Prof.Dr. Hermann Beckh
'Vom Geheimnis der Stoffeswelt - Alchymie'
Vorwort
Die kleine Schrift, die nur wie eine Einleitung, ein Vorspiel zukunftsfernen Menschheitssuchens betrachtet sein will, wendet sich an alle, die inmitten der Gegenwarts-Finsternisse noch etwas von der uralten Menschheits-Sehnsucht, vom Spürsinn für die Geheimnisse sich erhalten haben, die im Märchen selbst noch Wirklichkeit ahnen können. Sie wendet sich vor allem auch an die Kenner und Leser des im gleichen Verlage erschienenen Buches "Der kosmische Rhythmus, das Sternengeheimnis und Erdengeheimnis im Johannes-Evangelium", zu dem sie eine Art Anhang, eine Ergänzungsschrift sein möchte, und berührt sich außerdem mit manchen Problemen, die in dem kleinen Büchlein "Der Ursprung im Lichte" (Christus aller Erde Bd.7,) und in der Dichtung "Das Neue Jerusalem" (in Bd.16) angedeutet wurden. Sie wendet sich an solche, die auch das physisch noch nicht Greifbare im Gedanken verdichten, im meditativen Denken es gestalten, meditierend geistige Inhalte sich erarbeiten wollen. Zuletzt und nicht zum wenigsten auch an diejenigen, die für das Mysterium der Wandlung (Transsubstantiation), für das Kultische überhaupt eine geistig-physische, kosmisch-naturwissenschaftliche Erklärung suchen.
Wo Ergebnisse der geistigen Forschung Rudolf Steiners herangezogen sind, läßt die Darstellung dieses, wie alle anderen "Quellen", stets mit Deutlichkeit erkennen. Niemals geschah eine solche Heranziehung in dogmatischem Sinne, sondern stets in der Meinung, daß sich das also Herangezogene im eigenen Nach-Denken dem Verständnis würde erschließen können. Auch kann gesehen werden, wie bei solchen Anführungen die Einfügung in den motivischen und meditativen Gedanken-Aufbau und Zusammenhang des Ganzen der entscheidende Gesichtspunkt ist.
Für gewisse Hinweise bei der Farbengruppierung der "zwölf Edelsteine" hat der Verfasser Frl.Völker (Stuttgart) zu danken. Desgleichen für Hinweis auf bestimmte wenig bekannte und wenig zugängliche alchymistische Schriften Frau Baronin v.Bernus (Stuttgart), für Hinweis auf eine das Mysterium des Weines und der Hochzeit von Kana betreffende Stelle in den "Geheimen Figuren der Rosenkreuzer" Herrn Wilhelm Petersen (Darmstadt); endlich für den Hinweis auf einen (im Anhang angeführten) Vortrag Dr. Rudolf Steiners Herrn Dr.Friedrich Rittelmeyer (Stuttgart).
Auch dem Herrn Verleger Rudolf Geering, der so bald nach dem Erscheinen des genannten größeren Buches und in schwieriger Zeitlage das Herausbringen dieser Schrift ermöglichte, sei des Verfassers herzlicher Dank ausgesprochen.
Stuttgart, den 13. Februar 1931
Hermann Beckh
Inhaltsübersicht:
I. Alchymie und Menschheits-Vergangenheit: S7
Rosenkreuzertum, Jungfernerde, Stein der Weisen
II. Alchymie und Menschheits-Gegenwart: S25
Chemie und Chymie. Der 'Aufbau der Atome'.
Sal, Mercur, Sulfur und das Mysterium des dreigliedrigen Menschen
III. Alchymie und Bibel (Altes Testament): S41
Schöpfung, Paradiesesstrom, Sündflut
Das Geheimnis des Goldes und des Edelsteins
Chaos und Astra, Prima Materia, der chymische Prozeß
IV. Alchymie und Mythologie: S65
Isis; Rheingold; das Goldene Vließ; Venus, Urania
V. Alchymie und Menschheits-Zukunft: S88
Johannes-Evangelium und Johannes-Apokalypse.
Mysterium von Kana (Chymische Hocchzeit) und Neues Jerusalem.
Das Geheimnis der zwölf Edelsteine
Ob jemand die Steine und die Gestirne schon verstand,
weiß ich nicht, aber gewiß muß dieser ein erhabenes Wesen gewesen sein.
Novalis, Lehrlinge zu Sais
Stille ruh'n oben die Sterne und unten die Gräber
Goethe
Die Welt scheint kugelrund, dieweil sie soll vergeh'n;
Geviert ist Gottesstadt, drum wird sie ewigsteh'n
Angelus Silesius
I.
Durch alte Urkunden der Menschheit, durch Sagen, Dichtungen und Märchen, durch die großen heiligen Schriften selbst geht ein Singen und Sagen von einem jungfräulichen Geheimnis der Welt, zuletzt der Stoffeswelt. Dieses Geheimnis der Stoffeswelt, das in alter Zeit vor allem in Ägypten seine geistige Heimat hatte, suchten im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit auf ihre Weise die Alchymisten, und sie nannten es "jungfräuliche Erde" oder "Jungfernerde", terra sancta "heilige Erde" und materia benedicta, oder auch, in Anlehnung an die Sprache des Evangeliums, den "Schatz im Acker". Es war ihnen die prima materia, die "erste" oder Anfangs-Stofflichkeit, der Ausgangspunkt ihres "chymischen Prozesses", durch den sie die Stofflichkeit erhöhen und veredeln, unedles Metall oder Gestein in edles verwandeln wollten, dem Geheimnis des Goldes und des Edelsteins auf die Spur zu kommen suchten. Was sie da fanden oder suchten, was auch das Geheimnis der die menschliche Natur läuternden und heilenden, belebenden und verjüngenden Essenz, des "Elixiers", in sich schloß, nannten sie dann den "philosophischen Stein", lapis philosophorum, den "Stein der Weisen". Diese auf das "Finden des Steines der Weisen" gerichteten Versuche der alten Alchymisten, gleichviel, wie wir ihren Tatsachen-Hintergrund und Wirklichkeits-Wert heute beurteilen, haben dann zu allen möglichen naturwissenschaftlichen Entdeckungen geführt; aus der einstigen "Chymie" ist, rein historisch-tatsächlich, die heutige Chemie hervorgegangen, die ihren Namen ja auch trägt von jenem Lande, das, wie wir sagten, einst die Heimat ihrer spirituellen Vorgängerin war: Chemi, Chemet war der alte einheimische Name von Ägyptenland.
In die Richtung der hier berührten Geheimnisse deutet auch das Wort des Mystikers Angelus Silesius:
"Das feinest auf der Welt ist reine Jungfernerde;
Man saget, daß aus ihr das Kind der Weisen werde."
Hier ist "Jungfernerde" der Ausgangspunkt, der Stein der Weisen, das "Kind der Weisen" der Endpunkt des chymischen Prozesses. Man nannte diesen "Stein der Weisen", dieses Endresultat des chymischen Prozesses, dann auch die Tinktur. Ihr wurde die Kraft zugeschrieben, unedles Metall, vor allem Blei oder Quecksilber, in edles, in Silber und Gold zu verwandeln. Die silbererzeugende Tinktur, auch "Monden-Tinktur" genannt, wird als graues oder weißglänzendes, die golderzeugende "Tinktur der Sonne" als hochrotes Pulver von eigenartiger, schiefrig-blätteriger Struktur beschrieben. Wir finden darüber in der Schrift "Das Geheimnis von dem Salz" von Friedrich Christof Oetinger - neu herausgegeben von Dr. Wohlbold München 1924 (Pflüger-Verlag) - das folgende: "Die Tinktur Solis ist carmoisin-scharlach-farb, ein tief Granat-Rot, dem hochglänzenden brunierten Gold, dem klaren Glanz der Sonnen, dem rosenfarben Blut gleich, und ist beständig in Farb und Tinctur, so daß es eine majestätischer Glanz ist". Immer wieder leuchtet das Geheimnis der "roten Tinktur" in alchymistischen und rosenkreuzerischen Schriften vom Mittelalter bis in die beginnende Neuzeit hinein auf. Das Wesen des "Tingierens" - Tinktur von lateinische tingere "färben" - ist dieses, daß eine unverhältnismäßig geringe Menge der fraglichen Substanz, dem unedlen Metall zugesetzt, große Mengen desselben verwandeln soll, und es werden dafür uns heute phantastisch erscheinende Verhältniszahlen von den Alchymisten angegeben.
Gewiß handelt es sich bei den hier angedeuteten "chymischen Geheimnissen" nicht nur um das Materielle, um "Goldmacherei". Im Laufe der Betrachtung wird immer deutlicher werden, wie das Wesen des "Chymischen", im Unterschiede vom "Chemischen", gerade darin zu suchen ist, wie man da nicht, wie in der Chemie, beim Äußerlich-Stofflich-Materiellen stehen bleiben kann, sondern erkennen muß, wie das Geheimnis des Materiell-Stofflichen selbst in höhere Welten-Zusammenhänge und Menschen-Zusammenhänge verwoben ist, wie alle "Maya" des Stofflichen in der Realität des Geistig-Übersinnlichen urständet. Wahre Alchymie beginnt im Menschen und endet in der Stoffeswelt. Sie trägt im eigenen Innern das Geheimnis der Wandlung oder Transsubstantiation des Irdischen, die, vom Geistigen her wirkend, im Menschen selbst sich vollziehend, zuerst unsichtbar und dann immer sichtbarer auch das Stoffliche der Erde ergreift. In das christliche Auferstehungs-Geheimnis hinein führt zuletzt, was in den Schriften der Alchymisten und Rosenkreuzer als Wahrheitsgehalt gefunden oder vermutet werden kann. Die Alchymisten selbst betonen überall den Zusammenhang ihrer "chymischen Geheimnisse" mit den Christus-Geheimnissen, des "philosophischen Steines" mit dem "Eckstein Christus" (Luk.20,18). So Angelus Silesius:
"Dein Stein, Chymist, ist nichts; der Eckstein, den ich mein,
ist meine Goldtinktur, ist aller Weisen Stein"
Stoffeswandlung wird ihm zum Bild und Gleichnis höherer Wandlungs- und Läuterungsvorgänge im Menschen:
"Betrachte das Tingiern, so siehst du schön und frei,
wie dein' Erlösung und wie die Vergottung sei"
Jakob Böhme, der sich in der Art, wie er seine tiefsinnigen kosmischen und kosmogonischen Schauungen in dunkle Worte prägt, so gern an chymische Bilder und Ausdrucksweisen anlehnt, ruft in seiner Schrift De incarnatione Verbi - "von der Fleischwerdung des Wortes" - den Alchymisten zu: "Und lasset euch das, ihr Sucher der metallischen Tinktur, offenbar sein: wollt ihr den Lapidem Philosophorum finden, so schicket euch zur neuen Wiedergeburt in Christo."
Chymische Ausdrücke, wie "Stein der Weisen", "Tinktur" erscheinen in älterer Literatur häufig als Bilder da, wo von Läuterung und Vergeistigung des Irdischen und Menschlichen die Rede ist. Zum Sprachgebrauch ist dabei hinzuzufügen, daß die beiden angeführten Worte nicht immer dasselbe bedeuten. So ist "Stein der Weisen" gewöhnlich die verwandelnde "Tinktur", das Endprodukt des "chymischen Prozesses". Zuweilen aber auch die Anfangssubstanz, die prima materia, der Ausgangspunkt des chymischen Prozesses, die im Menschen und in der Erde verborgene, im Stofflichen überstofflich waltende geheimnisumwobene Substanz "Jungfernerde". Jakob Böhme, in dessen chymischem Wortschatz die "Tinktur" eine so bedeutsame Rolle spielt, verwendet dieses Wort nicht nur im Sinne der metallverwandelnden Substanz, sondern bringt es mit dem "jungfräulichen Geheimnis der Stoffeswelt" irgendwie zusammen, und zwar so, daß er mehr die übersinnlich-überstoffliche Seite, die lebensätherische Seite dieses Geheimnisses, wie wir auch sagen können, damit meint, als das schon mehr im Physisch-Stofflichen liegende Anfangsprodukt chymischer Prozesse. An den für die Alchymie so wichtigen Zusammenhang des Lebensäthers als der höchsten der vier Ätherarten mit der festen Erdenstofflichkeit als dem untersten der Elemente - nicht die "Elemente" der heutigen Chemie, sondern eher dasjenige, was der Chemiker und Physiker "Aggregatzustände der Materie" nennen würde, ist hier gemeint - läßt uns die ganze Art, wie Böhme das Wort Tinktur gebraucht, denken. Es steht dieses Geheimnis des Lebensäthers, des Lebens selbst, mit dem der Alchymie in einer innigen Beziehung. Während die drei anderen Ätherarten: der Wärmeäther, der Lichtäther, der chemische oder Klangäther - über die Einzelheiten vergleiche man Dr.Günther Wachsmuths Buch über die ätherischen Bildekräfte - zwar nicht dem Sinnesauge und der nur im Sinnesbereich forschenden Erkenntnis wahrnehmbar sind, aber doch im Sinnesbereich durch ihre Wirkungen sich offenbaren - der chemische Äther z.B. im Reiche aller chemischen Vorgänge -, liegt das Geheimnis des Lebensäthers noch um eine Stufe höher, ist nicht so zu fassen, wie dasjenige der drei andern Ätherarten noch immer in einer gewissen Weise zu fassen ist. Erst wenn wir uns vom Gebiete des Chemischen in das andere, das für die heutige Menschheit vom Schleier des Naturgeheimnisses verhüllte Gebiet des Chymischen erheben könnten, würden wir dem Geheimnisse dieses höchsten Äthers, und mit ihm dem Geheimnis des Erdenelements, dem eigentlichen Geheimnis der Materie näherkommen. Das alles ist in der Urgeschichte der Menschheit tief begründet. Die "Geheimwissenschaft" zeigt uns, wie in dem mit dem chemischen oder Klangäther verbundenen Lebensäther das vom Menschen im Sündenfall verlorene höhere Lebenselement liegt, der Baum des Lebens, der dem aus dem Paradies vertriebenen Menschen der Urschöpfung verloren ging. Auch die höhere, chymisch-magische Machtvollkommenheit über das Erdenelement ging damit verloren. So erscheint der über das Geheimnis der Alchymie für den heutigen Menschen gebreitete Schleier als eine mittelbare Folge des Menschheits-Falles. Ins Netz der Wirkungen verstrickt, bleibt da der Mensch dem Ursachengebiet und seiner Berherrschung entrückt. In der niederen Stoffeswelt waltende Mächte haben eine im Reiche der Ursachen, des höheren Äthers einstmals dem Menschen-Ich vorbehaltene Macht an sich zu reißen vermocht. In diese ganzen Weltenzusammenhänge und Menschheitszusammenhänge, in das ganze Geheimnis des Sündenfalles der Menschheit und des durch ihn bewirkten Verlustes gewisser höherer Erkenntnisse und Kräfte läßt uns Jakob Böhme in der Art, wie er von der Tinktur spricht, hineinschauen:
"Der Mensch war geschaffen, daß er soll ein Herr der Tinktur sein, und sie war ihm untertan, er aber wurde ihr Knecht, dazu fremde. Also suchet er nur Gold, und findet Erde; darum, daß er den Geist verließ und ging mit seinem Geist in die Wesenheit, hat ihn die Wesenheit gefangen und in den Tod geschlossen: daß wie die Tinktur der Erde im Grimm verschlossen liegt, bis ins Gericht Gottes, also auch lieget des Menschen Geist mit im Zorn verschlossen, er gehe denn aus und werde in Gott geboren (De incarnatione Verbi).
Jakob Böhmes dunkle Wort deuten hin auf den Grund, warum dem Menschengeist, trotz aller Vielseitigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, das eigentliche Naturgeheimnis in solche Fernen gerückt ist, warum das ganze Gebiet von einem so dichten Schleier verhüllt ist, so daß alles Reden von Alchymie heute noch immer fast wie phantastisches Irresein oder Schlimmeres anmutet.
In den Bildern der ägyptischen Religion und Geisteswissenschaft war Isis, die Sternenkönigin und Stoffesmutter, die Herrin des Lebensäthers der Sterne, wie des Erdenelements; Osiris, das Weltenwort, der Herr des Klangätherischen wie des Wasserelements. Wie der Isis die ägyptische Erde, gehörte dem Osiris der Nil. Sinngerecht können wir vom "Schleier der Isis", der ein Sternenschleier und ein Stoffesschleier ist, sagen, daß er dem Menschen heute das fragliche Gebiet verhüllt. In Ehrfurcht vor diesem Schleier zurücktretend, prägte Goethes so tief vom Weltengeheimnis inspirierter Dichtergeist im Logengedichte "Symbolum" das Wort: "Und schwer und fern hängt eine Hülle mit Ehrfurcht. Stille ruhn oben die Sterne und unten die Gräber." Novalis spricht schon in den "Fragmenten" (ed. Kamnitzer 2152) programmatisch von "Mystizism der Natur", von Isis, von "Jungfrau und Schleier", von "geheimnisvoller Behandlung der Naturwissenschaft". Ganz erfüllt von dem Dufte des jungfräulichen Naturgeheimnisses, von der "Sehnsucht nach der ewigen Jungfrau" - auch der Isis-Name wird dort genannt - ist seine dichterische Prosaschrift "Die Lehrlinge zu Sais", wo das Schlußwort des ersten Abschnitts lautet: "...und wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden suchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais."
***
Wie Jakob Böhme von der "Tinktur", spricht Novalis vom "Stein der Weisen" in einem noch ganz übermateriellen, ätherisch-vergeistigen Sinn. In einer zunächst überraschenden, für alles an Kants "Kritik der reinen Vernunft" orientierte Denken unfaßbaren Art bringt er ihn in Beziehung mit dem Geheimnis von Raum und Zeit, nennt ihn die "unsichtbar sichtbare Materie", die "überall und nirgends, alles und nichts ist", und wirft die Frage auf, ob es ein entsprechendes Vermögen auch in bezug auf das Zeitliche gebe (Fragm.ed.Kamnitzer, 613):
Sollte es nicht ein Vermögen in uns geben, was dieselbe Rolle hier spielte wie die Feste außer uns, der Äther, jene unsichtbar sichtbare Materie, der Stein der Weisen, der überall und nirgends, alles und nichts ist? Instinkt oder Genie heißen wir sie, sie ist überall vorher. Sie ist die Fülle der Zukunft, die Zeitenfülle überhaupt - in der Zeit, was der Stein der Weisen im Raume ist..."
Für ein aktives, sich selbst vom Ich aus aktivierendes Denken - dessen schon von Novalis vorausgenommene Wesenheit für alle Verwandlung des Irdischen, für alle höhere Alchymie von entscheidender Wichtigkeit ist - bleiben Raum und Zeit nicht mehr die abstrakten "Formen des Vorstellens" im Sinne Kantischer Philosophie: da werden sie zu lebendiger Wesensoffenbarung, da tragen sie noch alle göttliche "Wirkenskraft und Samen", den Samen aller werdenden Stoffesgestaltung wesenhaft in sich. Da wäre der "Stein der Weisen" im tiefsten, okkultesten Sinne an dem Punkte zu suchen, wo Überräumliches und Überzeitliches in Raumessein und Zeitensein, Räumliches und Zeitliches wiederum in Überräumliches und Überzeitliches hinübergeht. Das eine wäre der Vergangenheits-Gesichtspunkt, das andere der Zukunfts-Gesichtspunkt der Alchymie. Ein weltentiefer, "chymischer" Zukunfts-Sinn des Christentums, wie er allem heutigen Kirchen-Christentum noch recht fern liegt, ein Gesichtspunkt, wie er sich heute in der Anthroposophie für die Menschheit vorbereitet, leuchtet da vor uns auf. Es ist dieser Gesichtspunkt, wiederum eine ganze Zukunftsentwicklung menschlichen Denkens vorausnehmend, von Novalis (Fragm.ed.Kamnitzer, 1719) in Worte geprägt worden, deren weltentiefen Sinn ein heutiges menschliches Denken noch kaum ausmißt:
"Die Meinung von der Negativität des Christentums ist vortrefflich. Das Christentum wird dadurch zum Rang der Grundlage der projektierenden Kraft eines neuen Weltgebäudes und Menschentums gehoben, einer echten Feste, eines lebendigen, moralischen Raumes.
Damit schließt sich dies vortrefflich an meine Ideen von der bisherigen Verkennung von Raum und Zeit an, deren Persönlichkeit und Urkraft mir unbeschreiblich einleuchtend geworden ist. Die Tätigkeit des Raumes und der Zeit ist die Schöpferkraft, und ihre Verhältnisse sind die Angel der Welt.
Absolute Abstraktion, Annihilation des Jetzigen, Apotheose der Zukunft, dieser eigentlichen, besseren Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christentums, und hiermit schließt es sich an die Religion der Antiquare, die Göttlichkeit der Antike, die Herstellung des Altertums als der zweite Hauptflügel an; beide halten das Universum als Körper des Engels in ewigem Schweben, in ewigem Genuß von Raum und Zeit."
Schon an diesem Punkte der Betrachtung können wir ahnen, wie der von Novalis hier gegebene "chymische" Zukunfts-Gesichtspunkt des Christentums sich berührt mit der apokalyptisch-johanneischen Schauung des "Neuen Jerusalem", der chymisch verwandelten Erde der Zukunft und ihrer im Würfel-Symbol beschlossenen Offenbarung der Raumesgeheimnisse (Apok.21,16). Etwas wie der innere Fortschritt von der abstrakten Raumesvorstellung im Sinne Kants zur lebendigen Raumesoffenbarung im Sinne der Anthroposophie wird uns da bewußt.
Dem Verständnis aller dieser, zuerst von Novalis angedeuteten Zusammenhänge führte uns Rudolf Steiner näher, als er in einer Darstellung apokalyptischer Bilder ("Siegel und Säulen, Berlin 1907) zu dem an Apok.21,16 sich anlehnenden, das Würfelsymbol in sich schließenden siebenten Siegel ("vom heiligen Gral") die folgende Erläuterung gab:
"Der Würfel stellt die Raumeswelt dar, die noch von keinem physischen Wesen und keinem physischen Ereignis durchsetzt ist. Es ist nämlich der Raum nicht bloß die 'Leere', sondern der Träger, der auf noch unsichtbare Art die Samen alles Physischen in sich birgt. Aus ihm schlägt sich gleichsam die ganze physische Welt nieder, wie sich ein Salz niederschlägt aus der noch ganz durchsichtigen Lösung."
Es ist für das ganze Problem der Alchymie von tiefster Bedeutung, wie hier durch Rudolf Steiner das in den drei Dimensionen des Würfels sich offenbarende Raumesgeheimnis mit dem des (im Würfel kristallisierenden) Salzes verbunden wird, wobei wir uns zugleich wieder an Oetinger erinnern, wie er uns in seiner angeführten Schrift das "Geheimnis des Salzes" als dasjenige des "Steines der Weisen" verstehen läßt.
Den Ausdruck "Stein der Weisen" selbst gebraucht Rudolf Steiner zuerst da, wo er im 1. Zyklus "Vor dem Tore der Theosophie" (S73) vom "Yoga-Atmen", von der Atemübung und Verfeinerung des Atemprozesses in der indischen Yogaschulung spricht. Er berührt da gewisse Mysterien des Kohlenstoffs, zeigt, wie in der Beherrschung des Atems der Mensch Kohlenstoffelemente in sich zurückhält, und, ähnlich wie die Pflanze - die die sonst vom Menschen ausgeatmete Kohlensäure ihrerseits einatmet -, zum Aufbau einer verfeinerten Leiblichkeit verwendet. Die Verwandlung des amorphen Kohlenstoffs in den durchsichtigen Kohlekristall, den Diamanten, wird dabei zum Vergleich herangezogen. "Dann" - so sagt Rudolf Steiner an dieser Stelle - "hat er den Stein der Weisen gefunden. Er verwandelt seinen eigenen Leib in den Stein der Weisen". Daß in der Rosenkreuzer-Schulung, in der vom Denken ausgehenden abendländischen Meditations-Schulung derselbe Vorgang der Atemverwandlung stattfinde, hat er öfter betont, zuletzt noch in besonders bemerkenswerter Art im landwirtschaftlichen Kurus, wo einmal der Kohlenstoff geradezu als der "Stein der Weisen" hingestellt wurde, was natürlich cum grano salis zu nehmen ist. Die Anlehnung der Meditation an den Atmungsprozeß ist in der östlichen Schulung eine unmittelbare, in der westlichen eine mittelbare. Über den Zusammenhang des Meditationsvorgangs mit dem Atmungsprozeß siehe jetzt auch "Anthroposophie" (Dornach 1927, S88). In älteren Auflagen des Buches "Geheimwissenschaft" gebrauchte Rudolf Steiner für die Rhythmisierung des Atems in der rosenkreuzerischen Meditationsschulung noch den Ausdruck: "Arbeit mit dem Stein der Weisen". Der heute für die Menschheit noch so tief in Geheimnis gehüllte Ausgangspunkt chymischer Prozesse ist uns überall näher, als wir denken. Im Mysterium des Atems, in dem mit ihm verbundenen Mysterium des Kohlenstoffs wäre er im eigenen Leibe irgendwie zu fassen. Alchymie beginnt im Menschen und endet in der Stoffeswelt. Wo Imagination, Inspiration, Intuition als drei Stufen des Erkenntnisweges unterschieden werden, gehört die hier gemeinte "Arbeit mit dem Stein der Weisen" der dritten, der intuitiven Stufe an.
In ihre berühren wir ein innerstes Geheimnis des Physischen und der Verwandlung des Physischen, das zugleich das Auferstehungs-Geheimnis ist. Nicht schon da, wo das Übersinnlich-Wesenhafte, Todüberwindende im Ätherischen oder Astralische, sondern erst da, wo es auch im Physischen gefunden wird, sind wir diesem Auferstehungs-Geheimnis auf der Spur. Im Karlsruher Zyklus "Von Jesus zu Christus" wird von diesem Übersinnlich-Physischen als vom "Phantom" des Auferstehungsleibes gesprochen, das als solches vom Ätherleib deutlich unterschieden wird. Wie das Ätherische zum Irdisch-Pflanzlichen, verhalten sich die Phantomkräfte des Übersinnlich-Physischen zu den Kristallkräften, dem Urmineralischen des Kosmos. Diese in der Saturn-Ur-Anlage des Menschenwesens einstmals vorhandenen, infolge des Falles der Menschheit dann immer mehr verbrauchten "Phantomkräfte" bildeten, durch die Christuskraft neu belebt, die Substanz des Auferstehungsleibes, der sich, wie die Urzelle einer neuen Erde und Menschheit, aus dem Grabe von Golgatha erhob. Im genannten Zyklus (VIS14) weist Rudolf Steiner selbst hin auf den Zusammenhang des hinter diesem "Auferstehungs-Phantom" liegenden Tatsachengebietes mit demjenigen der Alchymie und ihres "Steines der Weisen": "Daher haben die Alchymisten immer betont, daß der menschliche Leib in Wahrheit besteht aus derselben Substanz, aus welcher der ganz durchsichtige, kristallhelle 'Stein der Weisen' besteht." Denn dieses mit den Kristallkräften des Kosmos verwandte übersinnliche Physische, nicht, was sich dem Sinnenschein, der äußeren Sinneswahrnehmung als "Leib" darbietet, ist im Sinne höherer Geisterkenntnis in Wahrheit des Menschen "physischer Leib".
Diamant, Oktaeder, Sinnbild des "Steines der Weisen"
Etwas von diesen Dingen, von einem "Oktaeder-Geheimnis des inneren Diamanten" und seinem Zusammenhang mit dem Übersinnlich-Physischen wußte auch Buddha, wenn er in der Darstellung des Meditationsweges im Dighanikaya von der Herstellung des "leibfreien Erkennens", des Herausziehens eines feineren Geistleibes aus der physischen Körperlichkeit so spricht, daß der dabei das Gefüge jener "inneren übersinnlichen Leiblichkeit" und ihres Verhältnisses zur Bewußtseinsseele vor sich hat im Bilde eines "reinen fleckenlosen achtkantigen Edelsteines", durch den ein farbiger Faden hindurchgezogen ist. Der "achtkantige Edelstein" ist der - im Oktaeder kristallisierende - Diamant, dessen Farbenspiel (der "farbige Faden") dann als Bild höherer Bewußtseinsoffenbarung erscheint (Vgl. des Verfassers "Buddhismus", Sammlung Göschen, BdIIS69). Auch daß im Atem die "Bildekräfte des Leiblichen" (kayasamskara, kayasankhara) liegen, finden wir bei Buddha. Beim sonstigen Zurücktreten des Alchymistischen - wie auch des immer mit ihm verbundenen Astrologischen - in dem, was uns von indischer Weisheit aus späterer Zeit noch erhalten ist, erscheinen diese gelegentlichen Anklänge bei Buddha umso bemerkenswerter. (Auch Tierkreisgeheimnisse und Planetenweisheit vermag der tiefer zwischen den Zeilen buddhistischer Überlieferung Lesende dort noch zu entdecken, in denen noch wirkliche Urweisheit enthalten ist, während dasjenige, was uns als "indische Astrologie" aus späterer Zeit überliefert ist, zwar interessant ist, aber schon ein dekadent-zigeunerhaftes Gepräge trägt, und überwiegend fremden, vor allem griechischen Einfluß aufweist).
Im Zusammenhang mit den chymischen Verwandlungsgeheimnissen des "inneren Diamanten" und seiner Beziehung zum "Stein der Weisen" mag auch an die "Lichterde" der Manichäer erinnert werden, über die uns Albert Steffen in seinem Buche Mani (Dornach und Stuttgart 1930) berichtet. Diese Lichterde, terra lucida, "hat einen geistigen Kern und eine ätherische Hülle". In den Neuchateler Vorträgen über Christian Rosenkreuz (1911) hat Rudolf Steiner ausgeführt, wie gerade im Grenzgebiete zwischen dem Physischen und dem Ätherischen die Substanz aufzufinden ist, welche die Rosenkreuzer als das übersinnliche Substrat ihres "Steines der Weisen" suchten. Das Übersinnlich-Physische verbindet sich da mit dem Ätherischen, mit dem Geheimnis der höheren Ätherarten. "Diese Substanz hellseherisch anzuschauen", sagt Rudolf Steiner a.a.O., "war das Bestreben der Rosenkreuzer. Die Vorbereitung zum Schauen dieser Substanz war für sie eine moralische Tat... Die fanden sie in der Welt und im Menschen. Außerhalb des Menschen verehrten sie sie als das Kleid des Makrokosmos. Im Menschen sahen sie sie entstehen, wenn Harmonie zwischen Denken und Wollen entsteht". Auf die bedeutungsvollen Zusammenhänge zwischen Rosenkreuzertum und Manichäerlehre, auf die innere Verbindung der beiden (irdisch durch ein Jahrtausend getrennten) großen Eingeweihten Christian Rosenkreuz und Mani hat Rudolf Steiner immer hingewiesen. Bei Steffen (S50) finden wir noch über die "Lichterde" das Folgende.
"Die Terra Lucida stellt sich in ihren Werdestufen als Lebens-Odem, - Luft, -Licht, -Wasser, -Feuer dar und ist ein vorirdisches Wirkensfeld göttlich-geistiger Wesenheiten, die als Äonen den Licht-Gott umgeben. Diese Lichterde wird durch das fortschreitende Eingreifen der Äonen nach und nach zur luftigen, flüssigen, festen Erde, wenn auch zur letzteren zunächst erst in einer hautartigen Hülle!"
Hinzuzufügen wäre zu Albert Steffens Ausführungen, daß der Name Mani selbst, wenn wir ihn in seiner indischen Bedeutung "Edelstein, Kristall" nehmen dürften, eine Zusammenhang mit den hier besprochenen "Kristallkräften des Kosmos" als der physisch-übersinnlichen Ursubstanz des "Steines der Weisen" anzudeuten scheint. Auch der - dem Schulgrammatiker freilich belanglose - Anklang von mani an man "denken", manas "geistige Ursubstanz" kann dabei als bedeutsam empfunden werden.
Wenn hier wiederholt von "Kristallkräften des Kosmos" gesprochen wurde, so waltet dabei die Anschauung, wie die im mineralischen Kristall zur sichtbaren Offenbarung kommenden Raumeskräfte und Formkräfte als übersinnliche Kraftwesenheit und Lichtwesenheit in einer höheren Daseinsebene existieren. Im Hannoverschen Zyklus "Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes" wird geschildert, wie da, wo jene Ur-Kristall-Wesenheit in die Leere, in das "Jungfräuliche der Welt" hinein zerbirst oder zersprüht, das Physisch-Mineralische, wie mineralische Materie da entsteht. (Beim Zerbersten ins Ätherische und Astralische des Kosmos entsteht pflanzliche bzw. tierische Materie). Wird dabei etwas von den übersinnlichen Formkräften gleichsam ins Sichtbare mitgenommen, so entsteht das Wunder des mineralischen Kristalls. Der hier von Rudolf Steiner gebrauchte Ausdruck "das Jungfräuliche der Welt", für das Geheimnis der ursprünglichen, noch nicht stofflich erfüllten Raumeswelt, erinnert uns wieder an den "Stein der Weisen" des Novalis und das mit ihm sich berührende, im Eingang dieser Betrachtung erwähnte "jungfräuliche Geheimnis der Stoffeswelt". Der in der Anthroposophie immer betonte Zusammenhang der Kristallkräfte, des Mineralischen überhaupt, mit dem oberen (überplanetarischen oder übersaturnischen) Sternhimmel - in einer älteren Geheimlehre sprach man noch vom "Kristallhimmel" - ist auch für die Alchymie von Bedeutung.
In diesem - auch bei Novalis und Rudolf Steiner anklingenden - Sinn wäre "Stein der Weisen" eine über die Leere des noch stofflich unerfüllten Räumlichen ergossene transzendente Urnatur oder "Ur-Kristall-Wesenheit", in der sich Geistiges und Physisches, "Ichts- und Nichts" in geheimnisvoller Weise berühren: die im Ur-Welten-Nichts sich offenbarende Ich-Kraft. Dieser Sphäre des kosmischen Gedankens nahe war auch die indische Sankhya-Philosophie mit ihrer mulaprakrti - eigentlich "Wurzel-Natur" oder "Urnatur", die "Hyle" der Griechen - als dem weiblichen Schöpfungsprinzip im Gegensatz zu purusa (Puruscha, Ton auf der 1.Silbe) als dem Geistig-Männlichen, und dieses indische Wort mulaprakrti wiederum steht, rein sprachlich genommen, dem alchymistischen Ausdruck prima materia "Anfangsstofflichkeit" ganz nahe, wenn auch, sachlich genommen, jene alchymistische prima materia viel tiefer im Stofflichen lag.
Um davon einen deutlichen Begriff, und zugleich von der uns heute so rätselhaft-fremdartigen Ausdrucksweise alchymistischer Schriften der vergangenen Jahrhundert ein anschauliches Beispiel zu geben, sei hier eine Stelle angeführt aus den "Geheimen Figuren der Rosenkreuzer aus dem 16. und 17. Jahrhundert" (Das ursprünglich zu Altona im Jahre 1785 verlegte Werk ist jetzt bei Hermann Barsdorf, Berlin 1919, neu erschienen; es enthält nach Rudolf Steiners Angabe in den Neuchateler Vorträgen 1911 über Christian Rosenkreuz die Erneuerung des christlich-rosenkreuzerischen Impulses im 18. Jahrhundert) S13:
"Die Prima Materia hat ihren Unterhalt aus dem Fiat der Schöpfung. Und das Wort ist aus dem Vater, wodurch alle Dinge gemacht sind, und der Geist gehet von beiden aus, und ist die göttliche lebendigmachende Luft. Also machet die Luft in den Elementen alle Dinge lebendig. Das Feuer erwärmt alle Dinge, das Wasser erquicket, labet und tränket alle Dinge; also hat das Feuer die Luft geboren, und die Luft bläst das Feuer wiederum auf, daß es lebet; aber die Luft verändert ins Wasser ist des Feuers Speise, und in dies Element, Wasser und Grundfeuchte, als in die schmierige fette Grundfeuchtigkeit, brennt das Feuer, und die Erde als ein Nitersalzhalter reicht die Nahrung dafür, und in ihrem Bauch wohnen alle diese Elemente, denn in diesem Bauch ist das sulphurische Nitersalz der Natur, das einige gute Ding, das Gott geschaffen hat in dieser sichtbaren Welt.
Dieselbe Salz-Mutter der Elemente ist das nitrosische, aluminosische, geistige, gumosische Wasser, Salz-Erde oder Kristall, welche die Natur in ihrem Bauch hat, ein Sohn der Sonnen, und eine Tochter des Mondes. Es ist ein Hermaphrodit, welchen der Wind in seinem Bauch getragen hat; ein Phönix, im Feuer lebend, ein Pelikan, der seine toten Jungen mit seinem Blute wieder lebendig macht; der im Wasser ertrunkene junge Ikarus, dessen Säugmutter die Erde ist, der Wind seine Mutter, das Feuer sein Vater, das Wasser seine Säuberin und Trank, ein Stein und kein Stein, ein Wasser und kein Wasser, und dennoch ein Stein lebendiger Kraft, und ein Wasser lebendiger Macht; ein Sulphur, ein Mercurius, ein Salz, welches die Natur verborgen in ihr trägt, und kein Unweiser nimmer gekannt noch gesehen hat."
Der aufmerksam zwischen den Zeilen Lesende wird in aller Dunkelheit der Worte viel Zusammenhänge mit dem hier Ausgeführten entdecken. Gleich in der Einleitung desselben Werkes heißt es von der "Prima Materia":
"Nemlich anfangs das Subjektum, welches man von der Natur in die Hand empfähet, darinnen die Universal-Tinktur aller Metalle, Tiere und Gewächse verborgen liegt, ist ein ungeschlachtes Corpus, hat weder Gestalt, noch Form einiges Tieres oder Gewächses, sondern ist anfangs ein rauhes, irdisches, schweres, schleimiges, zähes und nebelwässeriges Wesen, an welchem die Natur hat aufgehöret. Wenn aber der erleuchtete Mensch diese Materie auftut, dieselbe in der Digestion ersuchet, und seinen dicken, neblichten Schatten, mit welchem es umgeben, purifizieret, und läßt das Verborgene hervorkriechen, und durch fernere Sublimation, ihm seine innere Seele, so darin verborgen, auch aus ihm diviret (?), alsdann findet man, was die Natur in solcher zuvor ungeschlachten Gestalt verstekcet, und was für Kraft und Magnalia der höchste Schöpfer diesem Creato eingepflanzt und verliehen hat."
Hier ist, wie der Fortgang der Betrachtung noch deutlicher zeigen wird, der Ausdruck "an welchem die Natur hat aufgehöret" vor allem wichtig. Ebenso der Hinweis auf die "Digestion", das ganze Mysterium der Aufnahme und Wandlung der Nahrung im menschlichen Körper im Lebensprozeß. Im einzelnen bleibt noch vieles schwer verständlich. Hinter dem ganzen Suchen der Alchymisten ahnen wir dunkel die uralte Menschheitssehnsucht, die in der Freude am Kristall, am Gold und Edelstein - auch da, wo sie, zur Begierde geworden, das Menschenwesen in dunkle Abgründe heruntergezogen hat - auch heute noch zu uns spricht. Die "Wunderblume des Märchens", die "köstliche Perle", der "Schatz im Acker" sind uns heute der dichterische oder religiös-bildhafte Ausdruck dieser Sehnsucht. Was an dem Suchen der Alchymisten real war, vermögen wir heute, solange die Tatsachen fehlen, mit "schlüssigen Beweisgründen" nicht zu entscheiden. Unbefangene Prüfung der "Akten des Mittelalters" führt aber doch zur Annahme eines Tatsachenhintergrundes der Alchymie, wenn auch unter Hunderten, die sich chymischer Kunst und des Besitzes chymischer Geheimnisse rühmten, vielleicht nur ein Einziger ein wirklich Eingeweihter war.
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