Hans Erhard Lauers (1899-1978) Schicksal brachte es mit sich, daß seine Familie aus dem Schwarzwald in die Gegend von Basel umzog, und er so als junger Mensch die Anthroposophie und Rudolf Steiner kennenlernte.
1974 hörte ich ihn im "INCA" - Internationalen Kulturzentrum Achberg vor den dort zusammengekommenen "Dreigliederern" sprechen. Es ging um die Neugestaltung des Sozialen Organismus, und er hatte als Geschichtswissenschaftler dazu Wesentlichstes beizutragen. Im Vorangehenden sind seine wesentlichen Werke wiedergegeben. Ihn in seinem Alter bei seinen frei gehaltenen Vorträgen erlebt zu haben, betrachte ich selbst als eine Gunst des Schicksals, ermöglichten sie doch, an dem Beispiel eines Schülers Rudolf Steiners grundlegende Gedanken über die Anthroposophie zu bilden und so über ein naives revoluzzerhaftes Gehabe mancher "Dreigliederungs"-Gruppierungen hinauszukommen.
Das vorliegende Buch ist 1926 im Rudolf-Geering-Verlag Basel erschienen, ein Jahr nach dem Tod Rudolf Steiners mit einem Bildnis Rudolf Steiners und einer Ansicht des ersten Goetheanums
Inhaltsverzeichnis:
Vorrede und Einleitung
I. Die erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte und die Anknüpfung an Goethe
II. Die Auseinandersetzung mit Haeckel und Nietzsche als den Repräsentanten des Zeitbewußtseins
III. Die grundlegenden anthroposophischen Schriften
IV. Die Ausgestaltung des anthroposophischen Weltbildes
V. Die Erneuerung der Künste aus der Geisterkenntnis
VI. Die Erneuerung des sozialen Lebens
VII. Die Begründung der freien Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum in Dornach
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Vorrede und Einleitung
Wir leben in einer Zeit, von der man wohl sagen darf: sie sei eine Epoche bedeutungsvollster, tiefgreifendster Umschwünge auf allen Gebieten des menschlichen Lebens. Man kann die Empfindung von dieser Tatsache heute auf jeder Seite der zeitgenössischen Literatur in irgendeiner Art zum Ausdrucke gebracht finden. Sie lebt, wenn auch mit verschiedenen Gefühlen verbunden, gleich deutlich in den Angehörigen der älteren wie in denjenigen der jüngern Generation: dort oftmals in der Stimmung, daß man sich in diese Zeit nicht mehr hineinfinden könne, hier vielfach mit dem Glauben, daß die Jugend noch niemals zu so hohen, wichtigen Kulturaufgaben berufen gewesen sei wie heute. Sie tönt einem aber, selbst wenn man von all diesen subjektiven Menschenempfindungen absehen wollte, auch entgegen als die objektive Sprache der Zeitverhältnisse, der Zeitereignisse selbst. Oder kann der unbefangene Beobachter aus diesen Tatsachen einen andern Eindruck empfangen als den, daß in den Grundlagen, die das Dasein und die Entwicklung der Menschheit tragen, etwas an seinem Ende angekommen sei und ein anderes ganz Neues angefangen habe? Wir stehen auf der Grenzscheide zweier Zeitalter, Kräfte, die durch Jahrhunderte menschliche Gemeinschaften zusammenhielten, haben in kürzester Zeit ihre Macht verloren. Anschauungen, die seit alters selbstverständlich waren, sind zweifelhaft geworden. Einrichtungen, in denen die Menschen seit jeher gelebt haben, sind zusammengestürzt. Fragen und Bedürfnisse dagegen sind heraufgekommen, die vor kurzer Zeit noch niemand für möglich gehalten hätte.
Und fragen wir, worin im Gegensatz zu dem bisher Gültigen und Gewohnten der gemeinsame Grundzug all dessen besteht, was an mannigfaltigsten Sehnsuchten und Bestrebungen gegenwärtig sich geltend macht, so dürfen wir wohl sagen: Die Menschheit hat in den (S8) letzten vier Jahrhunderten glänzende, ja unerhörte Triumphe gefeiert in der Erforschung der Natur und in der Nutzbarmachung ihrer Kräfte für die Zivilisation. Ihr ganzes äußeres Dasein hat sich durch diese Dienstbarmachung der Naturkräfte von Grund auf verändert. Sie hat allerdings auch alle ihre Kräfte auf die Umgestaltung ihrer Lebenseinrichtungen in der dadurch gewiesenen Richtung gewendet. Deren unablässige Vervollkommnung wurde schließlich zum einzigen Ziel ihres Strebens. Und mit der Erreichung dieses Ziels, glaubte sie, werde ein idealer Zustand des menschlichen Lebens verwirklicht sein.
Diesem Glauben gegenüber ringt sich in den Bestrebungen, die in der Gegenwart heraufkommen, die elementare Empfindung durch, deren Inhalt - wenn es auch gewöhnlich nicht so geschieht - doch in die Worte gekleidet werde könnte: der Mensch ist nicht nur ein leibliches, sondern auch ein seelisch-geistiges Wesen; zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein gehört daher die Befriedigung nicht nur seiner leiblichen, sondern auch seiner seelisch-geistigen Bedürfnisse. Diese bestehen in Fragen nach dem Wesen des Menschen, nach dem Ursprung und Sinn seines Daseins usw., die ebenso ursprünglich und unausrottbar im menschlichen Gemüte leben wie Hunger und Durst im Leibe. Und wie der Mensch zur Aufrechterhaltung seines physischen Lebens einer gesunden, seinem Organismus angepaßten Nahrung bedarf, so braucht er zu seiner seelischen Gesundheit lebensstarke, dem Wesen seiner Seele gerecht werdende Antworten auf die gekennzeichneten Fragen seines Gemüts.
Aber, indem man nun darnach strebt, der Seele und ihren Forderungen das Recht werden zu lassen, das ihnen gebührt, sieht man sich damit gerade in der Gegenwart vor besonderen Schwierigkeiten. Man fühlt nämlich einerseits, daß das menschliche Bewußtsein durch die naturwissenschaftliche Schulung, die es in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat, anders geworden ist, als es früher war. Und daß man daher die Fragen nach dem Ursprung und Sinn des menschlichen Daseins heute nicht mehr in der Art beantworten (S9) kann, wie das in früheren Zeiten möglich war, und wovon ja noch ein letztes Überbleibsel die Art und Weise bildet, wie uns as Kindern in der Religionsstunde durch den Katechismus diese Fragen beantwortet wurden. Andrerseits hat man aber nachgerade auch eingesehen, daß aus der physisch-sinnlichen Welt, wie sie die moderne Naturwissenschaft erforscht, eine die Menschenseele befriedigende Antwort auf die bezeichneten Fragen niemals geschöpft werden kann. Denn diese sinnliche Welt, einschließlich des sinnlichen Daseins des Menschen, ist eine Welt von Tatsachen und Erscheinungen, die sich ausnahmslos als gewordene, bewirkte darstellen, innerhalb deren man aber, solange man sich streng in ihrem Umkreis hält, weder ihre letzten Ursprünge mehr noch auch etwas auffinden kann, wodurch sie einen Sinn bekommen könnten. Man hat daher in der modernen Philosophie für die Lösung der Welträtsel von dieser durch die Naturwissenschaft erforschten Welt des "Seienden" den Blick wieder ab- und demjenigen zugewendet, was im Verlaufe der Menschheitsgeschichte an Deutungen, Wertungen, Sinngebungen des Daseins aufgetreten ist. Man hat diese Welt der "Werte" oder des "Geistes" - wie man sie nennt - beschrieben, katalogisiert, systematisiert. Man versuchte, in ihren Gestaltungen eine innere Gesetzmäßigkeit, einen gemeinsamen Grundzug zu finden. Aber da wir mit dieser Welt des Geistes nun einmal doch in die Welt der Natur hineinverwoben sind, so sind dadurch die Rätsel des Daseins keineswegs schon gelöst. Sie sind dadurch vielmehr nur in der neuen Gestalt, die sie infolge der neueren wissenschaftlichen Entwicklung angenommen haben, erst in ihrer ganzen Schärfe und nach ihrem ganzen Umfang uns vor Augen gestellt worden. Und in dieser neuen Gestalt müssen sie heute so formuliert werden: In welchem Verhältnis steht dieses ganze geistige Welt von Ideen, Idealen, Wertungen, die im Menschendasein im Verlauf seiner Geschichte zur Erscheinung kommt, zur Welt der äußeren Natur, wie die Naturwissenschaft sie beschreibt? Ist sie der Ausdruck des Hereinwirkens einer in sich ruhenden, von der Natur ganz unabhängigen Geisteswelt in das Menschensein, - einer Geistwelt, (S10) die durch die Vermittlung des Menschen ihe Impulse der Naturwelt einfügt und diese dadurch allmählich umgestaltet? Mit anderen Worten: wird durch das aus geistig-sittlichen Antrieben fließende Handeln des Menschen die Natur irgendwie verwandelt? Dann kann der Mensch sein Dasein, indem er es nach den Impulsen der Geisteswelt gestaltet, als einen bestimmten sinnvollen Zweck innerhalb des Weltganzen erfüllend ansehen. Oder aber, steigt diese geistige Welt als eine in sich zwar gesetzmäßig gestaltete, aber doch bloße Phantasmagorie aus den in der menschlichen Organisation wirkenden Naturprozessen auf, so aß sie also mit dem Aufhören desselben ebenfalls wieder verschwindet? Dann wird das Wirken der Naturimpulse im Menschen niemals durch einen geistig-moralischen Impuls verändert oder gar aufgehoben werden können. Dann aber hat die Natur im Menschen ein Wesen hervorgebracht, in welchem Lebensbedürfnisse entstehen, die im Lichte seiner wirklichen Daseinskräfte als sinnlose, unrealisierbare Illusionen erscheinen müssen.
Zu solchen Fragen drängen die durch die Wissenschaften zusammengetragenen Tatsachen des Natur- und Menschendasein, wie sehr man auch da oder dort vor ihnen die Augen verschließen mag, doch durch sich selbst unausweichlich hin. Und ihre Beantwortung lastet als eine ernste Forderung auf dem Geistesleben unserer Zeit.
Es ist nun neuerdings von verschiedenen Seiten her die Meinung wieder laut geworden, die vor nicht langer Zeit noch auf dem Boden der Wissenschaft auszusprechen streng verpönt gewesen wäre: daß man zu einer befriedigenden Lösung der bezeichneten Fragen zu kommen nur dadurch hoffen könne, daß man in ernsthafter Weise wiederum den Blick auf eine übersinnliche Welt richte, von der ja in älteren Zeiten der Menschheit überall gesprochen worden ist. Aber indem so die übersinnliche Welt wieder in den Gesichtskreis des modernen Erkenntnisstrebens hereintritt, beginnen hier erst recht Schwierigkeiten zu entstehen. Denn wie soll der moderne Mensch an diese übersinnliche Welt herankommen?
Da glauben ja nun die einen, daß aus einer solchen übersinnlichen (S11) Welt heraus dem modernen wissenschaftlich orientierten Menschen nur dann annehmbare Antworten auf seine Daseinsrätsel geliefert werden könnten, wenn es gelänge, sie mit den strengen wissenschaftlichen Erkenntnismethoden zu erforschen, die die moderne Naturwissenschaft ausgebildet hat. Aus diesem Glauben ist der moderne "wissenschaftliche Okkultismus" hervorgegangen. Dieser versucht, den Inhalt der übersinnlichen Welt durch Experimente, die nach naturwissenschaftlichen Muster gestaltet sind, in die exakte sinnliche Beobachtung hereinzubringen. Eine solche Übertragung übersinnlicher Vorgänge und Tatsachen in sinnlich-wahrnehmbare ist ja möglich durch Verwendung von Menschen, die vermöge besonderer seelischer Veranlagung hiezu fähig sind, und die deshalb mit Recht "Medien", d.h. Vermittler genannt werden. Aber dieser Versuch des "wissenschaftlichen Okkultismus" scheitert doch an einem bestimmten Umstand. An dem Umstand nämlich, daß das Bewußtsein der Medien, während sie eine solche Umsetzung übersinnlicher Tatsachen in sinnliche ausführen, sei es durch mediales Sprechen, Schreiben, durch eine Materialisation usw., immer unter den normalen Grad herabgedämpft sein muß. Dadurch aber tritt etwas ein, was jeder aus eigener Erfahrung kennt. Oder wem wäre es nicht schon passiert, daß er im Traum Dinge getan hat, deren er sich, wenn er sie im Wachbewußtsein ausführte, schämen würde? Das kommt daher, daß wir über die niedern Triebe und Leidenschaften, die nun einmal in der menschlichen Natur auch vorhanden sind, zunächst nur im Wachbewußtsein die volle Herrschaft haben. Wird dieses herabgedrückt, so beginnen wie ihr Spiel. Und dies ist nun immer der Fall beim Medium, wenn dieses in den Trance-Zustand versetzt wird. Durch diesen wird die Betätigung seiner niedern Triebe geradezu aufgereizt. Und diese kann durch äußere Vorsichtsmaßregeln nicht verhindert werden. Denn sie kann eine äußerlich gar nicht faßbare sein. Jene aber bilden gerade einen Teil des Anreizes für sie. Dadurch kann man nun aber niemals herausbringen, wieviel von den Hervorbringungen des Mediums wirklich aus der übersinnlichen Welt und wieviel von ihm (S12) selbst herstammt. Außerdem aber wird die Moralität des Mediums, je öfter man es als solches verwendet, desto mehr zerstört. Daher kommt es, daß jedes, auch das anfänglich ehrlichste Medium, im Lauf der Zeit zum Betrüger wird. Der "wissenschaftliche Okkultismus" kann daher die übersinnliche Welt nicht wirklich erschließen, sondern verrammelt im Gegenteil den Zugang zu ihr immer fester, je "wissenschaftlicher" - nach seiner Meinung - er vorgeht.
Dieses sein Versagen wird vielfach als ein Beweis angeführt für die Richtigkeit einer Ansicht, die nun in bezug auf die Weltanschauungsprobleme der Gegenwart eine andre Partei vertritt. Diese behauptet, daß die modernen wissenschaftlichen Erkenntnismethoden, weil sie an der Sinnenwelt ausgebildet worden und ihrem Charakter deshalb so trefflich angepasst sind, eben deshalb für die Erforschung einer übersinnlichen Welt nicht taugen. Man könne daher von einer wissenschaftlich gearteten Forschung, so wertvolle Resultate diese uns auf dem Gebiet der äußeren Naturerkenntnis liefert, niemals verlangen wollen, daß sie aus der übersinnlichen Welt etwas heraushole, was uns Seeleninhalt werden kann. Da nun aber einmal im modernen Menschen durch sein immer tieferes Hineinwachsen in das wissenschaftliche Denken jene anderen Betätigungsweisen der Seele verkümmert sind, die ihn mit der übersinnlichen Welt erkennend verbinden könnten, so bleibe ihm nichts anderes übrig als zur Befriedigung seiner Seelenbedürfnisse dasjenige hinzunehmen, was frühere, mit der übersinnlichen Welt noch vertrautere Zeitalter einmal als geistige Lebensinhalte aus dieser geschöpft haben. Dieser Ansicht gegenüber muß nun aber darauf hingewiesen werden, daß gerade deshalb, weil für den modernen Menschen der Schwerpunkt seines Seelenlebens sich in das wissenschaftliche Vorstellen verlegt hat, solche alten religiös-mythologischen Weltbilder keine Lebenskraft und Lebensbedeutung mehr erlangen können.
So kann man sagen: das gibt unserer Gegenwart die geistige Signatur, daß die Menschheit aus dem Rausche der Hoffnungen aufgewacht ist, in den sie die Erfolge der Naturerkenntnis für die Gewinnung einer Weltanschauung hineinversetzt hatten, und sich (S13) nach einem ihrem geistigen Wesen gerecht werdenden Lebensinhalte sehnt, - daß sie aber zunächst nicht imstande ist, die Welt des Geistes in einer solchen Weise zu erfassen, daß sie aus ihr etwas empfangen könnte, was zugleich ihre Seelenfragen beantworten und als lebensgestaltende Kraft in ihr Dasein einfließen kann.
Unter den vielen Suchern und Verkündigern einer geistigen Weltauffassung in unsrer Zeit ist nun auch Rudolf Steiner aufgetreten, - eine Persönlichkeit, der selbst ihre Gegner zugestehen, daß sie als einer der hervorragendsten geistigen Führer unsrer Zeit gewirkt habe. Auch er hat, in seiner Anthroposophie, einen Weg zum Geiste gezeigt. Eine große, unaufhaltsam wachsende geistige Bewegung hat von ihm ihren Ausgang genommen. Viele haben in ihm den auserwählten Führer der Menschheit in das Land der Zukunft sehen gelernt.
Freilich, soviel die Anthroposophie von sich reden gemacht hat, - über die Art, wie sie die oben angedeutete Problematik unsrer Zeit zu lösen versucht hat, und über die Stellung, die sie dadurch innerhalb der geistigen Strömungen der Gegenwart einnimmt, ist bisher noch immer wenig Zutreffendes gesagt worden. Gewiß mag eine Ursache hierfür darin liegen, daß die Geisteswege, die sie beschreitet, für den heutigen Menschen wegen des oben beschriebenen Charakters, den sein Seelenleben in der neueren Zeit angenommen hat, zunächst schwer zugänglich sind. Die Hauptursache liegt aber doch in dem Umstande - der allerdings die gegenwärtige Geistessituation überhaupt zugleich als eine so tragische und ausweglose erscheinen läßt -, daß der Sinn für die großen Fragen und damit das Auffassungsvermögen für eine großzügige Weltanschauungsgestaltung heute so weitgehend erstorben ist. So ist auch das Bild Rudolf Steiners und seiner Anthroposophie bisher fast nur aus der Eintagsperspektive einer journalistischen Kulturbetrachtung gezeichnet worden. Aber da es nun einmal von einem Formate ist, das von diesem Horizont nimmermehr umspannt werden kann, so ist es wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß über kaum eine Persönlichkeit unsrer Zeit so unzulängliche Darstellungen (S14) gegeben und so widersprechende Urteile gefällt worden sind wie über Rudolf Steiner.
Wenn nun aber in diesen einleitenden Bemerkungen in Anknüpfung an die oben gegebene Formulierung der geistigen Problematik unsrer Zeit - ohne der Darstellung vorzugreifen - wenigstens noch in Kürze die Richtung angedeutet werden darf, in welcher Rudolf Steiner diese durch seine Anthroposophie zu lösen versucht hat, so kann dies vielleicht in der folgenden Weise geschehen: Auch die Anthroposophie ruht auf der Überzeugung, daß nur durch die Erschließung einer realen geistig-übersinnlichen Welt die Antworten gefunden werden können auf die Daseinsrätsel, wie sie durch die Ergebnisse der modernen Wissenschaften heute formuliert werden müssen. In dieser Überzeugung erkennt sie nun aber das Berechtigte jener Meinung voll an, die behauptet, daß den Seelenbedürfnissen des modernen Menschen nurmehr auf streng wissenschaftlichem Wege errungene Erkenntnisse Befriedigung gewähren können. Gleichzeitig aber läßt sie doch auch der andern Meinung ihr volles Recht zuteil werden, die glaubt, daß das moderne Denken, wie es in der Naturwissenschaft geübt wird, zwar geeignet ist für die Erkenntnis der Sinneswelt, nimmermehr aber für die Erforschung einer übersinnlichen Welt. Sie zeigt nun aber, daß dieses moderne Denken durch eine innere erzieherische Arbeit der Seele an sich selbst eine Umbildung bzw. Fortentwicklung erfahren kann, durch die es für sie, ohne die Merkmale der Wissenschaftlichkeit dadurch zu verlieren, zum Wahrnehmungsorgan für die übersinnliche Welt wird. Und aus einem solchen er übersinnlichen Welt angepaßten rein übersinnlichen, aber doch zugleich wissenschaftlich-exakten Erfassen derselben schöpft sie eine Summe von Erkenntnissen, die der moderne Mensch daher einerseits als wissenschaftliche Einsichten, andrerseits doch zugleich auch als einen seine Seelenbedürfnisse wahrhaft befriedigenden Lebensinhalt aufnehmen kann. So hat sie zur modernen Naturwissenschaft als deren objektive Fortsetzung eine moderne Geisteswissenschaft (S15) hinzugefügt, deren Methoden, ihren Gegenständen entsprechend, zwar nicht dieselben wie die naturwissenschaftlichen, aber doch von derselben wissenschaftlichen Strenge wie jene sind.
Dies soll die nachfolgende Darstellung von Rudolf Steiners Lebenswerk nun im Einzelnen zeigen.
Der Versuch eines solchen Überblickes über das Ganze dieses Lebenswerkes darf ja jetzt vielleicht gewagt werden, nachdem dieses mit dem am 30. März 1925 erfolgten Hinscheiden Rudolf Steiners zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Zur Gesamtheit des von ihm veröffentlichten Schrifttums, die dieser Darstellung zugrundeliegt, ist überdies vor kurzem die Selbstbiographie hinzugekommen, die er in seinem letzten Lebensjahre verfaßt hat, und die uns tiefe Einblicke in seinen Werdegang gewährt, indem sie wichtige, ergänzende Erläuterungen und Selbstzeugnisse zu seinen verschiedenen Werken enthält.
Wir ordnen unsern Überblick nach der zeitlichen Reihenfolge an, in der die einzelnen Teile von Steiners Lebenswerk sich entfaltet haben. Einesteils deshalb, weil über seinen Werdegang heute noch die größte Unklarheit und die meisten Irrtümer bestehen, andernteils weil gerade durch die Betrachtung seines Entwicklungsganges am deutlichsten hervorgeht und am leichtesten erfaßt werden kann das wahre Wesen dessen, was er gelehrt hat. Die chronologische Betrachtung der Entfaltung seines Lebenswerkes ist die beste Einführung in den Sinn seiner Lehre.
Wir sind uns selbstverständlich voll bewußt, daß das von uns gezeichnete Bild von Rudolf Steiners Lebenswerk nur ein vorläufiges sein kann. Aber wie sehr die kommende Zeit es auch modifizieren mag, gegründet wird es immer sein müssen auf die Kenntnis seines tatsächlichen Entwicklungsganges, seines wirklichen Inhaltes. Daran aber hat es bisher vor allem gemangelt. Auf die wahrheitsgetreue Darstellung dieser Tatsachengrundlage kam es uns daher hauptsächlich an. In der Beurteilung derselben haben wir uns nach Möglichkeit zurückgehalten.
Mögen andre zu ganz andrer Bewertung dieses Lebenswerkes (S16) kommen, - wenn ihnen dieses Büchlein wenigstens dazu verholfen hat, ihre Bewertung auf die Kenntnis seines wirklichen Werdeganges und Gehaltes zu gründen, dann hat es seine Aufgabe erfüllt. Diese Aufgabe erscheint uns aber gegenwärtig als eine der wichtigsten derjenigen, die sich Rudolf Steiners Schüler nennen durften.
Juli 1926 Dr. Hans Erhard Lauer