Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Zweiter Teil

 4. Reisen, Volksseelenkunde, Kunstforschung, innerer Umschwung

   Es bedeutete für mich eine große Erweiterung und Bereicherung meiner Welterfahrung, daß sich mir in den Jahren 1928-1937 die Möglichkeit bot, eine Reihe größerer Reisen zu unternehmen. Mein älterer Bruder Theodor, der wie ich am Gymnasium in Basel eine humanistische Bildung genossen hatte und seither eine starke Hinneigung zur Altphilologie bewahrte, durch den Vater aber veranlaßt worden war, eine kaufmännische Laufbahn einzuschlagen, war schon in jungen Jahren Direktor der Schweizerischen Minimax-(Feuerlöscher)-Gesellschaft in Zürich geworden, pflegte daneben aber weiterhin mit Eifer historisch-literarische Studien. So gelüstete es ihn denn bald, vor allem die Schauplätze der antiken Kultur und ihrer neueuropäischen Renaissance durch eigene Anschauung kennen zu lernen. Da er unverheiratet blieb und wir dauernd in lebhaftem geistigen Austausch miteinander standen - auch er hatte inzwischen längst den Weg zur Anthroposophie gefunden -, lud er mich ein, die Reisen, die er plante, mit ihm gemeinsam zu unternehmen. Die Identität unserer Weltanschauungsrichtung und die Verwandtschaft unserer speziellen Interessen gestalteten denn auch diese Reisen dann für uns beide zu einer höchst fruchtbaren Schule der Kultur- und kunstgeschichtlichen Weiterbildung.
   Unsere erste Reise, mit der ich erstmals den Boden Italiens betrat, führte uns nach Venedig, Florenz, Pisa und Genua. War es in Venedig neben den weltberühmten Sehenswürdigkeiten um den Markusplatz in erster Linie die einzigartige Anlage der Lagunenstadt, dich mich besonders beeindruckte, so waren es in Florenz die unermeßlichen Kunstschätze der dortigen Museen, Kirchen und Klöster (S103) sowie der noch spürbare Hauch des Geistes der italienischen Renaissance, deren bedeutendstes Zentrum die Stadt gewesen, - und in Genua und seiner Umgebung die herrliche Lage an dem dortigen Golf inmitten der beiden Rivieren di Levante und di Ponente. Schon im folgenden Jahr verbrachten wir zehn Tage in Rom und Umgebung und führten uns in systematischer Folge alles zu Gemüte, was in so kurzer Zeit von der "Ewigen Stadt" und ihrer Umgebung überhaupt in Augenschein genommen werden konnte. Neben den Kunstschätzen des Vatikans aus dem griechischen und römischen Altertum und der Renaissance waren es naturgemäß die Denkmäler des alten heidnischen und frühchristlichen Roms, die unser Interesse vorzüglich in Anspruch nahmen. Es bedeutete für mich ein großes Erlebnis, so vielen Kunstwerken und Stätten großer geschichtlicher Ereignisse und Erinnerungen, die mir aus Bildern, aus Lektüre und Studium wohlbekannt waren, nun in ihrer Wirklichkeit, gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen zu können. Wie wenn man bedeutende Menschen, von denen man zunächst nur gehört oder gelesen hatte, persönlich kennen zu lernen das Glück hat, - so hatte ich mit geschichtlichen Gestalten und Schöpfungen, die mir gleichsam nur aus der Ferne bekannt gewesen waren, jetzt sozusagen persönliche Bekanntschaft gemacht und fühlte mich dadurch noch stärker und näher mit ihnen verbunden. So vor allem mit den Stanzen Raffaels im Vatikan, mit den Fresken Michelangelos in der Sixtina, aber auch mit unzähligen anderen Kunstwerken aus der Antike und der Renaissance. Ich hatte sie nun alle in ihrer eigenen Umgebung besucht, gewissermaßen in ihrem Zuhause gesehen, wo allein sie hatten entstehen können, wie sie waren. Zur romanischen und gotischen Kathedrale, den fast einzigen Formen älterer christlicher Kirchenbaukunst, die ich bisher kannte, gesellte sich für die Anschauung nun die frühchristliche Basilika in einigen ihrer herrlichsten Repräsentanten hinzu, die den Übergang von der heidnischen zur christlichen Antike so eindrucksvoll verkörpern.
   Zwei Jahre später folgte dann die dritte, die längste der Italienreisen. An ihr nahm auch noch mein jüngerer Bruder Helmuth teil, der längst auch schon den Weg zur Anthroposophie gefunden hatte (S104) und inzwischen in Stuttgart als Architekt, insbesondere von Kultbauten der Christengemeinschaft, tätig geworden war. Diese Reise führte uns zunächst nach Unteritalien: über Rom und Neapel, Pompeij (mit der erst kurz zuvor freigelegten Villa dei Misteri), Pästum, Capri, Sorrent, - auf der Rückreise von Rom dann nach Ancona, Ravenna, Venedig und Mailand. Den stärksten Eindruck hinterließen mir diesmal Pompeij und die Tempel von Pästum, andererseits die Kunst Ravennas.
   Im Jahre 1935 unternahmen wir dann, wiederum selbzweit, aber nun als Teilnehmer einer Reisegesellschaft, eine Fahrt nach Griechenland. Von Genua gings zunächst zu Schiff nach Messina, von wo wir auf dem Landweg über Taormina nach Catania gelangten, von dort wieder zu Schiff nach Athen, wo ein leider nur dreitägiger Aufenthalt gemacht wurde, in den ein Ausflug nach Eleusis eingeschlossen war. Den Höhepunkt dieses Aufenthalts bildete natürlich das Erlebnis der Akropolis mit dem Blick auf die Stadt und ihre unvergleichliche landschaftliche Lage und Umgebung - den Gipfel dieses Erlebnisses aber das Licht, das über diese Landschaft ausgegossen ist und desgleichen ich sonst noch nirgends gesehen hatte. Von Athen ging die Reise weiter durch die Dardanellen nach Konstantinopel. In der Altstadt mit dem holprigen Pflaster ihrer krummen Straßen, ihrem großen Bazar, dem weitläufigen Sultanspalast, den großartigen Moscheen sahen wir uns hier erstmals in den Orient versetzt. Unvergeßlichen Eindruck vermittelte auch die Hagia Sophia mit ihrer gleichsam freischwebenden Kuppel. Auf der Rückfahrt passierten wir die Dardanellen um Mitternacht bei Vollmond, - und es war ein geradezu verzaubernder Anblick, vom Deck des Schiffes aus es in der Helle und Stille dieser Mondnacht an den kahlen Uferfelsen vorbeigleiten zu sehen. Nur von ferne konnten wir am Ausgang aus der Meerenge zu den Gefilden des einstigen Troja hinübergrüßen. An manchen Inseln vorbei gelangten wir schließlich nach Santorin, der Vulkaninsel, von der infolge eines frühgeschichtlichen Ausbruchs ihres Feuerbergs nur die Trümmer ihrer Ränder übriggeblieben sind, während ihre ehemalige Mitte nun das Meer bedeckt. Allerdings ließ ein in jüngster Zeit erfolgter Ausbruch in dieser Mitte einen neuen Boden sich erheben, auf (S105) dessen teils schwarzem, teils gelbschwefligen Lavagestein wir herumsteigen konnten. Phantastisch aber ist der Anblick der weißen Gebäude der Stadt oben auf dem Rand der inneren Steilküste, welche die Wand des Kraters bildet, der durch jenen einstigen Ausbruch aufgerissen wurde.
   Die letzte dieser Reisen, die mir vergönnt war, führte uns im Sommer 1937 in die entgegengesetzte Himmelsrichtung und in eine entgegengesetzte Welt: in den skandinavischen Norden. Es war wieder eine Gesellschaftsreise, an der wir teilnahmen. Von Hamburg aus ging die Fahrt durch die Nordsee zur norwegischen Küste, über Bergen, in viele der großen Fjorde hinein, an den Lofoten vorbei nach Hammerfest und zum Nordkap, von dessen hoher Steilküste der Blick in den Weiten des nördlichen Eismeeres sich verlor. Auf der Rückfahrt abermals in verschiedene Fjorde einbiegend, von denen aus dann mehrere Autofahrten auf die Hochflächen der Gebirge hinauf unternommen wurden. Den geschichtlichen Kunstdenkmälern der Mittelmeerwelt standen nun hier "Denkmäler" einer überwältigend grandiosen, freilich großenteils geschichtslosen Natur gegenüber, in der nurmehr Erinnerungen an altgermanische Götter weben, - dem Menschengewimmel in den Zentren der Mittelmeerkultur eine nie gesehene Spärlichkeit und Einsamkeit von Bewohnern, - der Sonne des Südens ein Licht des Nordens, das in den taghellen Nächten des Mittsommers von keiner Finsternis unterbrochen wurde und auch kaum ein Schlafbedürfnis aufkommen ließ. Auf der Rückreise hatten wir die Empfindung, aus einer Welt des Lichtes wieder in eine solche des Dunkels einzutauchen. Die nachwirkenden Eindrücke dieser Reisen trugen viel dazu bei, meine mit meinen geschichtlichen Studien zusammenhängende Beschäftigung mit den Charakteren und geschichtlichen Missionen der europäischen Völker zu intensivieren. Hinzu kamen die Anstöße, die sich hierfür ergaben aus dem Schicksal der europäischen Mitte, wie es sich für Deutschland als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg und für Österreich nach der Auflösung der Habsburger Monarchie gestaltet hatte und weiter gestaltete: Dort war es nach dem Hinsiechen der Weimarer Republik der durch den Nationalsozialismus auf den verhängnisvollsten Irrweg geleitete Versuch, (S106) sich auf sein nationales Eigenwesen und seine spezifische geschichtliche Sendung neu zu besinnen und sich eine entsprechende neue politische und soziale Struktur zu geben. Hier war es das Zerriebenwerden des neuen Staates zwischen den Gegensätzen von Schwarz und Rot, aus deren Zermürbungskämpfen schließlich die deutschnationalen Kreise mit dem Anschluß an das "Dritte Reich" als "lachende Dritte" siegreich hervorgingen. In den übrigen Nachfolgestaaten des ehemaligen Vielvölkerreiches, in die mich meine zahlreichen Vortragsreisen immer wieder führten, war es schließlich die stets deutlicher zu einer Explosion hindrängende Unterdrückung der nationalen Minderheiten, welche durch die politische Neuordnung entstanden waren, die nach dem Ersten Weltkrieg dieser Raum vielfältigster Völkermischung gemäß dem westlichen Nationalstaatsprinzip erfahren hatte. Im Jahre 1934 hielt ich an verschiedenen Orten Österreichs Vorträge über "Die Volksseelen Europas", deren Grundlage die von Rudolf Steiner begründete Volksseelenkunde bildete, und veröffentlichte bald darauf eine Zusammenfassung derselben in einem Buche mit diesem Titel. Es fand - in der politisch so erregten Zeit - so starken Anklang, daß ich es ein Jahr darnach in einer zweiten Auflage herausbringen konnte. Genau 30 Jahre später ließ ich, unter demselben Titel, eine ganz neue, anders angelegte, umfangreichere Darstellung desselben Themas erscheinen, - unter Verarbeitung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und vieler inzwischen betriebener weiterer Studien über das Problem Europa und seine Völkergliederung. Auch hatte ich nach dem Kriege durch mehrfache Studienreisen nach Frankreich (Paris, Südfrankreich), England und Schottland sowie Skandinavien, schließlich durch einen einjährigen Aufenthalt in Jugoslawien, 1938/39 meine völkerkundlichen Erfahrungen wesentlich vermehrt. Den Abschluß dieser Reisetätigkeit bildete die Teilnahme an einer Gesellschaftsreise unter der Führung des mir seit unserer Studentenzeit befreundeten René Maikowski nach Rußland (Leningrad, Moskau, Wladimir).
   Aber nicht nur hinsichtlich meiner völkerpsychologischen, sondern auch meiner kunstgeschichtlichen Interessen hatte ich den erwähnten Reisen manche Anregungen und Anstöße zu verdanken. (S107). Insbesondere die Kunst der griechischen Antike und Altägyptens als Ausdruck der damaligen Stufen der menschlichen Bewußtseinsentwicklung trat dadurch von neuem in mein Blickfeld, und so hielt ich nach einem eingehenderen Studium namentlich der letzteren schon im Jahre 1930 in Wien eine Reihe von Vorträgen über Charakter und Geschichte der ägyptischen Kunst.
   Durch die ganze Zeit meines Wiener Aufenthaltes zog sich schließlich neben all dem bisher Geschilderten wie ein roter Faden meine Beschäftigung mit der Musik, ihrer Entwicklung und ihren großen Meistern hindurch. So bedeutete es für mich ein beglückendes Erlebnis, daß ich im Jahre 1927 zur Feier von Beethovens 100. Todestag in der Stadt, in der Stadt, in der dieser von mir schon in meiner Knabenzeit höchstverehrte Heros musikalischer Kunst gelebt und gewirkt hatte, im Rahmen der Anthroposophischen Gesellschaft den Gedenkvortrag halten konnte. Für den weiteren Fortgang meiner Studien über die Geschichte der Musik erwies sich auch die im vorletzten Abschnitt geschilderte Zentralerkenntnis, die mir in jenen Jahren aufging, als fruchtbar. Sie machte mir die drei wesentlichen Hauptstufen sichtbar und verständlich, welche die Musik von ihren frühesten Anfängen in der lemurischen Urzeit bis in die Gegenwart durchschritten und in den aufeinanderfolgenden Epochen auf jeweils höherer Ebene immer wieder rekapituliert hat: die Stufen der musica mundana (wortloser Urgesang), musica humana (Sprechgesang beziehungsweise Vokalmusik), musica instrumentalis (absolute beziehungsweise Instrumentalmusik). Anfang der 30er Jahre trat im Zusammenhang mit dem Studium dieser Stufenfolge und zugleich im Vorblick auf den herannahenden 50. Todestag Richard Wagners die Beschäftigung mit dessen Werk (dem künstlerischen und dem schriftstellerischen) wieder in den Vordergrund und wirkte sich in zahlreichen Vorträgen aus, die ich insbesondere im Jahre 1933 in Österreich und in Deutschland über ihn hielt. Durch Vermittlung des mir nahe befreundeten Schauspielers Gümbel-Seiling, der inzwischen seine Wirksamkeit von Wien nach Holland verlegt hatte, fand ich Gelegenheit, auch in Den Haag im Rahmen der dortigen deutschen Kolonie über Wagner zu sprechen, - und kam so erstmals nach Holland, wo ich dann seit dem (S108) Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder als Vortragender tätig gewesen bin.
   Was sich so durch viele Jahre an Beiträgen zur Geschichte der Musik angesammelt hatte, stellte ich dann zu einem Buche zusammen, das unter dem Titel "Musik und Musiker in anthroposophischer Betrachtung" 1933 erschien. Es fand ebenfalls ein lebhaftes Echo und war bald vergriffen. Als Frucht weiterer Beschäftigung mit den Problemen der Musikentwicklung in ihrem Zusammenhang mit den Wandlungen des menschlichen Bewußtseins reifte schließlich die kleine Schrift: "Die Entwicklung der Musik im Wandel der Tonsysteme". Ihr legte ich besonders die Darstellung zugrunde, die Rudolf Steiner in den zwei Vorträgen vom 7. und 8. März 1923 für die Stuttgarter Waldorflehrer gegeben hatte. Sie konnte noch 1935 in einem deutschen Verlag erscheinen (in umgearbeiteter Form neu aufgelegt im Jahre 1960). Zu den darin ausgesprochenen Gedanken hatte mir auch eine intensive Beschäftigung mit der Toneurythmie manche Anregung gegeben.
   Im Jahre 1934 - ich war damals 35 Jahre alt geworden - ging ich in meiner inneren Entwicklung durch eine Krise hindurch. Es war mir, als ob die - im wesentlichen denkerisch gearteten - Kräfte, aus denen heraus ich bisher in der Hauptsache gearbeitet hatte, im Begriffe wären, zu versiegen. Ich kam dadurch sozusagen auf einen Nullpunkt und geriet immer tiefer in eine seelische Atemnot. Ich fühlte, daß ich irgendwie einen neuen Anfang machen, ein ganz Neues mir erarbeiten müsse. Und zwar in der Richtung einer stärkeren Eroberung der Welt der sinnlichen Erfahrung, als ich sie bisher gepflegt hatte. Ich beschloß zu diesem Zwecke, die neue Lehre von den menschlichen Sinnen, die Rudolf Steiner begründet hatte, zum Gegenstand eines gründlichen Studiums zu machen. Denn die Beschäftigung mit den Organen der Sinneserfahrung, so meinte ich, müßte mich unweigerlich auch mit den Gegenständen der sinnlichen Erfahrung in innigere Beziehung bringen.
   In der unmittelbar darauf folgenden Zeit verschaffte ich mir also, mittels der einschlägigen Literatur, eine genaue Kenntnis der Sinnesorganisation in anatomischer und physiologischer Hinsicht, studierte die verschiedenartigen Theorien, die in neuerer und (S109) neuester Zeit über die sinnliche Wahrnehmung überhaupt und die einzelnen Sinne entwickelt worden sind, und suchte alles zusammen, was im literarischen und Vortragswerk Rudolf Steiners an Darstellungen und Äußerungen zum Problem der menschlichen Sinnesorganisation und Sinneswahrnehmung sich finden ließ.
   Der Thematik der Sinne kommt ja nun auch vom Gesichtspunkte der Anthroposophie als solcher eine gewichtige Bedeutung zu. Einerseits bildet die Erarbeitung einer einen sinnlichen Phänomenologie der verschiedenen Erfahrungsgebiete den allein legitimen methodischen Ausgangspunkt für den unserer Zeit gemäßen Aufstieg der Erkenntnis zu den übersinnlichen Bereichen der Welt. Hierin liegt die fundamentale Bedeutung der Goetheschen Naturbetrachtungsart für einen solchen Aufstieg, wie sie Steiner in seinen verschiedenen Goetheschriften, insbesondere in seinen "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" aufgewiesen hat. Von dem, was nach den heute gängigen Theorien der Sinneswahrnehmung als "objektive" Tatbestände beziehungsweise Vorgänge zugrundeliegen soll, läßt sich dieser Aufstieg nicht vollziehen. Es liegt darum einer der hauptsächlichsten Gründe dafür, daß die heutige Wissenschaft diesem Aufstieg noch so wenig Verständnis entgegenzubringen vermag, in den radikal verkehrten Auffassungen über die Sinneswahrnehmung, die sich im Lauf der neueren Zeit herausgebildet haben. Diese Auffassungen machen das eigene und eigentliche Wesen der Sinneswahrnehmung völlig zunichte, indem sie sie mit der Vorstellung identifizieren. Die Berichtigung derselben gehört darum zu den wichtigsten Vorarbeiten, die für ein Verständnis der Steinerschen Geisteswissenschaft geleistet werden müssen, und sie bildet darum auch einen der Kernpunkte der Erkenntnislehre, die Steiner selbst der Begründung seiner Geisteswissenschaft vorangeschickt hat.
   Auf der anderen Seite bedeutete gerade die Begründung seiner Sinneslehre zugleich den ersten Versuch Steiners, den noch mehr theosophischen Charakter, den seine Geistesforschung in ihrem Beginne noch getragen hatte, zu einem "anthroposophisch orientierten" fortzubilden, - zu einer "Anthroposophie" in dem Sinne, wie ich sie inzwischen zu verstehen und zu deuten unternommen (S110) hatte. Hat er doch auch den Namen "Anthroposophie" als Titel einer Vortragsreihe zum erstenmal gerade für jene Vorträge gebraucht, in denen er im Jahre 1909 einen ersten Entwurf seiner Sinneslehre zur Darstellung brachte, - und hat er doch in der Einleitung zum ersten jener Vorträge selbst das Wesen der "Anthroposophie" in diesem Sinne gegenüber dem der "Theosophie" abgegrenzt und abgesetzt! Wie der Mensch selbst als eine mittlere Welt zwischen derjenigen des Göttlichen und Natürlichen steht, so bildet die Welt der sinnlichen Erfahrung die Mitte zwischen jenen des über- und des untersinnlichen Erlebens. Sie hat eine besondere Verwandtschaft mit dem Element des Fühlens, wie das übersinnliche Erleben dem des Denkens, das untersinnliche jenem des Willens verwandt ist. So lag also die Beschäftigung mit der Sinneslehre zugleich auch in dieser Hinsicht ganz auf der Linie, auf der sich meine zentralen Erkenntnisbemühungen seit geraumer Zeit bewegten. Und so war es des weiteren kein Wunder, daß für die Struktur der Sinnesorganisation die auch von Steiner selbst schon angedeutete Dreigliederung derselben in die unteren, mittleren und oberen Sinne sich für mich als die ergiebigste und wichtigste Einteilung derselben erwies.
   Die Darstellung der Ergebnisse meiner diesbezüglichen Studien stand in den folgenden drei Jahren im Mittelpunkt meiner Vortragstätigkeit an verschiedenen Orten. Und bald begann ich auch schon mit der Abfassung einer buchmässig-literarischen Darstellung derselben. In einer ersten Fassung gelangte sie bereits im Jahre 1937 zum Abschluß. Ein Versuch, sie in Deutschland noch zur Veröffentlichung zu bringen, schlug fehl - glücklicherweise, denn sie war hierfür noch zu wenig ausgereift. Sie war außerdem nur als erster Band einer umfassenderen, dreiteiligen Darstellung gedacht, der den Untertitel tragen sollte "Die Sinne und die menschliche Erkenntnis"; denn in der Tat waren darin die Sinne nur in ihrer Bedeutung für die Erkenntnistätigkeit behandelt. Ein zweiter Band, für den ich schon wesentliche Vorarbeiten geleistet hatte, sollte den Titel tragen "Die Sinne und die Künste"; denn die Bedeutung, welche der Steinerschen Sinneslehre für die Begründung einer neuen Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte, ja für die (S111) Erneuerung der Kunst selbst zukommt, erschien mir nicht geringer als jene für die Erkenntnis; hatte doch schon Steiner selbst im unmittelbaren Anschluß an seine erste vortragsmäßige Darstellung seiner Sinneslehre und vom Gesichtspunkte derselben seinen grundlegenden Vortrag über "Das Wesen der Künste" gehalten und auch später vom selben Gesichtspunkt aus (im Zusammenhang mit der Errichtung des Dornacher Goetheanumbaus) fundamentale Ausführungen über das künstlerische Schaffen gemacht! So wie die neuzeitlichen Wahrnehmungstheorien wesentlich mit dazu beigetragen haben, das Erkenntnisleben in den Agnostizismus einmünden zu lassen, so verunmöglichen sie auch, für das Verständnis des künstlerischen Schaffens eine erkenntnismäßige Grundlage zu gewinnen. In einer Welt, die so beschaffen wäre, wie die heutige Naturwissenschaft sie sich vorstellt, hätte die Kunst keinen Wurzelboden und keinen Sinn. Erst die Sinneslehre Steiners lehrt verstehen, wie die Kunst in der Wirklichkeit der Welt verwurzelt ist. Durch sie wird auch die wahre Beziehung der Künste zu den verschiedenen Sinnesgebieten aufgehellt und sie begründet damit das künstlerische Schaffen erstmals von dem Erleben der verschiedenen Sinnesbereiche her. Hinsichtlich all dessen blieb ich freilich damals schon mitten in der ersten Ausführung stecken. Und gar der vorgesehene dritte Band, der die Sinne in ihrer Beziehung zum moralischen beziehungsweise Willensleben zum Gegenstand haben sollte, konnte überhaupt nicht mehr in Angriff genommen werden. Äußerlich schon deshalb nicht, weil im Frühjahr des Jahres 1938 meine anthroposophische Arbeit in Wien ein abruptes Ende fand. So blieb also, was von dem ganzen Werke ausgeführt war: der erste Band, zunächst in der Schublade liegen. Erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre konnte ich in Arlesheim / Dornach, wo ich damals lebte, nach inzwischen weitergediehenen Studien eine gründliche Umarbeitung desselben in Angriff nehmen und ihm jene Ausführung verleihen, in der er schließlich, freilich um ein Drittel gekürzt, im Jahre 1953 im Verlag Zbinden in Basel unter dem Titel "Die zwölf Sinne des Menschen" erschienen ist.

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