Ich erwähnte schon am Schluß des vorangehenden Kapitels, daß ich den Dornacher Johannesbau - das spätere Goetheanum - vom Anfang seiner Erbauung an hatte entstehen sehen. Das Faktum dieses Bauunternehmens prägte sich uns noch in spezieller Weise dadurch ins Bewußtsein, daß bald nach seinem Beginn mein Vater eines Tages beim Mittagstisch ärgerlich erzählte, es seien ihm einige Arbeiter aus der Fabrik weggelaufen - zu den Anthroposophen, weil sie dort höheren Lohn bekämen. Der (katholische) Pfarrer in Aesch, wo wir zur Kirche gingen, ermahnte in einer sonntäglichen Christenlehre uns Kinder, uns vor dem Umgang mit diesen "Heiden" zu hüten. Es hätte dieser Ermahnung freilich nicht bedurft; denn die seltsamen Gestalten, die seitdem in Dornach hier und da dem Zug entstiegen, hätten uns ohnedies nicht dazu verleitet, uns in Gespräche mit ihnen einzulassen. In der Umgebung von Dornach erzählte man sich damals die phantastischsten Geschichten darüber, was alles im Innern des "Theosophentempels" sich abspiele. Ich wurde aber älter, - und als wir während des Krieges nach Basel übersiedelten, mieteten wir eine Wohnung in einer Straße, in der, nur wenige Häuser entfernt, einer meiner Klassenkameraden: Otto Senn, wohnte. Da wir beide seitdem einen gemeinsamen Schulweg hatten, kamen wir uns auch innerlich näher. Wir befreundeten uns, ich lernte auch seine Mutter kennen; sie bat mich kurz danach, ihrem jüngeren Sohn Kurt (dem nachmaligen Berner Ministerorganisten) Nachhilfestunden in einigen Schulfächern zu geben. So kam ich dort regelmäßig ins Haus, merkte bald, daß Frau Senn Anthroposophin sei - sie lieh mir mehrere Bücher mystisch-philosophischen (S22) Inhalts, darunter die "Großen Eingeweihten" von Edouard Schuré -, und eines Tages eröffnete mir Otto, daß auch er sich mit Anthroposophie beschäftige. So kam es, daß, als Rudolf Steiner am 12. und 14. Januar 1916 in Basel wieder einmal öffentliche Vorträge hielt, ich mir diese anhörte.
Der Eindruck schon der Persönlichkeit Rudolf Steiners und seiner mit lebhafter Gestikulation begleiteten freien Rede war ein ganz außerordentlicher. Der Inhalt seiner Vorträge aber gar erschütterte mich bis in die Grundfesten meiner geistigen Existenz. So etwas hatte ich noch nie erlebt: einen Menschen in aller Nüchternheit und Klarheit von seinen zu methodischen Forschungen entwickelten Erfahrungen einer realen geistigen Welt sprechen zu hören, - einer Welt, die mit jener identisch sei, die der Mensch mit dem Tode betritt, und in der er auch schon vor seiner Geburt geweilt habe. Zweifel und zugleich Unmöglichkeit, triftige Einwände dagegen zu erheben, kämpften in meiner Seele. Ich hatte jedenfalls unmittelbar die Empfindung: entweder ist es ein raffinierter Schwindel oder das größte geistige Ereignis unserer Zeit, dem für die Zukunft eine entscheidende Wendebedeutung zukommt. Es muß begreiflich erscheinen, daß ich sogleich das Bedürfnis empfand, die Sache genauer kennenzulernen. Ich lieh mir alsbald - sie zu kaufen hätte ich ja nicht die Mittel gehabt - Bücher von Steiner aus - natürlich von Frau Senn, die sie mir bereiwillig überließ, die mir aber auch sonst für jegliche Auskunft zur Verfügung stand, die ich wünschte. So las ich, etwa im Laufe eines Jahres, die Bücher "Theosophie", "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?", "Das Christentum als mystische Tatsache", "Die Geheimwissenschaft", "Die Rätsel der Philosophie", "Die Philosophie der Freiheit", "Goethes Weltanschauung", das erste Mysteriendrama und andere, kleinere Schriften.
Durch diese Lektüre ging mir ganz unerwartet, aber von Buch zu Buch mich tiefer in sich hineinziehend, eine ganz neue Welt, besser gesagt: die Welt in einem ganz neuen Sinn, von einem ganz neuen Lichte erhellt, auf. Ich konnte das alles nur in solche Worte zusammenfassen, wie sie sich auch in meinem damaligen Tagebuch finden: daß ich wie aus einem Schlaf, in dem ich mich bis dahin (S23) befunden hatte, in die Wirklichkeit erwachte, daß ich mir erst meines Menschentums bewußt wurde, ja daß mein Leben in einem höheren Sinn damit eigentlich erst beginne und daß mir jeden Tag irgend eine Erkenntnis aufging, ein neuer Zusammenhang sichtbar wurde. Zugleich hatte ich aber auch die Empfindung, als sei es noch gar nicht lange her, daß ich das alles schong gewußt und während des inzwischen eingetretenen Schlafes nur vergessen hätte. Im Oktober desselben Jahres hörte ich dann nochmals zwei öffentliche Vorträge Rudolf Steiners, durch welche alle diese Erlebnisse noch verstärkt wurden, und in deren einem er einmal einen durchdringenden Blick auf mich richtete, da ich weit vorne saß. Ich hatte in dieser Zeit auch Gelegenheit, einmal mit Otto, einmal mit seiner Mutter nach Dornach hinauszufahren und den innen noch ganz durch Gerüste verhüllten Bau zu besuchen. Trotzdem konnte ich von den so völlig neuartigen architektonischen und plastischen Formen des Innenraums so viel sehen, daß mir war, als sähe ich mich in einen Gralstempel versetzt. Schließlich hatte ich auch Gelegenheit, einen kurzen Einführungskurs zu besuchen, welchen in jenem Jahre in Basel der ehrwürdige Michael Bauer hielt, der sich in seinen Darstellungen als ein sehr fortgeschrittener Schüler des Geistesforschers auswies. So kann es wohl nicht erstaunen, daß ich, von all diesen Erlebnissen aufs tiefste erfüllt und bewegt, als im Laufe dieses Jahres wir in der Schule für einen Aufsatz einmal das Thema selbst wählen durften, einen solchen über "Rudolf Steiners Weltanschauung" abgab, mit dem der Lehrer freilich nichts anzufangen wußte. Mit Frau Senn, die, selbst von einem glühenden Drang nach geistiger Bildung beseelt, auch an der Universität philosophische und theologische Vorlesungen hörte und auch für sich ausarbeitete, hatte ich viele stundenlange Gespräche über alles, was sie und was mich an Problemen bewegte. Sie wurde mir gleichsam eine zweite Mutter, und bald gab sie mir auch Vorträge und Vortragszyklen Steiners zu lesen, die damals nur erst als Privatdrucke für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft erschienen waren. Man wird sich daher nicht wundern, daß ich, um solche noch in größerer Zahl kennenlernen zu können, so rasch wie möglich der Gesellschaft als Mitglied beizutreten wünschte. Unmittelbar nach meinem Abitur (S24) im Frühjar 1917 wurde ich denn auch im Basler Zweig derselben als Mitglied aufgenommen. Die wenigen Monate, die ich danach noch in Basel verlebte, pilgerte ich des öfteren nach Dornach hinaus, um in der Schreinerei am Goetheanum der Vorlesung von Vorträgen Steiners oder auch eurythmisch-dramatischen Darbietungen von Faust-Szenen, die damals dort entstudiert wurden, beizuwohnen.
Daß ich geistig so rasch und so intensiv in die Anthroposophie hineinwuchs, hatte mancherlei Gründe. Die "negativen" derselben lagen wohl darin, daß ich in jenem Alter mich noch nicht so stark in die wissenschaftliche Denkweise unserer Zeit eingelebt hatte, um all die Einwände zu kennen und die Hemmnisse zu empfinden, die sich von ihr her dem Verständnis oder gar dem Sicheinsetzen für die Anthroposophie entgegenstellten. Ich war geistig noch ganz unvoreingenommen und für alles offen, was mir als Bestrebungen oder Leistungen auf geistigem Gebiet entgegentrat. Auch stellten sich meiner Beschäftigung mit der Anthroposophie keinerlei Hemmnisse durch Familienzusammenhänge, konfessionelle Zugehörigkeit oder irgend eine Berufstätigkeit in den Weg.
Was die "positiven" Gründe betrifft, so war ich auf das, was mir in der Anthroposophie entgegentrat, durch mancherlei innerlich wohl vorbereitet. An erster Stelle darf ich da wohl ein Erlebnis nennen, das etwa in mein elftes Lebensjahr fiel. Auf einem Spaziergang, den ich damals in Angenstein auf eine der umliegenden Anhöhen unternahm, ging mir plötzlich auf, daß ich, indem ich mich selbst als "Ich" erfasse, mich als ein Wesen erlebe, das eine vom Leibe unabhängige Wirklichkeit ist und deshalb auch nicht erst mit dem Leibe entstanden sein kann, sondern schon vorher existiert haben muß. Sodann darf ich auf ein Zweites hinweisen: Ich wurde als Katholik zwar nicht im üblichen Sinne zur Kirchenfrömmigkeit erzogen, - denn die Ehe meiner Eltern war eine konfessionell gemischte, und mein Vater als Protestant war alles andere als ein Freund des Katholizismus -, aber ich war im eigentlichen Sinne des Wortes doch ein tief religiöses Kind, und in der Zeit von etwa meinem 12. bis 14. Jahr versetzte mich das Erleben der katholischen Messe, die wir allsonntäglich in Aesch besuchten, oftmals in Zustände einer (S25) Entrückung, von der ich erst langsam wieder in die alltägliche Wirklichkeit zurückfand. Schließlich drängten sich seit etwa meinem 16. Jahre, wie ich schon im vorigen Kapitel erwähnte, neben den musikalischen immer mehr literarische und vor allem philosophische speziell kunstphilosophische Interessen in den Vordergrund meines Seelenlebens. Innerhalb der Musik wurde neben Beethoven in wachsendem Maße Richard Wagner zum hauptsächlichsten Gegenstand meiner künstlerischen Verehrung. Der gegenüber der Wiener Klassik völlig veränderte Charakter, den in seinen Musikdramen das Element der Musik annimmt, regte mich zu endlosem Nachsinnen über das Wesen des Musikalischen überhaupt und seiner verschiedenen möglichen Bedeutungen und künstlerischen Funktionen an. Ich hörte mehrere der Bühnenwerke Wagners im Basler Theater, studierte aber auch einige seiner kunsttheoretischen Schriften, - den Höhepunkt meines damaligen Wagner-Erlebnisses bildete der Besuch einer Parsifal-Aufführung im Zürcher Stadttheater im Herbst 1915, zu dem mich mein Klassenkamerad Walter Greiser, der sich später als Komponist einen Namen machte, einlud.
Zur Erweiterung meiner Kenntnis der deutschen und der Weltliteratur trug vor allem meine Zugehörigkeit zu einer Gymnasiastenvereinigung "Concordia", während der zwei letzten Schuljahre, welche ihre allwöchentlichen Zusammenkünfte durch Vorträge, Referate, Rezitationen, Lesungen von Literaturwerken fast ausschließlich der Pflege literarischer Bildung widmete. Und hier wiederum war es mein mir am ensten von allen befreundeter Klassenkamerad Paul Geßler (Sohn eines Universitätsprofessors für deutsche Literatur und nachmaliger Rektor des Basler Mädchengymnasiums), dem ich die meisten Anregungen auf diesem Gebiete zu verdanken hatte. (Die Freundschaft zwischen uns hat sich bis zum heutigen Tag erhalten.) Der genanngen Vereinigung gehörten während der Zeit, da ich ihr Mitglied war und sie durch zwei Semesster präsidierte, auch meine beiden Brüder, Otto Senn, Kurt Englert (der spätere Begründer der Zürcher Rudolf-Steiner-Schule), Robert Spörri (nachmals Pfarrer in der Christengemeinschaft, der damals in unserem Kreise als Ibsen-Spezialist tätig war) und andere an. Von (S26) den "Altmitgliedern" nahm an unserer Arbeit besonders lebhafgten und einflußreichen Anteil der nur um wenige Jahre ältere Georg Schmidt (später Professor für Kunstgeschichte und Direktor des Basler Kunstmuseums).
Unter den großen Dichtern der Weltliteratur, deren Werke ich damals las, waren es zwei, die schließlich absolut beherrschend in den Mittelpunkt meines Interesses und meiner Verehrung rückten: Goethe und Dante. Von Goethe las ich die meisten seiner dichterischen Werke, einschließlich des Faust. Dantes Commedia arbeitete ich Zeile für Zeile mehrmals durch, bis ich sie mir mit Hilfe aller mir zugänglichen Kommentare in allen Einzelheiten für das Verständnis erobert hatte. Neben dem rein poetisch-künstlerischen Wert ihrer Werke waren es wohl in gleichem Maß die Weltanschauungen, welche die beiden Dichter verkörperten, - was ihnen für mein Seelenleben so entscheidende Bedeutung verlieh. Sie erschienen mir als die reinsten und größten Repräsentanten zweier gegensätzlicher Grundtypen von Weltanschauungen, zwischen denen ich selbst hin und her schwankte und jene Entscheidung glaubte treffen zu sollen, die meinem eigenen Wesen entspreche. In Goethe sah ich - im Ganzen genommen - die poly-, beziehungsweise pantheistisch-heidnische Naturfrömmigkeit der klassischen Antike verkörpert, in Dante das christliche Welt- und Menschenbild, für welches "die Welt im Argen liegt und das menschliche Ich seinen Schwerpunkt im Jenseits hat" - so formulierte ich es damals in meinem Tagebuch. Trotz gleichmäßiger Hochschätzung beider glaubte ich nach intensivem Ringen um Klarheit mir eingestehen zu müssen - ich zitiere wieder Aufzeichnungen aus dem Februar 1916 -: "mein innerstes Wesen neigt zur Danteschen Auffassung", - wobei ich die Bemerkung hinzufügte: "Ich glaube, die Weltanschauung in ihrem tiefsten Wesen liegt im Menschen drinnen, ist ihm angeboren, man kann sie nicht beliebig wählen."
Es war dies genau in der Zeit, in der ich anfing, mit der Anthroposophie bekannt zu werden. Und als ich in den nächsten Monaten anhand der Steinerschen Schriften immer tiefer in sie eindrang, hatte ich dabei - neben allem übrigen - auch die Empfindung, ich bewege mich mit ihren Darstellungen erkenntnismäßig in derselben (S27) Welt, in der ich mich mit dem Studium von Dantes Göttlicher Komödie im Elemente dichterischer Bilder bewegt hatte. Wie ich denn auch in den beiden folgenden Jahren - ich besuchte bis zum Ende meines Basler Aufenthaltes noch regelmäßig die katholische Sonntagsmesse, da wir damals an der Basler Heiliggeistkirche in Pfarrer Maeder einen hervorragenden Kanzelredner hatten - ohne Bruch aus meinem Katholizismus in die Anthroposophie hineinwuchs und dabei nur die Empfindung hatte, ich lerne dasselbe nun in der modernen Sprache der Wissenschaft, in der Sprache der geistig Mündiggewordenen kennen, wovon ich bisher in der Sprache religiöser Glaubensvorstellungen, in der Sprache geistiger Unmündigkeit gehört hatte. Beglückend war es für mich zugleich, daß ich - vor allem durch Steiners Buch über "Goethes Weltanschauung", das ein Kernstück meines anthroposophischen Studiums wurde - dabei auch Goethe in einer neuen Weise, von einer neuen Seite: als Naturforscher kennenlernte und in dem zur Geisteswissenschaft fortgebildeten "Goetheanismus" Steiners eine Synthese jener beiden Weltanschauungen fand, die ich vorher in einem so scharfen Gegensatz zueinander gesehen hatte.
Ich will hier nicht verschweigen, daß ich im Umgang mit den Anthroposophen, die ich in dieser Zeit kennenlernte, bei manchen auch schon Spuren eines sektiererischen Geistes, Symptome einer gewissen geistigen Verschrobenheit feststellen mußte. Das genierte mich aber nicht, da ich mir genügend klar darüber war, daß diese nicht in der Sache selbst begründet sei, sondern lediglich in einer unzulänglichen Auffassung derselben. Und da ich auf keinen Fall an etwas teilhaben wollte, was sich vom allgemein-menschlichen Geistesleben sektiererisch absondert, so dachte ich schon damals, daß, wenn ich einmal innerhalb dieser Bewegung aktiv tätig sein würde, dies in der Art geschehen werde, daß ich den Zusammenhang, in dem die Anthroposophie mit der Entwicklung des gesamtmenschlichen Geisteslebens steht, nach Kräften zur Geltung bringen werde.
Durch das Bekanntwerden mit der Anthroposophie verblaßten mehr und mehr meine bisherigen auf die Musik sich beziehenden Lebens- beziehungsweise Berufsziele. Es wurde mir immer klarer, (S28) daß ich die Art, wie ich Musik erlebte und mich musikalisch betätigte, sich nicht dazu eigne, eine erfolgreiche Karriere auf diesem Gebiete zu machen. Diese Art war vielmehr ein noch unbewußtes Suchen nach einem Weg zu jener geistigen Welt gewesen, mit welcher der Mensch nach innen, durch sein seelisch-geistiges Wesen ebenso zusammenhängt, wie er nach außen, durch seine Leiblichkeit mit der physischen Welt verbunden ist. Beethovens Wort, daß die Musik "eine höhere Offenbarung sei als alle Weisheit und Philosophie", hätte dieses mein Verhältnis zur Musik treffend charakterisiert. Jetzt hatte ich aber einen anderen, bewußten Weg zu dieser Welt kennengelernt. Damit hatte sich mir wohl ein neues, inneres Ziel meines Lebens eröffnet. Wie stand es aber mit meinem äußeren Berufe? Ich fühlte ahnend, daß er irgendwie im Zusammenhang mit der Anthroposophie stehen werde. Ich zerbrach mir aber darüber weiter noch nicht den Kopf, denn aller Wahrscheinlichkeit nach stand auch mir für die allernächste Zukunft die Einberufung zum Kriegsdienst bevor. Als ich im Frühjahr 1917 die Maturitätsprüfung hinter mich gebracht hatte, beschloß ich, zunächst einmal Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren. Auf den dringenden Rat meiner Lehrer hin belegte ich außerdem noch Vorlesungen und Seminare in Altphilologie und Germanistik. Karl Joel, der damalige Inhaber des philosophischen Lehrstuhls, geistig beheimatet in der deutschen klassisch-romantischen Philosophie, war zwar eine liebenswerte Persönlichkeit und ein hervorragender Redner. Im Ganzen genommen enttäuschte er meine vielleicht zu hoch gespannten Erwartungen aber doch, da ich seine Darstellungen als eine mehr oder weniger unverbindliche, wirklichen Ernstes ermangelnde Schönrednerei empfand. Das philologische Studium vollends stieß mich nach kurzer Zeit ab, da es auf ein rein philologisch-handwerkliches Bearbeiten der literarischen Texte hinauslief, ohne den geringsten Ansatz zu einer geistigen Auseinandersetzung mit ihnen. Den größten Gewinn und zugleich Genuß verschafften mir Vorlesung und Seminar des (bald darauf verstorbenen) Kunsthistorikers H.Rintelen. Er war die lebensvollste Persönlichkeit unter meinen akademischen Lehrern und ein glänzender Redner. In der Vorlesung über Rembrandt und im Seminar über die (S29) Renaissancemalerei wußte er diese Erscheinungen der Kunstgeschichte zum intensivsten Leben zu erwecken und zugleich das künstlerische Sehen der Studenten zu schulen. So war also, im Ganzen genommen, das Ergebnis dieses ersten Semesters ein verhältnismäßig mageres. Die wenigen Tage, die mir nach seinem Abschluß bis zu meiner Einberufung noch verblieben, verbrachte ich damit, allerlei Texte Rudolf Steiners in ein dickes Notizbuch abzuschreiben, um mich für den Militärdienst mit einem eisernen Proviant an geistiger Nahrung zu versorgen.
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