Erläuterungen zum Hymnus und zur Übersetzung
Die Zahlen beziehen sich auf die Strophen des Hymnus,
Der Hymnus an die Erde
(Atharvaveda XII,1)
I*
1 Die große Weltenwahrheit, die erhabene Ordnung des Naturgeschehens und des religiösen Lebens,
die priesterliche Weihe und die ernste Innenarbeit des geistig sich Vertiefenden,
das heilige Gebet und Wort, das Opfer, sie erhalten die Erde aufrecht in ihrem Gang.
Sie, die uns Walterin ist von allem, was da ward und was noch wird,
sie schaffe unserem Dasein weiten Raum,
S38 1. Die das Leben der Erde tragenden geistigen Mächte bezeichnet das Indische mit kurzen Worten, für die, da der modernen Sprache vielfach die entsprechenden Begriffe fehlen, die Übersetzung zum Teil längere Umschreibungen suchen mußte.
satyam brhat "die große Wahrheit", die Weltenwahrheit, als eine geistig wirkende Macht und Wesenheit geschaut, ließ sich noch kurz und einfach wiedergeben. Dann folgt rtam ugram, das "erhabene Rta". Für dieses Wort gibt es im Deutschen oder in irgendeiner andern Sprache keine genaue Entsprechung. Das Wort ist abgeleitet von der Wurzel r (vokalisches r, vibrierend zu sprechen) "gehen, sich bewegen", die insbesondere die rhythmische Bewegung ausdrückt und mit dem griechischen rheo, rhein "fließen" (verwandt damit der Flußname "Rhein") zusammenhängt, wovon wiederum rhythmos "Rhythmus" sich ableitet. Man kann also das indische Rta verstehen als die große Weltenordnung, die kosmische Ordnung und Ordnung des Naturgeschehens, wie sie sich im gesetzesmäßigen Lauf der Sterne, im rhythmischen Wechsel der Jahreszeiten offenbart, jene kosmische Ordnung, von der dann wiederum die Ordnung des religiösen Kultus das Spiegelbild und Abbild ist. Rta S39 bedeutet darum auch die kultisch-sakramentale Ordnung, das Opferritual. Naturgesetz und religiöse Ordnung fallen für den Inder noch zusammen. Daran schließt sich sinngemäß als dritte ordnende Macht diksâ die priesterliche Weihe, die Initiation, deren Ritual in den Brahmanentexten genau beschrieben wird. Durch die Weihe betritt der Brahmane die geistige Welt, wird er aus der menschlichen in eine göttliche Sphäre versetzt.
Dann folgt an vierter Stelle wiederum ein dem indischen Geistesleben in besonderer Weise eignender Begriff: tapas, für den es in der modernen Sprache nichts Entsprechendes gibt. Die in Indien seit alten Zeiten geübte, oft bis zur Selbstqual gesteigerte Askese heißt im Sanskrit tapas. Sie geht dann immer mehr über in die geistige Übung der Konzentration, Meditation, Kontemplation (wofür es im Indischen noch andere Worte, wie dhyâna, samâdhi usw. gibt). Die Wurzel des Wortes ist tap "erwärmen, erhitzen". Wir finden sie auch im lateinischen tepidus "warm", oder im Namen des Badeortes Teplitz ("warme Quellen"). Der Inder kennt das geistige Üben als eine Zusammenziehung von Wärmekräften. Im Weltschöpfungsliede des Rigveda (X, 129) erscheint tapas als das die Weltenwärme entzündende, schöpferische Sinnen des Urgeistes, "der geistigen Vertiefung Macht, die brütend Weltenwärme weckte". Der Schöpfungsbericht des Manu gebraucht im gleichen Sinn das Wort dhyâna "Meditation". Für den Inder ist tapas also eine weltschöpferische und darum eine auch weiter das Leben der Erde geistig tragende Macht, nicht eine solche, die nur den Zwecken des Übenden dient. Der Inder weiß, S40 daß alle wahrhafte geistige Anspannung ("Anspannung" ist zugleich die wörtliche Übersetzung des indischen Wortes Yoga) nicht nur für den einzelnen, sondern auch für Erde und Menschheit etwas bedeutet.
Was dann weiterhin in der Übersetzung mit "das heilige Gebet und Wort" wiedergegeben wurde, heißt im Sanskrit brahma (Stammform brahman, das h etwas hörbar zu sprechen), der zentralste Begriff des indischen Geisteslebens, für den es in der modernen Sprache wiederum keine genaue oder auch nur annähernde Entsprechung gibt. brahman, von der Wurzel brh, die auch als dem deutschen "Berg, bergen (verbergen)" zugrunde liegend angenommen wird, bedeutet auf der einen Seit das Große und Weite, auf der andern Seite das Verborgene, das Weltgeheimnis. Es ist für den Inder zunächst die mit dem heiligen Worte verbundene, im Gebet, in der Andacht, in der Meditation entwickelte Kraft, die als eine mystische, verborgene, geheime ("okkulte") Kraft empfunden wird. Von dieser mehr subjektiven Bedeutung gelangt das Wort dann zu der objektiven Bedeutung des in der Welt verborgenen Göttlichen, der das Weltall geheimnisvoll durchwebenden und durchwirkenden Macht: das ewige Brahman, das göttliche Weltenwort. Der Priester, der Brahmane ist für den Inder in besonderer Weise der Träger des brahman, der geheimnisvollen, göttlichen Kraft, in gewissem Sinne auch der "Diener des Wortes". Im Atharvaveda, in der ersten Strophe unseres Hymnus, finden wir das Wort zunächst in seiner subjektiven Bedeutung gebraucht (Kraft der Andacht, des Gebets, des heiligen Wortes), aber so, daß wir gerade aus dieser S41 Stelle heraus verstehen können, wie es, als eine das Leben der Erde "tragende und ordnende" Macht, dann zu seiner objektein Bedeutung gekommen ist.
Zu den das Erdenleben geistig tragenden Mächten gehört dann im Atharvaveda fünftens noch das Opfer (yajna). Daß alles Weltenwerden durch das schöpferische Opfer der Gottheit eingeleitet wird, finden wir in den heiligen Schriften der Inder - vor allem in den Brâhmanatexten - immer wieder ausgesprochen. Es bildet dieser Gedanke den Hintergrund des gesamten indischen Rituals, des gesamten indischen Kultus, des ganzen religiösen Lebens in Indien. Schon im Alltagsleben erkennen wir ja, wie dieses Leben dadurch in Gang erhalten wird, daß niedrigere Wesen höher entwickelten sich hingeben und hinopfern, sich ihnen als Nahrung darbieten. Wie Christian Morgensterns schönes Gedicht "Fußwaschung" diesen Gedanken ausspricht, ist vielen bekannt. Alles Entscheidende, aller Fortschritt im Weltgeschehen entsteht durch Opfer. Das rituelle Opfer ist von diesem Welten-Opfer-geschehen die kultische Widerspiegelung.
Daß die Erde die "Herrin alles Gewordenen und Werdenden" genannt wird, erinnert an das ägyptische Isis-Wort "Ich bin alles, was da war, was ist, was sein wird".
Das Gewähren weiten Raumes liegt schon in dem Worte prthivi "Erde", das mit dem deutschen "breit" (Sanskrit prthu) verwandt ist.
2 und daß wir unbeengt von Menschen sind inmitten der Menschen.
Sie, der die Höhe angehört und der jähe Absturz, die weite Steppe auch,
S22 die Erde, die der Kräuter mannigfache Kraft und Tugend trägt,
sie dehne sich uns weit und sei uns gütig.
S41 2. Statt badhyato der Ausgabe von Roth-Whitney ist madhyato (inmitten) zu lesen.
3 Auf der das Meer ist und der große Strom, auf der die Wasser sich ergießen,
auf der in Ackersaat für Menschensaat die Nahrung wächst,
die Erde, auf der alles, was da atmet und sich regt, sein Wesen hat,
sie lasse uns von ihrer unberührten Frische trinken.
S41 3. Über die Zusammenhänge des Wortes krsti, S42 das sich in dieser Strophe, außerdem noch in 4 und 42 findet und die Bedeutungen "Ackerfeld, Saatfeld" und "Menschenstamm, Menschensaat, Menschheit" hat, siehe das Nähere im Anhang.
"Die Erde lasse uns von ihrer unberührten Frische trinken" (no bhumih purvapeye dadhatu) wörtlich: "sie lasse uns zum ersten Trunk (aus ihrem Becher oder Kelche) zu".
4. Die in der Übersetzung weggelassene vierte Strophe mutet wie eine schwächere Wiederholung des Vorausgehenden an und scheint spätere Einschiebung eines geringeren Dichters. Ihre Übersetzung würde lauten: "Der die vier Himmelsrichtungen angehören, die Erde, wo auf den Ackerfeldern für Menschen die Nahrung wächst, die vielgestaltig trägt, was atmet und sich regt, sie verhelfe uns zu Kühen und allem anderen (Reichtum)."
.......
5 Auf der der Vorzeit frühe Völker sich verbreiteten, wo Götter gegen feindliche Dämonen kämpften,
und wo der Rinder, Rosse, Vögel mannigfache Art gedeiht,
die Erde, sie verleih' uns gnädig Glück und Glanz.
6 Die alles trägt und Schätze birgt, die uns der feste Grund, die sich're Stütze ist,
die Gold in ihren Brüsten hat und aller Weltenwesen Wohnung ist, die das geheime Feuer in sich birgt,
deren befruchtende Ätherkraft Gott Indra ist, die Erde setze uns in Wohlstand ein.
6. Des Goldes im Innern der Erde ("in den Brüsten der Erde") wird im Hymnus öfter gedacht. Wir erinnern uns, vollends im Hinblick auf dasjenige, was dann in Vers 8 vom "Herzen der Erde" gesagt wird, an das Nietzsche-Wort "Das Herz der Erde ist von Gold".
Das "geheime Feuer", indisch vaisvânara (Ton auf der drittletzten Silbe). Die Inder unterscheiden überall das äußere Feuer von dem inneren Feuer im Menschen, agnir vaisvânara (das "allmenschliche Feuer"), dem viele Hymnen des Rigveda gewidmet sind. Rudolf Steiner weist darauf hin, wie das Feuer diejenige Welterscheinung ist, die die Brücke von außen nach innen, von innen nach außen bildet. Darum ist Agni den Indern der Mittler zwischen Göttern und Menschen, die Verbindung zwischen S43 der sinnlichen und der übersinnlichen Welt - "deren befruchtende Ätherkraft Gott Indra ist", wörtlich "die den Indra zum Stier hat". Indra, der indische Nationalgott, spielt in dem Hymnus an die Erde eine bedeutende Rolle. Wie andere vedische Gottheiten andern Elementen, ist Indra dem Elemente Äther zugeordnet, als dem "fünften Element", das die Inder außer Feuer, Luft, Wasser, Erde noch kennen und dem Gehör, dem Tonsinn zuordnen (wie Feuer und Licht dem Sehsinn, Luft dem Tastsinn, Wasser dem Geschmacksinn, Erde dem Duft, dem Geruchsinn). Als Herr des Ätherelements beherrscht Indra auch die waltende Denkkraft. Ein Hymnus des Rigveda (II,12) spricht davon, wie Indra, eben erst geboren, mit dieser Denkkraft begabt war. Als Herr im Äther ist Indra auch der Gewittergott, der die Blitzwaffe schwingt, mit der er den feindlichen Drachen bekämpft und überwindet, den das Erdenleben und die Erdenentwicklung bedrohenden Widersacher. Daher die Bedeutung, die Indra als Beschützer der Erde gerade in diesem Hymnus an die Erde hat.
S23
7 Sie, unsere heimatliche Erde, über der immerfort schlummerlos Götter wachen,
sie möge uns den lieben Honig spenden, ja, sie beträufle uns mit ihrem Glanz.
7. Der Honig spielt als Inbegriff edelster Nahrungssäfte auch in der indischen Mystik (z.B. in den Upanischaden) eine Rolle.
8 Sie, die im Schöpfungsurbeginne wogend Urgewässer war, an der mit schöpferischen Zauberkünsten sie
durchstreifend weise Seher wirkten, sie, deren Herz, der Erde unsterblich Herz,im höchsten Himmel ist,
von Weltenwahrheit eingehüllt, sie, unsere Erde, sie verleih' uns Glanz und Kraft zu wahren Herrschertums Inbegriff.
8. Wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel, sprechen auch die indischen Schöpfungsberichte von dem ätherischen Urzustande der Erde als dem "wogenden Urgewässer". Der indische Seher beschreibt die Erde nicht nur, wie sie in der Gegenwart dem Sinnesauge sich darbietet, sondern wie sie in ihren ganzen Entwicklungsmetamorphosen von dem Geistesauge geschaut wird. Berühmt ist S44 in dieser Beziehung der Schöpfungshymnus des Rigveda (X,129). Der Hymnus an die Erde kommt immer wieder auf die Schöpfungsvorgänge zurück.
Der Inder erkennt die Schauenskräfte der alten Seher (Rischis) zugleich als aktiv-magische Kräfte, durch die sie bei der Gestaltung des Irdischen selbst schöpferisch mitwirkten, er sieht den geistig erweckten Menschen am Schöpfungswerke beteiligt.
Das Wort vom göttlich-unsterblichen "Herzen der Erde im höchsten Himmel" gehört zu den bedeutendsten Stellen im ganzen Hymnus, zu seinen eigentlichen Mysterientiefen.
Das Herrschertum (râstra, eigentlich Königtum), von dem der Hymnus spricht, ist nicht äußere, sondern geistige Macht; statt "zu höchsten (wahren) Herrschertums Inbegriff" könnten wir darum auch übersetzen: "zur höchsten Herrschermacht im Ich", um so mehr als - vgl. vor allem Vers 11 - das Ich in diesem Hymnus in einer für indische Verhältnisse überraschenden Weise stark betont ist. Auch in dem bekannten Ausdruck râja-yoga ("königlicher Yoga") bezieht sich das "Königtum" auf die Ich-Entwicklung als das eigentliche Ziel dieser höchsten Form des indischen meditativen Erkenntniswegs.
9 Auf der die Wasser in immer gleichem Kreislauf strömen unablässig Tag und Nacht,
sie, unsere Erde, möge uns aus vielen Strahlen Milch ergießen, ja sie beträufle uns mit ihrem Glanz.
10 Die einst des Morgensternes Götterzweiheit ausmaß, die Wischnu auch, der Alldurchdringende, durchschritt,
die Indra einst, der Herr der Kraft, sich frei von Feinden schuf,
sie, unsere Erde, lasse mir, gleichwie dem Sohn die Mutter, strömen ihre Milch.
10. Der indische Name des hier gemeinten Götterpaares ist Asvin (sprich Aschwin), Aívinau "die beiden Aschwin". Sie entsprechen, als die "himmlischen Zwillinge", den griechischen Dioskuren (Kastor und Pollux). Ihr planetarischer Aspekt wird von Oldenberg (Religion des Veda S210ff) mit der Venus, mit deren doppelter Erscheinung (als Morgenstern und Abendstern) zusammengebracht; S45 doch wurden die Aschwin immer als Morgengottheiten verehrt. Vielleicht ist eher an Venus-Merkur zu denken, die man in alter Zeit vielfach in einer bestimmten geistigen Verbindung gesehen hat.
Wischnu (Visnu), von einer Wurzel vis (sprich wisch) "durchdringen", ist der "Sohnesgott" der indischen Trinität. Die indische Mythologie spricht von den "drei Schritten", mit denen er die Erdenwelt durchmaß, um sich mit dem dritten Schritt in eine Welt des höchsten Lichtes zu erheben.
Saci (Satschi), die "Gemahlin Indras", ist das Wesenhafte der höheren Ätherkraft.
S24
11 Zu Heil und Wohlgefallen seien deiner Gipfel Riesen, deine schneebedeckten Berge und deine Wälder mir, o Erde;
auf braunem, schwarzem, rötlichem, vielfarb'gem Erdengrunde, auf dieser festen Erde, der von Indra wohlbehüteten,
auf ihr will ich stehn unüberwindlich, ungetroffen, unverletzt, auf dieser Erde, ich.
11. Die "schneebedeckten Berge" (parvatâ himavanto) sind für den Inder die Gipfel des Himâlaya (Himavant), die höchsten Berge der Erde. Neben parvatâ steht hier steigernd das gleichbedeutende Wort girayas (Plural von giri "Berg"), hier mit "Gipfel-Riesen" (man beachte auch das Lautliche von giri) wiedergegeben, was, auf den Himâlaya angewendet, ja keine Übertreibung ist.
Zu krsna (sprich etwa krischna) "schwarz" siehe den Anhang, wo auf die Ableitung von krs "durchziehen, durchfurchen" (die schwarze Farbe der vom Pflug aufgelockerten Erde) und auf gewisse ursprachliche Zusammenhänge des Christusnamens (wie auch des indischen Heilandsnamens Krsna, Krischna) hingewiesen ist.
12 Was deine Mitte ist, o Erde, was dein Nabel,und was für Nahrungssäfte deinem Leib entquellen,
damit laß uns gesegnet sein; erfließe uns in klaren Strömen, Mutter Erde,
ich bin dein Sohn, der Sohn der Erde,Pardschanja, der Regengott, ihr Vater, schenke uns die Fülle.
12. Parjanya, der Regengott (sprich Pardschnja), heißt im Litauischen Perkunas. Man erkennt an solchen Beispielen die Verwandtschaft der indoarischen Sprachen.
II.
13 Auf der des Weiheopfers vielgeschäft'ge Künstler den Weihealtar priesterlich umsorgen,
und wo sie dann des Opfers geheime Fäden spannen, S25 und wo die Opferpfosten werden abgesteckt,
die reinen vor der reinen Opferspende, sie, diese Erde, die da selber wächst und sich entwickelt,
helfe uns zu unserm Wachstum.
13. In charakteristischer Weise betont auch hier wieder der Hymnus die geistige Bedeutung des kultischen Weiheopfers S46 für die Erdenentwicklung. So geläufig uns heute dieser Ausdruck ist, so sehr überrascht er im Indischen. Es gibt außer einer Stelle in den Yogasutras (IV,5) keine andere Stelle in der ganzen indischen Literatur, wo er so deutlich anklingt. Das indische Wort ist vardhate (3.Pers.Sing.) "werden, wachsen, sich entwickeln", Kausativ vardhayati "zum Werden, zum Wachsen, zur Entwicklung bringen". Beide Formen finden sich an dieser Stelle des indischen Hymnus.
Der hier mit "des Weiheopfers vielgeschäftige Künstler" übersetzte Ausdruck enthält im Indischen das Wort visvakarmânas, Plural von Visvakarman, sprich Wischwakarman, was nach Rudolf Steiner der indisch-vedische Name der Christuwesenheit ist (gleichsam "der schöpferische Weltenkünstler", der "Weltbaumeister"; Näheres darüber im Anhang). In diesem Sinne findet sich dann auch in unserem Hymnus dieser Name in der dem kosmischen Kelchgeheimnis der Erde gewidmeten Strophe 60. Es kann bedeutsam erscheinen, daß, bis in die Wortgebung hinein, in einer der auf die geistige Bedeutung des Priesterwirkens für die Erde hinweisenden Strophen diejenigen Zusammenhänge hereinklingen, die sich uns heute mit dem Christusnamen und seinen Geheimnissen verbinden.
14 Den, der uns haßt, o Erde, den, der feindlich uns bekämpft, der mit Gedankenkräften oder auch mit
tödlichem Geschoß uns etwas antun will, den gib in unsere Macht, o Erde, komme ihm zuvor.
15 Von dir geboren, wandeln auf dir die Sterblichen, zweifüßige Menschen trägst du und vierfüßige Tiere;
von dir, o Erde, stammen diese fünf Menschenstämme,
vor deren Sterblichkeit das unsterbliche Licht im Sonnenaufgang seine Strahlenfülle breitet.
15. Die "fünf Menschenstämme" sind nach landläufiger Erklärung (Böhtlink im Peterburger Wörterbuch) die Völker im Norden, Osten, Süden, Westen mit den Ariern in der Mitte. Das indische Wort ist hier panca mânavâh, abgeleitet von Manu (Name des Stammvaters und Führers der ersten Menschheit), dieser Name wiederum von der Wurzel man "denken", die auch in dem Worte S47 "Mensch" (indisch manusya) enthalten ist. An andern Stellen (Vers 3,4,42) finden wir dafür das Wort krsti, worüber Näheres im Anhang.
.......
16. Der Sinn dieser in der Übersetzung ausgelassenen, unbedeutenden und vermutlich unechten Strophe wäre: "Laß diese Geschöpfe uns allerlei Früchte spenden; gewähre mir, o Erde, den Honig der Rede."
17 Die allgebärende, der Pflanzen Mutter, die zuverlässige, die beständige Erde, die von der
heiligen Weltenordnung getragen wird, die wohlgesinnte, gütige, wollen immerdar betreten wir mit sanftem Tritt.
17. dharmanâ dhrtâm "die von der heiligen Weltordnung getragen wird": das indische Wort dharma oder dharman (mit lateinisch firmus "fest" verwandt) verbindet in einer dem modernen Denken fremden Art den Begriff des Naturgesetzes und des Moralgesetzes.
S26
18 Du große Heimatstätte, deine Macht ist groß, mächtig dein ungestümer Ruck, dein Zittern, dein Erbeben; der
große Indra hütet dich ohn' Unterlaß. O Erde, leucht' uns immerdar in goldnem Schein, laß niemand unsern Hasser sein.
18. Es erscheint bemerkenswert, wie gerade hier im Zusammenhang mit Erdbeben und Erdkatastrophen Indra (als der "Drachenbesieger" die indische Entsprechung des assyrischen Marduk, des hebräisch-christlichen Michael) als Behüter des Erdenlebens genannt wird.
Die Verbindung der unheimlichen Mächte des Erdinnern, des "Erdkernes", mit den zerstörenden, vernichtenden Hasseskräften im Menscheninnern ist ein Motiv, dem wir auch in Dantes Divina Comedia in der "Kainsschlucht" begegnen.
19-20 Feuer ist in der Erde, Feuer in den Pflanzen, Feuer tragen in sich die Wolkenwasser, Feuer ist in den Steinen.
Und so ist inneres Feuer in den Menschen, ist Feuer auch in Rindern und in Rossen;
des Himmels Feuer brennt herab von oben, göttlich Feuer weset im weiten Luftraum;
auf Erden zünden dieses Feuer an die Menschen, den Gott, der ihre Opferspende emporträgt,
ihres Opferschmalzes Freund ist.
19-20 Über das "innere Feuer" im Menschen (als agnir vaisvânara) siehe die Erläuterungen zu Vers 6. Agni, der Gott des Feuers, erscheint hier deutlich in seiner aus dem Rigveda bekannten Rolle als der Mittler zwischen Göttern und Menschen im kultischen Opfer.
21 In ihrem Feuerkleid, gleich einem Schmied mit berußtem Knie,
wolle die Erde mir strahlend Feuer, scharfen schneid'gen Schliff verleih'n.
21. Der Vers ist auch im Indischen von gedrängter, "schneidiger" Kürze: Feuerkleid und geschwärztes ("berußtes") Knie umrahmen deutlich das Bild des Schmiedes, S48 auch wenn das Wort "Schmied" im Indischen nicht unmittelbar dasteht. - Mit einem leichten Anflug von Oberbayrisch könnte man übersetzen: "mir scharfen Schliff und Schneid verleih'n, was dem Stile des indischen Originals an dieser Stelle durchaus entsprechen würde.
III S27
22 Auf Erden bringen ja den Göttern die Menschen das kultgerechte Opfer dar, und davon leben wiederum die Menschen, die sterblichen, von der Manenspende auch, der Nahrung für die Toten. Davon gewähre wiederum die Erde uns Lebenskraft und Lebensdauer auch, die Erde schaffe langes Leben mir.
22. Wiederum beginnt mit dem Hinweis auf die Bedeutung des kultischen Opfers für Erde und Menschheit ein neuer Abschnitt. Besonders bedeutsam ist der Hinweis auf die Wirkung des Opfers auch für die Toten, für die geistige Verbindung, die es zwischen Lebenden und Gestorbenen vermittelt, und die als segnende, das Leben verlängernde Wirkung den Lebenden zurückströmt.
23 mit deinem Wohlgeruch, o Erde, der da von dir aufsteigt,
den Kräuter, Blumen an sich tragen und die Wassersäfte, den Wesenheiten der Lüfte und des Wassers gern genießen,
mit dem verleihe mir selber Wohlgeruch, niemand sei uns feind.
23. Im Zusammenhang mit dem Wesen der Opferspende wird nun auch das Motiv des Wohlgeruchs der Erde, ihres Duftelementes - man denke an den Wohlgeruch, den die Erde nach einem starken Gewitterregen ausströmt -, dichterisch durchgeführt, mit jener dem Hymnus eigenen Verbindung des Naiven und des Erhabenen. In der Zuordnung der "fünf Elemente" - der Inder kennt außer der uns von alters her geläufigen Vierheit der Elemente noch ein fünftes Element Äther (âkasa, sprich Akascha, mit langem a in erster und zweiter Silbe) - zu den Sinnen und Sinnesempfindungen verbindet der Inder die Erde immer mit dem Geruch und Geruchsinn, wie das Wasser mit dem Geschmack, die Luft mit der Berührung, dem Tastsinn, Feuer und Licht mit dem Sehsinn. Dem "fünften Element" Äther entspricht der Ton, der Gehörsinn.
24 Mit deinem Duft, o Erde, wie er in die blaue Lotosblume einging - die Duftessenz, die einstmals bei der
Hochzeitsfeier der Sonne die Götter, die unsterblichen, im Urbeginn bereiteten -
mit dem verleihe mir selber Duft, es sei uns niemand feind.
24. Es ist bemerkenswert, wie in dieser Strophe die Gottheit der Sonne (Sûrya) noch weiblich erscheint, S49 während im späteren Indischen das Wort für Sonne (sûrya) männlich ist.
S28
25 Mit deinem Wohlgeruch, wie er in Menschen ist, in Männern und in Frau'n, der lieblich uns behagt,
der da in Rossen und Rossekämpfern ist, in Wildgazellen und in Elefanten, mit dem auch,
was der Blütenschimmer des jungen Mädchens ist, o Erde, mit dem beträufle uns, es sei uns niemand feind
25. Hier kommt das "Naive" besonders zur Geltung. Der Geruch des Elefantenbrunstsaftes spielt auch in der indischen Liebespoesie eine Rolle..
IV.
26 Fels ist die Erde, Stein und Staub, So ist die Erde fest gefügt, Ihr,
die das Gold in ihren Brüsten birgt, der Erde bringe ich Verehrung dar.
26. Zum Reizvollen des Hymnus und seiner ganzen Komposition gehört die ungleiche Ausdehnung der Verse, ihr gleichsam wechselndes Zeitmaß, ihr wechselnder Silbenfall. Es wurde versucht, dieses alles in der Übersetzung annähern wiederzugeben, wenn es, bei der Verschiedenheit der deutschen und der indischen Sprache, auch nicht möglich war, die Silbenzahl der Übersetzung derjenigen des Urtextes vollkommen anzugleichen.
27 Auf der des hohen Waldes Bäume festgewurzelt stehen immerdar,
die allernährende, die allerhaltende, die feste Erde grüßen wir.
27. Im indischen visvadhâyas liegt sowohl der Begriff des Allernährenden wie der des Allerhaltenden. Vânaspatyâs - von den Waldbäumen gesagt - heißt wörtlich "die Herren des Waldes".
28 Ob wir uns nun erheben oder sitzen, stehen oder gehen,
ausschreitend mit dem rechten, mit dem linken Fuß, nicht wollen straucheln wir auf dieser Erde.
29 Die läuternd reine grüß' ich, die geduld'ge Erde, die durch das heilige Gebet ihr Wachstum hat.
S29 Auf dir, o Erde, die du Lebenssaft und Nahrung, die zugewiesene Speise uns und Butter bringst,
wollen wir uns Hütten bau'n.
29. brahmanâ vâvrdhânâm "die durch das heilige Gebet ihr Wachstum hat" bringt durch die Intensivform der Wurzel vrdh, vardhate "werden, wachsen, sich entwickeln" den Entwicklungsgedanken verstärkt zum Ausdruck. Wie schon am Anfang, erscheint auch hier brahman, die verborgene (okkulte) Kraft des Gebets, des Wortes, der Andacht und Meditation als etwas an der Erhaltung und Gestaltung des Irdischen Wirkendes und Beteiligtes und wird so später zur Bezeichnung der göttlichen Substanz und Wesenheit im Weltall überhaupt.
30 Rein sollen unser Körper deine Wasser fließen; was unrein ist, gehöre dem Widersacher;
durch Wassers Läuterung mache rein ich mich, o Erde.
30. Wörtlich, "was unrein ist an uns, laden wir ab auf den, der uns nicht lieb ist".
31 Was deiner Himmelsräume Richtung ist, o Erde, dein Osten und dein Norden, Süden, Westen,
sie alle seien lind und gnädig mir, allwo ich wandle;
laß nicht zu Fall mich kommen, der ich so im Weltall fest verankert bin.
32 Bring' nicht aus unserm Gleichgewichte uns, o Erde, stoß' uns nicht vorwärts, rückwärts, aufwärts, abwärts.
Sei uns zum Heile und zur Wohlfahrt, Erde; nicht finde uns der Wegelagerer, halt' fern von uns das tödliche Geschoß.
33 Solange mit der Sonne als Genossen ich auf dich niederschauen darf, o Erde,
solange lass' das Licht des Auges mir nicht schwinden, indem ich altere von Jahr zu Jahr.
33. In dem edlen Gedanken dieser besonders S50 ausdrucksvollen Strophe tritt der erkenntnistheoretische Zusammenhang von Sonne, Sehen, Sinn, Sein (Erdensinn und Erdensein) anschaulich hervor.
34 S30 Wenn, auf dir liegend, ich mich wend', o Erde, von meiner rechten nach der linken Seite,
wenn, so daß deinen Rücken du uns wendest, mit unsern Rippen wir auf dir zu liegen kommen,
dann wolle uns nicht wehtun, liebe Erde, Du, die du allem Widerlage bist.
35 Was immer ich aus deinem Schoße grabe, das möge rasch nachwachsen, liebe Erde;
nicht will ich, Lautere, treffen dich ins Lebensmark, nicht dein Herz durchbohren ich.
35. Das in Strophe 34 wieder stark anklingende "Naive" erfährt in der Gegenstrophe 35 eine liebevolle Umkehrung, die an das Gemütsinnige unserer alten Weihnachtsspiele erinnert ("grüaßen <Oberösterreichische Mundart> wir alle Würzelein, die unten in der Erde sein")
36 Dein Sommer, Erde, deine Regenzeit dein Herbst, dein Winter auch, dein Frühling
und des Vorfrühlings Kältezeit, die Jahreszeiten alle, wie sie wohl geordnet sind,
die Wechsel alle, die es gibt von Jahr zu Jahr, von Tag und Nacht, sie alle sollen laben uns.
36. Der alte Inder rechnet mit sechs Jahreszeiten: dem Sommer folgt die "Regenzeit", dem Frühling (vasanta) geht die kalte Vorfrühlungszeit (sisira, sprich Schischira, mit Ton auf der ersten Silbe) voraus.
V
37-40 O Reine, die die Schlange du verscheuchtest, auf der die Feuer zündeten, die in Wolkenwassern weilten,
womit du schlugst das gottverachtende Barbarenvolk, S31 die du zu Indra dich bekanntest, nicht zum Drachen,
Du Erde, die zu Indra hielt, dem stiergewalt'gen Herrn der Kraft. allwo der Opfertraum, das Opferdach,
der Opferpfosten abgemessen wird, wo opferkundige Brahmanen zelebrieren mit Opferrythmen und Gesängen
und wo des Opfers kundige Helfer angespannt den Somatrank für Indra zubereiten,
allwo der Vorzeit schöpferische weise Seher des Lichtes Kühe durch Gesang zum Vorschein brachten,
in ihrer Siebenzahl zusammensitzend, durch ihres Opfers, ihrer geistigen Vertiefung Kraft,
die heil'gen Rischis, sie, diese Erde, weis' uns immer zu, was wir an Reichtum uns ersehnen,
der Herr des Brotes halte sich zu uns, Indra komme zu uns, er sei unser Führer.
37-40. Der Hymnus versetzt uns hier wieder in die kosmogonische Mythologie, in der die Kämpfe Indras mit dem feindlichen Drachen (neben dem Hauptwidersacher Vrtra werden auch andere Drachendämonen genannt) eine Hauptrolle spielen. Indram vrnânâ prthivî na Vrtram "die du zu Indra dich bekanntest, nicht zum Drachen": das indische vr (hier Partizipform vrnânâ) ist seiner Bedeutung wie seinen Lauten nach genau unser "wählen". Es findet, im Sinne des Mythos, gleichsam ein kosmischer Wahlakt statt, bei dem die Erde sich entscheiden muß, ob sie den göttlichen Führer wählt oder den Widersacher, den feindlichen Drachen, und die Erde wählt den Indra. So willen auch wir uns zu Indra=Michael, als dem wahren Führer, dem wahren Herrn der Erde halten - ist der Sinn der Strophe.
Zum Anfang von Vers 37 "O Reine" (gemeint ist die S51) Erde, "die die Schlange du verscheuchtest" ist insbesondere noch zu vergleichen das Michael-Kapitel (12) der Apokalypse, Vers 13ff - der Abschnitt erinnert sehr auch an den ägyptischen Mythus, der erzählt, wie die von Typhon-Seth verfolgte Isis mit ihrem Kinde in die Wüste (die "Oase-Kuhland") flieht und dort durch die Annahme ihrer Erden-Kuh-Gestalt sich gegen die Anfechtungen des Widersacher schützt (Vgl. H.Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter <Leipzig 1891> S343f,656) - besonders Apokalypse 12,16: "Aber die Erde half dem Weibe und tat ihren Mund auf und verschlang den Strom, den der Drache aus seinem Munde schoß." Es handelt sich hier um gewisse Menschheits-Urmythen, die auch in der griechischen Io-Sage sich spiegeln, um dann in den Schauungen der christlichen Apokalypse in neuer Form aufzuleben.
Die Mysterien des Somatrankes und der Somazubereitung sind mit denjenigen des Indra eng verbunden. Indra ist im Rigveda der göttliche Zecher, der den himmlischen Somatrank genießt. Das irdische Gegenbild und Sinnbild dieses himmlischen Soma ist dem Inder der aus der Somapflanze (Asclepias acida) ausgepreßte Milchsaft, den die brahmanischen Priester, mit Milch vermischt, beim Somaopfer genießen. Der Soma ist der Trank der Begeisterung, der höchsten geistigen Erhebung, das Sinnbild des unsterblichen Lebens, der "kosmischen Wegzehrung" oder Gralsspeisung. "Den Soma hält mancher, der ihn trinkt, für das Kraut, das man auspreßt; den Soma, wie die Brahmanen ihn wissen, den genießt keiner auf irdische Art" - heißt es im Rigveda (X,85,3). S52 Die Mysterien von Agni und Soma gehen durch den ganzen Rigveda. Sie enthalten die indisch-vorchristliche Entsprechung des christlichen Abendmahlsmysteriums von Brot und Wein, Leib und Blut.
41 Die Erde hie, auf der die Menschen singen und tanzen und jauchzen ausgelassen=mannigfalt,
und wo sie kämpfen, wo der Schlachtenlärm ertönt, die Trommel zum Streite ruft,
S32 sie, diese Erde, sie verdränge unsere Nebenbuhler, sie mache frei vom Widersacher mich.
41. Die Wendung gegen den irdischen Widersacher entspricht durchaus dem alten Ariertum. Erst am Kreuze von Golgatha verbindet sich der Impuls der Feindesliebe mit dem Irdischen. In der Zeit vorher hatten, wie Rudolf Steiner öfter gezeigt hat, auch Zorn, Feindschaft, Krieg eine Mission in der Erdenentwicklung. Was hier vom äußern Widersacher gesagt wird, mag in einer christlichen Zeit auf den inneren Widersacher bezogen werden.
42 Der Erde, wo in Reis und Gerste des Feldgetreides Nahrung wächst, wo der Menschheit fünffache Saat
der Ackersaat fünffache Weise pflegt, der Braut des Regengotts Pardschanja,
die durch Regen fett und fruchtbar wird, ihr sei Verehrung dargebracht.
42. Über das hier für die "fünf Menschenstämme" gebrauchte Wort krsti vgl. den Anhang. Unsere Wiedergabe sucht beide Seiten des Begriffs (Saatfeld und Menschheit) in die Übersetzung hineinzubringen (so schon bei Vers 3).
43 Auf der des Hochlands Götterburgen ragen, auf der im Niederland die Menschen hadern,
die Erde, die der Mutterschoß von allem ist, der Schöpfer mache sie uns lieblich allerwegen.
43. puro devakrtâh wörtlich "die gottgeschaffenen Burgen", was sich nur auf die Berge beziehen kann. Das Naturgefühl für das Hochgebirge tritt in einer für die alte Zeit überraschenden Weise in diesem Hymnus hervor. Es ist also nicht richtig, daß, wie heute zuweilen geglaubt wird, dieser Sinn für die Berge erst im 18. oder 19. Jahrhundert entdeckt worden wäre (etwa von Rousseau, "La nouvelle Héloise"), denn wie wir sehen, hatten ihn schon vor Jahrtausenden die alten arischen Inder.
44 Was vieler Orten sie an Schätzen birgt, verborgenes Gut, den Bergkristall, das Gold,
das mache mir die Erde zum Geschenk. Des Guten Spenderin, sie schenke uns die Güter,
die Göttin Erde, die Allspenderin, güt'gen Sinnes.
44. mani bedeutet im Indischen Edelstein und Kristall, vor allem den Bergkristall, der hier gewiß in erster Linie gemeint ist.
45 Die Erde, die so vielgestalt'ge Völker, verschiedener Sprache, je nach ihrer Heimat,
und verschiedenen Rechtes, an verschiedenen Orten trägt, S33 sie spende mir in tausend Strömen reiches Gut, der treuen Milchkuh gleich, die sich nicht sträubt.
VI
46 Was da an Schlangen= und Skorpiongewürm mit scharfem Biß und Stich im Winter sich verkriecht,
und stumpf und starr verborgen liegt, was dann in Sommers Regenzeit sich regt, hervorkommt und lebendig wird, o Erde,
dein kriechendes Gewürm, es krieche nicht an uns; was harmlos, freundlich ist, begegne uns.
46. Mit dieser Strophe beginnt gewissermaßen der "Gefahrenabschnitt" des Ganzen. Was die Erde an feindlichen S53 Wesenheiten mit sich bringt in Tierwelt, Menschenwelt, Dämonenwelt, wird hier aufgeführt. In erster Linie erscheinen die in Indien so gefährlichen Schlangen.
vrícika heißt Giftspinne und Skorpion. Da im folgenden im Urtext nur vom "scharfen Biß" die Rede ist, mußte man an die Übersetzung denken "was da an Schlangen- und Spinnengezücht mit scharfem Biß im Winter sich verkriecht". Dennoch erschien die Nennung des Skorpions (und das indische Wort kann auch dieses bedeuten) neben der Schlange als naheliegend. Das bedingte dann die Übersetzung: "mit scharfem Biß und Stich".
47 Wo deine vielverschlungenen Wege sind, auf denen Menschen gehen, deine Straßen,
wo Lustgefährte rollen und Lastwagen fahren, wo beide wandeln, Gute auch und Böse,
da wollen wir den Weg für uns gewinnen, der frei vom Feinde, frei vom Räuber ist;
was harmlos, freundlich ist, begegne uns.
47. Das Wort ratha "Wagen", das hier mit anas "Lastwagen" kontrastiert, kann auch den Streitwagen bedeuten, wird hier aber sinngemäß als die der Vergnügungsfahrt oder Reisezwecken dienende Herrschaftskarosse zu verstehen sein. Also: "wo Lustgefährte rollen und Lastwagen fahren".
48 Die Erde, die den stumpfen Toren trägt, gleichwie den weisen, den erhab'nen Lehrer,
sie, die des Guten wie des Bösen Untergang mit Gleichmut hinnimmt, S34 die mit dem Wildschwein,
mit dem bösen Eber sich verträgt, gar gerne schafft sie Raum auch der Gazelle.
48. mrga "wild" hat im Indischen besonders auch die substantivische Bedeutung unseres "Wild" und bezieht sich dann auf die mehr anmutigen Tiere des Waldes wie Reh, Hirsch, Gazelle usw. An dieser Stelle könnte es auch als Adjektiv "wild" auf den "bösen Eber" bezogen werden. Der hier angenommene, dem eigentlichen Gedanken der ganzen Strophe entsprechende Sinn kommt besser heraus, wenn statt sûkarâja gelesen wird: sûkarena.
49 Die wilden Tiere deines Waldes, die in Urwalds Wildnis streifend, dort ihr Wesen treiben,
Löwen und Tiger, die an Menschen gehen, Schakal und Wolf, o Erde, und den Werwolf,
den Dämon-Unhold, scheuche fern von uns.
49. purusâdas "die an Menschen gehen" entspricht wörtlich genau dem englischen maneater, dem "menschenfressenden" Tiger.
50 Die bösen Wesen in den Lüften und im Wasser, Nachtmare und Schwarzalben,
alle die Teufelsgespenster und Dämonen die halte, Erde von uns fern.
50. "Nachtmahre und Schwarzalben" ist freie Übersetzung des indischen ârâyâs und kimidinas.
51-52 Wenn ängstlich dann der Luft beschwingte Wesen sich zusammenscharen,
Wildgänse, Adler, Geier und andere Gevögel, wo dann der Sturm, die Windsbraut wild einherfegt,
Staubwolken dicht aufwirbelt und die Bäume zur Seite biegt, und wo dem Sturmesbrausen folgt die lichte Flamme,
wo Finsternis und Helle, rasch einander folgend, sich vermählen,S35 die sonst als Tag und Nacht getrennt auf Erden,
und wo die Erde dann vom Regen ganz durchtränkt wird, da bringe sie uns freundlich in die liebe Wohnung,
jeden in sein Haus.
51. S54 Das deutsche "Windsbraut" kommt dem indischen mâtarisvan insofern nahe, als es, wie dieses, ein Bild des Weiblichen (mâtar Mutter) mit dem Sturmwind verbindet.
VII
53 Der Himmel und die Erde und die Luft, sie gaben mir dies allumfassende Begreifen,
das Feuer und die Sonne und das Wasser, die Götter alle haben mit weiser Einsicht mich begabt.
53. Nachdem mit der bilderreichen Schilderung des Gewitters der "Gefahrenabschnitt" zum Abschluß gekommen ist, beginnt hier der letzte Abschnitt der Dichtung: "Die Erde und der Mensch" (oder: "Der Mensch als Herr der Erde").
54 Ja ich, der Mensch, ich bin's, der alles kann, ich bin der Herr der Erde, der überstarke bin ich,
ja der allgewaltige, der übermächtige in allen Räumen.
54. Mensch heißt im Indischen mânusa, manusya, von der Wurzel man "denken", die auch dem deutschen "Mensch" (das mit dem indischen Wort durchaus verwandt ist) zugrunde liegt. Als eine Umkehrung dieser Wurzel kann das Wort nâma "Name" empfunden werden (Vgl. darüber des Verfassers Buch über das Johannes-Evangelium, 1. Abschnitt Kapitel, (in dieser Webseite enthalten unter (anklicken!): A 7). Die Worte aham asmi "Ich bin" im unmittelbaren Beginn der Strophe betonen stark das menschliche Ich, das wir dann auch in dem Worte nâma empfinden können; die wörtliche Übersetzung des Indischen wäre: "Ich bin der, der den Namen hat, daß er der Herr der Erde usw. ist." In diesem nâma liegt für uns der "Name Mensch", der in der Übersetzung darum berechtigt ist, auch wenn das Wort manusya "Mensch" im Indischen an dieser Stelle fehlt. 55 Als damals, in der Frühwelt erstem Morgenrot erstrahlend, Du, von den Göttern hochgepriesene Göttin, deine Pracht ausgossest, da drang ein Wohlgefühl in dich hinein, damit erfülltest du alle vier Himmelsräume.
56 In allen Dörfern und in allen Wäldern, an Orten überall, wo Menschen sich zusammenfinden,
S36 wo sie ihr Treffen, ihre Volksversammlung haben, da wollen, Erde, wir dein Lob verkünden.
57 Gleichwie ein Roß den Staub, so schüttelte sie von sich ab der Menschen Geschlechter,
die von ihres Daseins Anbeginne an sie bewohnten; als holde Weltenhüterin ging immer sie voran,
sie, die Bewahrerin der Bäume, Kräuter, Blumen.
57. osadhi (Ton auf der ersten Silbe, s wie sch) "Pflanze" schließt Kraut und Blume in sich (die letztere im Urtext hier nicht ausdrücklich genannt).
58. Die offenbar unechte, völlig korrupte und fragwürdige Strophe lohnt keine Übersetzung.
.......
59 Sanftmütig, würzig duftend und gelinde, den süßen Trank im Euter führend,
strotzend von süßer Milch, so soll die Erde bieten mir mit trautem Zuspruch ihren Trunk.
60-61 Die einst der göttlich=schöpferische Weltenkünstler mit seinem Opfer suchte,
als sie im Wasser= und Luftgewoge sich verborgen hielt, das dann zur Offenbarung kam und zum Genuß
ward allen, die von Müttern stammen - ein köstlich Kelchgefäß, verschlossen im Versteck,
S37 Du bist das Kelchgefäß, der Menschen Himmelsmutter, bist als die Wunschgewährende weithin berühmt,
was dir gebricht, das fülle auf der Weltenschöpfer, der Erstgeborene der hohen Weltenordnung.
60. S55 "Der schöpferische Weltenkünstler" ist hier Übersetzung des indischen Namens Visvakarman (sprich: Wischwakarman), der "Weltenbaumeister" und Weltenzimmermann, nach Rudolf Steiner indisch-vedischer Name der Christuswesenheit.
Name ist auch Aditi, hier übersetzt "der Menschen Himmelsmutter", die indische Isis, Mutter der Götter (griechisch <kk>: Rhea).
Die "Wunschgewährende", indisch kâmadhemu oder, wie hier, kâmadughâ, eigentlich: die alle Wünsche sich abmelken lassende Kuh, die "Wunschkuh". Auch im Ägyptischen wird Isis als Erde und Kuh verehrt. (Im Indischen bedeutet ein Wort - go - Erde und Kuh.)
Die "hohe Weltenordnung" ist indisch Rta, siehe die Erläuterung zu Strophe 1.
Alles Nähere über die tiefen Hintergründe dieser Strophe im Anhang.
62 So seien, als die Kinder deines Schoßes, von Krankheit, von Auszehrung ledig wir, o Erde;
zu unserem langen Leben wollen wir erblüh'n, so wollen wir des Dankes Schuld dir abbezahlen.
63 O Mutter Erde, laß in deiner Huld mich immer wohlgegründet sein.
Im Einverständnis mit dem hohen Himmel, hilf mir, du weise Seherin, zu Heil und Glück.
63. Wie die Erde hier zuletzt noch als "weise Seherin" (kave, Vokativ von kavi) angeredet wird, läßt uns an die Erde der germanischen Mythologie denken. Die Erde ist dem vedischen Dichter eine geistige Wesenheit, die seherisch den Gang des Weltgeschehens mitverfolgt.
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Anhang von Hermann Beckh, und Nachwort des Herausgebers Dieter Lauenstein siehe nächste Seite: