Dritter Teil
4. Johanneisches Christentum:
Offenbarung des Heiligen Geistes
Auf Grund alles hiermit Dargestellten darf also, was durch Rudolf Steiner verwirklicht wurde, als neue Form sowohl der Erkenntnis als auch der Offenbarung, in Gestalt einer "Erkenntnis-Offenbarung" und damit zugleich als eine neue: die johanneische Gestalt des Christentums bezeichnet werden oder, sofern das in ihr enthaltene Moment der Offenbarung in Betracht kommt, als die Offenbarung des Heiligen Geistes. Was heißt das aber? Es heißt, daß sie, insoweit sie diese Offenbarung ist, nicht nur eine menschliche Errungenschaft darstellt, sondern auch eine Gabe der göttlich-geistigen Welt an die Menschheit. Sie ist das Ergebnis nicht nur einer Zuwendung des Menschen zur Geistwelt, sondern in gleichem Maß auch einer Zuwendung der Geistwelt zur Menschheit. Die menschliche Leistung an ihr ist das Sichöffnen für die Geistwelt und die Verarbeitung des von ihr Empfangenen zur Erkenntnis, die Einkleidung desselben in Begriffe. Die Leistung der Geistwelt stellen die Inhalte dieser neuen Offenbarung dar. In seinem Buche "Theosophie" schrieb Steiner: "Die Arbeit des Geistesforschers an der eigenen Seele, die ihm die Fähigkeit des geistigen Schauens gibt, geht dahin, eben diese Fähigkeit zu erwerben. Ob er dann in einem einzelnen Fall etwas in der geistigen Welt wahrnimmt, und was er wahrnimmt, das hängt nicht von ihm ab. Das fließt ihm zu als eine Gabe aus der geistigen Welt. Er kann sie nicht erzwingen, er muß warten, bis sie ihm wird... Die geistige Welt... läßt sich nicht befehlen." Diesen Charakter der von ihm begründeten Geistesforschung kennzeichnete er, anknüpfend an die aus dem alten Orient stammende Lehre von den verschiedenen Zeitaltern, durch welche (S159) die Menschheit der Reihe nach hindurchgehe: des Krita, Tetra, Dvapara und Kali Yuga, auch in der Weise, daß das letztgenannte (das finstere) im Jahre 1899 zu Ende gegangen sei und mit dem Beginn unseres Jahrhunderts - er bedeutete zugleich die Geburtsstunde der Anthroposophie - ein neues Licht-Zeitalter seinen Anfang genommen habe, mit dem die geistige Welt sich mit neuen Offenbarungen der Menschheit zugewandt hat.
Was ist nun aber der Inhalt dieser neuen, dieser Offenbarung des Heiligen Geistes? Er bildet in gewissem Sinne die Umkehrung der ältesten, der Offenbarung des Vaters. Ich wies verschiedentlich darauf hin, daß diese eine naturhaft-instinktive gewesen war und sich auch insofern auf die Natur bezog, als sie in den Göttermythen, in denen sie sich niederschlug, von der Weltschöpfung berichtete und zur Entstehung der heidnischen Naturreligionen führte. Auf der anderen Seite wirkte sie sich, besonders im Orient, in der Weise aus, daß sie das Heimweh nach der göttlichen Ursprungswelt in den Seelen erregte und diese dadurch zur Sinnenfeindschaft, zur Weltflucht verführte. Selbst noch Buddha konnte im Erdenleben nur verschiedene Stationen des Leidens erblicken und wies deshalb seinen Jüngern den Weg dazu, das Rad der Wiedergeburten zum Stillstand zu bringen und ins Nirwana einzugehen.
Eine umgekehrte Polarität eignet der Offenbarung des Heiligen Geistes. Durch sie erschließt sich zunächst die geistige Welt, aber in einer Art, durch die der Mensch sich der Erde nicht entfremdet und zu einer vorirdischen geistigen Ursprungswelt zurücksehnt, sondern durch die er auf die Weltenzukunft in dem Sinne hingewiesen wird, daß im Lauf derselben aus den Kräften der Geistwelt heraus durch ihn die Welt des Materiellen stufenweise in Geist zurückverwandelt werden wird. Sie wird die Überwindung des Todes, des Wesensmerkmals der Materrie, durch den Prozeß der Auferstehung bringen. Diese Erkenntnis hat darin ihren Grund, daß, wie ebenfalls schon erwähnt wurde, gleichzeitig mit der Erweckung des Geistes aus der Seele für das Bewußtsein nach der anderen Seite hin der Leib sich ihr gegenüber verselbständigt und von innen her in seiner Verbundenheit mit dem Ganzen der Natur erlebt wird. Dieses Erleben vertieft sich in der Weise, daß für das nach dieser Richtung (S160) erweiterte Bewußtsein die Kosmogenesis der Vergangenheit sich auftut, in deren Verlauf im Zusammenhang mit dem Werden des Menschenleibes die Reiche der Natur aus dem Geiste heraus stufenweise ins Dasein traten. Es eröffnet sich also zugleich in neuer Form eine Offenbarung des Vaters. Diese enthüllt, daß durch diese Kosmogenesis für den Menschen die Möglichkeit geschaffen wurde, im Durchgang durch die materielle Erdenwelt seine kosmische Mündigkeit zu erlangen. Die Schuld, in die er der Natur gegenüber für den Dienst gerät, den sie ihm hierfür leistet, muß er künftig begleichen durch ihre Rückverwandlung in Geist, die sich ihm als Zukunftsaufgabe stellt. Denn - wie schon Paulus schrieb - "die Kreatur harrt mit Bangen und Seufzen ihrer Erlösung durch die Kinder Gottes". Hierin liegt es begründet, daß die durch die Anthroposophie zu erlangende Geisterkenntnis den sie Aufnehmenden dem materiellen Leben nicht entfremdet, sondern in praktische Betätigung ausmündet, welche auf die spiritualisierende Wandlung dieses Lebens in allen seinen Bereichen hinzielen.
Damit aber ist erst auf das Zentrum dieser neuen, dieser Erkenntnis-Offenbarung hingedeutet. Dieses Zentrum ist der Mensch selber, - und darum nennt sie sich mit Recht "Anthropo-Sophie". Denn um ihn geht es in all dem: um seine Erzeugung und Mündigwerdung in der Vergangenheit der Kosmogenesis, - um seine Wesensvollendung durch seine volle Selbstverwirklichung in der kosmischen Zukunft. Er stellt die Verbindung zwischen beiden her. Und wodurch kann er das? Durch die Offenbarung des Sohnes-Gottes, wie sie durch dessen Menschwerdung in der Mitte der Erdenentwicklung - in der "Achsenzeit" der Geschichte (Jaspers) - stattgefunden hat. Auch sie erneuert sich jetzt in verwandelter Form: als Inhalt der Erkenntnis-Offenbarung. In dieser enthüllt sie, daß Christus seit seiner Menschwerdung - trotz seiner "Himmelfahrt" - alle Tage bei uns geblieben ist und, wie er selbst ankündigte, "bis an der Welt Ende" bei uns bleiben wird. So ist er zum "Repräsentanten der Menschheit" geworden. Und so steht seine Neu-Offenbarung auch im Mittelpunkt der neuen Offenbarung der göttlich-geistigen Welt, zwischen denjenigen des Vaters und des Geistes. Aber was ist ihr spezifischer Inhalt? Es ist die richtige (S161) Überführung der Weltenvergangenheit in die Weltenzukunft, und das heißt: das rechte Drinnenstehen in der Weltengegenwart: im geschichtlichen Werden der Menschheit. Dies kann nur erreicht werden, wenn der Mensch der Erde das heißt: der Gegenwart weder nach dem Himmel der Vergangenheit hin entflieht noch den Todeskräften der Materie nach der Zukunft hin verfällt, sondern das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Verführungen zu halten versteht. Dieses Gleichgewicht bewahren zu können, ist das, was er der Menschwerdung des Sohnes verdankt. Damit wurde erst jetzt die wahre Bedeutung dieser Tat, die bisher Mysterium geblieben war, durch Rudolf Steiner erstmals enthüllt: Christus als der Repräsentant der Menschheit, ihr das Gleichgewicht ermöglichend zwischen der Verführung durch Luzifer, der sie der Erde nach der Geistigkeit der Vergangenheit hin entreißen will, und der Verführung durch Ahriman, der sie nach der Zukunft hin dem Erdentode überliefern will. Das war es darum auch, dessen künstlerische Verbildlichung in der von Steiner geschaffenen plastischen Gruppe an zentraler Stelle des von ihm erbauten Dornacher Goetheanums als der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft stehen sollte. Denn in ihm faßt sich das Ganze der neuen Erkenntnis-Offenbarung als in seinem Mittelpunkte zusammen.
So ist durch das Werk Rudolf Steiners zugleich nichts Geringeres als eine Neugeburt des Christentums in die Wege geleitet worden, - eine Neugeburt desselben nicht mehr in Gestalt eines religiösen Glaubens, einer kirchlichen Gemeinschaft, sondern als des zentralen Impulses, der gleichmäßig alle Bereiche des Lebens des Einzelnen wie der Gesellschaft durchdringen soll, um sie im wahren und vollen Sinne zu vermenschlichen, und das heißt: um den Menschen als die eigene Welt, die er geworden ist, in Freiheit gleichmäßig mit den Welten der Materie und des Geistes, der Erde und des Himmels, der Vergangenheit und der Zukunft zu verbinden. Das heißt aber auch: um ihn als den stetig Werdenden im Hindurchgang durch seine geschichtlichen Wandlungen das rechte Tempo einhalten zu lassen. Denn diese neue, erkenntnismäßige Offenbarung des Christus bedeutet zugleich die Entsiegelung des Geheimnisses der Geschichte: Es besteht darin, daß den in ihr stattfindenden Prozeß der (S162) stufenweisen Selbstverwirklichung des menschlichen Wesens alle einzelnen menschlichen Individualitäten in der Folge sich wiederholenden Erdenleben von Anfang bis Ende in je individueller Art durchlaufen.
Dieser Neugeburt des Christentums kommt gerade für die europäisch-abendländische Zivilisation, die ja ihre Prägung wesentlich aus dem Christentum, wenn auch aus einer früheren Entwicklungsform derselben, empfangen hatte, fundamentale Bedeutung zu, da die bisherigen kirchlich-glaubensmäßigen Formen desselben der heutigen Stufe der Bewußtseinsentwicklung nicht mehr entsprechen und deshalb zum Absterben verurteilt sind. Es kommt ihr für diesen Teil der Menschheit eine besondere Bedeutung aber auch deshalb zu, weil Europa in unserem Jahrhundert seine vormalige Welthegemonie an die zwei Supermächte des Westens und des Ostens verloren hat und sogar in zwei Teile zerspalten wurde, von denen der eine in die Abhängigkeit von der westlichen, der andere in die von der östlichen Supermacht versunken ist. Von dieser Spaltung ist am schwersten die europäische Mitte betroffen, da sie durch sie als Mitte ausgelöscht wurde. Von den beiden Supermächten aber ist die westliche durch die Veranlagung ihrer Bevölkerung vor allem der ahrimanischen Verführung ausgesetzt, die östliche der luziferischen. Das Gleichgewicht zwischen beiden zu bewahren durch eine neue, erkenntnismäßige Christusoffenbarung, welche das Christentum zur "Religion des Menschengeschlechts macht, das in ihm zugleich die höchste Wissenschaft besitzt", hatte darum schon Schelling als die besondere Bestimmung der mitteleuropäisch-deutschen Bevölkerung betrachtet und bezeichnet. In der Zukunft wird diese nicht durch eine politische Wiedervereinigung zu einem deutschen Nationalstaat, sondern nur durch die Ausbildung einer Kultur und einer Gesellschaftsordnung, die durch dieses neue Christusverständnis bestimmt ist, zu einer neuen Mitte werden und damit jene neue Mittlerfunktion erlangen können, deren das Leben der Gesamtmenschheit für ihre weitere Entwicklung als eines seiner Elemente bedarf.
Ein neues Zeitalter hat in unserem Jahrhundert seinen Anfang genommen. Was für ein Epochenwechsel mit ihm stattgefunden hat, (S163) wurde im Sinne der ihm von Rudolf Steiner gegebenen Deutung bezeichnet. Dieser Wechsel ist es, der jene entscheidende Krisis der Menschheitsentwicklung verursacht hat, in der wir heute drinnenstehen. Wie durch Rudolf Steiners Werk veranlagt wurde, was allein zu ihrer Überwindung führen kann, wurde in diesem Schlußkapitel zu zeigen versucht. Deutlich wurde hierbei auch, welche Gefährdungen dieser Überwindung entgegenstehen, und daß die Menschheit hierdurch in der nächsten Zukunft Auseinandersetzungen wird durchzustehen haben, wie sie bisher noch niemals stattgefunden hatten. Das, worin die Menschheit in jüngster Vergangenheit sich bis zum Übermaß verrannt hat, wird sich nicht halten lassen. Es wird nicht vor dem Zerfall zu bewahren sein. Ein wirklicher Fortgang des Menschheitswerdens aber wird nur in dem Maß erreicht werden können, als zwischen den vielfältigen Formen, welche die luziferischen und ahrimanischen Versuchungen annehmen werden, jenes Gleichgewicht wird gehalten werden können, das Rudolf Steiner als das eigentlich Menschliche aufgewiesen hat, und das zu verwirklichen der "Repräsentant der Menschheit" ermöglicht.
nächste Seite: Christgeburtspiel