß die Neugestaltung der elsässischen Sagen in französischer Sprache gegeben wurde, steht in einem gewissen Gegensatz zu dem Empfinden derjenigen Kreise, in denen die Sage urtümlich wurzelte, wenn auch nicht geleugnet werden soll, daß ein verstehensnahes Interesse für elsässisches Volkstum auch dort geweckt wurde, wo man - durch die Sprache behindert - dem Gesamtkomplex dieser Phänomene bisher mehr oder weniger gleichgültig gegenübergestanden hatte.

   In deutscher Sprache erschien, einem tiefempfundenen Bedürfnis entgegenkommend, ein Neudruck der längstvergriffenen Stöber-Sammlung mit zahlreichen Ergänzungen und Erweiterungen, die aus den verschiedensten Kreisen zuflossen. Man suchte durch Illustrationen die Wirkung zu erhöhen. Wieweit das letztere gelungen ist, darüber gehen die Meinungen sehr auseinander. Was die Ergänzungen betrifft, so verdient der Fleiß des Herausgebers Paul Stintzi, seine nach allen Seiten ausgreifende Sammlertätigkeit, uneingeschränktes Lob. Daß eine Fülle von Problemen gar nicht berührt oder höchstens in dürftigen Anmerkungen behandelt werden, hat wohl namentlich darin seinen Grund, daß an ein Volksbuch für die breiten Massen gedacht war.

   So dürfte auch unser Versuch eine Lücke ausfüllen, als er nicht nur das Sagenmaterial der Stöberschen Sammlung neu sichtet und zum Teil neu formt, sondern auch einen neuen Blick in die Problematik der elsässischen Sagen zu gewähren unternimmt.

   Was wirklich nottut, und was bis jetzt nicht gebührend in Erwägung gezogen wurde, ist die Ausrichtung auf den erkenntnistheoretischen Sinn und Gehalt der Sage überhaupt. Wie ist das, was die Sage vermittelt, in den historischen Ablauf der menschlichen Erkenntnistätigkeit einzugliedern? Und welcher Erkenntniswert eignet ihm?

   Eine unbefangene Würdigung der Seelenhaltung, aus der die Sage herauswächst, erweist sich als unentratsame Vorbedingung jeder auf das Wesen gerichteten Untersuchung. Sodann: Welche Urformen heben sich aus der Menge der Variationen heraus? Was spricht sich in diesen Urformen aus? Inwiefern erfahren die Urformen charakteristische Umprägungen? Goethes leider immer noch nicht in ihrer vollen Tiefe erfaßte Gedanken einer Metamorphose der Pflanzen gilt es auf dem Gebiete der Sagenforschung lebendig werden zu lassen. Die Urformen stehen im Zusammenhang mit bestimmten erkenntnismäßig abgestuften Erlebnissen, mit historisch genau horizontierten Seelengegebenheiten.

   Wird das Wahrheitsmoment der sagenhaften Schau neu erörtert, muß man darauf achten, daß man nicht im Irrgarten der <<modernen>> Erkenntnistheorie den richtigen Weg verliert. Wenn Hegel im 19. Jahrhundert das Bildhafte immer noch als eine inadäquate Form des eigentlichen Seinsgehalts betrachtete, so hat sich inzwischen unter dem Druck eines mit unaufhaltsamer Wucht hereingebrochenen geistfeindlichen Materialismus die Situation noch in bedenklicherer Weise zu Ungunsten des Wahrheitsgehalts der Sage verschoben. Wohl haben Forscher wie Edgar Dacqué dem Mythos einen neuen Rang zu erobern versucht, indem sie in ihm den Schlüssel für verlorengegangene Entwicklungsgedanken suchten. Doch die erkenntnistheoretische Fundierung solcher Anschauungen läßt noch so viel zu wünschen übrig, daß man in dem ganzen Unternehmen nur eine Zusammenfassung wenig oder unzulänglich begründeter Ahnungen zu erblicken vermochte, wenn man solche Vorstellungen nicht von vornherein als Phantastereien ablehnte.

   Das Wesen der Sage wird sich nur dem voll erschließen, der das Wesen der Geschichte voll begriffen hat. Eine neue Anschauung vom Charakter der Geschichte ist darum zunächst unerläßlich. So lange man sich nicht zu der Einsicht durchgerungen hat, daß es in der Geschichte einen von Stufe zu Stufe verfolgbaren Bewußtseinswandel geht, dem selbstverständlich eine Metamorphose auf physisch-somatischem Gebiet entspricht, so lange man nicht erkannt hat, daß keineswegs eine durchgängige, erkenntnismäßige Gleichheit und Dieselbigkeit den Menschen aller Zeitepochen eigen ist, wird man auch das Problem der Sage nicht richtig lösen.

   Macht man sich für die Sagenforschung diese Anschauungen zu eigen, dann verschwinden die Lösungen: Elfen existieren in Wirklichkeit nicht; nur in dem aufgeregten, angstverwirrten Vorstellungsleben naturwissenschaftlich noch nicht genügend aufgeklärter Menschen konnte ein solcher Wahn entstehen, wenn nachts bei Mondschein über Flüssen oder Wiesen Dunstgebilde aufsteigen, die phantastische Formen annehmen. Wenn Goethe in seinem <<Erlkönig>> den Vater zur Beruhigung des sterbenskranken Kindes sagen läßt: <<Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif>>, oder <<Es scheinen die alten Weiden so grau>>, so ist dies aus der vorliegenden Situation zu verstehen, drückt aber nicht des Dichters ureigenste Überzeugung aus, was Sagen- oder speziell sogenannte Elementarwesen betrifft. Man vergegenwärtige sich - um aus der Fülle von Bekenntnissen und Zeugnissen in Prosa oder Vers, die seiner Weltanschauung wurzeln, nur das eine herauszuheben - das wunderbare Elfenlied:


<<Um Mitternacht, wenn die Menschen erst schlafen,

Dann scheinet uns der Mond, dann leuchtet uns der Stern;

Wir wandeln und singen und tanzen erst gern.


Um Mitternacht, wenn die Menschen erst schlafen,

Auf Wiesen, an den Erlen wir suchen unsern Raum

Und wandeln und singen und tanzen einen Traum.>>


   Goethe wußte zu genau, daß <<wir von eine Atmosphäre umgeben sind, von der wir gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt, und wie es mit unserem Geiste in Verbindung steht.>> (Gespräch mit Eckermann vom 7.10.1827). Dies ist eine Anschauung, die nicht erst bei dem alten und, wie man oft meint, bereits geistig debilen Goethe als eine senile Verfallserscheinung auftaucht, sie geht wie eine Grundmelodie, bald lauter, bald leiser erklingend, durch sein ganzes Leben.

   Die menschliche Entwicklungsstufe, auf der Sagen als durchaus natürliche Erscheinungen dem kulturellen Boden entsprießen, ist nur bei einer Erkenntnishaltung möglich, die nach Umfang und Tiefe sowie nach Klarheit und distinkter Deutlichkeit inbezug auf die Merkmalskomplexe der Dinge erheblich von der Erkenntnishaltung unserer Tage abweicht. Was den Umfang angeht, so ist dieser durch einen Radius ausgezeichnet, der gewaltig über die Reichweite der heutigen Zeit hinausgeht, Fernstes wie Nächstes mühelos zu umschließen vermag. Und erst die Tiefe! Hier besteht ein inniger Kontakt mit Seinszonen, von deren Existenz unsere flachgewordene Zeit sich nichts träumen läßt. Freilich, eine solche Schärfe der Beobachtung, ein solches Abtasten der Flächen, eine solche auf Maß, Zahl und Gewicht gestellte Weltaneignung wie heute gab es noch nicht und konnte es noch nicht geben.

   Bei den Griechen ist der Übergang von einer nichtbegrifflichen, <<mythischen>> Welterfassung zur eigentlich begrifflichen noch deutlich wahrnehmbar, sogar dokumentarisch erhärtbar. Bei einem der vorsokratischen Philosophen haben wir noch eine im Bild sich äußernde Form des Erkennens: Pherekydes von Syros spricht von Göttergestalten und dämonischen Wesen, wenn er sein Weltbild erläutern will.

   Wenn man die Ansicht vertreten hat, daß sich bei den Griechen der Übergang vom Mythos zum Logos vollzog, so hat man damit den Sachverhalt richtig gekennzeichnet, wenn man nur mit dem Mythos nicht auf eine Aneignung des Weltinhalts hinweisen wollte, die fragwürdig oder wirklichkeitsfremd ist. Man darf aber nicht bei der für die vorsokratischen Philosophen charakteristischen Situation stehen bleiben. Man muß in die früheste Zeit der bildhaften Schau zurückgehen, um so recht den Eindruck zu haben: Jene Form des <<Erkennens>> umspannte eine Wirklichkeitsfülle, neben der sich unser Erkennen dürftig und armselig ausnimmt. Daß der Mensch sich damals ganz anders als einen Teil des ganzen Kosmos fühlte, daß er sich den Dingen, die ihn umgaben, erheblich näher fühlte, das ist der Grund, weshalb er zum Bilde griff und greifen mußte, um sein Erleben anschaulich zu machen. Im Bilde ist drängende Fülle, im Bilde ist quellender Reichtum. Das Bild ist das Siegel innigster Weltverbundenheit. Und aus solcher Weltverbundenheit erwachsen auch die ältesten Sagen.

   Mit dem einsetzenden Bewußtseinswandel d.h. in dem Zeitpunkt, in dem die Bildschau erlosch oder doch zurücktrat, wird die Sage entweder verdrängt oder so umgestaltet, daß sich den überlieferten Formen wesensfremde Bestandteile eingliedern. Ein starrer Rationalismus will das, was auf anderem Boden und unter anderen Bedingungen gewachsen ist, was als ein Fluides, Stets-Bewegliches, einem anderen Gestaltungsgesetz unterliegt, meistern. Er stutzt an den Gebilden herum, beschneidet, verkürzt sie, sucht das ihm Unverständliche durch das der Alltagseinstellung Begreifliche zu ersetzen.

   Die Rationalisierung der Sage mußte beginnen, als die nordisch-germanische Kultur mit den Glaubensvorstellungen der katholischen Kirche zusammenstieß. Da kamen die fertigen Begriffe einer scharf ausziselierten Dogmatik an Menschen heran, die eine ganz andere Welteinstellung hatten, deren in Weltentiefen gründendes Ahnen und Träumen bisher in Bildern aufgeblüht war. Die Kirche hatte in ihrer Lehre nicht nur die Quintessenz der griechischen Begriffsthematik platonisch-aristotelischer Prägung, sondern auch die in juristischem Denken zur Geltung kommende Schärfe logischer Beweisführung übernommen. Sie schied mit rauher, energischer Hand alle Stoffe aus, die bei den zu missionierenden Völkern mit deren vorchristlichem Glauben engstens verbunden gewesen waren. Die Göttergestalten durften höchstens als böse Dämonen bestehen bleiben, vor denen man sich zu hüten habe. Vor allem aber galt der Kampf der Kirche dem Mysterienwesen, das sich im Elsaß wegen der damaligen Wildheit seiner Berge lange im Verborgenen halten konnte. Wie durch ein Wunder haben sich kärgliche Spuren der Siegfriedsage erhalten, die, wie wir später zeigen werden, aus einem Mysterienkult erwuchs.

   Aber der Sagentrieb schwand doch nicht ganz. Die Bewußtseinshaltung war zunächst doch nicht von Grund aus geändert worden. Die Heiligen, die man verehrte oder doch verehren sollte, boten dem Sagentrieb neue Nahrung, und hier hat die Kirche selber mitgeholfen. Um die Gestalten der frommen Männer und Frauen, die im Elsaß gewirkt haben, rankte sich ein Kranz von Legenden, die Zeugnis ablegen von der durch die geographische und sachliche Horizontenge bedingten und gesteigerten Glaubenskraft, sowie von jenem zur Bildschau drängenden Vermögen, das sich in der Sage auslebt. Wunder reihen sich in den Erzählungen an Wunder. Das hob das Ansehen der Kirche, wie denn überhaupt die elsässische Sage fas durchweg einen frommen Charakter trägt. Das Mittelalter! Wie hätte es auch anders sein sollen! Was im Volke heute noch umläuft und der Sagenaufnahme günstig ist, trägt oft fas dasselbe mittelalterliche Gepräge. Eine dem III. Teil dieser Ausgabe beigegebene geographische Kartenskizze soll die Haupt-Fundzentren, die Haupt-Heimatstätten der elsässischen Sage veranschaulichen. Es sind Distrikte, die lange von allem Verkehr mit der städtischen Kultur sozusagen abgeriegelt waren.

   Unter den Sagengebilden, die bereits zum Teil das Gepräge einer verstandesmäßig bestimmten Stufe tragen, finden sich einige, die inhaltlich in ganz alte Zeiten zurückreichen. Man muß nur die Urgestalt herauszufinden suchen, deren Abwandlungsformen, deren Metamorphosen oder, wenn man will, deren Variationen uns vorliegen.

   (Zusatz Kaesebier: In dieser Webseite sind in dem Kapitel von Hans Erhard Lauers Grundwerk über die "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung" die vorangehenden Überlegungen von Theodor Maurer geschichtswissenschaftlich aus geführt:  I.3 Frühgeschichte und Mythus)


WIE ENTSTAND DIE URFORM?

   Zum vollen Verständnisse dieses Phänomens gilt es, Wichtiges, das bis in die somatisch-physiologischen Funktionen eingreift, zu berücksichtigen. Man muß nämlich mit dem Gedanken der Evolution Ernst machen und in Erwägung ziehen, daß mit dem Wandel des Bewußtseins auch unsere leibliche Organisation einem Wandel unterworfen ist. Metamorphose ist das Losungs- und Lösungswort auf diesem Gebiete. Das leibliche Substrat - so kann man das hier Gemeinte kurz zusammenfassen - besaß in der Zeit des Bilderbewußtseins, also sagen wir in der frühesten Epoche der ureuropäischen, der urgermanischen Zeit, noch eine mehr pflanzenhafte Weichheit, war dem Pflanzenzustande noch näher. Eine andere Art der Atmung ist damit naturnotwendig verbunden. Wie die Pflanze Kohlensäure einatmet und Sauerstoff ausatmet, so muß sich damals im Menschen ein Prozeß vollzogen haben, der wohl mit dem pflanzlichen Vorgang nicht ganz identisch, aber doch ihm ähnlich war. Völlig gleich kann er nicht gewesen sein, weil - von allem anderen abgesehen - die Tendenz zu einer Überwindung dieser noch-pflanzlichen Stufe in der Natur des Menschen lag. Aber es muß in dieser Zeit so gewesen sein, daß das Bedürfnis nach Sauerstoff verhältnismäßig minimal, das Bedürfnis nach Kohlensäure stark war. Was heißt das aber, bei Licht betrachtet? Das heißt nichts anderes, als daß die Atmung damals von der unsrigen verschieden gewesen sein muß.

   Als der Mensch auf dieser Stufe seine Evolution stand, kannte er nicht die Hellwachheit, die für unsere Zeit charakteristisch ist. Es war ein herabgedämpfter, dem Traum ähnlicher Bewußtseinszustand, der dem Menschen damals eigen war. Es war eine instinktsichere Hellsichtigkeit; darüber kann kein Zweifel sein.


Anmerkung: Was die physische Unterlage für ein solches natürliches <<Hellsehen>> betrifft, darf noch ein Moment nicht unerwähnt bleiben. Und das ist die Tatsache, daß in den ältesten Zeiten durch die damals bestehende Nah-Ehe eine Unvermischtheit des Blutes gegeben war. Was heute zu einer Herabdämpfung der Bewußtseinskräfte führt und deshalb staatlich untersagt ist, war damals die Voraussetzung für die

Erhaltung der hellseherischen Fähigkeiten, die ja nur bei einer Dumpfheit des eigentlichen Denk-Erlebens möglich waren. So wird uns berichtet, daß in babylonischen und ägyptischen Königsfamilien die Nah-Ehe sich als ein Überbleibsel aus früheren Epochen lange erhalten hat: mit der Reinheit des Blutes wollte man die hellseherische Fähigkeit und damit die zum Regieren erforderlichen Qualitäten bewahren.

   

In Bildern trat ihm die Weltwirklichkeit entgegen. Und diese Bilderschau wich immer mehr zurück, je mehr die Atmung aus der Phase der Noch-Pflanzlichkeit in die spezifisch menschliche überging. Selbst als unsere heutige Art der Atmung sich bereits durchgesetzt hatte, gab es doch noch ab und zu Rückfälle, indem der Organismus, der auf die neue Art der Sauerstoff- und Kohlensäure-Regelung eingestellt war, in einer dem mehr pflanzlichen Zustand entsprechenden Weise reagierte. Was geschah da? Bei der Atmungsstockung, die sich da einstellte, trat für Augenblicke die alte Weltverbundenheit, die alte Hellsichtigkeit, wieder in Erscheinung. Es waren Angstzustände, die sich des Menschen bemächtigten. Und was wurde in diesen Momenten, in solchen Beklemmungen erlebt? Die Urform dessen, was die Griechen mit dem Namen der Sphinx bezeichneten: Eine fragende Wesenheit stürzte sich - das war der bildhaft gestaltete Eindruck - auf den Menschen und rief ihm zu: <<Beantworte mir die Frage, die ich dir stelle! Was ist der Mensch? Antworte, oder du mußt sterben.>> Wer die Lösung geben konnte, war gerettet.

   Ludwig Laistner, der von der Fachwissenschaft zu Unrecht vergessene Forscher, hat in seinem Buche <<Das Rätsel der Sphinx<< auf dieses Problem zuerst hingewiesen.

   Der auf unregelmäßiger Atmung beruhende Alpdruck als das Grundphänomen der Sphinxsage ist eine Entdeckung, die es festzuhalten gilt, und die für die Sageninterpretation nutzbar zu machen ist. Es erhebt sich die Frage: Finden sich in der elsässischen Sage Metamorphosen dieser Urform?

   Ich will eine solche, wie sie noch zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts bei einigen alten Taglöhnerinnen in einem Dorfe des Unterelsaß (Dorlisheim) lebendig war, hier mitteilen:


   Gehst du im Hochsommer zur Mittagszeit ins Getreidefeld hinaus, wenn die Halme schon anfangen gelb zu werden, und die Sonne am wolkenlosen Himmel glüht, so setze dich nicht an einen Rain, an dem der Thymian so stark duftet. In der unheimlichen Stille, die dich umgibt, naht sich dir eine Frau, wie aus dem roten Mohn und den blauen Kornblumen aufsteigend. Sie trägt einen großen Schattenhut, unter dem zwei große schwarze Augen drohend funkeln. Plötzlich steht sie vor dir, der Atem vergeht dir, es erstarrt dir das Blut in den Adern, und sie stellt dir Fragen, die du nicht beantworten kannst, wie sehr du dich auch abmühst. Näher, immer näher kommt sie an dich heran, schon umklammern ihre Finger deinen Hals. <<Antworte mir!>> keift sie, <<oder ich erwürge dich>>. So wurde schon mancher im Felde tot aufgefunden, den niemand anders als die Mittagsfrau ums Leben gebracht hat.


   Die Sage hat sich sonst noch im Elsaß erhalten. In der Umgegend von Drulingen findet sich folgende Variation: Hier <<wird zuweilen von der Kornmutter gesprochen, jener weiblichen Erscheinung, welche am hellen Mittag in den Getreidefeldern umgehen soll, und deren Begegnung durchgängig als unheilvoll gefürchtet wird>>. (Stöber: >>Die Sagen des Elsaß>> II,171,S122). Als Kornmutter taucht sie auch bei Heilig-Kreuz auf:


<<In Heilig-Kreuz, bei Komar, spricht man von einer wilden Frau, die in den Kornfeldern haust. Man schreckt die Kinder damit, die immer mit aufs Feld wollen, indem man zu ihnen sagt: Wart', d'Kornmueter nimmt di!>>


In der Sage von Letze-Käppel kommt zum Ausdruck, daß das Erscheinen des Frage-Wesens mit einem Zustand in Zusammenhang steht, der als etwas Normwidriges empfunden wird: <<Wenn man in Weißenburg vom Alpdrücken leidet, so sagt man, das Letze-Käppel sitzt einem auf der Brust.

   Eine Stelle unter dem Nußwall heißt bei jung und als am Letze-Käppel. Es geht nämlich hinten am Garten eines reichen Eigentümers ein gewölbter Gang unter dem Walle durch, worin die Wasserröhren des im Garten angebrachten Springbrunnens liegen. Dort haust ein zwergartiger Unhold, der sich den Leuten im Schlafe aufs Herz setzt. Er heißt Letze-Käppel, weil er sein Käppchen immer verkehrt auf hat, und derjenige, der den Mut hat, ihm dasselbe abzunehmen und recht aufzusetzen, ist augenblicklich von ihm befreit.>> (Stöber: <<Die Sagen des Elsasses>>, II,248S176).

   Das Wesen, das den Alpdruck erzeugt, hat das Käppchen verkehrt (<<letz>>) auf. Erst, wenn es gelingt, ihm das Käppchen <<recht>> aufzusetzen, weicht die Beklemmung. Mit der Kopfbedeckung wird auf eine dem früheren Hellsehen noch wahrnehmbare, den Kopf, das Erkenntnisorgan, umgebende, von markanten Strömungslinien durchzogene Hüllenschicht hingewiesen, die man bald als Helm - man denke an Pallas Athene! -, bald als Mütze bezeichnet. Wenn, wie in der Weißenburger Sage, die Atmung wie früher erfolgt, sitzt das Käppchen verkehrt, d.h. aber nichts anderes als: es besteht eine Erkenntnishaltung, die zur heutigen Art des Atmens nicht paßt. Der frühere Zustand (der Deckel des Käppchens ist hinten) und der jetzige Zustand (der Deckel des Käppchens ist an der richtigen Stelle) sind also Gegensätze, die sich in der Verschiedenheit des Atmens aussprechen, aber zugleich auf eine Verschiedenheit der Erkenntnishaltung hindeuten.

   Weitere Abwandlungen des Urphänomens, das wir im Sphinxmotiv erkannten, sind noch in den Erzählungen vom Schratzmännlein oder vom Doggele erhalten. Stöber berichtet hierüber:


<<In Mühlbach und den benachbarten Ortschaften sind sie (die Schratzmännelein) ein Kinderpopanz, der den schlafenden Kindern wie das Doggele von Illzach nachts auf das Herz sitzt und sie zu erdrücken scheint. Gegen seine Besuche werden viele Zaubermittel gebraucht.>> (<<Die Sagen des Elsasses>>, IS85)


   Stöber hat übrigens in seinem Volksstück <<E Firobe (Feierabend) i'me Sundgäuer Wirtshüs>> dem Doggele ein besonderes Lied gewidmet, in dem das Doggele-Motiv mit einem ihm ursprünglich wesensfremden Elemente verbunden wird:

<<s'hat gl'labt vor zwei-, dreihundert Johr

In eiserm Dorf e Ma

E Galgestrick vu Hütt un Hoor,

Schlacht, was me schlachts cha ha!

E Süffer isch'r gsi;

Doch hat'ne s'Trinke nit vil g'chost!:

's hann d'andre zahlt a sinre Statt

D'r Farnwi un d'r Most.

's isch gsi d'r besi Joggele!

Jetz mues's gehn als Doggele!


ist der Refrain des Liedes, in dem das Doggele-Motiv, wie man sieht, in völlig andere Zusammenhänge hineingestellt wird. Stöber kennt die Ursprungsform und deren wesenhafte Verwurzelung in ureuropäischen Vorstellungen nicht mehr.

   Man darf nicht übersehen, daß eine gewisse Hellsichtigkeit das ganze Mittelalter hindurch vorhanden war, und daß sich in manchen Gegenden bis in die neueste Zeit hinein - begreiflicherweise in verschiedener Stufung - letzte Spuren einer solchen Geistesverfassung hielten.

   Diese Seelenhaltung konnte unter bestimmten Einwirkungen, sei es durch einen Schauer beim Durchwandern einer öden Gegend, eines finstern Waldes oder durch einen plötzlichen Schrecken, noch gesteigert werden, und so treten die Phänomene einer auf tieferer Weltverbundenheit beruhenden Bilderschau auf, die sich freilich bisweilen in recht grotesken Formen auslebt.

   Man kann sich eine annähernd zutreffende Vorstellung von einer solchen Art der Wirklichkeitseinstellung machen, wenn man bedenkt, daß ein moderner Dichter wie Eduard Mörike durch konsequent durchgeführte Abschließung von der Welt, durch Aufenthalt in einem Felsenloch oder in einem Felsenloch oder in einem verlassenen Brunnenstübchen (Vergleiche: Gedichte von Ed.Mörike, Leipzig 1903 - Das Leben des Dichters S5.) sonderbare Bilder eines Landes erlebte, das es der gewöhnlichen Anschauung nach gar nicht gibt, das aber stark an die sagenhafte alte Atlantis erinnert. Wie bruchstückhaft, ja wie rätselhaft dunkel das von Mörike gesichtete Reich auch sein mag, das, was er selber für ein halb erträumtes oder erdachtes Gebilde hielt, wurde ihm auf eine Art vermittelt, die dem mittelalterlichen Geöffnetsein für die uns umgebende unsichtbare Welt sowie die aus der Vergangenheit heraufkommenden letzten schwachen Strahlen einer längst versunkenen Wirklichkeit nicht unähnlich ist. Weylas Gesang:                                                          Du bist Orplid, mein Land,

Das ferne leuchtet -

wächst aus solchen Erlebnissen heraus. Und wenn man im Konzertsaal die von Hugo Wolf mit kongenialer Einfühlung vertonten Worte vernimmt, wird man erst recht an das erinnert, was einst war und durch eine dunkle Ahnungen weckende - Spiegelung vor uns tritt.

   Man beachte auch, wie Mörikes Schilderung des Elementarreiches der Elfen und Nixen auf einen Ton gestimmt ist, der auf eine innigere Vertrautheit mit solchen Wesen schießen läßt, als es je einer rationalistischen Grundeinstellung - selbst bei Anwendung aller nur denkbaren Mittel zur Erzeugung des Illusionseffektes - möglich ist. Ich darf wohl in diesem Zusammenhange an das Wort Hölderlins erinnern:

<<Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt; ein Bettler, wenn er nachdenkt->>

   Jener eigenartige Schwebezustand, jene dem Träumen ähnliche, seelische Verfassung durch die Hölderlin mit dem Werden und Weben der uns umgebenden Natur innigst verschmolzen war und Erlebnisse von außergewöhnlichem Ausschwung und ahnungsreicher Tiefe hatte, besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem für die Sagenschau charakteristischen Geöffnetsein. Gemessen an solchem Reichtum kann das logische Denken mit seinen wohl klaren, aber inhaltsarmen Begriffen nur Bettelpfennige sein eigen nennen.

   Will man sich veranschaulichen, wie sich noch um die Wende des 18. Jahrhunderts mittelalterliche Schauungsformen in der Atmosphäre eines bürgerlich nüchternen Rationalismus ausnehmen, so schlage man Daniel Arnolds <<Pfingstmontag>> auf. Der lächerlichen Figur des Lizenziaten wird die gleichsam anthologische Aufzählung und Beschreibung der Angstphänomene zugewiesen, die in der Stadt Straßburg - die <<Wunderschöne>> trug übrigens damals in einzelnen Vierteln z.B. Finkweiler, Weißturmstraße, noch einen ziemlich deutlich wahrnehmbaren ländlichen Charakter - gewissen Stellen anhaften. Welcher Art sind die Phänomene?


Die Straßburger Stadtgespenster

(aus Arnolds <<Pfingstmontag>> IV.5.)


Christinel:

Henn Si denn um de Stok so spoot noch welle gehn in Jerem Lychderok?

An d'Kädderyne-Bruk wärd jo jer Wäj z'erst gange.

Lizentziat:

Der isch's nit ghy'r. Waist nit?

Gläsler:

Was zäll duet aabelange, diß gloib i nit.

Christinel:

Dernoh zuem Kardinals-Gebäu, grad durch d'Madlenegaß.

Lizenziat:

Der geh i nie verbei z'Nachts. Dert gehn zway erum in lange, wyße Mäntle.

Christinel:

Dnoh uf de Gartnersmärk.

Lizenziat:

By zelle Kryttersständle am Umgeld, lauft jo z'Nachts e fyr'jer Mann erum.

Christinel:

Dernoh durch d'Schlossergaß an d' Münz, un derte 'num uf d' Mardersbruk.

Lizenziat:

Der stehn als wyßi Klosterfraue die gewe-n-aim e Prys Duwak un krazze d' Aue

Aim us, wemmerr nigglych ne von ne nemme will.

Christinel:

Uf's Pleenel geht's dernoh, un by der Dinsemüel in's Pflanzbad nyn.

Lizenziat:

Daß ich als zelle Waj z'Nachts nimmi Wurr gehn! Dert het mi jo e Gaist emol so grimmi

gedäscht, er het usgsehn aß wie e Müelburst wyß, schloskrydewyß.

Gläsler:

Gitt's viel so Gspänster hie?

Lizenziat:

Diß kummt von Kleestre her un Rittershysre-n-alde, 'S het gar viel hier so ghet.

Do isch's ni uszehalde, wenn sie ier Zyt als henn; am Faß´nacht fra, do isch

ken Blywes in der Stadt; do fahrt e ganzer Wisch von beese Gaistre-n-als mit viele däusig Hexe

us de Kämminre nus, daß merr si noch heert grexe, wenn si schunn, waiß wie wyt, hoch in  de Lüfde sinn.

'S isch mer e Kryz, daß ich e Faßnachtskind so bin,

Do sych i, laider, hell als dene Saddans Grauel, erkenn glych's fyri Kalb un jede schwarze Veaujel (Vogel)

Wo es Hex drinne stekt, 's Stadtdier un's Wüedeheer. Un's Rössel mit drei Bain, wo als vom Bunggeweer na raßt bis an de Kran.


   Ein feuriger Mann als Schreckgespenst, mithin ein Produkt des durch einen unerwarteten Lichteffekt in plötzlicher Erschütterung gelockerten Innenlebens. Ebenso sind die zwei Gestalten in langen, weißen Mänteln (in der Magdalenengasse) zu beurteilen, wie die weißen Nonnen, die noch leise an die gefährlichen Fragefrauen erinnern. Der schlagfertige Müllerbursche gehört ebenfalls hierher. In dieselbe Kategorie sind die Hexen, die in Straßburg um Fastnacht spuken, einzureihen. Die hier nur im Vorübergehen gestreiften Sagen sollen später in anderm Zusammenhang (BdII) beleuchtet werden. Es kam nur darauf an, auf ihre - für gewöhnlich übersehene - Entstehungsquelle hinzuweisen. So viel ist wohl bereits klar geworden, daß Sagen nur in hellsichtigen Momenten - gleichviel wie dieser Moment jeweils bedingt oder verursacht ist - entstehen können. Die weitere Ausgestaltung der ursprünglichen Grundform mag allen möglichen rationalistischen Eingriffen unterworfen sein: Diese letzteren können wohl den Ursprung verschleiern, sie können ihn aber nicht völlig unsichtbar machen oder vernichten. Sogar das poetische Gewand, in das sich eine Sage hüllen kann, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es oft genug mit einer nachträglichen Umgestaltung eines erheblich Älteren, Urtümlicheren zu tun haben, daß hinter der dichterischen Prägung ein hellseherisches Erlebnis steht, das uns sogar in die Region der Mysterienkulte führt. Und dies ist der Fall bei einer im Zentrum der germanischen Welt stehenden Sage: Der Siegfriedsage.

   Die Siegfriedsage - eine spätere Umformung bedeutsamer Mysterienerlebnisse. Und damit stoßen wir auf ureuropäisches Sagengut.

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