Zweiter Teil
3. Auseinandersetzung mit Zeiterscheinungen
Zu den Auswirkungen der im vorangehenden Abschnitt geschilderten zentralen Erkenntnis, die mir gegen das Ende der 20er Jahre aufgegangen war, gehörte es auch, daß ich um die Wende zu den 30er Jahren das Bedürfnis fühlte, mich mit verschiedenen Erscheinungen und Bestrebungen des damaligen philosophisch-wissenschaftlichen Lebens auseinanderzusetzen. Zu ihnen von der geistigen Position aus, die ich durch jene Erkenntnis errungen hatte, Stellung zu nehmen, erschien mir notwendig. Ihren ersten Niederschlag fanden diese Stellungnahmen jeweils in der Folge von öffentlichen Vortragsreihen, die ich allwinterlich im Saale des Ingenieur- und Architektenvereins hielt.
Zu den Kennzeichen der philosophischen Entwicklung im zweiten Viertel unseres Jahrhunderts gehörte es, daß auch in ihr die Problematik der Geisteswissenschaften übergegangen war in diejenige der Erkenntnis des Menschen schlechthin. Unter den Phänomenen, welche diese Wendung bezeichneten, stand wohl an erster Stelle das Aufkommen der Philosophischen Anthropologie. In ihr machte sich das Ungenügen an einer bloß naturwissenschaftlich gearteten Erforschung des Menschen geltend. In markanter Weise kennzeichnete diese Situation Max Scheler, der nach mehrfachen Wandlungen seiner weltanschaulichen Position, in seinen letzten Schriften zu einem der bahnbrechenden Vertreter dieser neuen Forschungsrichtung geworden war. Leider wurde er mitten aus seinen diesbezüglichen Arbeiten im Jahre 1928 durch einen zu frühen Tod herausgerissen. In der Vorrede zu seiner unmittelbar nach seinem Hingang erschienenen Schrift "Die Stellung des Menschen im (S91) Kosmos" schrieb er: "Ich darf mit einiger Befriedigung feststellen, daß die Probleme einer philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland getreten sind und daß auch weit hinaus über die philosophischen Fachkreise Biologen, Mediziner, Psychologen und Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Menschen arbeiten. Aber dessen ungeachtet hat die Selbstproblematik des Menschen in der Gegenwart ein Maximum in aller uns bekannten Geschichte erreicht. In dem Augenblick, da der Mensch sich eingestanden hat, daß er weniger als je ein strenges Wissen habe von dem, was er sei, und ihn keine Möglichkeit der Antwort auf diese Frage mehr schreckt, scheint auch der neue Mut der Wahrhaftigkeit in ihn eingekehrt zu sein, diese Wesensfrage ohne die bisher übliche ganz-, halb- oder viertelsbewußte Bindung an eine theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Tradition in neuer Weise aufzuwerfen und... eine neue Form seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln."
Und in seiner kurz darauf ebenfalls aus dem Nachlaß veröffentlichten Schrift "Mensch und Geschichte" charakterisierte er Wesen und Bedeutung dieser "neuen Form des menschlichen Selbstbewußtseins" mit den Worten: "Wenn es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die... einer Grundwissenschaft vom Wesen und vom Wesensaufbau des Menschen; von seinem Verhältnis zu den Reichen der Natur (Anorganisches, Pflanze, Tier) wie zum Grunde aller Dinge; von seinem metaphysischen Wesensursprung wie seinem physischen, psychischen und geistigen Anfang in der Welt; von den Kräften und Mächten, die ihn bewegen und die er bewegt; von den Grundrichtungen und Gesetzen seiner biologischen, psychischen, geistesgeschichtlichen und sozialen Entwicklung, sowohl ihrer essentiellen Möglichkeiten als ihrer Wirklichkeiten... Eine solche (Lehre) allein vermöchte allen Wissenschaften, die mit dem Gegenstand 'Mensch' zu tun haben, ... ein letztes Fundament philosophischer Natur und zugleich auch bestimmte sichere Ziele ihrer Forschung zu geben."
In anderen Richtungen als durch Scheler hat die philosophische (S92) Anthropologie dann in den folgenden Jahrzehnten durch Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, Theodor Litt u.a. eine vielverzweigte Entfaltung erfahren. Wie verschieden diese auch geartet und wie sehr sie durch die weltanschaulichen Standorte der betreffenden Denker bedingt sein mochte, sie stellte jedenfalls ein bedeutsames Symptom dafür dar, daß eine zureichende Menschenwesens-Erkenntnis immer entschiedener als das zentrale Postulat unseres Jahrhunderts empfunden wurde. Gleichsam von der negativen Seite her kam dieselbe Empfindung zum Ausdruck in dem Mitte der 30er Jahre erschienenen weitverbreiteten Buche des Naturforschers und Arztes Alexis Carrel "Der Mensch - das unbekannte Wesen", in welchem das Fehlen einer selchen Erkenntnis von vielen Gesichtspunkten her aufgewiesen wurde.
Als eine zweite Hauptströmung der jüngsten philosophischen Entwicklung, die in derselben Grundrichtung wie die philosophische Anthropologie sich bewegte und gegenüber der letzteren sogar immer mehr in den Vordergrund rückte, trat die Existenzphilosophie in ihren verschiedenen Varianten hervor, wie sie durch Heidegger, Jaspers, Sartre u.a. repräsentiert wurde. Im Unterschied von der philosophischen Anthropologie, die den Menschen in seinem spezifischen, von den Naturreichen sich abhebenden Wesen zu begreifen suchte, faßte die Existenzphilosophie ihn in seiner spezifischen Seins- und Verhaltensweise in den Blick, also nicht in erster Linie von der Seite des ihm eigenen Erkennens, sondern des ihm zukommenden Lebens, Wollens beziehungsweise Sollens. Hierbei arbeiteten ihre verschiedenen Vertreter eine Reihe charakteristischer Merkmale des menschlichen Daseins heraus. Heidegger betonte besonders, daß dieses wesentlich im Elemente der Zeit und der Geschichte sich bewege, und daß speziell der moderne Mensch, weil sich ihm die innere Ordnung der Dinge verhüllt hat, sich in die Welt "geworfen" findet als in ein "Dasein zum Tode", das zur Urempfindung, die ihn gegenüber diesem Dasein erfüllt, die "Sorge" macht. Sartre legte alles Gewicht auf die menschliche Freiheit in dem Sinne, daß ihm der Mensch überhaupt nur als das erschien, was er in freier Verwirklichung seines Lebensentwurfs aus sich macht. Jaspers schließlich betonte, daß der (S93) Mensch mit seinem innersten Ichwesen in der ihn und die Welt "umgreifenden" Transzendenz wurzle, andererseits aber an ein endliches, eng begrenztes Dasein gebunden sei, das alles Streben nach voller Selbstverwirklichung in gewissem Sinne zum "Scheitern" verurteile.
Des ferneren präsentierte sich damals eine Lehre vom Menschen, wie sie von einem Denker sehr eigenwilliger Prägung: von Ludwig Klages in seinen psychologischen und charakterologischen Schriften, vor allem aber in seinem damals erschienenen Hauptwerke "Der Geist als Widersacher der Seele" entwickelt wurde. Hatte Scheler die Welt der Triebe als das "Mächtige" dargestellt, den Geist als das Machtlose, das die Triebe bestenfalls in die Richtung seiner Ziele lenken und damit sublimieren kann, so erblickte Klages umgekehrt im Geiste die todbringende Macht, welche, seitdem sie durch den Menschen in die Welt eingebrochen ist, Leben und Seele schrittweise zerstört. Im Gegensatz dieser beiden Anschauungen kam der seltsame Widerspruch zum Ausdruck, der darin liegt, daß in der neueren Zeit der Mensch unter dem Einfluß der Naturwissenschaft in der Theorie immer mehr zum Naturwesen degradiert beziehungsweise zur Naturwelt geschlagen wurde, in der Wirklichkeit aber sich gegenüber der Natur immer mehr emanzipiert hat, ja zu ihrem Zerstörer geworden ist.
Als eine weiteres bedeutsames Phänomen unseres Jahrhunderts erschien mir die ontologisch orientierte Philosophie Nicolai Hartmanns. In ihr bezeugte sich das Bedürfnis, einerseits mit dem Erkennen wieder die Wirklichkeit (das "Sein") zu ergreifen, andererseits die Welt und damit im Speziellen auch den Menschen als in Seins-Stufen geschichtete zu begreifen. Allerdings fehlte hier die Idee der Selbsterweckung und Selbstverwandlung des Menschen, die zu einer den Seins-Stufen entsprechenden Stufung der Erkenntnisformen führt. Denn erst durch eine solche läßt sich eine volle Selbsterkenntnis des Menschen gewinnen und seine Stellung im Weltganzen erfassen.
Schließlich war da die Freudsche Psychoanalyse, welche die Seelenforschung auf das Gebiet des Unbewußten ausgedehnt hatte. Sie brachte dabei wohl gewichtige Tatsachen ans Licht, aber ihre (S94) naturwissenschaftliche-materialistische Grundeinstellung hatte zur Folge, daß sie Wahrheiten von durch nur relativer Gültigkeit hinsichtlich der Bedingtheit des Seelischen durch die Triebe des leiblichen Lebens verabsolutierte. Ihr gegenüber versuchte ich (im "Neuen Bilde des Menschen") eine Psychosophie zu entwerfen, welche das Seelische von seiner zweiseitigen Bedingtheit durch das Leibliche wie durch das Geistige her zu verstehen unternahm.
In dieser Mittel- und Mittlerstellung des Seelischen erschien mir im übrigen auch ein Urphänomen des menschlichen Daseins begründet, das mich in jenen Jahren stark beschäftigte: nämlich jene Prozesse der Wandlung von Geist in Stoff, von Stoff in Geist, die immerwährend in ihm stattfindet: in Geburt und Tod, im Jungsein und Altern, im Handeln und Erkennen, im künstlerischen Schaffen, in den Organen der Leibesgestaltung und der Bewußtseinsbildung. Denn an allen diesen Prozessen ist die Seele als Mittler zwischen den genannten Polen beteiligt. Es stehen diese Prozesse allerdings im Widerspruch mit dem Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und der Kraft, welches die moderne Naturwissenschaft für die materielle Welt schlechthin statuiert hat. Aus den Erkenntnissen der Anthroposophie jedoch ergab sich für mich, daß in den Zeiten der kosmischen Evolution, die vor der vollen Menschwerdung des Menschen lagen, solche Wandlungsgeschehnisse wohl noch in den Prozessen der Schöpfung und der Entwicklung, der Creation und der Evolution von Kosmos und Erde unmittelbar zwischen den gegensätzlichen Welten sich vollzogen haben, daß sie aber in der kosmischen Gegenwart im außermenschlichen Bereich zur Ruhe gekommen sind. Im Menschen dagegen vollziehen sie sich noch heute, und in der Zukunft wird er sogar immer mehr zum Ort und zugleich zum Bewirker ihres Vollzuges werden. Im Akte der Transsubstantiation in der christlichen Messe erscheinen sie in Form eines Kultgeschehens symbolisch vorgebildet. In einer Vortragsreihe über "Das Menschenrätsel als alchymistisches Geheimnis" suchte ich in jenen Jahren diese Tatsachen im Konkreten darzustellen. Es schien mir darum später bezeichnend, daß der Begründer jener Richtung der Tiefenpsychologie, welche nicht nur die Beziehung des Seelischen zum Leiblichen, sondern auch diejenige zum Geistigen (zur (S95) Archetypenwelt) zum Gegenstand ihrer Forschung machte: C.G.Jung, den Zusammenhang zwischen "Psychologie und Alchymie" (in seinem so benannten Buche von 1943) ebenfalls wieder entdeckt hat.
Als eine vorläufig letzte Frucht der geschilderten Zentralerkenntnis sei hier noch eine auf die Menschheitsentwicklung bezügliche Anschauung skizziert, die ich 1933 erstmals auch wieder im Zusammenhang mit einer Wiener Jahrestagung zur Darstellung brachte. Ich setzte mich durch sie zugleich mit dem Nationalsozialismus auseinander, der in jenem Jahr in Deutschland an die Macht gekommen war und seitdem auch in Österreich eine rasch zunehmende Anhängerschaft gewann. Ich schrieb diese Darstellung dann nieder und versuchte sie noch in einem Verlag in Deutschland herauszubringen, was aber infolge der dort bereits etablierten Naziherrschaft nicht mehr möglich wurde. Ihr Titel lautete "Die drei Urquellen der menschlichen Kultur", und ihren Inhalt bildete ein geschichtlicher Überblick über die verschiedenen Ursprünge, aus denen menschliche Kultur im Lauf ihrer Geschichte entstanden ist und in Zukunft wird entstehen können. Meinem Blicke boten sich hierbei drei solcher Urquellen dar.
Die erste derselben bildeten instinktive, das heißt: im Leiblichen waltende Naturkräfte. Diese vererbten sich darum mit dem Blut und waren deshalb je nach Bluts-, das heißt Rassenzugehörigkeit von verschiedener Art. Aus ihnen konnte die menschliche Kultur in ihren vorgeschichtlichen Anfängen deshalb erwachsen, weil diese Kräfte damals noch als gottdurchwirkte, geistdurchdrungene erlebt wurden. Die Religion, die ihnen dadurch entquoll, hatte darum den Charakter eines Ahnenkults. Weil diese Naturkräfte an die menschliche Leiblichkeit gebunden waren, deren Entwicklung damals zum Abschluß und das heißt zum Stillstand kam, darum eignete dieser naturhaften Kultur als eines ihrer Hauptmerkmale ein absoluter Konservativismus. In diesem liegt die lange, Jahrtausende umspannende zeitliche Dauer begründet, durch welche sie sich fast unverändert erhielt.
Die zweite der Urquellen bildete die an einmalige geschichtliche Ereignisse sich anschließende Überlieferung. Sie konnte erst in dem (S96) Maße zu fließen beginnen, als die Menschheit aus ihrem vorgeschichtlichen Dasein zu ihrem geschichtlichen überging. Man könnte ebensogut auch sagen: die Menschheit trat erst in dem Maße in ihr geschichtliches Dasein ein, als sie ihre Kultur aus den Quellen der Überlieferung zu schöpfen begann. Das wichtigste Mittel der letzteren bildet die Schrift. Darum bezeichnet die Erfindung derselben den Übergang zur Geschichte. Je weiter diese fortschritt, in desto höherem Grade wurde Überlieferung zur Quelle kultureller Entwicklung. Aus dem, was den Menschen durch Erziehung und Bildung an Überlieferung auf den verschiedenen Lebensgebieten überkam, ergaben sich ihnen jetzt die Ideale und Impulse für ihr kulturelles Schaffen. Diese zweite Quelle kennzeichnet sich nun dadurch, daß, was ihr entquillt, sich polarisiert in eine konservative und eine progressive Strömung. Es ist diese Polarisierung durch den Umstand bedingt, daß für jede an einmalige Ereignisse oder Schöpfungen anknüpfende Überlieferung als Hauptproblem dieses sich stellt: Soll sie den diesen innewohnenden Impuls sinngemäß zur weiteren Entfaltung bringen oder in seiner ursprünglichen Gestalt unverändert bewahren? Beides ist mit Gefahren verbunden: im ersteren Falle kann durch die Weiterbildung, die eine Schöpfung erfährt, ihr ursprünglicher Sinn verloren gehen oder gar in sein Gegenteil sich verkehren, - im letzteren kann er der Erstarrung und Verknöcherung verfallen und zur kulturellen Stagnation führen. Wir sehen daher, wie alle durch das Prinzip der Überlieferung bestimmte Kultur (gleichermaßen in der Religion, in der Kunst, in der Politik usw.) in eine Zweiheit von konservativen und fortschrittlichen Richtungen, beziehungsweise von reaktionären und revolutionären Parteien sich differenziert, welche in Spannungen, ja in kämpferische Auseinandersetzungen miteinander geraten. Im übrigen aber ist diese zweite Quelle kulturellen Schaffens eine sekundäre nicht nur im zeitlichen, sondern auch im qualitativen Sinne. Denn es liegt in ihrem Wesen begründet, daß sie immer an etwas anknüpfen muß, was nicht aus ihr selbst, sondern aus einer anderen Quelle entsprungen ist. Sie selbst vermag nichts ursprünglich Neues hervorzubringen. Woran sie sich in ihren Erzeugnissen anschließt, stammt immer entweder noch aus dem Fortwirken der (S98) ersten Quelle: den naturhaften Schöpferkräften oder schon aus dem ersten, anfänglichen Strömen einer neuen: der dritten Quelle kulturellen Schaffens.
Diese aber, die in neuerer Zeit aufgebrochen ist und in einer nachgeschichtlichen Zukunft zur bestimmenden werden wird, liegt in dem von ihm in sein Bewußtsein heraufgehobenen Wesen des Menschen selbst. Mit der ersten Quelle hat diese dritte gemeinsam die Unabhängigkeit von der geschichtlichen Überlieferung. Damals hatte diese Unabhängigkeit darin ihren Grund, daß es eine solche Überlieferung noch gar nicht gab. In der Zukunft wird sie darin begründet liegen, daß die Überlieferung immer mehr ihre Bedeutung verlieren wird. Wir erleben es schon in unserem Jahrhundert, wie die Tradition auf allen Lebensgebieten abreißt, wie das Interesse an der geschichtlichen Vergangenheit dahinschwindet, wie das Überkommene den Menschen nichts mehr sagt. In positiver Hinsicht aber wird eine Unabhängigkeit von der Überlieferung dadurch entstehen, daß, wenn einmal das durch diese dritte Quelle bestimmte kulturelle Schaffen sich zur vollen Blüte entfaltet haben wird, jeder Mensch in und durch sich selbst das Wesen seines Menschseins für sein Bewußtsein wird erwecken können. Er wird damit zugleich erkennen, daß in jedem einzelnen Menschen auf je individuelle Weise das Menschliche schlechthin lebt. Das bedeutet, daß auch die stufenweise Entfaltung dieses Menschlichen, wie sie in der Folge von Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte stattfindet, von jedem einzelnen Menschen durchlaufen wird: nämlich in der Folge seiner Reinkarnationen. Die Erkenntnis der letzteren wird in jener Zukunft als ein Bestandteil der Selbsterkenntnis des Menschenwesens in das Bewußtsein desselben eintreten. Zufolge dieses Gesetzes der Reinkarnation sind die verschiedenen Stufen der Menschheitsentwicklung im wesentlichen identisch mit denjenigen der Entwicklung der einzelnen menschlichen Individualitäten. Hat die Menschheit die Phase ihres Werdens erreicht, in der sie zur Erfassung ihres Wesens reif geworden ist,, so haben auch die einzelnen Individualitäten im Durchschnitt diese Reifestufe erlangt. Sie sind für das ihr entsprechende Schaffen nicht mehr im selben Sinne, wie das für die Errungenschaften der geschichtlichen (S98) Phase galt, auf die Aneignung der Überlieferung angewiesen. An deren Stelle tritt die jetzt notwendige Selbstverwandlung.
Mit all dem ist nun auch schon der Unterschied zwischen der ersten und der dritten Quelle genannt, welcher der ihnen gemeinsamen Unabhängigkeit von der Überlieferung gegenübersteht: mit jener ersten war ein absoluter Konservativismus verknüpft, der im Abschluß der leiblichen Entwicklung begründet lag. Die älteste Kultur tendierte dahin, ihren Anfang, ihren Ausgangspunkt festzuhalten oder immer wieder herzustellen. Sie war ganz nach der Vergangenheit hin orientiert. Die dritte Quelle der Kultur wird dieser das Merkmal absoluter Progressivität verleihen, weil in ihr die Entwicklung des Geistigen im Menschen ihren Ausdruck finden wird. Denn diese ist ganz auf die Zukunft ausgerichtet, sie bewegt sich auf ihr Endziel: die volle Verwirklichung des menschlichen Wesens hin. Hat nämlich der Mensch einmal mit der Bewußtmachung seines Wesens auf dem Wege der geistigen Selbsterweckung beziehungsweise Selbstverwandlung begonnen, so kann es sich für ihn nurmehr darum handeln, diese immer weiter fortzusetzen, bis in das Licht dieser Selbsterweckung sein gesamtes Wesen gehoben sein wird. Das bedeutet zugleich, daß die Polarität von Konservativismus und Progressismus, wie sie die Wirkensphase der zweiten Quelle kennzeichnete, verschwindet. Denn je höher der Prozeß der Bewußtmachung gesteigert, das heißt je weiter auf dieser Bahn fortgeschritten wird, desto tiefer dringt der Mensch erkennend in sein eigenes Wesen ein, das heißt in das, was jetzt zur Quelle seines Schaffens geworden ist. Man entfernt sich also durch den Fortschritt nicht vom Ausgangspunkt desselben, sondern erobert diesen in stetig zunehmender Tiefe. Wir sehen denn auch, wie schon im Laufe der neueren Zeit das Prinzip des Fortschritts eine alle früheren Erscheinungsformen desselben überragende Bedeutung gewonnen hat. Der Fortschrittsglaube ist insbesondere seit dem 19. Jahrhundert geradezu an die Stelle der früheren Religionen getreten. Fortschritt ist für ihn gleichsam zum Selbstzweck geworden. Das bedeutet allerdings, daß er bisher noch nicht entschieden im Sinne einer ständigen Steigerung der Erkenntnis und Verwirklichung des Menschenwesens verstanden wird. (S99)
Denn anstelle jenes relativen Gegensatzes von Progressivität und Konservativismu der vorangehenden Entwicklungsphase bildet sich jetzt ein neuer, ein absoluter Gegensatz heraus. Dieser entsteht dann, wenn jetzt das Natürliche, nachdem seine einstmalige Geistdurchdrungenheit und damit seine kultur-schöpferische Fähigkeit völlig dahingeschwunden sind, wieder zum Prinzip und Maßstab des kulturellen Schaffens und Wirkens proklamiert wird. Denn als das nur Natürliche, das heißt das bloß Materiell-Natürliche, zu dem es jetzt geworden ist, wird es in diesem Gebrauch zum Anti-Menschlichen. Die Tendenz zum Anti-Menschlichen macht sich in unserer Zeit in der Tat überall da geltend, wo aus der modernen Naturwissenschaft, für welche ja natürliche und materielle Welt identisch geworden sind, Prinzipien der Kulturgestaltung hergeleitet werden. In den 30er Jahren bildete den Hauptrepräsentanten dieser Tendenz der Rassismus, der Blut- und Bodenkult des deutschen Nationalsozialismus, der sich bald nach dessen Machtergreifung denn auch zu den extremsten Formen des Anti-Humanismus steigerte. Bei ihm trat dieses Anti-Menschentum zunächst - um einen anthroposophischen Terminus zu gebrauchen - in "luziferischer" Nuancierung auf, das heißt in einer nach der Vergangenheit, nach dem einstigen Ahnenkult rückwärts gewandten Erscheinungsform. Ihn suchte ich in der hier skizzenhaft wiedergegebenen geschichtlichen Überschau aus den Fundamenten der Menschen- und Geschichtserkenntnis heraus als das, was er in Wahrheit war, zu entlarven und ihm das Positive gegenüberzustellen, das Gegenwart und Zukunft fordern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind dieselben Tendenzen in anderer, "ahrimanischer" Form in Erscheinung getreten in der neuesten Genetik sowie in den Bestrebungen, die aus der Naturwissenschaft hervorgegangene Technik zum allbeherrschenden und bestimmenden Prinzip der Lebensgestaltung zu machen. Der Mensch soll, diesen Bestrebungen gemäß, nach den Anforderungen, welche eine ins Unbegrenzte sich perfektionierende Technik an ihn stellt, umkonstruiert beziehungsweise umgezüchtet, das heißt immer mehr in einen Roboter und die gesamte Zivilisation in eine universelle Maschinerie verwandelt werden. Die neu entstandene Wissenschaft (S100) der Futurologie, welche die Richtlinien für die Daseinsgestaltung bezeichnenderweise ausschließlich von der Zukunft herleitet, wie sie sie sich vorstellt, malt als "science fiction" phantastische Bilder einer Zivilisation aus, in welcher die Technik zu einer Art Allmacht über die Natur gelangt sein und den Menschen in einer zweiten Schöpfung desselben zu ihrem Geschöpf umgeschaffen haben wird, - zu einem Geschöpf, das seines Menschentums völlig verlustig gegangen sein wird. Der Kampf zwischen dieser auf die völlige Auslöschung des Menschlichen zielenden Strömung und der auf die volle Verwirklichung desselben gerichteten hat sich heute bereits über die ganze Erde ausgebreitet, und er wird zum Hauptthema aller Zukunftsproblematik werden. Sein Ausgang wird über Sein oder Nichtsein der Menschheit entscheiden.
Schon im Humanismus der Renaissance (Pico della Mirandola) und in noch gesteigertem Maße im Neuhumanismus der mitteleuropäischen Kultur der Goethezeit war das damals zuerst von Herder formulierte Prinzip der Humanität programmatisch zum Ziel und Maßstab allen kulturellen Schaffens erhoben worden. Doch knüpften beide Humanismen dabei noch wesentlich an die Kultur der Antike an, ja wendeten sich in gewisser Weise geradezu zur Antike zurück im Sinne einer Wiedergeburt derselben. Damit stellten sie sich doch noch als charakteristische Vertreter des auf das Prinzip der Überlieferung, das heißt auf seine zweite Quelle begründeten Kulturschaffens dar. Dies gilt speziell auch von der durch Herder in seinen "Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit" entworfenen Geschichtsauffassung. Nahm doch Herder auch gegenüber der von Lessing zuerst in einem neuen Sinn vertretenen Idee der Reinkarnation, in welcher sich die künftige dritte Quelle ankündigte, eine ablehnende Haltung ein. Hierin lag der Grund dafür, daß seine Humanitätsidee, trotz bedeutsamen Ansätzen zu ihrer Begründung, für ihn doch keinen rechten Inhalt gewinnen konnte. Denn die bloße Überlieferung ist,, wie schon erwähnt keine ursprünglich eigene Quelle kulturellen Schaffens, ihre Inhalte sind stets von anderswoher entliehen. Darum genügt jene auf Überlieferung begründete Form des Humanismus für die Zukunft nicht mehr. Ihr gegenüber finden sich - zwar in anderer Art (S101) als bei Lessing - doch auch in Goethes Naturforschung und in Schillers Kunstphilosophie erste Ansätze zu einer Bewußtseinserweiterung in Richtung auf eine in sich selbst gegründete Erkenntnis des Menschenwesens. Durch diese empfing der junge Rudolf Steiner entscheidende Anregungen für die Ausgestaltung dessen, was später von ihm als "Anthroposophie" begründet wurde. In dieser hat die dritte Quelle kulturellen Schaffens erstmals in vollem Maße zu strömen begonnen.
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