Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Anhang 18d

 

Im folgenden wird Mystik und Okkultismus von Rudolf Steiners Sicht aus  behandelt.  

Die im Verlag Die Pforte, Basel, 1969, erschienene Studie ist immer noch hochaktuell.

 

Otto Palmer:
Mystik - Okkultismus - Anthroposophie
Ein Beitrag zur Begriffsklärung in Anlehnung an Darstellungen Rudolf Steiners
 

Einleitung

   Was wir nötig haben, sind vielleicht noch Exerzitien zur Einübung im Christentum, eine Schule der Konzentration und der Meditation, oder, um einen Begriff Albert Schweitzers zu gebrauchen: der Mystik - eine Schule der Mystik, die durch das Neue Testament den Weg zur persönlichen Christusbegegnung zeigt. Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art." So schließt Huldrych Blanke sein Buch "Das Menschenbild in der modernen Literatur als Frage an die Kirche". (Huldrych Blanke Zürich 1966)

  Diese Äußerung - sie stammt aus dem Jahre 1966 - kann nur Staunen erwecken. Gibt es nicht sein 1902 das Buch "Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums"? (GA8). Und ist nicht in diesem grundlegenden, aber viel zu wenig berücksichtigten Werke der Unterschied zwischen Jesus und Christus klar herausgearbeitet?

  Seltsamer Widerspruch der menschlichen Natur! Da werden Postulate wie das obige erhoben, aber das Werk, das die Lösung der Probleme keimhaft in sich birgt, nimmt man nicht zur Kenntnis. Im Gegenteil - will man Anthroposophie angreifen, diskreditieren oder gar diffamieren - je nach Standpunkt - so meint man sie als "Mystik" abtun zu können. Aber alle Behauptungen solcher Art, in dieser oder ähnlicher Weise vorgebracht, lassen sich nicht halten.

  Anderseits ist nicht zu verkennen, daß die Sehnsucht nach Vertiefung des menschlichen Seelenlebens ganz offenkundig vorliegt. Man mag das, wenn man will, als Sehnsucht nach "Mystik" bezeichnen.

  Zur Befriedigung dieses Bedürfnisses bieten sich den Europäern vom Osten her, je länger, desto mehr allerlei Strömungen an, die den Anspruch erheben, als Mystik zu gelten, und die auch von vielen Westlern ehrfürchtig als solche anerkannt werden.

  Man nehme ein Buch wie das von Wladimir Lindenberg "Die Menschheit betet". Dort findet man eine schöne Übersicht über die verschiedensten Bemühungen der Menschheit, mit dem Göttlichen respektive mit dem Geistigen in Beziehung zu treten. Eine Besonderheit stellen auf diesem Gebiete Bücher dar wie "Das Herzens-Gebet, Mystik und Yoga der Ostkirche" oder "Das Herzensgebet" von A.Selawry, die die Praxis der Ostkirche und die sich daraus ergebenden Erlebnisse in schöner Weise zusammenfassen.

  Der Zen-Buddhismus, aus Japan stammend, ist Mitteleuropa nichts Fremdes mehr. Die Sufi-Bewegung findet Anklang. Von Mazdaznan, das eigenartige, hier nicht zu erörternde Hintergründe hat, oder der Lehre eines Iranschähr und anderen abgesehen.

  Und treten nicht allerlei Europäer in östlicher Gewandung auf wie Bo Yin Ra und andere? Persönlichkeiten wie der Sadhu Sundar Singh riefen in den zwanziger Jahren Stürme der Anteilnahme hervor. Von Gestalten wie Gurdjew dem Magier und dessen Schülern, Bergier und Pauwels, oder dem Indonesier Pak Subud, der einige Zeit von sich reden machte, ganz zu schweigen.

  Es gibt seit langer Zeit schon buddhistische Missionen in Europa (zum Beispiel das "Buddhistische Haus" in Berlin). In Städten wie Hamburg werden Meditationszentren begründet. Die flüchtigen und sicher bedauernswerten, hilfsbedürftigen Tibeter ziehen ihre Lamas nach, fünf an Zahl betreuen das Tibet-Institut in Rikon. Wollte man lückenlos aufführen, was es auf diesem Gebiete gibt, man fände kein Ende.

  Alles, auf das hier hingewiesen wird, nennt sich Mystik

  Nicht zu vergessen ist dabei, was aus dem modernen Judentum, ausgehend von Martin Buber im Zusammenhang mit dem Chassidismus populär geworden ist. Dahin gehört auch die Arbeit von Georg Langer "Neun Tore - Das Geheimnis der Chassidim". Auf die vielen Arbeiten über "Jüdische Mystik" älterer Zeiten sei nur von weitem hingewiesen mit den Namen Ernst Müller "Der Sohar und seine Lehre" und Gershom Scholem "Die jüdische Mystik".

  Die Zahl der Bücher ist Legion, aber die Begriffsbildung der "Mystik" bleibt, von dem was sich bei Gershom Scholem findet abgesehen, höchst unklar. Zu beachten ist in dieser Hinsicht auch die Arbeit von J.H.M.Whiteman "The Mystical Life" (London 1961).

  Einer Begriffsklärung soll die vorliegende Skizze dienen, besser gesagt zur Begriffsklärung etwas beitragen. Es geschieht das im Zusammenhang mit der modernen Geistesforschung, deren Gründer und Repräsentant Rudolf Steiner ist. Was er über diese Zusammenhänge sagt, ist zugleich im Namen der Anthroposophie gesprochen. Man kann der Meinung sein - wie zum Beispiel der Verfasser dieser Skizze , daß man es dabei mit vom Geistigen her gültigen Darstellungen zu tun habe. Das ist keineswegs dogmatisch gemeint, vielmehr als ganz persönliche Ansicht des Schreibenden. Wer der Anthroposophie noch fernsteht, wird vielleicht doch bemerken, daß alle Zitierungen Rudolf Steiners der Erhellung, nicht aber dem "Beweis" dienen. Dem Kenner der Anthroposophie kann manches vielleicht durch die Zusammenstellung von sonst im großen Werke Auseinanderliegenden bei seinen Bemühungen hilfreich sein.

  Im Jahre 1910 hielt Steiner in Berlin einen Vortrag "Was ist Mystik?" In diesem ist alles Wesentliche enthalten, was zu diesem Thema zu sagen ist, obwohl vieles darin nur angedeutet wird. Deshalb findet auch eine Schrift wie die vorliegende ihre Berechtigung.

  Die einleitenden Worte Rudolf Steiners haben heute noch ihre volle Geltung, obwohl seither mehr als ein halbes Jahrhundert (mittlerweile ein ganzes - KK) verstrichen ist. Deshalb seien sie auch hier hervorgehoben: "Allerdings wird man - heißt es da -, wenn der Ausdruck "Mystik" auch nur in bezug auf seine historische Herkunft in Betracht gezogen wird, eine ganz andere Anschauung gewinnen müssen über dasjenige, was bedeutsame Geister der Menschheit unter Mystik verstanden haben, und was sie vor allen Dingen an der Mystik glauben besessen zu haben. Man wird dann insbesondere auch bemerken können, daß es schon menschliche Persönlichkeiten gibt, welche den Gegenstand der Mystik nicht etwas Unerforschliches und Unklares nennen, sondern welche als Gegenstand der Mystik gerade dasjenige bezeichnen, was durch eine gewisse höhere Klarheit, durch ein gewisses helleres Licht unserer Seele zu erringen ist, und daß da gerade jene Klarheit aufhört, welche die anderen Wissenschaften geben können, wo die Klarheit der Mystik beginnt." (Pfade der Seelenerlebnisse GA58)

  Im weiteren Verlauf des Vortrages wird deutlich, daß der Begriff der Mystik ein vielschichtiger ist. Dieser Tatsache möchte diese Studie Rechnung tragen. Es gehört zu Steiners Methodik, daß er niemals und nirgendwo ein Thema oder einen Gegenstand an einer Stelle oder in einer Arbeit systematisch oder gar erschöpfend darstellt. Das entspräche in keiner Weise seiner Geistesart. Vielmehr erwartet er von dem, der sein Werk studiert, daß er seine hingestreuten Bemerkungen, die Streiflichter, die er auf dieses oder jenes Thema fallen läßt, aus eigener Kraft und Initiativ nicht nur sammelt, sondern zusammenschauen lernt. Dadurch wird der Studierende in anfänglicher Art zum Mitschaffenden.

 

  Dem möchte diese Studie dienen, indem sie sich, gestützt auf Steiners verschiedenste Darstellungen, an den Begriff der Mystik von verschiedenen Seiten heranzuarbeiten versucht.

  Entsprechend gliedert sich der Inhalt wie folgt:

1. Es wird ein allgemeiner Begriff von Mystik gebildet

2. eine philosophische Bestimmung wird gegeben,

3. die Mystik wird im Sinne der Überlieferung dargestellt und als Gegenpol der Okkultismus,

4. eine besondere Form der Mystik wird herausgehoben,

5. ein ungewohnter Aspekt der Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts aufgezeigt,

6. Rudolf Steiners persönliche Stellung zur Mystik dargestellt und

7. Anthroposophie und Mystik in ihrem Verhältnis zueinander charakterisiert.

 

  Man wird in die Gesamtbetrachtung einen Abschnitt über Harrisons "Das transzendente Weltenall" (Leipzig 1916) eingeflochten finden, gegen den mancher Einwand erhoben werden kann. Es liegt mir fern, das Gewicht dieser Einwände zu verkennen. Aber ich habe mich trotzdem entschlossen, dieses Buch ausführlich zu erwähnen. Immer wieder kann man feststellen, wie unbekannt diese Schrift ist. Aber ebenso kommt man zu der Anschauung, daß man es mit einer der bedeutsamsten Veröffentlichungen auf dem Gebiete des modernen Okkultismus zu tun hat. Die Schrift ist kaum irgendwo aufzutreiben, sei es in Bibliotheken oder Antiquariaten. Gerade deshalb erscheint mir ihre Erwähnung im vorliegenden Zusammenhang wichtig.

  Ich kann diese Einleitung nicht abschließen, ohne auf die Ausführungen einer Persönlichkeit hinzuweisen, die sich durch Weite des Horizonts und ein hoch über dem Durchschnitt liegendes Urteilsvermögen auszeichnet: Arthur Koestler. In seinem Buch "Heilige und Automaten" (Bern-Stuttgart-Wien 1961) schreibt er: "So wird der Eigendünkel des westlichen Rationalismus durch den östlichen Irrationalismus aufgewogen. Und die messianische Arroganz des christlichen Kreuzfahrers findet ihr Gegenstück in der arroganten Glleichgültigkeit des Yogi gegenüber dem menschlichen Leiden. Niemals in seiner Geschichte ist unser Geschlecht einer so tödlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen wie heute, und wir können uns weniger denn je leisten, auf Rat und Beistand von unerwarteter Seite her zu verzichten. Dennoch gelangt man widerstrebend zu dem Schluß, daß weder Yoga, Zen noch eine andere Form des asiatischen Mystizismus der Welt einen Ausweg weisen kann."

  Darum sollte man es doch einmal - wenn auch "widerstrebend" - mit Anthroposophie versuchen.

Otto Palmer

Wolfhalden, September 1968

 

1. Ein allgemeiner Begriff von Mystik wird gebildet

  Die Unklarheit, die in bezug auf den Begriffsinhalt des Wortes "Mystik" herrscht, führt unvermeidlich zu Miß- und Unverständnis. Das trat Rudolf Steiner nicht als Theorie, sondern lebensmäßig entgegen und zwang ihn zu einer Stellungnahme: schon 1897 in "Goethes Weltanschauung" (GA6). Er zitiert die diesbezügliche Stelle selbst im Aufsatz "Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie", der im Sammelband "Philosophie und Anthroposophie" (GA35) abgedruckt ist: "Blicke ich dagegen auf dasjenige, was oft als Mystik bezeichnet wird und was gerade die Besonnenheit und Klarheit vermeidet, die dem Denkvorgang eignen, dann sehe ich mich genötigt, eine solche Mystik so zu kennzeichnen, wie ich es (S59f) in meinem Buche "Goethes Weltanschauung" getan habe: "Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist geradeso wie Goethe davon überzeugt, daß ihm in inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt ihm die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ankommt. Über die klaren Ideen der Vernunft hat er ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und gehören nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Erweckung besonderer Kräfte zu gelangen. Er sucht die Entwicklung ungewöhnlicher Zustände, zum Beispiel durch Ekstase, zum Schauen höherer Art zu gelangen... In eine Welt unklarer Empfindungen und Gefühle versenkt sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt". - Und Steiner fährt fort: "Diese so von mir zu kennzeichnende Mystik muß ich weit aus dem Gebiete herausstellen, in dem ich die Erkenntniskräfte suche, welche die geistige Welt erschließen. Diese Mystik treibt das menschliche Seelenleben in einen Bereich, in dem es in größere Abhängigkeit gerät von der menschlichen Organisation, als es im gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmen und in der Verstandestätigkeit ist. Die wahrhaftigen geistigen Erkenntnisfähigkeiten  aber führen das Seelenleben in ein Gebiet, in dem ihr größere Unabhängigkeit von der Organisation eignet als im sinnlichen Wahrnehmen und Vorstellen, und das mit dem reinen Denken bereits in der einfachsten Form betreten ist. Mit dem träumerischen, halbbewußten Seelenleben der falschen Mystik hat die Erkenntnistätigkeit, durch die ich die "Geisteswissenschaft" errichtet denke, nichts gemein. Leider verwechseln die Gegner und auch diejenigen, welche Anhänger dieser Geisteswissenschaft sein wollen, diese nur allzuoft mit der falschen Mystik, obwohl diese Verwechslung diejenige einer Sache mit ihrem Gegenteil ist. Wer nicht an Worten klebt und aus Worten willkürliche Entstellungen drechselt, der wird in meinen Schriften überall ersehen, wo ich auf das relativ Berechtigte der Definition der Mystik abziele und wo ich die Verworrenheit falscher Mystik ablehne."

  Das sind ohne Zweifel kräftige und deutliche Worte, die eine Untersuchung wie die vorliegende nicht nur berechtigt, sondern geradezu notwendig erscheinen lassen. Steiners Ausführungen fanden nicht das Gehör, das ihnen gebührt hätte und er sah sich anläßlich der 1924 erscheinenden Neuauflage seiner Schrift "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" (GA2, S109,Anmerkung dazu S139) dazu gedrängt - wieder im Zusammenhang mit Goethe - das Motiv neu aufzugreifen. Es heißt da im Text: "Niemand hat so wie Goethe erkannt, daß eine organische Wissenschaft ohne allen dunklen Mystizismus, ohne Teleologie, ohne Annahme besonderer Schöpfungsgedanken möglich sein muß."

  Dieser Stelle fügt er die Anmerkung bei: "In meinen Schriften wird man in verschiedener Art über "Mystizismus" und "Mystik" gesprochen finden. Daß zwischen diesen verschiedenen Arten kein Widerspruch ist, wie man hat herausphantasieren wollen, kann man jedesmal aus dem Zusammenhang ersehen. Man kann einen allgemeinen Begriff von "Mystik" bilden. Danach ist sie der Umfang dessen, was man von der Welt durch inneres, seelisches Erleben erfahren kann. Dieser Begriff ist zunächst nicht anzufechten. Denn eine solche Erfahrung gibt es. Und sie offenbart nicht nur etwas über das menschliche Innere, sondern über die Welt. Man muß Augen haben, in denen sich Vorgänge abspielen, um über das Reich der Farben etwas zu erfahren. Aber man erfährt dadurch nicht nur etwas über das Auge, sondern über die Welt. Man muß ein inneres Seelenorgan haben, um gewisse Dinge der Welt zu erfahren.

  Aber man muß die volle Begriffsklarheit in die Erfahrung des mystischen Organes bringen, wenn Erkenntnis entstehen soll. Es gibt aber Leute, die wollen in das "Innere" flüchten, um der Begriffsklarheit zu entfliehen. Diese nennen "Mystik", was die Erkenntnis aus dem Licht der Ideen in das Dunkel der Gefühlswelt - der nicht von Ideen erhellten Gefühlswelt - führen will. Gegen diese Mystik sprechen meine Schriften überall; für die Mystik, welche Ideenklarheit denkerisch festhält und zu einem seelischen Wahrnehmungsorgan den mystischen Sinn macht, der in derselben Region des Menschenwesens tätig ist, wo sonst die dunklen Gefühle walten, ist jede Seite meiner Bücher geschrieben. Dieser Sinn ist für das Geistige völlig gleichzustellen dem Auge oder Ohr für das Physische."

  Wie Steiner schon oben sagte: ein Teil der Mißverständnisse beruht, wie es ja allermeist der Fall sein dürfte, darauf, daß verschiedene Menschen mit ein- und demselben Worte ganz verschiedene, ja oft einander völlig widersprechende Begriffe verbinden. Woraus wieder einmal deutlich wird, daß Wort und Begriff gar nicht dasselbe sind, man sie daher nicht einfach identifizieren darf. So ist es auch mit dem Worte "Mystik". Steiner beschreibt und bestimmt den Inhalt des Begriffes, den er mit diesem Worte verbindet, auf das genaueste. Wenn auch mit der Einschränkung, daß es sich dabei um einen allgemeinen Begriff, also um etwas vorläufiges, in keiner Weise bereits differenziertes handelt. In dieser seiner Allgemeinheit und Vorläufigkeit läßt sich der Inhalt des Begriffes klar erfassen. Er deutet auf ein "seelisches Wahrnehmungsorgan", das Geistiges wahrzunehmen vermag. Dieses Organ wird als "Sinn" mit Auge und Ohr, die physisches wahrzunehmen fähig sind, in Parallele gesetzt. Und wie die physischen Wahrnehmungen an und für sich nichts respektive nur eine halbe Wirklichkeit sind und daher der Ergänzung durch den Begriff bedürfen, so gilt es auch für die Wahrnehmungen, die sich dem mystischen Sinn darbieten. Sie geben nur eine halbe Wirklichkeit und bedürfen ebenfalls der Ergänzung durch den Begriff, um eine Wirklichkeit zu bieten.

  Diese scharfe Unterscheidung zwischen Mystik und Mystizismus wird noch durch einen Hinweis innerhalb des Vorwortes zu dem Buche "Das Christentum als mystische Tatsache" (GA8) betont: "Der Inhalt des Buches allein kann rechtfertigen, daß sein Verfasser "mystisch" nicht eine Anschauung nennt, welche sich mehr an unbestimmte Gefühlserkenntnisse als an "streng wissenschaftliche Darlegung" hält. In weiten Kreisen wird ja gegenwärtig "Mystik" in einer solchen Art verstanden und dadurch wohl auch von vielen für ein Gebiet des menschlichen Seelenlebens erklärt, das mit "echter Wissenschaft" nichts zu tun haben kann. Im Sinne dieses Buches wird das Wort "Mystik" gebraucht für die Darstellung einer geistigen Tatsache, die in ihrem Wesen nur erkannt werden kann, wenn die Erkenntnis aus den Quellen des geistigen Lebens hergenommen ist. Wer eine Erkenntnisart, die aus solchen Quellen schöpft, ablehnt, der wird zu dem Inhalt dieses Buches keine Stellung gewinnen können. Nur wer "Mystik" in dem Sinne gelten läßt, daß in ihr ebensolche Klarheit herrschen kann wie in wahrer Darstellung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, der wird darauf sich einlassen, wie hier der Inhalt des Christentums als Mystik auch mystisch geschildert wird. Denn nicht nur auf den Inhalt der Schrift kommt es an, sondern - und vor allem darauf - aus welchen Erkenntnismitteln heraus in ihr dargestellt wird."

  Diese Äußerung stammt aus dem Jahre 1910. Sie stimmt mit der aus dem Jahre 1924 völlig überein und zeigt somit deutlich, daß sich der "allgemeine Begriff Mystik" bei Steiner erhalten und nicht etwa nachträglich eine Abänderung erfahren hat. Diese Bemerkung könnte man sich sparen, wenn nicht die Bemühung so lebhaft wäre, Steiner in seinem Wirken Brüche und Widersprüche nachzuweisen. Am Schluß der Vorbemerkungen zur vierten Auflage der "Geheimwissenschaft im Umriß" (GA13) findet sich die Bemerkung: "Versucht wurde zu zeigen, daß dieses Erleben, obwohl es durch ganz innerliche Mittel und Wege erworben wird, doch nicht eine bloß subjektive Bedeutung für den einzelnen Menschen hat, der es erwirbt. Es sollte aus der Darstellung hervorgehen, daß innerhalb der Seele deren Einzelheit und persönliche Besonderheit abgestreift und ein Erleben erreicht wird, das jeder Mensch in der gleichen Art hat, der eben in rechter Art die Entwickelung aus seinen subjektiven Erlebnissen heraus bewirkt. Erst wenn die "Erkenntnis übersinnlicher Welten" mit diesem Charakter gedacht wird, vermag man sie zu unterscheiden von allen Erlebnissen bloß subjektiver Mystik usw. Von solcher Mystik kann man wohl sagen, daß sie mehr oder weniger doch eine subjektive Angelegenheit des Mystikers ist. Die geisteswissenschaftliche Seelenschulung, wie sie hier gemeint ist, strebt aber nach solchen objektiven Erlebnissen, deren Wahrheit zwar ganz innerlich erkannt wird, die aber doch gerade deshalb in ihrer Allgemeingültigkeit durchschaut werden."

  Diese Klarstellung der Begriffe stammt aus dem Jahre 1913. Sie schildert in einer Art die Organbildung durch Mystik, die zu objektiven geistigen Wahrnehmungen und zu Realitäten führt, sofern sie mit Ideen durchdrungen werden. Sie unterscheidet davon die subjektive Mystik, durch die der Mensch im eigenen Seelenwesen befangen bleibt.

  

2. Eine philosophische Bestimmung wird gegeben

  Auch die "Philosophie der Freiheit" (GA4) bringt eine, wenn auch knappe, so doch wesentliche Auseinandersetzung mit der Mystik. Sie ist im achten Kapitel "Die Faktoren des Lebens" enthalten (S139).

  Da heißt es: "Der Mensch gerät durch diesen Umstand auf den Glauben: in dem Fühlen stelle sich ihm das Dasein unmittelbar, in dem Wissen nur mittelbar dar. Die Ausbildung des Gefühlslebens wird ihm daher vor allen Dingen wichtig erscheinen. Er wird den Zusammenhang der Welt erst erfasst zu haben glauben, wenn er ihn in sein Fühlen aufgenommen hat. Er sucht nicht das Wissen, sondern das Fühlen zum Mittel der Erkenntnis zu machen. Da das Gefühl etwas ganz Individuelles ist, etwas der Wahrnehmung Gleichkommendes, so macht der Gefühlsphilosoph ein Prinzip, das nur innerhalb seiner Persönlichkeit eine Bedeutung hat, zum Weltprinzip. Er sucht die ganze Welt mit seinem eigenen Selbst zu durchdringen. Was der hier gemeinte Monismus im Begriff zu erfassen strebt, das sucht der Gefühlsphilosoph mit dem Gefühl zu erreichen, und sieht dieses sein Zusammensein mit den Objekten als das unmittelbarere an.

  Die hiermit gekennzeichnete Richtung, die Philosophie des Gefühls, wird oft als Mystik bezeichnet. Der Irrtum einer bloß auf das Gefühl gebauten mystischen Anschauungsweise besteht darinnen, daß sie erleben will, was sie wissen soll, daß sie ein Individuelles, das Gefühl, zu einem Universellen erziehen will."

  Hier wird Mystik als Gefühlsphilosophie gekennzeichnet. Auf diese Stelle nimmt der Schluß des Vorwortes der ersten Auflage der "Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens..." (GA7) von 1901 Bezug: "Ich hoffe in meiner Schrift gezeigt zu haben, daß man ein treuer Bekenner der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sein und doch die Wege nach der Seele aufsuchen kann, welche die richtig verstandene Mystik führt. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Nur wer den Geist im Sinne der wahren Mystik erkennt, kann ein volles Verständnis der Tatsachen in der Natur gewinnen. Man darf wahre Mystik nur nicht verwechseln mit dem "Mystizismus" verworrener Köpfe. Wie die Mystik irren kann, habe ich in meiner Philosophie der Freiheit (S139f) gezeigt."

 

3. Mystik im Sinne der Überlieferung und ihr Gegenpol:  

der Okkultismus

Der folgende Abschnitt bringt Tatsachen des okkulten Lebens, die dem Laien befremdlich erscheinen müssen, sodaß es ihm nicht leicht fallen mag, die Begriffe, die diesen Tatsachen entsprechen, richtig zu erfassen. Damit aber nun nicht alles, was in dieser Hinsicht vorgebracht wird, auf das Konto Steiners - im guten wie im bösen Sinne - geschrieben werde, muß hier einer Persönlichkeit und eines Buches gedacht werden, das zwar nicht in die breite Öffentlichkeit gedrungen ist, dessen Inhalt aber in okkultistischen Kreisen starke Beachtung gefunden hat. Es handelt sich um den Engländer C.W.Harrison und das 1894 in London erschienene Buch "Das transzendentale Weltenall". Bereits in den neunziger Jahren erschien eine deutsche Übersetzung. Im Jahre 1916 brachte das Theosophische Verlagshaus, Leipzig, eine neue deutsche Ausgabe heraus. Dieses Buch gibt eine Reihe von sechs Vorträgen wieder, die Harrison 1893 vor der "Berean Society" gehalten hat. Diese Gesellschaft stand in gewissen Beziehungen zur Theosophischen Gesellschaft, besser gesagt zu der von Blavatsky ins Leben gerufenen theosophischen Bewegung.

  Harrison äußert sich nur sehr zurückhaltend über seine Person, aber doch deutlich genug, um einen Einblick in sein Erleben zu gestatten. Einige Zitate sollen diesen Einblick vermitteln.

  "Es gibt - so heißt es auf S22/23 der oben genannten Ausgabe von 1916 - hierzulande eine große Anzahl von selbsteingeweihten Personen, die aus verschiedenen Gründen verhindert sind, die nötigen Schritte zu tun, um Fortschritte im praktischen Okkultismus zu machen, die jedoch in vertrauter Beziehung zu solchen stehen, die sie gemacht haben und deren Gesellschaft und selbst Rat von jenen gesucht und mit Dank angenommen wird, welche tatsächlich Teil an dem Kampfe hinter der Szene nehmen."

  Hinweise auf diese Möglichkeit finden sich bei Steiner in "Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten" (GA10), wo von Lebenseinweihung gesprochen wird. In der "Geheimwissenschaft im Umriß" (GA13), wird der Ausdruck "Selbsteinweihung" angewendet. Es heißt da (S300/301): "Die Mittel der Einweihung führen den Menschen aus dem gewöhnlichen Zustande des Tagesbewußtseins in eine solche Seelentätigkeit hinein, durch welche er sich geistiger Beobachtungswerkzeuge bedient. Diese Werkzeuge sind wie Keime vorher in der Seele vorhanden. Diese Keime müssen entwickelt werden. - Nun kann der Fall eintreten, daß ein Mensch in einem bestimmten Zeitpunkte seiner Lebenslaufbahn ohne besondere Vorbereitung in seiner Seele die Entdeckung macht, es haben sich solche höhere Werkzeuge in ihm entwickelt. Es ist dann eine Art von unwillkürlicher Selbsteinweihung eingetreten. Solch ein Mensch wird sich dadurch in seinem ganzen Wesen umgewandelt finden. Eine unbegrenzte Bereicherung seiner Seelenerlebnisse tritt ein. Und er wird finden, daß er durch keine Erkenntnisse der Sinnenwelt eine solche Beseligung, solche befriedigende Gemütsverfassung und innere Wärme empfinden kann, wie durch dasjenige, was sich einer Erkenntnis erschließt, die nicht dem physischen Auge zugänglich ist. Kraft und Lebenssicherheit wird in seinen Willen aus einer geistigen Welt einströmen. - Solche Fälle von Selbsteinweihung gibt es."

  Um eine derartige Selbsteinweihung handelt es sich offenbar bei Harrison.

  Bei dem "Kampf hinter der Szene" (es handelt sich wohl um eine wörtliche Übersetzung aus dem Englischen, man könnte wohl auch sagen: 'hinter dem Vorhang'), von dem Harrison zu berichten weiß, handelt es sich um die Auseinandersetzung im Kreise der Okkultisten über Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung alten traditionellen okkulten Wissens. Die Gruppe, die sich für die Veröffentlichung einsetzte, nannte man die "Exoteriker". Als "Esoteriker" bezeichnete man diejenigen, die gegen jegliche Veröffentlichung alten Wissens waren. Es handelt sich hier um einen einer bestimmten Situation angepassten Wortgebrauch, der anderen Anwendungen dieser Worte in anderen Zusammenhängen nicht widerspricht. In diesem Sinne ist Steiner "Exoteriker". Er begründet diese seine Haltung im Blick auf die Zeitnotwendigkeiten und die Bewußtseinsentwicklung der Menschheit in dem Aufsatz "Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse", der zuerst in "Das Reich" (Herausgeber Alexander von Bernus) erschien und jetzt in "Anthroposophie und Philosophie" (GA35) wieder abgedruckt ist. Unter solcher Voraussetzung ist auch folgende Stelle bei Harrison zu verstehen: "Ich selbst bin kein Esoteriker, sonst würde ich diese Vorträge nicht halten, doch obgleich ich keinem in der Überzeugung von der Wichtigkeit des Schweigens nachstehe, vermag ich vielen Personen, denen ich die höchste Verehrung zolle, in betreff der Klugheit nicht zuzustimmen, die Politik gänzlicher, bis auf die jüngste Zeit bewahrter Verschwiegenheit über die Existenz einer solchen Wissenschaft, wie die des Okkultismus gegenwärtig fortzusetzen... Ich kann nicht umhin, es ein jesuitisches Verfahren zu nennen, in der Presse auf Seiten der Philister gegen den "mittelalterlichen Aberglauben" zu stehen. Da ich selbst keiner Bruderschaft angehöre, fühle ich mich frei, über diesen Punkt meine Meinung offen auszusprechen." Und es wirft wohl ein klares Licht auf die Situation Harrisons, wenn er des weiteren (S34) schreibt: "Nach einer alten Regel kann jeder Eingeweihte beanspruchen, von einem bewanderten Bruder belehrt zu werden, wenn sich die Gelegenheit bietet, unter Umständen zu handeln, unter denen ihm Unwissenheit zum Nachteile gereichen könnte, und ich freue mich, diesen Anlaß benutzen zu können, um für die großmütige Weise Zeugnis abzulegen, in der solche Anrufung in meinem eigenen Falle entsprochen worden ist."

  Die hier erwähnte Regel gibt Steiner in umfassender Weise wieder in "Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? (GA10,S18): "Denn es gibt ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihten, das sie dazu veranlaßt, keinem suchenden Menschen ein ihm gebührendes Wissen vorzuenthalten."

  Aus zwei Quellen - die eine entspringt seiner Selbsteinweihung, die andere geht aus der Tradition hervor, an der er durch Belehrung teil gewinnt - also stammt Harrisons Wissen über "Eingeweihte und Hellseher", über "Exoteriker und Esoteriker", über das Schicksal der Blavatsky und über so manche okkulten Hintergründe der Politik. Und man darf wohl annehmen, es sei ihm mehr mitgeteilt worden als seine unmittelbare Situation unbedingt erforderte.

  So stellt Harrisons Schrift eine Fundgrube okkulten Wissens dar, über das sonst tiefes Schweigen bewahrt wurde. Und auch Steiner hätte sich wohl zum Schweigen über so manches verpflichtet gefühlt, hätte nicht diese Veröffentlichung vorgelegen.

  Steiner hatte eine eigenartige Weise Bücher zu lesen, wenn sie seine größte Aufmerksamkeit erregten. Er löste sie alsdann in ihre Bestandteile auf, das heißt in einzelne Bogen, die er je nach Bedarf in der Tasche bei sich trug. Zu den Büchern, die er auf diese Weise gelesen respektive eingehend studiert hat, gehört auch das eben genannte von Harrison.

  So konnte er diese Veröffentlichung zur Grundlage seiner 1915 in Dornach gehaltenen Vortragsreihe "Die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert" (GA164) machen. Nicht als ob ihm diese Schrift als "Vorlage" oder "Quelle" gedient hätte. Ich meine: die Fakten, von denen sie berichtet, waren ihm als Okkultisten zweifellos bekannt. Sie zeigte ihm lediglich die Grenzen, die er einzuhalten hatte. In "Meiner Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner" (Stuttgart 7.Auflage 1963)) schildert Rittelmeyer eine in diesem Zusammenhang aufschlußreiche Szene. Er fragte, ob es in einer bestimmten Situation nicht möglich sei, aus okkulten Einsichten zu handeln. Steiner antwortete darauf: "Das könnte man schon, aber dann müsste man sich von aller Mitwirkung an den Ereignissen zurückziehen. Es geht nicht, daß man über diese Dinge okkult forscht, und dann dies Wissen einfließen läßt in das, was man selber tut."

  Dieselbe Zurückhaltung ist Gebot bei der Mitteilung okkulter Tatsachen. In diesem Sinne hat die Schrift von Harrison ihre Bedeutung. Sie macht Mitteilungen, deren Steiner sich nunmehr bedienen konnte, ohne gegen das oben erwähnte Prinzip zu verstossen. Er tat das, indem er den Stoff mit der ihm eigenen Souveränität behandelte, das Gegebene in vielerlei Weise erweiterte, bedeutsame Korrekturen anbrachte, vor allem, was die Darstellung der achten Sphäre betrifft.

  Den Anlaß, diese Vorträge zu halten, scheinen allerlei Vorgänge innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft geboten zu haben. Der Hinweis auf "die mystischen Verschrobenheiten" deutet darauf hin. Noch gewichtiger in bezug auf Tendenzen, die sich in der Gesellschaft zur Geltung bringen wollten, ist der Ausspruch: "Und wo irgendwo die Wahrheit sich geltend machen will, besteht schon das Bestreben, das, was sich da als Wahrheit geltend machen will, so umzuwandeln, so umzusetzen, daß es irgendwie den gegenerischen Mächten dienen kann. Es handelt sich dabei darum: eine Gesellschaft, in der Freiheit existieren kann, umzuformen in eine Sklavengesellschaft. Das ist die Methode, die dem Ahriman gelegen kommt, der darauf ausgeht, solche Umtriebe zu gebrauchen, um sie für sich dienstbar zu machen." (GA164)

  Damit ist der Anlaß gekennzeichnet, der den Anstoß zu diesen Vorträgen gab. Im Anschluß an die Betrachtung der Lage, in der sich die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert befand und im Blick auf die Schwierigkeiten, denen sie gegenüberstand, werden anthroposophische Bewegung und Gesellschaft in ihrer Situation - zwischen Skylla und Charybdis, wie es heißt - geschildert und es werden die Aufgaben, man kann nicht sagen zugewiesen, wohl aber ins Bewußtsein gerufen.

  Der Kampf hinter der Szene (hinter dem Schleier) geht, wie schon erwähnt, um die Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung alter Weisheit alten okkulten Wissens. Beide Gruppen - Exoteriker und Esoteriker im oben genannten Sinne - haben für ihre Stellungnahme gewichtige Gründe. Die einen richten ihren Blick mehr auf die Gefahren, die eine solche Veröffentlichung mit sich bringt. Die anderen leugnen diese Gefahren nicht, aber die Gefahr, daß die Menschheit im Sumpf des Materialismus versinke, erscheint ihnen als die größere. Sie sehen keine andere Möglichkeit, dieser Gefahr zu steuern als dadurch, daß man die andere in Kauf nimmt. der Kampf hinter der Szene (s.o.) findet einen gewissen Abschluß in einem Kompromiß: die beiden Parteien einigen sich auf das Experiment des Spiritualismus, dessen Verlauf aber niemand befriedigen kann.

  In unserem Zusammenhang ist es wichtig, einmal zu hören, wieviel Verständnis Steiner auf Grund dessen, was er erfahren mußte, den Esoterikern entgegenbringt, obwohl er in der Praxis Exoteriker ist, und zum anderen, in welcher Weise er die Gefahren schildert, die mit dem Eindringen in die geistige Welt verbunden sind. Denn dieselbe Art von Gefahren nimmt ihren Anfang bei der Mitteilung über die geistige Welt. Es soll nun in bewußt einseitiger Weise nur das wiedergegeben werden, was Steiner zu diesem Thema sagt. Der Mensch ist von zwei Seiten her bewußtseinsmäßig von der geistigen Welt abgeschnitten (natürlich nicht der Realität nach). Auf der einen Seite breitet sich der Sinnesteppich aus und verhüllt die dahinter verborgene Geistigkeit. Auf der anderen Seite hat man es mit dem aus Denken, Fühlen und Wollen gewobenen Seelenschleier zu tun. Auch er verhüllt eine bestimmte Art von Geistigkeit.

  Durch diese beiden trennenden Wände ist der Mensch in jenen Bewußtseinshorizont eingeschränkt, den ihm das tägliche Leben bietet. Es zeigt ihm nur einen ganz kleinen Ausschnitt des Erden- und Weltenlebens. Innerhalb dieser Beschränkung, und nur innerhalb dieser, vermag der Mensch sein waches Tagesbewußtsein zu entwickeln, in dem er sich als Einzelwesen erlebt und in Gegensatz zur Welt setzt.

 

Skizze 

 

  Wäre der Mensch nicht in dieser Weise beschränkt, er könnte nicht zum Selbst-Bewußtsein kommen. Daraus ergibt sich aber mit Folgerichtigkeit, daß der Mensch von diesem seinem Bewußtsein aus zwei Wege einschlagen kann, um die ihn einengenden Schranken zu durchbrechen und zum Geistigen durchzustossen. Der eine führt nach außen, indem er den Sinnesteppich durchstößt, der andere nach innen, indem er den Seelenschleier zerreißt. Auf beiden Wegen drohen Gefahren. Man gelangt nicht ohne weiteres in eine dem Menschen gemäße Geistigkeit. Man muß, wenn dies Bild gestattet ist, Vorhöfe durchschreiten. Hinter der Sinneswelt haben die ahrimanischen Wesen ihren Sitz. Dort lauern sie auf den Menschen, um ihn für ihr Reich zu gewinnen. Wer unvorbereitet, das heißt ungeschützt in diese Sphäre dringt, den packen diese Wesen an dem Teil, der ihnen wesensverwandt ist: am Verstande. Sie durchdringen ihn mit ihren Kräften, die zerstörender Art sind, denn ihre Aufgabe ist ja die Zerstörung. Wer ihnen anheimfällt, wird zum Zerstörer - nicht um dieses oder jenes Vorteils willen, nicht zu diesem oder jenem Zweck, sondern um des Zerstörens willen. Zu zerstören ist solchen Seelen höchste Lust.

  Diese Gefahren waren den alten Orden sehr wohl bekannt. Und um den Menschen zu schützen, gab man ihm die Symbolik, ließ ihn an dieser Symbolik herumrätseln. Dabei wurden die Kräfte, vergleichsweise gesprochen, gebunden, deren sich Ahriman bedienen kann, wenn sie ungebunden sind. Ohne solche Bindung werden sie seine Beute.

 

Skizze 

 

  Diese Skizze ist nach den Ausführungen Steiners entworfen. Sie zeigt, daß Steiner die Sphäre der Naturwelt und was sich dahinter verbirgt, als die objektive Wirklichkeit bezeichnet und den den Weg, der dorthin führt, als objektiven Okkultismus. Damit ist die eine Seite wiedergegeben.

  Auf der anderen hat man es mit dem aus Denken, Fühlen und Wollen gewobenen Seelenschleier zu tun. Gelingt es dem Menschen durch seine Bemühungen, diesen Schleier zu zerreissen, so gelangt er auch da nicht ohne weiteres in eine menschenfreundliche Geistigkeit. Auch auf dieser Seite ist eine Geisteswelt zu durchschreiten, die den Menschen von seinem Streben und Ziel abzubringen sucht. Er betritt ein Reich luziferischer Wesen, die ihn für sich und ihre Welten-Sonderziele gewinnen wollen. Zu diesem Zweck erfüllen sie den Menschen mit ihrem düsteren Feuer. Es ergreift die Seele, macht das Fühlen schwärmerisch und schwül. Das Innere wird in jeder Weise überhitzt. Sein Streben wird von Ehrgeiz erfaßt, unendlicher Hochmut läßt ihn sich als weit über anderen Menschen stehend empfinden.

  Auch gegen diese Gefahr muß der Mensch gefeit werden. Hier scheint es keine so allgemeine Sicherung durch Orden und Ordensvorschriften gegeben zu haben wie bei dem objektiven Okkultismus. Statt dessen erzählt Steiner ein Beispiel seelischer Schulung, die der Pater Antonius einem Menschen, der als Schüler zu ihm kam, angedeihen ließ. Er wird als Paulus der Einfältige bezeichnet. Antonius ließ ihn Wasser tragen, aber in durchlöcherten Gefäßen. Er ließ ihn Kleider nähen, die er hinterher wieder auftrennen mußte. Er ließ ihn Steine den Berg hinaufschleppen, die dann wieder hinabrollten. Und dies durch lange Jahre hindurch.

  "Die Folge war - sagte Steiner - daß Paulus der Einfältige eine ungeheure Vertiefung seines Gemütes durchmachte... aus Paulus dem Einfältigen wurde Paulus der Weise" (GA164).  Ohne diese scheinbar so sinnlose Schulung hätte sich in der Seele des Paulus Hochmut, Überheblichkeit und Feindseligkeit gegen den Lehrer mächtig erhoben. Man lese diese Schilderung in den genannten Vorträgen nach.

  In diesem Falle hat man es mit etwas Ähnlichem zu tun wie beim objektiven Okkultismus:

 

Skizze 

 

  Auch diese Skizze ist auf Grund der Steinerschen Darstellungen entworfen. Sie zeigt, wie er die Sphäre der Seelenwelt und was sich dahinter verbirgt, als subjektive Wirklichkeit bezeichnet und den Weg, der dorthin führt, als subjektive Mystik.

  Damit sind die beiden Wege in die Geistigkeit, der objektive Okkultismus und die subjektive Mystik geschildert. In dieser Darstellung tritt der Begriff der Mystik im alten überlieferten Sinne auf.

 

  Hier ist es am Platze, den Aufsatz von Winfried Gurlitt zu erwähnen und zu zitieren, der, als das Manuskript dieser Arbeit auf Grund eines Vortrags, der im Übergang 1965/66 an verschiedenen Orten gehalten wurde, bereits in erster Gestalt vorlag, in der Zeitschrift "Das Goetheanum" vom 27.11.66 (Nr.48,45.Jhg.) erschienen ist: "Rudolf Steiners Stellung zur Mystik". Dieser Aufsatz berührt sich selbstverständlich mit diesen Ausführungen, wie es sich aus der Sache ergibt. Doch weist er - mit Recht - in besonderer Weise auf die Mysteriendramen Steiners hin (GA14). Was er da vorbringt, ist eine Bestätigung dessen, was hier über den ursprünglichen Inhalt des Begriffs "Mystik" im Sinne der Tradition gesagt wurde. Es sei daher einiges zitiert: "Auch der Schlüssel der durch Rudolf Steiner eröffneten neuen Mysterienwissenschaften beruht auf der Tatsache, daß schon in den alten Mysterien durch die "Mysten" die wahre Mystik erlebt und gelehrt wurde, daß es also eine "Mystica aeterna" gibt. Daher kann der Opferweise der ägyptischen Mysterienstätte die Weiheworte sprechen:

Was wir als mystisch Weihewerk vollbringen,

Bedeutung hat es doch nicht hier allein.

Es geht des Weltgeschehens Schicksalsstrom

durch Wort und Tat des ernsten Opferdienstes."

(Der Seelen Erwachen, 8.Bild GA14)

  Und etwas später heißt es: "In wunderbarer Weise konnte das mystische Element noch einmal in den Mysterien-Dramen erstehen. Insofern in ihnen auch Urbilder menschlicher Entwicklung und des Zusammenlebens zur Darstellung kommen, zeigen sie, wie wichtig die Unterscheidung auf dem Felde der Mystik ist. Das Motiv der "Mysten-Weise" durchzieht alle vier Dramen und entspricht dem, was in anderem Zusammenhang als Geisteswissenschaft gekennzeichnet ist. Am deutlichsten wird das an Felix Balde. Er, ein Träger des "Elementes der Hingabe", vertritt in der "Pforte der Einweihung" eine gewisse Naturmystik und im vierten Drama die subjektive Mystik. Wunderbar hebt sich diese Nuance im dritten Bild gegen die Seelenart von Capesius und Strader. Wenn dieser bekennen muß: 

Und mir ersteht die Geistesschau doch nur,

wenn sich die Seele Tatgedanken widmen darf,

so bleibt doch die Mysteriengesinnung Felix Baldes als Urelement der Mystik zu Recht bestehen:

Erstreben nichts - nur friedsam ruhig sein,

Der Seele Innenwesen ganz Erwartung --;

Das ist die Mystenstimmung. - Wer sie weckt,

Der führt sein Innres hin zum Lichtesreich.

  Die Mystik erwächst aus der Mysten-Stimmung der Mysterien. Das wird in den Mysterien-Dramen deutlich, in denen Benediktus in Johannes Thomasius den "Mysten-Freund" erblickt."

 

  Soweit Gurlitt. Seine Ausführungen sollen dazu dienen, deutlich zu machen, wie alte Mystik untrennbar von dem alten Mysterienwesen ist.

  Sie ist der Weg in die geistige Welt, den der Mensch durch die Seelenwelt im Ringen mit den luziferischen Mächten einschlägt. Das ist der Weg, den die ägyptischen und alle südlichen Mysterien führen. Die schönsten Ergebnisse auf diesem Wege erzielten offenbar die Essäer im Anschluß und Ausbau alt-hebräischen Wissens, Übens und Erlebens. Ihnen erschlossen sich durch ihre Exerzitien die Geheimnisse des astralischen, des aetherischen und des physischen Leibes. Dem alt-hebräischen Wissen entstammen auch für die Kräfte, die diese Leiber gestalteten und damit indirekt für die Wesen, denen sie angehörten, die Namen der zehn Sephirot (GA123,8.Vortrag-vgl.auch allgemein:GA120).

  Hier sei ein, wenn auch nur oberflächlicher Hinweis auf die nördliche Einweihungsströmung gegeben, die der südlichen, mystischen polar gegenüberstand. Sie trat nicht den Weg in das Innermenschliche an, sondern führte ihre Schüler hinaus in die Weiten der Welt (s.letzte Anmerkung)

  (Hinzuweisen ist hier auch auf das Buch von Bernhard Lievegoed, wo der Gegensatz der nördlichen und südlichen Strömung biographisch behandelt wird: Der Mensch an der Schwelle. Biographische Krisen und Entwicklungsmöglichkeiten. Freies Geistesleben, Stuttgart 1985-KK).

  Von der Geisteswissenschaft wird in den hier zur Rede stehenden Vorträgen gesagt, daß sie den Weg zu finden habe, der zwischen objektivem Okkultismus und subjektiver Mystik hindurchführe wie zwischen Skylla und Charibdis. Es wird eindrücklich darauf hingewiesen, wie an die Stelle der Symbolik die Stilisierung geisteswissenschaftlicher Darstellung tritt (Hinzuweisen ist auch auf die hier folgende Abhandlung von Fred Poeppig: Symbole Anhang 18b Poeppig, Goethe  Anhang 18c Poeppig: Symbole). Sie ist so gehalten, daß der Leser alle seine intelligenten Kräfte in einem solchen Maße anzuspannen hat, daß sie dadurch gebunden werden und keine freien vorhanden sind, die den ahrimanischen Gewalten als Angriffsfläche dienen können.

  Gegenüber der Mystik wird auf die Bestrebungen künstlerischer Art hingewiesen, innerhalb derer sich das Luziferische in berechtigter Art auslebt. Als Tugend, die hier am Platze sei, wird an anderer Stelle auf die Demut hingewiesen. Man findet ja auch in "Wie erlangt man...?" (GA10) den Satz: "Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird".

  Zur Abrundung des Bildes sei auf den Gegensatz des Alchimisten und Mystikers hingewiesen, wie ihn Steiner in dem Aufsatz über "Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz" darstellt (GA35, s.a. das Kapitel darüber in  Anhang 18b Poeppig, Goethe):

  "Echte Mystik - heißt es da - ist bestrebt, das nach dem menschlichen Innern zu gelegene geistig Wesenhafte des Menschen, das von der Sinneswahrnehmung für das gewöhnliche Bewußtsein überdeckt wird, zu erleben. Echte Alchimie macht sich unabhängig von der sinnlichen Wahrnehmung, um das außerhalb des Menschen vorhandene geistig Wesenhafte der Welt zu schauen, das von der Sinneswahrnehmung verdeckt wird."(siehe dazu auch: 8b Beckh: Alchymie 2-3  und  8c Beckh: Alchymie 4-5) 

  Hier wird die Zweiheit der Wege auf dem Niveau von etwa 1450 dargestellt und entsprechend auf die Bedrohung der Seele durch Luzifer und Ahriman hingewiesen. Während "subjektive Mystik", bei allen Veränderungen, die sie durchmacht, sich im wesentlichen gleich zu bleiben scheint, macht ihr Gegenpol Umwandlungen durch, die sich deutlicher voneinander unterscheiden: Hinausdringen in die Weiten der Welt, dann Alchimie, dann objektiver Okkultismus als Durchstossen des Sinnenteppichs.

  Eine wesenhafte Darstellung des alten Mysterienwesens und der mit ihm verbundenen Mystik findet man in "Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums" (GA8) im Abschnitt "Mystik und die Mysterienweisheit". Die alten Mysterien werden in diesem Buche geschildert als der Mutterboden, in den das Christentum als eigenständiger Keim eingesenkt wurde.

 

4. Eine besondere Form der Mystik 

  Aus den vorangehenden Ausführungen ergibt sich, daß der traditionelle Begriff der Mystik darauf deutet, daß es dem Menschen gelingt, dadurch in die geistige Welt vorzudringen, daß er den Seelenschleier durchstößt. Hinter diesem nun zerrissenen Schleier erwartet ihn die Begegnung mit den luziferischen Mächten, deren Verführungskünsten er sich gegenübergestellt sieht.

  Man könnte fragen, warum sich ihm nicht sogleich die dem Menschen freundliche und verbundene Welt darbietet, sondern luziferische Mächte? Sie wirken wie eine Art von Hütern der Schwelle. Sie lassen nur den durch, der sie zu überwinden vermag. So erscheinen sie wie ein Sieb, das nur das durchläßt, was im Seelischen des Menschen der geistigen Welt verwandt ist. Erliegt der Mensch den luziferischen Wesenheiten, so wird er zu gesteigertem, wenn auch sublimierten Egoismus angestachelt, Ehrgeiz und Hochmut bemächtigen sich seiner, Neid und Mißgunst bestimmen fortan seine Haltung gegenüber dem Mitmenschen. Das Gefühlsleben nimmt einen ungesunden, überhitzten Charakter an. So wurde es bereits dargestellt. Die alte Seelenschulung bediente sich etwa solcher Mittel, wie der Pater Antonius sie gegenüber Paulus dem Einfältigen anwendete. Solche Zucht war geeignet, die Seelen gegen die luziferische Verführung zu feien. Die heutige Menschheit sei nicht geneigt - so sagt Steiner - sich eine derartige Erziehung gefallen zu lassen. Obwohl sie für manche Naturen sehr fruchtbar sein könnte.

  So gab Mystik im alten Sinne nicht nur Wegrichtung an, die die Seele einzuschlagen hatte, sondern sie bot auch die Mittel dar, die die Seele so zu erkraften vermochten, daß sie den Gefahren, die ihr auf diesem Wege drohten, trotzen konnte. Auf diese Art bereitete sie den Mysten darauf vor, nach Überwindung aller Hindernisse in würdiger Weise am Mysterium teilzunehmen. Dies muß man ins Auge fassen, will man gewisse Wendungen, die Steiner in seinem Buche "Die Mystik" (GA7) gebraucht, richtig verstehen. Es behandelt - so sagt die Vorrede zur Neu-Auflage 1923 - eine "besondere Form der Mystik", die "sich losgelöst von ihrem Mutterboden, der alten Vorstellungsart als selbständige Mystik ausgebildet, sich aber nicht erhalten kann, weil ihr die seelische Impulsivität nunmehr fehlt, die sie in alten Zeiten durch die Forschung gehabt hat."

  Fragt man sich, was hier als Mutterboden zu verstehen sei, so ist damit eben das alte Mysterienwesen gemeint, innerhalb dessen die Mystik als Weg und Schulung eine ausschlaggebende Rolle spielt. Dieses Mysterienwesen gab es nicht mehr. Damit fiel auch die Ausrüstung für den Weg, wenn man so sagen darf, fort. Was sich nun als Mystik entwickelte, war von diesem Mutterboden gelöst und stellt daher eine besondere Form der Mystik dar.

  In "Das Christentum als mystische Tatsache" (GA8) wird der Unterschied zwischen der vorchristlichen und der christlichen Mystik scharf herausgearbeitet: "Die Gnosis und auch alle spätere christliche Mystik stellen das Bestreben dar, dieses Gottes doch auf irgendeine Art in der Seele unmittelbar teilhaftig zu werden. Ein Kampf mußte da immer entstehen. Man konnte in Wirklichkeit nur sein Göttliches finden, das ist aber Menschlich-Göttliches, ein Göttliches auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Aber der christliche Gott ist doch ein bestimmter, in sich vollendeter. Man konnte in sich finden die Kraft, zu ihm emporzustreben; aber man konnte nicht etwas, was man in der Seele auf irgend einer Stufe erlebte, als eins mit ihm bezeichnen. Zwischen dem, was man in der Seele erkennen konnte, und dem, was das Christentum als göttlich bezeichnete, entstand eine Kluft. Es ist die Kluft zwischen Wissen und Glauben, zwischen Erkennen und religiösem Empfinden. Für den Mysten im alten Sinne kann es diese Kluft nicht geben. Denn er weiß zwar, daß er das Göttliche nur gradweise erfassen kann; aber er weiß auch, warum er nur dies kann. Er ist sich klar, daß er in dem gradweisen Göttlichen doch das wahre, lebendige Göttliche hat; und es wird ihm schwer, von einem vollendeten, abgeschlossenen Göttlichen zu sprechen. Ein solcher Myste will gar nicht den vollendeten Gott erkennen, sondern er will das göttliche Leben erfahren. Er will selbst vergottet sein; er will nicht ein äußerliches Verhältnis zur Gottheit gewinnen. Es ist in dem Wesen des Christentums gelegen, daß seine Mystik nicht in diesem Sinne voraussetzungslos ist. Der christliche Mystiker will in sich selbst die Gottheit schauen, aber er muß zu dem geschichtlichen Christus hinblicken wie das physische Auge zur Sonne; wie dieses sich sagt: durch diese Sonne werde ich erblicken, was ich durch meine Kräfte sehen kann, so sagt der christliche Myste: Ich steigere mein Inneres zu göttlichem Schauen; das Licht, das mir solches Schauen ermöglicht, ist in dem erschienenen Christus gegeben. Er ist, wodurch ich in mir zum Höchsten emporsteigen kann. Die christlichen Mystiker des Mittelalters zeigen gerade darin ihren Unterschied von den Mysten der alten Mysterien (Vgl. mein Buch "Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens" GA7).

 Fragt man sich des weiteren, welche Persönlichkeiten von Steiner für seine Betrachtung der Mystik ausgewählt worden sind, so muß es als erstes auffallen, daß eine Gestalt wie Thomas a Kempis fehlt. Ferner ist keine einzige der Mystikerinnen wie etwa Hildegard von Bingen oder Mechthild von Magdeburg berücksichtigt. Lediglich die Schülerin des Suso, Elsbeth Stagel, wird erwähnt. Auch von der spanischen Mystik, die zur Zeit der Gegenreformation blühte und so bedeutende Gestalten wie die "große" Theresa von Avila und einen Johannes vom Kreuz, Zeitgenossen des Ignatius von Loyola, hervorbrachte, ist nicht die Rede. Damit ist hingewiesen auf alles das innerhalb der Mystik, was Steiner wissentlich und willentlich nicht behandelt.

  Ist man auf diese Tatsache aufmerksam geworden und fragt sich nach Gründen, die zu dieser und zu keiner anderen Auswahl geführt hat, so findet man den Aufschluß in dem vierten Vortrag des Zyklus "Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie" (GA137). Da werden aus der Fülle der möglichen Mystiker einige Gruppen herausgenommen. Auch da ist keine geschichtliche Betrachtung angestrebt, sondern eine wesenhafte. Sie werden auf Grund der vorausgegangenen Ausführungen in vier Erlebnisweisen eingestuft. Die zusammenfassende Tabelle sieht so aus:

A) Herzens-/Gehirnerlebnisse:        Neuplatoniker, Scotus, Erigena, Meister Eckhart   

B) Herzenserlebnisse                     Franz von Assisi 

C) Gehirnerlebnisse                       Hegel 

D)       -                                      die heilige Theresia

Eckhart wird nur mit leiser Einschränkung bei den Herzens- und Gehirnerlebnissen eingeteilt: "wenn man die Schattierung nicht streng einhält", wird gesagt. Er ist der einzige derer, die in "Die Mystik..." (GA7) behandelt werden.

  Und die Gestalten der Hildegard von Bingen und der Mechthild von Magdeburg werden in der Art ihres Erlebens, das nicht in die obige Einteilung passt, ausführlich dargestellt. Und gerade an dieser Darstellung wird deutlich, warum Steiner ihnen keinen Platz innerhalb seines Buches "Die Mystik..." einräumt. Gleichzeitig kann daran deutlich werden, daß "Mystik" nicht auf eine, sondern auf vielfältige Art erlebt wird.

  Deshalb führt Steiner in dem Vortrag "Was ist Mystik" (GA58) aus: "...es kann sozusagen die mystische Erkenntnis nicht allgemeine Welterkenntnis werden. Umso stärker kann aber gerade das Interesse an der Individualität, an der Persönlichkeit des Mystikers werden, und wir können unendlich reizvoll finden, die mystische Persönlichkeit zu betrachten, insofern sich in ihr das allgemeine Weltbild spiegelt." Dieses Interesse bestimmt die Darstellung des Buches "Die Mystik" (GA7).

  Die dort behandelten Mystiker lebten im Zeitraum von 1250 - dem Geburtsjahr des Meister Eckhart - bis 1677 - dem Todesjahr des Angelus Silesius. Das ist eine Zeitspanne von rund vierhundert Jahren, deren approximative Mitte mit dem Übergang vom vierten zum fünften nachatlantischen Zeitraum zusammenfällt.

  (Es wird hierbei die von Steiner gebräuchliche Zeiteinteilung zugrunde gelegt. Er rechnet mit sieben Kulturperioden für unsere, von ihm "nachatlantischer Zeitraum" genannte, Erdepoche. Jede dieser Kulturperioden umspannt einen Zeitraum von 2160 Jahren, entsprechend dem Durchgang der Sonne durch ein Tierkreiszeichen. Er unterscheidet die ur-indische Periode, die um 7200 vC ihren Anfang nimmt, danach die ur-persische, die um 5000 beginnt, ferner die ägyptrisch-chaldäische, einsetzend um 2900, darauf folgend die griechisch-lateinische von 747 vC bis 1413 nC, an die sich die unsrige anschließt, die bis 3570 dauert und auf die noch zwei weitere folgen werden.

  (Selbstverständlich haben alle diese Angaben als Annäherungswerte zu gelten, geben aber doch eine gute Vorstellung über den inneren Ablauf und die Struktur dieser 'nachatlantischern' Zeit. Auf dieser Basis ruht die obige Zeitanschauung.) 

  Auf die besondere Bedeutung des Jahre 1250 weist Steiner in der Schrift "Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit" (GA15) hin.

  Da heißt es (S57-59): "...in der Zeit, als die Menschheit eine Krisis durchmachte in bezug auf ihr höheres Erkennen. - Diese Zeit ist die des dreizehnten Jahrhunderts. Etwa um das Jahr 1250 herum haben wir das Zeitalter, in welchem die Menschen sich am meisten abgeschlossen fühlten von der geistigen Welt. Für den hellseherischen Rückblick auf dieses Zeitalter ergibt sich folgendes. Es konnten sich damals die hervorragendsten Geister, die nach einem gewissen höheren Erkennen strebten, sagen: Was unsere Vernunft, unser Intellekt, was unser geistiges Wissen finden kann, ist beschränkt auf die Welt, die uns als physische umgibt; wir können mit unserem menschlichen Forschen und Erkenntnisvermögen nicht eine geistige Welt erreichen; wir wissen von dieser nur dadurch, daß wir die Nachrichten über sie, welche uns die Menschen der Vorzeit hinterlassen haben, in uns aufnehmen. Es war damals eine Zeit der Verfinsterung des unmittelbaren geistigen Einblickes in die höheren Welten. Daß dies gesagt wurde in der Zeit, als die Scholastik blühte, hat seinen guten Grund.

  Ungefähr das Jahr 1250 ist die Zeit, in welcher die Menschen dazu kommen mussten, die Grenze zu ziehen zwischen dem, was man glauben muß nach dem Eindrucke, den die überkommenen Überlieferungen machten, und dem, was man erkennen kann. Das Letztere blieb auf die physische Sinneswelt beschränkt. Und dann kam die Zeit, wo immer mehr und mehr die Möglichkeit sich ergab, wieder einen Einblick zu gewinnen in die geistige Welt. Aber dieses neue Hellsehen ist von anderer Art als das alte, das eben mit dem Jahre 1250 im wesentlichen erloschen war. Für die neue Form der Hellsichtigkeit mußte die abendländische Esoterik streng das Prinzip aufstellen, daß Einweihung die geistigen Ohren und geistigen Augen zu führen habe. Damit ist die besondere Aufgabe charakterisiert, welche sich eine in Europa in die Kultur eintretende esoterische Strömung stellte. Als das Jahr 1250 heranrückte, begann eine neue Art der Führung zu übersinnlichen Welten.

  Diese Führung wurde vorbereitet von den Geistern, welche damals hinter den äußerlichen geschichtlichen Ereignissen standen und schon Jahrhunderte früher die Vorbereitungen trafen für das, was für eine esoterische Schulung durch die 1250 gegebenen Bedingungen notwendig wurde. Wenn mit dem Worte "moderne Esoterik" kein Mißbrauch getrieben wird, so kann es für die geistige Arbeit dieser höher entwickelten Personen angewendet werden. Von ihnen weiß die äußere Geschichte nichts. Was sie taten, trat aber doch in aller Kultur zutage, die sich im Abendlande seit dem dreizehnten Jahrhundert entwickelt hat.

  Die Bedeutung des Jahres 1250 für die geistige Entwickelung der Menschheit tritt besonders dann zutage, wenn man das Ergebnis der hellseherischen Forschung berücksichtigt, das in folgender Tatsache gegeben ist. Selbst solche Individualitäten, die in den vorhergehenden Inkarnationen schon hohe geistige Entwickelungsstufen erreicht hatten und die um das Jahr 1250 herum wieder inkarniert wurden, mussten eine Zeitlang eine vollständige Trübung ihres unmittelbaren Einblickes in die geistige Welt erleben. Ganz erleuchtete Individuen waren wie abgeschnitten von der geistigen Welt und konnten von ihr nur aus der Erinnerung an frühere Verkörperungen etwas wissen. So sieht man, wie von jener Zeit an notwendig wurde, daß in der geistigen Lenkung der Menschheit ein neues Element auftrat. Das war das Element der wahren modernen Esoterik. Durch dasselbe ist erst im echten Sinne zu verstehen, wie in die Führung der ganzen Menschheit und auch des einzelnen Menschen eingreifen kann für alle Betätigungen dasjenige, was wir den "Christus-Impuls" nennen."

  Das macht den einschränkenden, aber auch wegweisenden Zusatz zum Titel "Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens", das 1250 einsetzt und 1413 sich zu entfalten beginnt, erst voll verständlich und vollgewichtig. Versuchen wir nunmehr einen Blick auf den Aufbau des Buches zu werfen, um dadurch eine Überschau über das Ganze dieser Darstellung zu gewinnen.

  Die "Einführung" erscheint mir, wenn diese persönliche Bemerkung erlaubt ist, so ziemlich als das Schwierigste, was Steiner um die Jahrtausendwende herum geschrieben hat. Da treten drei Begriffe respektive Ideen auf, die umso schwerer zu erfassen sind, also sie vom Leser verlangen, daß er ihnen nicht nur verstehend - was schwierig genug ist - sondern erlebend nahe kommt.

  Sie weisen auf dreierlei: Auf ein "neues Organ" im Sinne der oben zitierten Anmerkung (unter 1.) zu den "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung". Dieser neue "Sinn" wird gleichgesetzt mit "Selbst-Erkenntnis". Aus der Selbsterkenntnis erfolgt die Wiedergeburt der Dinge und des Menschen (wohlgemerkt: in dieser Reihenfolge). Das Ergebnis dieser inneren Vorgänge wird als "Erweckung" des Selbst bezeichnet. Damit wird hingewiesen auf das, was die Mystiker anstrebten und anstreben. Unter diesem Gesichtswinkel werden die einzelnen Persönlichkeiten in ihrer Eigenart gekennzeichnet.

 Eckhart erscheint "wie ein Mann, der in seligem Erleben der geistigen Wiedergeburt von der Beschaffenheit und dem Wesen der Erkenntnis wie von einem Bilde spricht, das ihm gelungen ist zu malen."

  Ihm gegenüber erscheint Johanns Tauler wie ein Wanderer, der die Schwierigkeiten des neuen Weges schildert. Als Führer auf diesem Wege zu neuem Leben bietet sich der (anonyme) Frankfurter an.

 Suso und Ruysbroeck werden in ihrer Geistesart durch die Bezeichnung "Genialität des Gemütes" charakterisiert. Diese Gruppe von Tauler bis Suso wird unter dem Namen "Gottesfreunde" zusammengefaßt.

 Nicolaus von Kues (Cusanus), 1401 bi 1464 (war er nicht Zeitgenosse der chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreuz?) steht durch sein Leben, sein Schicksal, sein Wirken und seine Geistesart unmittelbar "im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens". Er ist der "wissenschaftliche Denker". Und es wird sicher nicht von ungefähr sein, wenn auf seine Bedeutung und Stellung im "Vorwort zur Neu-Auflage" 1923 ganz besonders und eindrücklich hingewiesen wird.

  So kann es nicht wundernehmen, wenn er als der geschildert wird, der an der Schwelle des eben angebrochenen neuen Zeitalters stellvertretend für die ganze Menschheit an die große Wegscheide gestellt wird. Er wird an diese Wegscheide geführt, weil es ihm gelungen ist, im Erkennen bis zur Idee und im Erleben bis zur Realität der "docta ignorantia" vorzudringen. Hier erhebt sich die Frage: sollte die "docta ignorantia" etwa dem "Bewußtsein ohne Gegenstand" entsprechen, das in den Vorträgen über "Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (GA137) so eindringlich behandelt wird? In den Briefen über das "Michael-Mysterium" (GA26,S144) findet sich ein Hinweis, der die Antwort auf diese Frage andeutet. "Die 'gelehrte Unwissenheit', von der er (Cusanus) spricht, ist ein über dem auf die Sinneswelt gerichteten Wahrnehmen gelegenes Begreifen, das das Denken über die Intellektualität - das gewöhnliche Wissen - hinaus in eine Region führt, wo im Unwissen - dafür aber im erlebenden Schauen das Geistige erfaßt wird."

  Jeder, den sein Weg soweit führt, kommt an eine Stelle, an der sich der Weg in dreifacher Weise gabelt. So auch die Menschheit. Man stelle sich nur lebhaft vor: die Menschheit des fünften nachatlantischen Zeitalters steht an dieser Wegscheide. Drei mögliche Wege, durch entsprechende Wegweiser bezeichnet, bieten sich ihr an. Welchen soll sie einschlagen?

  Der eine weist zurück in die Vergangenheit des positiven Glaubens und der Überlieferung. Der zweite endet im Abgrund der Verzweiflung.

  Vom dritten sagt Steiner: "Er ist die Entwicklung der tiefsten, eigenen Kräfte des Menschen. Vertrauen in die Welt muß der eine Führer auf diesem dritten Wege sein. Mut, diesem Vertrauen zu folgen, gleichviel, wohin es ihn führt, muß der andere sein."

  Ist es nicht ein grandioses Bild, das Steiner entwirft, indem er die Menschheit vor diesen drei Wegen schildert und das Bewußtsein der Folgen der Wahl im Leser wach zu rufen sucht? - Und ein Einzelner - Cusanus - nimmt das Erlebnis voraus.

  Cusanus aber schlug, wohl ohne sich darüber Rechenschaft zu geben - der Kardinal in ihm wies ihm die Richtung - den ersten Weg ein. Er ist ein heute viel beschrittener.

  Ein großer Teil der Menschheit läßt sich aber auch auf den zweiten teils drängen, teils verlocken.

  Den dritten Weg hat erst in unseren Tagen Rudolf Steiner angetreten und konsequent verfolgt. Er dringrt zur "docta ignorantia" vor. Er durchschreitet dieses quasi Niemandsland. Vertrauen und Mut sind seine Führer. Und so kommt er zur "Selbst-Anschauung" des Menschen, wie sie in der "Theosophie" (GA9) und in der "Geheimwissenschaft" (GA13) ihren Niederschlag findet. Die eine schildert das "Wesen des Menschen" als einzelnen, gewissermaßen im räumlichen Erleben. Die andere spricht vom "Wesen der Menschheit", wie es sich im Ablauf der Zeiten, im Zusammenhang mit der kosmischen Entwicklung entfaltet.

  Damit hat der dritte Weg zu einem der wichtigsten Ziele der fünften nachatlantischen Epoche geführt, zu dem Cusanus noch nicht gelangen konnte. -

 Agrippa von Nettesheim ist wohl nur als Auftakt und Vorspiel zu Paracelsus zu nehmen. Gemeinsam ist beiden die, wenn auch ganz anfängliche Bemühung, im "Buche der Natur" zu lesen, nicht mehr in dem Buche der Offenbarung. Dadurch werden sie nicht mehr zu "Gottesfreunden", wohl aber zu "Freunden der Natur".

 Jakob Böhme wird als "Organ des Allgeistes" bezeichnet. An Giordano Bruno wird der Mut gerühmt, mit dem er es wagte, den naturwissenschaftlichen Blick über die Erde hinaus in das All zu lenken.

  Von Angelus Silesius heißt es, er sei "Weisheit in persönlicher Gestalt".

  Der "Ausklang" des Buches ist ein einziger Hymnus auf die Naturwissenschaft. Von ihr wird zum Beispiel gesagt: Sie "hat der Natur nichts gegeben, was ihr nicht gehört; sie hat ihr nur das genommen, was ihr nicht gehört. Sie hat alles aus ihr verbannt, was nicht in ihr zu suchen ist, sondern was sich nur im Innern des Menschen findet." (Vom Zitierenden hervorgehoben). "Man braucht nicht den Geist zu verlieren, wenn man in der Natur nur Natürliches findet."

  Mißverstehen wird diese Äußerung oder viele andere ähnlicher Art sicher nicht der, der die beiden großen Aufgaben des fünften nachatlantischen Zeitalters im Bewußtsein trägt: Das Herausarbeiten der reinen Sinnesanschauung, mit der Goethe den Anfang gemacht hat - und das Erwerben der Fähigkeit der freien Imagination, wozu sich bei Goethe die Ansätze auch finden.

  "Das erste, was entwickelt werden muß, wenn der Mensch richtig auf der Erde bleiben soll, das ist ein wirklich reines Anschauen der Sinneswelt. Ein solches reines Anschauen der Sinneswelt war in den früheren Zeiträumen nicht da, weil immer in das menschliche Seelenleben das Visionäre, das Imaginative hineinspielte, bei den Griechen noch die Phantasie. Aber nachdem die Phantasie die Menschheit soweit ergriffen hatte, wie sie im griechischen Leben eben sie ergriffen hat, da wurde notwendig, daß die Menschen die Fähigkeit entwickelten, unbehelligt duch eine dahinterstehende Vision die äußere Naturwirklichkeit anzuschauen. Wir brauchen uns dabei nicht vorzustellen, daß das materialistische Weltbild damit gemeint ist;...

  Die andere Aufgabe der Menschenseele ist diese: neben der reinen Anschauung der Wirklichkeit zu entwickeln freie Imgainationen, in einer Beziehung eine Art Wiederholung der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Darinnen ist der fünfte nachatlantische Zeitraum noch nicht sehr weit. Freie Imaginationen müssen entwickelt werden, wie sie gesucht werden durch die Geisteswissenschaft, also nicht gebundene Imaginationen, wie sie der dritte nachatlantische Zeitraum hatte, nicht zur Phantasie destillierte Imaginationen, sondern freie Imaginationen, in denen man sich so frei bewegt, wie sich der Mensch sonst nur in seinem Verstande frei bewegt" (GA171,17.9.1916,S34/35).

  Als "Wahrnehmung" und "Begriff" findet sich die Lösung dieser Aufgabe bereits in der "Philosophie der Freiheit" (GA4) vorgebildet.

 

5. Ein ungewohnter Aspekt der Erkenntnistheorie  

des 19. Jahrhunderts

  Die Steinersche Darstellung jener besonderen "Mystik" in dem gleichnamigen Buche gipfelt darin, daß von dieser Mystik festzuhalten sei die Art der Seelenhaltung, die es durchaus gestatte, mit ihr auch an die Natur heranzutreten. Lesen im "Buche der Natur" mit derselben Seelenintensität, mit der der Mystiker im "Buch der Offenbarung" gelesen hat, ist eines der dringenden Erfordernisse unseres Zeitalters.

  Welche Gefahren hinter der Sinnenwelt lauern, haben die Ausführungen des dritten Abschnittes zeigen wollen: die zerstörenden Kräfte der Welt bemächtigen sich der Seele und erregen in ihr die Lust am Zerstören.

  Daneben droht noch eine andere Gefahr, auf die Steiner in den Vorträgen über "Initiations-Erkenntnis" (GA227,S253) hinweist. Er bedient sich da eines Begriffs, der auch in der Reihe "Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert" vorkommt: okkulte Gefangenschaft. Von diesem Faktum spricht auch Harrison im Zusammenhang mit den Schicksalen der Frau Blavatsky;

  "Was ist okkulte Gefangenschaft? und warum wurde sie über Frau Blavatsky verhängt? Es gibt eine gewisse Verrichtung zeremonieller Magie, durch die eine Mauer psychischer Einflüsse um ein gefährlich gewordenes Individuum herum aufgeführt werden kann, was die Wirkung hat, die höheren Fähigkeiten zu lähmen und das herbeizuführen, was die "Zurückwerfung des Strebens" genannt wird. Die Folge ist ein durch phantastische Gesichte bezeichneter geistiger Schlaf" (C.W.Harrison: Das transzendente Weltenall, Theosophisches Verlagshaus Leipzig 1916)). Dementsprechend heißt es in "Initiations-Erkenntnis" (GA227,S253): "Gibt man auf irgendeinem Gebiete dem Menschen nur Bilder, so ist er von Bildern umgeben. Leute, die okkulten Unfug treiben, machen das so mit ihren Schülern, die sie nicht recht besitzen; dadurch bringen sie sie in das, was man okkulte Gefangenschaft nennt. Der Mensch wird... von Bildern umgeben, die ihm als Bilder nicht klar werden, aus denen er nicht herauskommt. Er ist in einem Bildergefängnis... Aber es gibt auch geistige Wesenheiten, die den Menschen, oder sogar Teile der Menschen, in eine solche okkulte Gefangenschaft bringen... Das sind geistige Wesenheiten, die dann los werden in der Natur, wenn man die Natur nicht geistig begreift, wenn man in die Natur nur so hineinsieht, daß man die atomistischen Prozesse als naturalistische begreift. Dann verleugnet man den Geist der Natur. Dann werden gerade die dem Menschen entgegenstrebenden, sogenannten ahrimanischen Geister in der Natur rege, und die umstellen den Menschen mit allen möglichen Bildern, so daß der Mensch in diese okkulte Gefangenschaft auch geführt werden kann durch diese ahrimanischen Geistwesen.

  Und ein großer Teil desjenigen, was man heute - nicht die Tatsachen der Wissenschaft, die sind gut,... die wissenschaftliche Anschauung nennt, das ist nichts anderes als Bilder einer universellen, über die Menschheit als Gefahr hereinbrechenden okkulten Gefangenschaft. Solch eine Gefahr... ist vorhanden in dem Umstelltwerden des Menschen überall mit den atomistischen und molekularistischen Bildern..."

  Wie kommt diese wissenschaftliche, heute in Ionen- und Elektronentheorien ausgebaute Anschauung zustande? Doch wohl nur dadurch, daß man sich darüber klar wurde, man habe es in der Sinneserscheinung eben nur mit Erscheinungen, nicht mit Realitäten zu tun. Diese vom Kantianismus in seinen allerverschiedensten Formen angeregte Betrachtungsweise trieb dazu, einmal das "Wesen" der Dinge, die Realität, das Ding an sich oder mit welchem Namen immer man das Unbekannte, nicht zu Erkennende, dieses "X" der Wirklichkeit belegen mochte, zu suchen. Man meinte es hinter der Erscheinung suchen zu müssen. Man wollte den Schein wie mit einem Röntgenblick durchdringen, um die dahinter verborgene Realität zu finden. Bei diesem Suchen stieß man auf Moleküle, Atome und so fort.

  Soferne diese Auffassung der Sachlage zu Recht besteht, wird man damit auf die Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts verwiesen. Sie erlebt den Menschen in völliger Selbst-Isolierung, getrennt vom Weltwesen, aber auch vom eigenen Wesen. Sie spricht damit das Ergebnis dessen aus, was als die notwendige Abtrennung des Menschen vom Geiste der Welt, damit er sich selber finde, schon begründet wurde (Kap.3). Dies Erlebnis ist Erfahrung der Erkenntnistheoretiker, von welchem sie ihren Ausgang nehmen. Sie können nicht vordringen zu dem "Ding an sich", das durch die Sinneswelt verborgen ist. Ebensowenig können sie vorstossen zu dem "Ich-an-sich", das der Seelenschleier verhüllt.

  In diesem Erleben fühlt sich der Mensch in sein Selbst eingeschlossen wie in ein Gefängnis. Von Volkelt heißt es in den "Grundlinien" (GA2): Er schließt sich dadurch in seine Individualität ein und ist nicht mehr imstande, aus derselben herauszukommen. Ja, er gibt das rücksichtslos zu. Es bleibt für ihn alles zweifelhaft, was über die abgerissenen Bilder Wahrnehmungen hinaus liegt." In der "Philosophie der Freiheit" (GA4) wird dasselbe Motiv, nur nicht auf eine einzelne Persönlichkeit, sondern auf eine ganze philosophische Strömung bezogen, angeschlagen: "Der kritische Idealist kann aber so weit gehen, daß er sagt: ich bin in meine Vorstellungswelt eingeschlossen und kann nicht aus ihr heraus."

  Ist damit nicht die Empfindung einer Gefangenschaft ausgesprochen? und der Versuch, doch zum Ding an sich vorzustossen - nicht zum Wesen, zur Freiheit - bringt das oben zitierte Ergebnis für die Menschheit. Sie wird von Bildern umstellt, deren Bildcharakter sie nicht durchschaut, die sie vielmehr für die Wirklichkeit hält.

  So treten für die Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts ähnliche Probleme auf wie für die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert. Diese will die Gefahr des Ahrimanismus, der als Zerstörungswut im Menschen wirkt, meiden, die andere gerät durch Ahrimanismus in die Gefahr der okkulten Gefangenschaft. Man darf das Philosophische und das Okkulte doch wohl in dieser Weise parallelisieren? Damit aber wäre für die Betrachtung und Bewertung der Steinerschen Erkenntnistheorie ein völlig neuer Gesichtspunkt gewonnen. Um ihn voll zu würdigen, muß noch einmal wie schon oft und doch nie oft genug die Frage gestellt werden: wie geht Steiner bei seiner Erforschung der menschlichen Erkenntnis vor?

  Er sucht nach demjenigen Element, das sowohl innermenschlich Geltung und Bedeutung hat wie auch zur Welt gehörig ist. Das heißt er sucht ein Etwas, das sowohl die subjektive wie auch die objektive Wirklichkeit zu umspannen vermag.

  Seine sorgsamen und umfangreichen Untersuchungen führen ihn auf das Denken. Und die seelische Beobachtung des Denkens, durchgeführt nach naturwissenschaftlicher Methode, zeitigt als Ergebnis: das erlebte Denken ist die einzige Erfahrung, die der Mensch naiv-realistisch nehmen darf. Ferner: das Denken ist eine in sich selbst gegründete, sich selbst tragende Wesenheit. Als solche tritt sie im Menschen in Erscheinung, webt aber auch in der Welt. Dies in die Welt ergossene Denken ergreift der Mensch mit seinem Denken in der Form von Begriffen und Ideen. Das heißt: das Denken umspannt oder durchdringt mit seiner Wesenheit Mensch und Welt. Es bezeichnet den Menschen als Subjekt und läßt ihn sich selber als Gegensatz zur Welt erleben. Die Welt bezeichnet das Denken, so wie es im Menschen erscheint, als Objekt. Es ist also zu seinem eigenen Wesen nach weder objektiv noch subjektiv. Es trägt beides in sich.

  Gelingt es dem Menschen, sich in diese Denkwelt hineinzuarbeiten, so befreit er sich damit aus dem Gefängnis seines Selbst, aus seiner Selbstbefangenheit und findet den Weg zum Wesen der Dinge.

  "Innerhalb des Eigenwesens des Denkens liegt wohl das wirkliche "Ich", nicht aber das Ich-Bewußtsein." heißt es im 9. Kapitel der "Philosophie der Freiheit" (GA4). Somit bedeutet der Aufstieg des Menschen in die Sphäre des Denkens das Umgekehrte: den Weg vom Ich-Bewußtsein zum wirklichen Ich. Gelingt dies, so ist damit ein erster Schritt auf dem Wege der Selbst-Erkenntnis getan.

  Im Denken findet man aber auch das Wesen der Dinge - nicht das gespenstische Ding an sich. Dieses Auffinden des Wesens der Dinge entspricht aber dem, was Steiner in der "Einführung" zu "Die Mystik..." (GA7) die "Wiedergeburt der Dinge" nennt.

  Man ersieht daraus, daß das mystische Organ aus dem Wesen des Denkens heraus dem Menschen eingebildet werden kann, respektive der Mensch es sich aus diesem Elemente selber einbilden kann. Zugleich ist damit die Gefahr der okkulten Gefangenschaft gebannt und zum dritten ein Weg vorgezeichnet, der sowohl in die Objektivität der Welt wie in die Subjektivität des menschlichen Inneren zu führen vermag.

  Dieser Aspekt der Steinerschen Erkenntnistheorie zeigt auch ihre unabsehbare Tragweite und sollte doch wohl ins Bewußtsein gehoben werden.

  Ein Mystiker im Sinne der Gefühlsphilosophie kann gar nicht um den Eindruck herum kommen, man habe es bei Steiner mit der Gefahr eines völligen Absterbens des Gefühlslebens zu tun. Aber am Ende des 6. Kapitels heißt es in der "Philosophie der Freiheit" (GA4) ausdrücklich. "Ein völlig gedankenleeres Gefühlsleben müßte allmählich allen Zusammenhang mit der Welt verlieren. Die Erkenntnis der Dinge wird bei dem auf Totalität angelegten Menschen Hand in Hand gehen mit der Ausbildung und Entwicklelung des Gefühlslebens. Das Gefühl ist das Mittel, wodurch die Begriffe zunächst konkretes Leben gewinnen."

  Und am Ende des 8. Kapitels "Faktoren des Lebens" macht Steiner darauf aufmerksam, daß das Untertauchen in die Wirklichkeit geschieht "mit einer in der Denkbetätigung selbst dahinfliessenden Kraft, welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist."

  Mag das Ideenleben die Gefahr der Erkältung in sich bergen, so soll die Wärme der Innerlichkeit es befeuern. Und umgekehrt soll die Kälte des Gedankens dazu dienen, die Hitze der Innerlichkeit zu kühlen.

  Davon spricht der folgende Abschnitt.

 

6. Rudolf Steiners persönliche Stellung zur Mystik

  Im XI. Kapitel seines "Lebensganges"  (GA28,S169f.,dann S172) schildert Steiner seine persönliche Begegnung und Auseinandersetzung mit der Mystik. Er sieht sich in die Notwendigkeit versetzt, "zu gewissen Orientierungen der Menschenseele ein deutlich-sprechendes Verhältnis zu gewinnen. Eine dieser Orientierungen war die Mystik. So wie diese in den verschiedenen Epochen der geistigen Entwicklung der Menschheit, in der orientalischen Weisheit, im Neuplatonismus, im christlichen Mittelalter, in den kabbalistischen Bestrebungen, mir vor das Seelenauge trat, konnte ich, durch meine besondere Veranlagung, nur schwer ein Verhältnis zu ihr gewinnen.

  Der Mystiker schien mir ein Mensch zu sein, der mit der Welt der Ideen, in der sich für mich das Geistige darlebte, nicht zurecht kommt. Ich empfand es als einen Mangel an wirklicher Geistigkeit, wenn man mit den Ideen, um zur seelischen Befriedigung zu gelangen, in das ideenlose Innere untertauchen will. Ich konnte darin keinen Weg zum Licht, sondern eher einen solchen zur geistigen Finsternis sehen. Wie eine Ohnmacht im Erkennen erschien es mir, wenn die Seele die geistige Wirklichkeit, die in den Ideen zwar nicht selbst webt, durch die Flucht vor den Ideen erreichen will.

  Und dennoch zog mich auch etwas zu den mystischen Bestrebungen der Menschheit hin. Es ist die Art des inneren Erlebens der Mystiker. Sie wollen mit den Quellen des menschlichen Daseins im Inneren zusammenleben, nicht bloß auf diese durch die ideengemässe Beobachtung als etwas Äußerliches schauen. Aber mir war auch klar, daß man zu der gleichen Art des inneren Erlebens kommt, wenn man mit dem vollen, klaren Inhalt der Ideenwelt in die Untergründe der Seele sich versenkt, statt diesen Inhalt bei der Versenkung abzustreifen. Ich wollte das Licht der Ideenwelt in die Wärme des inneren Erlebens einführen. Der Mystiker kam mir vor wie ein Mensch, der den Geist in den Ideen nicht schauen kann, und der deshalb an den Ideen innerlich erfriert. Die Kälte, die er an den Ideen erlebt, zwingt ihn, die Wärme, deren die Seele bedarf, in der Befreiung von den Ideen zu suchen.

  Mir ging die innere Wärme des seelischen Erlebens gerade dann auf, wenn ich das zunächst unbestimmte Erleben der geistigen Welt in bestimmte Ideen prägte. Ich sagte mir oft: wie verkennen doch diese Mystiker die Wärme, die Seelen-Intimität, die man empfindet, wenn man mit geistdurchtränkten Ideen zusammenlebt. Mir war dieses Zusammenleben stets wie ein persönlicher Umgang mit der geistigen Welt gewesen."

  An diese Worte schließt sich eine kurze Betrachtung über Erkenntnsigrenzen an, die der Mystiker dem Geistigen gegenüber nicht anders setzt als der Materialist gegenüber der Welt.

  Man werfe von dieser Darstellung einen Blick zurück auf das, was in Abschnitt drei (s.o.) gesagt wurde. Hier die objektive Wirklichkeit, hinter der die zerstörenden, erkältenden Kräfte wirken - dort die subjektive Wirklichkeit, der die Gefahr der Überhitzung droht. Jetzt wird die Wärme durch die Idee gekühlt, die Idee durch die Seele erwärmt. Und es entsteht jene gemäßigte Zone, in der der Mensch sich zu entfalten und sein Leben zu führen vermag.

 

7. Anthroposophie und Mystik

  Welche Bedeutung dieses Zusammenleben mit den Ideen für Steiner hatte, davon spricht er in dem Vorwort zu "Die Mystik..." (GA7). Sieben Jahre waren seit Erscheinen der "Philosophie der Freiheit" vergangen, als Graf und Gräfin Brockdorff an Steiner herantraten und ihn baten, in der von ihnen geleiteten "Theosophischen Bibliothek" in Berlin Vorträge über Mystik zu halten.

  "Vor zehn Jahren - schreibt Steiner - hätte ich es noch nicht wagen dürfen, einen solchen Wunsch zu erfüllen. Nicht als ob damals die Ideenwelt, die ich heute zum Ausdruck bringe, noch nicht in mir gelebt hätte. Diese Ideenwelt ist schon ganz in meiner "Philosophie der Freiheit" enthalten. Um aber diese Ideenwelt so auszusprechen, wie ich es heute tue, und sie so zur Grundlage einer Betrachtung zu machen, wie es in dieser Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest überzeugt zu sein. Dazu gehört ein intimer Umgang mit dieser Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens bringen können. Erst jetzt, nachdem ich diesen Umgang genossen habe, wage ich, so zu sprechen, wie man es in dieser Schrift wahrnehmen wird."

  Die Ideen haben eine Umwandlung, eine Vertiefung und größere Lebenskraft gewonnen. Und was dadurch in die Darstellung der "Die Mystik..." einfließt, macht es wohl so schwer, deren "Einführung" in rechter Weise und lebensvoll zu erfassen. In ihr spricht Steiner wie ein Mystiker, das heißt er sieht sich in der Lage, die von ihm geschöpften Ideen mit denen bestimmter Mystiker in Einklang zu bringen. Damit kommt man zu einem Punkte, an dem Anthroposophie und Mystik sich berühren. Steiner markiert ihn im "Lebensgang" (GA28,S169f, dann S172)) mit den Worten: "Den bloßen Gefühlsweg zum Geistigen lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab.

  Und dennoch - wenn ich darauf blickte, wie der Mystiker erlebt, so empfand ich wieder ein entfernt Verwandtes mit meiner eigenen Stellung zur geistigen Welt. Ich suchte das Zusammensein mit dem Geiste durch die vom Geiste durchleuchteten Ideen auf dieselbe Art wie der Mystiker durch ein Zusammensein mit einem Ideenlosen. Ich konnte auch sagen: meine Anschauung beruhe auf'mystischem' Ideen-Erleben."

  Dieses mystische Ideen-Erleben läßt sich aus dem gewöhnlichen Tagesbewußtsein heraus entwickeln. Es setzt noch keine okkulte Entwicklung, noch kein unmittelbares Bewußtsein für das Übersinnliche, wohl aber Verständnis dafür voraus.

  Will man die Berührung von Anthroposophie und Mystik klar erfassen, muß man wohl das "Was", mehr noch das "Wie" bedenken. Das "Wie" ist in den zitierten Sätzen Steiners scharf umrissen: man muß Ideen nicht nur denken, sondern mit ihnen leben, sodaß sie Gehalt und Inhalt des "Ich" werden. Man kann auch sagen: das "Ich" wird mit den Ideen eins. Es lebt in ihnen, sie leben in ihm.

  Auf gleiche Art und Weise lebt der Mystiker mit seinen Gefühlen, pflegt Umgang mit ihnen.

  Aber - welch Unterschied!

  Während der Mystiker sich in seine Innerlichkeit vertieft und damit in Gefahr gerät, die Welt zu verlieren, weist Steiner nun nicht etwa einen Weg, der ins Äußere, die objektive Wirklichkeit im Sinne des Okkultismus, führt. Er leitet vielmehr dazu an, eine Wesenhaftigkeit zu entdecken, an der sowohl die Welt wie auch der Mensch teil hat, und dern Eigenart es ist, daß sie "jenseits von objektiv und subjektiv" lebt.

  Ist sie einmal gefunden - und jeder muß sie selbst finden und erleben, nicht nur denken - dann entsteht im Menschen jener eigentümiche Rhythmus zwischen ihm und der Welt, dem Steiner in so manchem Spruch Ausdruck verliehen hat. Hier sei einer statt vieler wiedergegeben:

"Erkennt der Mensch sich selbst:

Wird ihm das Selbst zur Welt;

Erkennt der Mensch die Welt:

Wird ihm die Welt zum Selbst."

(GA40)

  Beide aber, Selbst- wie Welt-Erkenntnis, wurzeln im lebendigen Wesen des Denkens, das Mensch und Welt umspannt und durchdringt.

  Nun ist es wichtig, sich über folgendes Rechenschaft zu geben: Alles, worauf mit solchen Worten hingedeutet wird, liegt noch diesseits der Schwelle, ist innerhalb der physischen Welt zu erfahren, wenn auch das echte Erleben bereits an die Grenze des Ätherischen reicht.

  Es gibt aber auch jenseits der Schwelle auf dem Pfade der übersinnlichen Erkenntnis ein Erleben, in dem Anthroposophie und Mystik sich berühren. Allerdings, um sich desto deutlicher voneinander zu unterscheiden. Dies Moment läßt Steiner in dem Vortrag "Was ist Mystik?" (GA58) klar hervortreten.

  Von der Polarität, die der "Weg nach innen" (Mystik) und der "Weg nach außen" darstellen, war mehrfach die Rede. Hier eine weitere Charakteristik dieser Polarität: "So führt Mystik (wie es vorher geschildert wurde) zur Einheit... So führt der Weg durch die Außenwelt notwendigerweise zur Vielheit" ..."Einheit und Vielheit" sind Begriffe, "die gar nicht angewendet werden dürfen da, wo man eigentlich den göttlich-geistigen Weltengrund vermutet", denn er ist erhaben "über das, was Einheit und Vielheit zunächst sind; Vielheit und Einheit sind Begriffe, die gar nicht dahin reichen, wo das Göttlich-Geistige zu fassen ist."

  Und es heißt dann: "Wir nehmen den Weg nach außen und nach innen."

  Das Wesen der Anthroposophie umfaßt die beiden Wege, nicht den einen oder den anderen in einseitiger Weise.

  Dieser dritte Weg, den Anthroposophie führt, geht aus von der Tatsache, daß es im Menschen verborgene, schlummernde Erkenntniskräfte gibt. Werden sie in rechter Schulung erweckt, so führen sie zu den drei Stufen übersinnlichen Erkennens: Imagination - Inspiration - Intuition.

  Die Unterscheidung von "Diesseits" und "Jenseits" der Schwelle, wie sie hier gemacht wird, darf nicht im üblichen populären Sinn der Metaphysik aufgefaßt werden. Anthroposophie kennt kein "Jenseits" im metaphysischen Sinn. Wohl gibt es ein Diesseits der Schwelle in dem Sinn, daß es Grenzen des wachen Tagesbewußtseins gibt, das nicht in die Welt des Über-Sinnlichen einzudringen vermag. Dagegen ist ein geschultes Bewußtsein sehr wohl imstande, die Schwelle zu überschreiten und vollbewußt in übersinnliche Bereiche einzudringen. Auf diesem Schulungswege gelangt man zur Imagination.

  Für diese Stufe wird alsdann der Aufbau der Rosenkreuz-Meditation in allen Einzelheiten, eingehender noch als in der Geheimwissenschaft (GA13), geschildert. Die Darstellung führt zu dem Ergebnis: "In dem Sinnbild (Rosenkreuz) ist zusammengeflossen mystisches Innenleben und Aussenleben." Das wird im einzelnen ausgeführt. Damit ist aber der Wesensunterschied zwischen Mystik und Anthroposophie in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit gegeben. Und wir schließen die Betrachtung mit den klärenden Worten aus dem angezogenen Vortrag: "Alle Mystik sollte daher auf der richtigen Entwicklungsstufe des Menschen unternommen werden." Sie ist ein "Unternehmen der menschlichen Seele", "das innerhalb der Entwickelung der menschlichen Seele oftmals zu früh vollführt wird. Dann braucht nicht viel gesagt zu werden über Gefahren, die eine verfrühte mystische Vertiefung im Menschen hervorrufen kann." (Vgl. auch den Aufsatz Rudolf Steiners "Anthroposophie und Mystik" GA36 und in "Reinkarnation und Karma" TB4,Freies Geistesleben)

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Der Verfasser dieser Webseite möchte auf die Kapitel 3a-d hinweisen, weil besonders das schwierig zu fassende Thema der "Okkulten Gefangenschaft" im Zusammenhang mit den Ausführungen von Otto Palmer erhellen kann, das dort nur gestreift und nicht als solches benannt wurde:

3a - Das individuelle Prinzip im Sozialen und Anthroposophie

3a-b Das individuelle Prinzip  

3b - Die Umkehrung der Verhältnisse - Individuum und Kollektiv 

3c - Vorgeschichte, Polarisierung, Soziologisches Grundgesetz + Anthroposophie

3d - Soziale Spiegelungen in der geschichtlichen Moderne

3cd Vorgeschichte  

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