Das eigentliche Ziel des rosenkreuzerischen Strebens kommt am schönsten in den Bilder von Goethes Märchen von de >Grünen Schlange und der schönen Lilie< zum Ausdruck (42. Rudolf Steiner: Goethes geheime Offenbarung in seinem Märchen von der schönen Lilie und der grünen Schlange, Steiner-Verlag). Es will in seinen anmutigen Bildern die Frage in künstlerischer Weise beantworten: Wie kann der Mensch die Kluft zwischen Sinnes- und Geisteswelt überwinden, wie kann er die Brücke bauen, die beide wieder verbindet, so daß er sich mit der >schönen Lilie<, die im Reich des Geistes beheimatet ist, vermählen kann? Es ist also auch hier eine alchimistische Hochzeit, die uns in den einzelnen Bildern beschrieben wird, ähnlich wie die >Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz< von Valentin Andreae. Dabei spielen die drei, respektive vier Könige, die an den Altären der Rosenkreuzer stehen, eine wichtige Rolle.
Im Sinne der Mysterienweisheit ist es die Aufgabe des Menschen, das Schöpfungswerk fortzusetzen. Was die göttlichen Wesen im Urbeginne aus ihrer Weisheit erstehen liessen als Reiche der Natur, das soll der Mensch aus der Kraft der Erkenntnis und der Liebe fortsetzen. Dieses Werk des Menschen ist gleichsam eine >Schöpfung aus dem Nichts<, denn er muß die Zukunft vorausnehmen und gestalten. Er kann es nur, wenn er sich zu den höchsten Idealen erhebt, um sie als Kraft in sich einströmen zu lassen. In Christus sahen die Rosenkreuzer die göttliche Urgestalt des Menschen, die sie zu verwirklichen strebten. Daher war ihr Meditationsbuch das Johannes-Evangelium.
Wenn der Mensch diese göttliche Kraft, die ihm von Christus zuteil wird, in sich so aufnimmt, so arbeitet er an der Verwandlung seiner Seele. Der >Mondenteil< seines Astralleibes wird geläutert und von den Leidenschaften befreit. Daraus entsteht das >Geistselbst< als das erste geistige Glied seiner Wesenheit. Das Sonnengold leuchtet in seiner Seele auf und gebiert die Kraft der Erkenntnis. Im >Goldenen König< hat Goethe diese Kraft dargestellt.
Eine noch größere Kraft ist nötig, um die tieferen Seelenkräfte zu erreichen und umzuwandeln, die in den ätherischen Bildekräften verankert sind. Es sind die bleibenden Charaktereigenschaften, unsere Gewohnheiten und unser Temperament. Werden diese durch die meditative Arbeit erfaßt und verwandelt, so ersteht der >Silberne König<, der Repräsentant für das religioöse und künstlerische Erleben: der >Schöne Schein<.
Die größte Kraft aber ist zur Umwandlung des physischen Leibes erforderlich. Daraus ersteht die starke Kraft, das soziale Leben zu meistern und umzugestalten. Es ist der >Eherne König<, der die Stärke oder die Gewalt vertritt, welcher am Altar des Westens steht, um im Verein mit den anderen Königen die neue soziale Ordnung zu begründen.
Wann aber können diese Könige aufstehen und ihre Herrschaft antreten? Wenn der vierte >sich gesetzt hat<. Es ist der zusammengesetzte König, in dem die ungeläuterten Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens unharmonisch und chaotisch durcheinanderwirken und so die Harmonie stören.
Das Geheimnis, wann diese Zeit gekommen ist, ist nur der Schlange bewußt. Es hängt von ihr selber ab, wann sie die Zeit gekommen erachtet, sich zu opfern. Und damit blicken wir in die tieferen Seelenvorgänge, die sich im Menschen vollziehen, der als Geisessucher sich dem Reich der schönen Lilie naht, wie der Jüngling, der voll Sehnsucht am diesseitigen Flußufer vergeblich zum jenseitigen Ufer hinüber späht, da die Brücke noch nicht gebaut ist, die ihn über den Fluß trägt.
Goethe gibt such auch hier als tiefer Kenner der alchimistischen Wandlungsprozesse zu erkennen, die sich in der Seele abspielen. Er zeigt uns in der Gestalt der grünen Schlange jene Seelenkraft, die in jedem Menschen als Instinkt waltet und ihn zu den einzelnen Stationen seines Lebens führt. In dieser Kraft wirkt zunächst der natürliche Egoismus. Er ist so lange notwendig, bis der Mensch sich zu einer höheren Stufe erhebt, um aus bewußter Einsicht und Liebe seine Aufgabe zu erfüllen. Für jeden kommt die Stunde, wo er weiß: >Es ist an der Zeit!< Das ist das Geheimnis, das nur die Schlange weiß, welche die Wandlung einleitet.
Sobald dieses Wort zum dritten Male ertönt, zerfällt der Körper der Schlange in lauter Edelsteine und bildet die Grundfesten, auf denen sich die Brücke über den Fluß erhebt. Der bis dahin in den Felsklüften der Erde ruhende >unterirdische Tempel< erhebt sich mit den auferstehenden Königen und wird nun zum >oberirdischen Tempel<, der allen zugänglich ist.
>Aber mit nicht geringer Bewunderung sah die Gesellschaft, als sie zum Flusse gelangte, einen herrlichen Bogen über denselben hinübersteigen, wodurch die wohltätige Schlange einen glänzenden Weg bereitete. Hatte man bei Tage die durchsichtigen Edelsteine bewundert, woraus die Brücke zusammengesetzt schien, so erstaunte man bei Nacht über ihre leuchtende Herrlichkeit.<
Jetzt ist die Zeit gekommen, daß die Könige ihre Herrschaft antreten können: >Drei sind, die da herrschen auf Erden: Die Weisheit, der Schein und die Gewalt. Bei dem ersten Worte stand der goldene König auf, bei dem zweiten der silberne und bei dem dritten hatte sich der eherne langsam emporgehoben, als der zusammengesetzte sich plötzlich ungeschickt niedersetzte.<
Wie tief Goethe in die rosenkreuzerischen Mysterien eingeweiht war, geht daraus hervor, daß die Vermählung zwischen dem Jüngling und der schönen Lilie sich erst vollziehen kann, nachdem der Jüngling den mystischen Einweihungstod durchgemacht hat. Erst dann kann der Wiedererweckte und Neugeborene die Gaben der drei Könige im Tempel empfangen und sich mit der schönen Lilie verbinden. Es ist also wirklich eine >Chymische Hochzeit<, die sich hier vollzieht. Goethe war ja schon in jungen Jahren mit den Geheimnissen der Alchimisten durch Susanne von Klettenberg in Frankfurt vertraut geworden und wurde als Angehöriger der Freimaurerloge in Weimar noch tiefer in die kultischen Hintergründe eingeführt. So konnte er aus eigener Erfahrung und geistiger Einsicht die Seelenvorgänge beschreiben, die sich bei der Rosenkreuzereinweihung abspielen.
Nach seiner Erweckung wird der Jüngling zu den drei Königen des >Oberirdischen Tempels< geführt: >Der Mann mit der Lampe führte nunmehr den schönen, aber immer noch starr vor sich hinblickenden Jüngling vom Altare herab und gerade auf den ehernen König los. Zu den Füßen des mächtigen Fürsten lag ein Schwert in eherner Scheide. Der Jüngling gürtete sich. - >Das Schwert an der Linken, die Rechte frei!< rief der gewaltige König. Sie gingen darauf zum silbernen, der sein Zepter gegen den Jüngling neigte. Dieser ergriff es mit der linken Hand, und der König sagte mit gefälliger Stimme: >Weide meine Schafe!< Als sie zum goldenen König kamen, drückte er mit väterlich segnender Gebärde dem Jüngling den Eichenkranz aufs Haupt und sprach: >Erkenne das Höchste!<
Der Alte hatte während dieses Umgangs den Jüngling genau bemerkt. Nach umgürtetem Schwert hob sich seine Brust, seine Arme regten sich, und seine Füße traten fester auf; indem er den Zepter in die Hand nahm, schien sich die Kraft zu mildern und durch einen unaussprechlichen Reiz noch mächtiger zu werden; als aber der Eichenkranz seine Locken zierte, belebten sich seine Gesichtszüge, sein Auge glänzte von unaussprechlichem Geist, und das erste Wort seines Mundes war: >Lilie<.
Wie der Mensch die Schöpfung fortsetzt und ihr erst den wahren Sinn verleiht, geht aus der vierten Kraft hervor, welche aus seinem tiefsten Inneren geboren, die eigentliche Krönung des Tempelwerkes bildet und die drei Könige zu einer höheren Einheit zusammenschließt:
>Liebe Lilie<, rief er, als er ihr die silbernen Treppen hinauf entgegeneilte, denn sie hatte von der Zinne des Altars seiner Reise zugesehen: >Liebe Lilie! Was kann der Mann, ausgestattet mit allem, sich Köstlicheres wünschen als die Unschuld und die stille Neigung, die mir dein Busen entgegenbringt?< >O Mein Freund<, fuhr er fort, indem er sich zu dem Alten wendete und die drei heiligen Bildsäulen ansah, >herrlich und sicher ist das Reich unserer Väter, aber du hast die vierte Kraft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Kraft der Liebe!< Hierauf sagte der Alte lächelnd:
>Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr<
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