Zweiter Teil
5. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegsentwicklung
Durch den Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938 hatte die Tätigkeit der dortigen Anthroposophischen Gesellschaft ein plötzliches Ende gefunden. Kurze Zeit darnach unternahm ich nochmals eine Vortragsreise durch die Tschechoslowakei. Dabei wurde ich von den Freunden in Prag, denen ich meine Absicht mitteilte, in einem anderen Land meine Tätigkeit fortzusetzen, eingeladen, zu diesem Zwecke nach Prag überzusiedeln. Sie waren, entgegen meinen Befürchtungen, fest davon überzeugt, daß mit der Annexion Österreichs die auf territoriale Expansion gerichteten Bestrebungen Hitlers ihr Ziel erreicht hätten, und so wurde denn für den Herbst meine Übersiedlung nach Prag in Aussicht genommen beziehungsweise vereinbart. Da ich der Meinung war, Deutschland damit für lange Zeit, vielleicht für immer, zu verlassen, drängte es mich, zum Abschied noch den Ort zu besuchen, an dem ich bisher noch nie gewesen, der aber für mich doch das Symbol desjenigen Deutschland war, dem ich mich weiterhin zugehörig fühlte. Weimar, die Stadt Goethes und Schillers, in der auch Rudolf Steiner einen wichtigen Abschnitt seines Lebens verbracht hatte. Und so reiste ich denn im Frühsommer mit Zwischenaufenthalten in Dresden und Leipzig für einige Tage nach Weimar. Wenn auch das Goethe-Museum im Haus am Frauenplan damals schon nazistisch "umfunktioniert" war, so wurde es mir doch, wie auch die ganze Stadt und ihre Umgebung mit ihren so teuren Erinnerungsstätten, zu einem tiefen Erlebnis. Im übrigen empfand ich mich allerdings in Deutschland, das ich seit mehreren Jahren nicht mehr besucht hatte, jetzt wie in einem Lande (S113) eines mir fremden Volkes, das wie unter einer riesigen Glocke lag, die es von der geistigen Welt völlig abschloß.
Den Sommer verbrachte ich in Dornach, - und noch während ich dort war, kam das Münchner Abkommen zwischen Hitler, Mussolini und Chamberlain zustande, durch welches die Tschechoslowakei Hitler preisgegeben wurde. Damit kam eine Übersiedlung nach Prag nicht mehr in Frage, - ich hatte schon im Lauf des Sommers an seiner Stelle Jugoslawien ins Auge gefaßt -, ich entschloß mich daher rasch zu dieser Alternative, hatten sich dort auch die dortigen Freunde mit Freude bereit erklärt, mich bei sich aufzunehmen. Im Oktober reiste ich von Dornach über Italien zunächst nach Zagreb, von dort einige Tage später nach Novi Sad, wo ich im Hause des Arztes Dr. Nikola Matijevic, des Generalsekretärs der jugoslawischen Anthroposophischen Gesellschaft, aufs gastfreundlichste aufgenommen wurde.
Diese Gesellschaft war zwar noch klein an Mitgliederzahl, in der Hauptsache durch die Gruppen in Beograd und Zagreb vertreten, setzte sich aber überwiegend aus Angehörigen der gebildeten Schichten zusammen: Ärzten, Mittel- und Hochschullehrern, Offizieren, auch ein ehemaliger Minister war darunter, - und entfaltete eine überaus rege Tätigkeit. Sie gab eine eigene anthroposophische Zeitschrift heraus und hatte die Hauptwerke Steiners in serbischer Sprache publiziert. Die Hoffnung war berechtigt, ihr allmählich zu einer solchen Ausbreitung zu verhelfen, daß die Arbeit in ihrem Dienste, eventuell ergänzt durch irgendwelche pädagogische Tätigkeit, meine und meiner Frau Existenz wirtschaftlich zu sichern vermöchte. Meine Frau war zunächst in Wien zurückgeblieben und sollte mir ein Jahr später, wenn ich auf dem neuen Boden einigermaßen Fuß gefaßt hätte, nachfolgen. Ich lernte eifrig die serbo-kroatische Sprache, um baldmöglichst auch in ihr als Vortragender wirken zu können. Von Novi Sad aus, wo eine kleinere Gruppe bestand, versorgte ich auch Beograd allwöchentlich mit einigen Vorträgen und hatte so bald alle Hände voll zu tun. Im Hause meiner Gastfreunde lebte ich bald wie ein Glied der Familie. Der Winter verging im Nu, - um die Osterzeit nahm ich vorläufigen Abschied, um bis zum Eintritt der (S114) Sommerferien noch in Zagreb tätig zu sein. Auch dort, wo die Arbeit vor allem von Frau Olga Dungjerski und dem Ärzte-Ehepaar Dr. Zupic betreut wurde, herrschte ein reges und geselliges anthroposophisches Leben. Ich hätte mich leicht schon ganz heimisch in der neuen Umgebung fühlen können, wenn sich nicht die politische Lage in Europa immer bedrohlicher zugespitzt hätte: Im Frühling wurde Albanien von Italien okkupiert. Mein Aufenthalt in Jugoslawien war den dortigen Behörden von Anfang an verdächtig erschienen. Sie vermuteten dahinter irgend eine geheime politische Mission. Als ich im Sommer 1939, vom Goetheanum zu einem Vortrag an der Sommertagung eingeladen, für die Reise nach Dornach meinen Paß verlangte, der bei der Polizei hatte deponiert werden müssen, erhielt ich den Bescheid, ich werde ihn erst am Bahnhof vor Abfahrt des Zuges bekommen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den von mir vorgesehenen Zeitpunkt meiner Abreise zu nennen und sie für diesen vorzubereiten. Als ich am Reisetag mich zu dem betreffenden Zug am Bahnhof einfand, erklärte mir ein Beamter, der den Paß in der Hand hatte, ich bekomme ihn erst an der Grenze. Als der Zug die Grenze erreichte, wurde mir der Paß endlich ausgehändigt. Er war mit dem Stempel versehen "Ausgewiesen!". So war der Staat mich auf eine heimtückische Weise losgeworden, da ich nun keine Möglichkeit mehr hatte, gegen die Ausweisung zu rekurrieren. Und so war also meine Tätigkeit in Jugoslawien auf ein kurzes Gastspiel beschränkt worden. Meine Freunde in Beograd setzten auf meine Bitte hin in den nächsten Monaten alle Hebel in Bewegung, um mir die Rückkehr nach Jugoslawien zu ermöglichen. Es gelang aber nicht, - umso weniger, als im September der Zweite Weltkrieg ausbrach. Und so war ich genötigt, bis auf weiteres in der Schweiz zu bleiben.
Diese "Übersiedlung" bedeutete zugleich den Übergang in meine zweite Lebenshälfte. Die Bewilligung eines weiteren Aufenthaltes in Dornach wurde mir von den Behörden unter dem Titel des "Studiums am Goetheanum" erteilt. Dieses bestand in Wirklichkeit in der regelmäßigen Mitwirkung an Tagungen des Goetheanums und in einzelnen Vorträgen in speziellen Zusammenhängen. In den folgenden Jahren erweiterte sich die Vortragstätigkeit über (S115) eine Reihe von Schweizer Städten. Im übrigen aber genoß ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Dasein ohne irgendwelche Verpflichtungen und benützte diese Freiheit zu ausgedehnten Studien auf dem Gebiete der Geschichte, insbesondere der Rechts- und der Sozialgeschichte. Den reichsten Gewinn zog ich dabei aus den Schriften Otto von Gierkes, vor allem aus seiner vierbändigen Geschichte des deutschen Genossenschaftsrechts.
Im Zusammenhang damit beteiligte ich mich an der sozialwissenschaftlichen Arbeit am Goetheanum, die damals von Friedrich Häusler und Roman Boos betreut wurde. Vielfache Anregung und innere Förderung wurde mir auch zuteil durch unzählige Gespräche mit Hermann Jülich, der damals unter ähnlichen Bedingungen in Dornach lebte wie ich. Im vorhitlerischen Deutschland als Arbeitsamtsdirektor im westfälischen Industriegebiet tätig gewesen, beschäftigte auch er sich in jenen Jahren vor allem mit anthroposophisch-sozialwissenschaftlichen Studien und Arbeiten. Zwischen uns entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu seinem kürzlich erfolgten Hinscheiden unvermindert herzlich geblieben ist.
Da während der Kriegszeit, deren Ereignisse ich, wenn auch aus der Distanz, aufs intensivste miterlebte, keine Möglichkeit bestand, in bezug auf das soziale Leben etwas Praktisches zu unternehmen, verlagerte sich der Schwerpunkt meiner Studien mehr und mehr auf erkenntnistheoretische und philosophische Probleme, - es wurde daraus eine neuerliche Beschäftigung mit den philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen der Anthroposophie, und als Frucht dieser Bemühungen entstand das früher schon erwähnte Buch "Die Wiedergeburt der Erkenntnis", eine Geschichte des menschlichen Erkenntnislebens vom Aufgang der Philosophie in Althellas bis zu ihrer Einmündung in die Begründung der Anthroposophie. Ich stellte diese Geschichte darin dar als den Prozeß einer Metamorphose des menschlichen Bewußtseins, durch welchen eine ursprüngliche, instinktiv geartete Erkenntnis schrittweise erstarb und in unserer Zeit eine neue, durch das menschliche Ich bewußt als eine solche erzeugte Erkenntnis geboren wurde. Es beinhaltete das Buch insofern eine Erkenntnislehre, aber nicht in Form einer theoretischen Untersuchung, sondern in Gestalt einer (S116) Entwicklungsgeschichte der menschlichen Erkenntnis. Unmittelbar nach Kriegsende konnte ich das Buch dann im Novalis-Verlag in Freiburg erscheinen lassen. Mit dem Inhaber des Verlags, der nach Abschluß des Krieges sogleich die heute noch erscheinende Halbmonatsschrift "Die Kommenden" herauszugeben begann, F. Herbert Hillringhaus, verband mich ebenfalls bald eine nahe Freundschaft und intensiver Zusammenarbeit. Sie beruhte und beruht ebensosehr auf der Übereinstimmung unserer Auffassungen wie auf der toleranten und zu immer wieder neuen Initiativen bereiten Art, wie Herbert Hillringhaus Arbeits- und Wirkensmöglichkeiten für anthroposophisch tätige Persönlichkeiten im Zusammenhang mit seinem Verlag, seiner Zeitschrift und der von ihm begründeten "Arbeitsgemeinschaft für freie Menschenbildung" geschaffen hat. Durch viele Jahre wurde die gemeinsame Arbeit, die in Vorträgen, Kursen, Tagungen erfolgte, von einem Freundeskreis getragen, der regelmässig in Freiburg und auch an anderen Orten sich traf. Mit der Führung seiner Zeitschrift "Die Kommenden", die unter allen anthroposophischen Publikationsorganen den weitaus größten Leserkreis in der Öffentlichkeit eroberte, hat sich Hillringhaus ein nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst um die Verbreitung anthroposophischen Erkenntnis- und Geistesgutes erworben.
Noch vor Kriegsende konnte ich auch im Geering-Verlag in Basel wieder eine Schrift herausbringen. Ich erwähnte sie bereits im vorletzten Abschnitt. Der Keim ihres Inhaltes entstammte noch den letzten Jahren meiner Wiener Zeit. Ich hatte mich damals im Lichte der Vorträge Steiners über das "Karma der anthroposophischen Bewegung" erneut mit den Beziehungen zwischen dem Geistesleben der Goethezeit und der anthroposophischen Bewegung beschäftigt. In dem Verhältnis zwischen dem Goetheschen Märchen und Steiners erstem Mysteriendrama - sowohl ihren Gemeinsamkeiten wie ihren Unterschieden - schien mir der Charakter dieser Beziehungen einen paradigmatischen Ausdruck gefunden zu haben. In diesem Zusammenhang war mir aufgegangen, daß die geistig-urbildlichen Tatsachen, die in Goethes Märchen in Form von imaginativen "Miniaturbildern" eine "geheime Offenbarung" erfahren hatten, als strukturbildender Hintergrund der (S117) geschichtlichen und schicksalsmäßigen Konfiguration der ganzen geistigen Bewegung zugrundegelegen haben, welche man zusammenfassend als die "deutsche Klassik" bezeichnen kann. In all den repräsentativen Gestalten derselben, ihren Schicksalen und Wechselbeziehungen können gewissermaßen irdische Projektionen der Kräfte und Vorgänge gefunden werden, die in Goethes Märchen dichterische Verbildlichung erfahren haben. Aber erst genauere historische Studien und mehrmalige vortragsmäßige Darstellungen am Goetheanum ließen diese Schau zu einer befriedigenden literarischen Gestaltung ausreifen. Diese erschien dann 1944, hundertfünfzig Jahre nach dem durch die freundschaftliche Verbindung Goethes und Schillers bezeichneten eigentlichen Geburtsjahr jener Bewegung, unter dem Titel "Die deutsche Klassik. Urbild und Erdengestalt", - in neuer, auf die jetzige Zeitlage ausgerichteter Fassung im Jahre 1973.
In der Osterzeit des Jahres 1944 hatte mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein Brief der eidgenössischen Fremdenpolizei in Bern getroffen, in dem sie mir mitteilte, ich habe jetzt vier Jahre am Goetheanum studiert, das genüge, und sie weise mich hiermit aus der Schweiz aus. Ebenso unerwartet - und ohne irgendein Zutun von meiner Seite aus, - traf wenige Tage nachher, als ein weiterer, aber freundlicher Blitz, ein Brief der Basler Rudolf Steiner-Schule, in dem sie mich einlud, ab Ostern als Klassenlehrer eine neunte Klasse an ihr zu übernehmen. Ich hatte vor dem Krieg einige Zeit an den Oberklassen der Wiener Rudolf Steiner-Schule - im sogenannten "Epochenunterricht" - Geschichte unterrichtet, war aber nie vollberuflich als Lehrer tätig gewesen. Die Basler Schule stellte mir in Aussicht, mir im Falle der Annahme ihrer Einladung ein weiteres Verbleiben in der Schweiz zu ermöglichen. Und so sagte ich zu, in der Annahme, es komme für diese Tätigkeit wohl höchstens ein Jahr in Frage. Ging doch der Krieg damals schon deutlich erkennbar seiner letzten Phase entgegen, und gedachte ich damals doch noch, nach seinem Abschluß nach Wien zurückzukehren, wo meine Frau noch immer verblieben war. Denn seit dem Ausbruch des Krieges gab es für sie keine Ausreisemöglichkeit mehr. Aus dem gedachten einen Jahr wurden dann allerdings acht (S118) Jahre meiner Tätigkeit an der Schule; denn nach Kriegsende bestand für mich als deutschen Staatsbürger zunächst keine Möglichkeit der Rückkehr nach Österreich mehr. Auch wollte mich die Schule nicht mehr ziehen lassen. Sie hatte mir mein weiteres Verbleiben in der Schweiz ermöglicht. Zwar hatte ich keine weitere Aufenthaltsbewilligung mehr bekommen; es wurde nur die Ausweisung nicht vollstreckt. Von Halbjahr zu Halbjahr mußte immer wieder um weiteren Aufschub derselben nachgesucht werden, - erst im Jahre 1950 erhielt ich wieder eine reguläre Aufenthaltserlaubnis (mit Niederlassungsbewilligung).
Die neue Aufgabe kostete mich anfangs nicht geringe Anstrengung, denn ich hatte verschiedenste Fächer zu unterrichten. Die Arbeit machte mir aber im Lauf der Jahre stets zunehmende Freude und bedeutete für mich in gewisser Weise eine seelische Erfrischung und Verjüngung. Ich gewann ein gutes Verhältnis zu den Schülern und auch zu meinen Kollegen, bis ein in der Anthroposophischen Gesellschaft ausgebrochener neuer Konflikt mich im Jahre 1952 aus dieser Stelle vertrieb. Es war dies der Streit um den literarischen Nachlaß Steiners, der in den 40er Jahren entbrannt war. Seine Ursache bildete der Zerfall des Gründungsvorstandes der Gesellschaft, dem seit dem 1934 erfolgten Ausschluß zweier seiner Mitglieder noch Frau Marie Steiner, Albert Steffen und Günther Wachsmuth angehörten. Anfang der 40er Jahre brach auch zwischen Marie Steiner und den beiden Herren ein Riß auf, der sich als unheilbar erwies. Dies veranlaßte Marie Steiner, die zufolge Steiners Testament Universalerbin seines Nachlasses war mit dem Rechte, über dessen weiteres Schicksal frei zu verfügen, die Autorrechte an ihm für die Zeit nach ihrem Ableben an ein von ihr erwähltes Gremium von Persönlichkeiten zu übertragen, die, als Mitglieder der Gesellschaft und zum Teil als Mitarbeiter ihrer Herausgebertätigkeit, ihr nahe standen.
Ich hatte zur Klärung der Probleme der Gesellschaftsführung, an deren Bewältigung der Vorstand zweimal gescheitert war, durch eine im Jahre 1946 publizierte Schrift "Entwicklungsprobleme der Anthroposophischen Gesellschaft" einen Beitrag zu leisten unternommen. Er hatte aber nur zur Folge gehabt, daß ich von den (S119) beiden Herren des Vorstandes von der Mitarbeit am Goetheanum ausgeschlossen wurde. Als Marie Steiner zu Weihnachten 1948 starb, versagte die Gesellschaft der von ihr testamentarisch eingesetzten Nachlaßverwaltung die Anerkennung. Ich gab auf der nächsten Generalversammlung im Namen von 1381 Unterzeichnern eine von mir verfaßte Erklärung ab, welche die Aufforderung an die Gesellschaft beinhaltete, die Rechte Marie Steiners und die von ihr auf Grund derselben getroffene Verfügung über die künftige Verwaltung des Nachlasses anzuerkennen; außerdem sprach diese Erklärung die Überzeugung aus, daß eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft und Nachlaßverwaltung, weil der Verfassung der ersteren keineswegs widersprechend, sehr wohl möglich sei. Der Nachlaßverwaltung wurde aber auch weiterhin die Anerkennung verweigert, selbst nachdem ihre Rechte durch einstimmiges Urteil eines öffentlichen Gerichts, an das sie sich hierfür nun zu wenden genötigt sah, bestätigt worden waren. Ich übernahm im Jahre 1949 die Redaktion der damals begründeten und monatliche erscheinenden "Mitteilungen aus der anthroposophischen Bewegung", welche gegenüber der zur Diktatur gewordenen Führung der Gesellschaft den wahren Sinn der 1923 erfolgten Neubegründung und Neuverfassung der Gesellschaft zur Geltung zu bringen sich bemühten. Diese Tätigkeit mußte ich 1952 mit meinem Ausschluß aus der Basler Rudolf-Steiner-Schule bezahlen. Ich erteilte darnach noch durch zehn Jahre an den Oberklassen der Zürcher Rudolf Steiner-Schule, freilich in wesentlich vermindertem Umfang (3 Unterrichtsepochen pro Jahr), den kulturwissenschaftlichen Unterricht.
Die Schriftleitung der "Mitteilungen" widmete ich seitdem einen immer größeren Teil meiner literarischen Arbeit. Die Administration der Zeitschrift besorgte zunächst der mir befreundete ehemalige Schauspieler und Bühnenmeister am Goetheanum, Werner Teichert, der als Mitglied der Rudolf-Steiner-Nachlaßverwaltung mit der Gründung ihres Verlags die Leitung desselben übernommen hatte. Nach seinem im Jahre 1955 plötzlich erfolgten Tode übernahm meine Frau dieses Amt. Ihr hatten - nach dreizehnjährigem Getrenntsein von mir - erst im Jahr 1951 die Schweizer Behörden (S120) die Bewilligung zur Übersiedlung von Wien nach der Schweiz erteilt, als meine bis dahin nur bedingte Aufenthaltserlaubnis in eine solche der Niederlassung umgewandelt worden war. Mit ihrer Übernahme der Administration meiner Zeitschrift stellte sich zwischen uns eine Arbeitsgemeinschaft wieder her, wie sie dreißig Jahre früher mit meinen "Österreichischen Blättern" schon einmal bestanden hatte.
Die "Mitteilungen", die in den zwei ersten Jahren nur für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft erschienen waren, hatte ich inzwischen mit ihrer Umbenennung in "Blätter für Anthroposophie" in ein öffentliches Organ umgewandelt und schloß seitdem jede Auseinandersetzung über innergesellschaftliche Angelegenheiten aus ihrem Inhalt aus. Ich verfolgte mir ihr seither ausschließlich das Ziel, die Belange der Anthroposophie als solcher in einer Form zu vertreten, die einerseits ihrem jetzigen Entwicklungsalter, andererseits den Ansprüchen der Öffentlichkeit entsprach. Solche Pflege derselben zu fördern versuchte ich anfangs der 50er Jahre auch durch zahlreiche Wochenendveranstaltungen, die ich mit einigen meiner Freunde in verschiedenen Städten Deutschlands, Österreichs und Hollands durchführte. Den wesentlichen Inhalt dessen, was ich in diesen Tagungen jeweils auseinandersetzte, faßte ich dann in einer Schrift zusammen, die unter dem Titel "Wie pflegt man Anthroposophie heute in zeitgemäßer Art? Fünfzig Jahre Anthroposophische Bewegung und die Forderungen der Jahrhundertmitte" 1953 erschien.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sturz des Naziregimes in Mitteleuropa waren der anthroposophischen Bewegung neue Möglichkeiten des Arbeitens und neue Aufgaben des Wirkens erwachsen. Die pädagogische und auch die medizinische Bewegung konnten ihre Tätigkeit wieder aufnehmen und taten dies zum Teil mit großem Elan. Von Jahr zu Jahr erfolgten neue Schulgründungen. Auch die öffentliche Vortragstätigkeit erlebte, besonders in den ersten Nachkriegsjahren, wieder einen mächtigen Aufschwung. Ich beteiligte mich aufs lebhafteste an ihr. Durch die Situation, die der Ausgang des Zweiten Weltkriegs geschaffen hatte, wurde der Blick auf die neuen Forderungen und Ziele hingelenkt, die sie der (S121) anthroposophischen Bewegung stellte. Im Zusammenhang mit all dem trat seit dem Beginn der 50er Jahre aus den Tiefen meiner Seele jene in einem früheren Kapitel geschilderte Zentralerkenntnis wieder hervor, die durch mehr als ein Jahrzehnt in den Hintergrund gerückt war, um da weiter zu reifen. Allerdings bildete sie jetzt mehr den Quellgrund von speziellen geistes- und kulturgeschichtlichen sowie sozialwissenschaftlichen Studien und Ausarbeitungen. Zunächst verschmolz sie immer mehr mit den durch meine persönliche Veranlagung bedingten geschichtswissenschaftlichen Bemühungen. Dies hatte zur Folge, daß einerseits ihre Kerngedanken sich mehr konkretisierten, andererseits meine geschichtlichen Anschauungen einen umfassenderen Hintergrund bekamen: den des Menschwerdungsprozesses schlechthin. Daraus ging dann im Laufe der 50er Jahre nach mancherlei Vorarbeiten die Ausführung meines umfangreichsten Werkes: der dreibändigen "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung" hervor. Sein Charakteristikum liegt einerseits darin, daß die Geschichte hier in das umfassendere Ganze der Menschwerdung der Menschheit als ein Teilstück derselben eingegliedert erscheint. Hatte ich dem Werke doch ursprünglich auch den Titel geben wollen "Geschichte als Lehre vom Menschen"! Auch da ging es in Wahrheit also um das "Neue Bild des Menschen". Ich gliederte das größere Ganze seinem Inhalte nach in die drei Phasen der Urzeit, der Vorgeschichte und der Geschichte (entsprechend den drei Epochen der lemurischen, der atlantischen und der nachatlantischen als den drei Hauptphasen der eigentlichen Erdenentwicklung des Menschen - nach den Ergebnissen der Steinerschen Geistesforschung). Andererseits versuchte ich auch in dem Sinne eine das Ganze des Menschentums umfassende Darstellung der Geschichte zu geben, daß ich in den drei Bänden den Prozeß der Menschwerdung der Reihe nach in der Sicht der erkenntnismäßigen, der gefühlmäßigen und der moralischen Beziehung des Menschen zu ihr zur Darstellung brachte.
Einen späteren, erneuten Versuch mit demselben Ziel unternahm ich in den 60er Jahren in Form einer Reihe von Wochenendseminaren in Freiburg. Seine Darstellungen erschienen dann in drei hektographierten Bänden unter dem Titel (S122) "Die Forderungen des 20. Jahrhunderts an die Geschichtsforschung" im "Verlag Die Kommenden". Darin gliederte ich die Menschheitsentwicklung, speziell vom Gesichtspunkt der nachatlantischen Periode, in deren Mitte die "Geschichte" im engeren Sinne des Wortes steht, in die drei Abschnitte der Vor- oder Frühgeschichte, der Geschichte und der Nachgeschichte. Es kam mir hier darauf an, das Neue, das in der Gegenwart sich ankündigt und in der Anthroposophie zu einer anfänglichen beispielhaften Verwirklichung gelangt ist, in seinem Unterschied von der bisherigen geschichtlichen, auf das Prinzip der Überlieferung gegründeten Kultur herauszuarbeiten. Waren doch inzwischen Alfred Webers "Abschied von der bisherigen Geschichte" und "Der dritte oder der vierte Mensch?" erschienen, von Roderick Seidenberg und Lewis Mumford der Begriff der "Posthistorie" formuliert und von Ossip K. Flechtheim, Robert Jungk und anderen die "Futurologie" als Wissenschaft von der Zukunft begründet worden.
Erst seit der Mitte der 60er Jahre trat die Grundinspiration selbst, freilich in gewisser Weise metamorphosiert durch alles inzwischen Erlebte und Erarbeitete, wieder in den Mittelpunkt meiner Gedankenentwicklungen und Darstellungen. Verwandelt vor allem aber durch die Auseinandersetzung mit dem, was seit der Jahrhundertmitte in der Realität der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung geschehen war.
Hierzu gehörte in erster Linie die Herausbildung der beiden politisch-militärischen Weltmachtblöcke und Gesellschaftssysteme des Westens und des Ostens, wie sie der Ausgang des Zweiten Weltkriegs mit sich gebracht hatte, sowie die bis zum kalten Krieg sich verschärfende Gegensätzlichkeit zwischen ihnen, mit all dem, was durch diesen an Auseinandersetzungen über Kapitalismus und Sozialismus erneute Aktualität erlangte, - aber auch mit der atomaren Rüstung, die nach dem Krieg entwickelt wurde und im Falle eines dritten Weltkriegs erstmals die Gefahr eines kollektiven Selbstmords der Menschheit am Horizont auftauchen ließ. Unmittelbar mit all dem hing die speziellere Frage nach der Zukunft der gespaltenen Mitte Europas zusammen. Mittelbar die Problematik des mit der Begründung der EWG unternommenen Versuchs, die (S123) Westhälfte Europas wirtschaftlich und politisch zu einigen. Mit dem Beginn der 60er Jahre trat immer deutlicher die sich ständig vertiefende Kluft zwischen Nord und Süd, das heißt zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern hervor. Denn trotz der Entwicklungshilfe, die da in Gang kam, ja gerade durch die Form, in der sie bisher praktiziert wird, wurden die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer. Dem Wirtschaftswunder, das nach Kriegsende innerhalb der Industrienationen sich ereignet hatte, war die Entwicklung einer Wohlstandsgesellschaft gefolgt, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte, mitverursacht vor allem durch die explosive Entwicklung, welche die Technik seit dem Zweiten Weltkrieg genommen hatte. Damit aber war verbunden, daß seit der Mitte der 60er Jahre erstmals das Problem der Umweltzerstörung durch die Industriegesellschaft voll in das öffentliche Bewußtsein eintrat, - und damit die Frage nach dem Verhältnis des Menschen beziehungsweise der Menschheit zur Natur überhaupt.
In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts kam sodann als weiteres Phänomen hinzu die weltweite Revolte der Jugend und ließ die Kluft sichtbar werden, welche zwischen den Generationen aufgebrochen war. Sie war wesentlich mitbedingt durch die Übermacht, welche die Wirtschaft über alle anderen Lebensgebiete erlangt hatte. So war sie zugleich eine Anklage gegen den Materialismus der Wohlstandsgesellschaft und im Speziellen gegen das, was unter ihrer Herrschaft aus dem Bildungswesen geworden war. Mit ihr machte sich zuerst bemerkbar der Trend zur Gewalttätigkeit überhaupt, zur Aggression gegenüber all den verschiedenen Formen der Repression, welche von der Industriegesellschaft ausgeht. Er rückte mehr und mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit und führte zur Begründung der Konflikt- und Friedensforschung. Im Zusammenhang mit dieser erlangte die Psychologie und namentlich die Tiefenpsychologie erneute Aktualität, und mit ihr die Verhaltensforschung.
Schließlich ist zu erwähnen das von Papst Johannes XXIII. einberufene zweite vatikanische Konzil, auf dem der Versuch eines "Aggiornamento" (Aktualisierung) der katholischen Kirche unternommen wurde, (S124) der unter dem Nachfolger dieses Papstes allerdings wieder in die Rückkehr zu dem reaktionären Kurs umschlug. Parallel damit ging im Protestantismus die Entmythologisierung des Christentums und das Aufkommen der politischen, ja sogar einer atheistischen Theologie. Mit all dem die Frage nach den noch möglichen Zukunftschancen des Christentums. Gleichzeitig damit die heute noch immer höher ansteigende Überflutung der westlichen Welt durch altorientalische Praktiken seelisch-geistiger Schulung.
Alle diese Phänomene und Probleme veranlaßten mich, von der Grundposition aus, die ich mir errungen hatte, Stellung zu ihnen zu nehmen. Herausforderungen zu spezieller Artikulierung solcher Stellungnahmen ergaben sich durch die Vortragseinladungen, die mir in den letzten zwei Jahrzehnten von verschiedenen Organisationen zuteil wurde: ich nenne hier nur die schweizerische "Vereinigung für freies Unternehmertum", die seit Kriegsende alljährlich stark besuchte Tagungen über Probleme der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung veranstaltet, an denen ich oftmals mitzuwirken hatte, - sodann die vor etwa drei Jahrzehnten von Prof. F. Eymann in Bern begründete, anthroposophisch orientierte "Freie pädagogische Vereinigung", auf deren alljährlichen Arbeitstagungen in Trubschachen ich durch viele Jahre regelmäßig über pädagogische und sozialwissenschaftliche Themen zu sprechen hatte, - ferner die "Arbeitsgemeinschaft für freie Menschenbildung" in Freiburg, geleitet von F.H.Hillringhaus, die neben regelmäßigen Wochenend-Veranstaltungen seit sechs Jahren auf Schloß Elmau in Bayern öffentliche Symposien organisiert, auf denen über Probleme der verschiedensten Lebensgebiete vorgetragen und diskutiert wird, - des weiteren die Internationale Gesellschaft "Arzt und Seelsorger", auf deren Tagungen ich mehrfach zu sprechen Gelegenheit hatte, - ferner die Freizeiten, die der mir seit vielen Jahren befreundete bedeutende Interpret musikalischer und dichterischer Schöpfungen Friedrich Oberkogler in seinem Tagungszentrum bei Neukirchen im Salzburgischen durchführt, an denen ich verschiedentlich mitzuwirken eingeladen war, - schließlich seit jüngster Zeit das "Internationale Kulturzentrum" in Achberg bei Lindau, wo sich besonders an sozialen Problemen interessierte (S125) Jugend mit Steiners Idee der sozialen Dreigliederung in intensiver Weise auseinandersetzt. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß, nachdem seit dem Tode Albert Steffens die Führung der Anthroposophischen Gesellschaft ihr früheres Verhalten gegenüber der Nachlaßverwaltung weitgehend revidiert hat, für mich auch die Mitarbeit am Goetheanum wieder möglich und verantwortbar wurde. Was ich auf all solchen (und anderen) Veranstaltungen an Beiträgen zu den jeweiligen Themen lieferte, hat sich in meinem Schrifttum in folgenden Publikationen niedergeschlagen:
Kulturprobleme:
- Wie können wir menschlich leben in der Welt von morgen?
- Der moralische Imperativ der Gegenwart
- Die Lebensfragen des Zeitalters der Freiheit
- Das Gesetz der Evolution und die Zukunft des Menschen
- Der Mensch in den Entscheidungen unseres Jahrhunderts
- Weltenwort und Menschensprache
Soziale Probleme:
- Die soziale Problematik unserer Zeit und die Weltlage der Gegenwart
- Aggression und Repression in der heutigen Gesellschaft
- Die Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft
- Wie können wir überleben? Die Krisis der Zivilisation und der Weg in die Zukunft
Probleme der Psychologie:
- Die Rätsel der Seele, Tiefenpsychologie und Anthroposophie
- Menschheitskrisen und Generationenkonflikte
- Die Neugeburt der menschlichen Ideale
Probleme des Christentums:
- Die Anthroposophie und die Zukunft des Christentums
- Das Christentum in der Sicht der Zukunft
- Die dreifache Bedeutung des Christusereignisses
- Grundgeheimnisse des Christentums
Die Grundlage, auf der sich alle diese Darstellungen in der einen oder anderen Art aufbauten, sei abschließend gekennzeichnet durch den Versuch einer zusammenfassenden Charakteristik der Bedeutung von Rudolf Steiners Werk, wie ich sie heute, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode, sehe.