Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

1. Persönlichkeit und Geschichte

Hauptergebnisse des ersten Bandes

- Geschichtliche Grundprobleme


I.


(S39) Übergehend nun zu den Darstellungen dieses zweiten Bandes rekapitulieren wir zunächst einige Hauptergebnisse des ersten.

   Wir gingen davon aus, daß angesichts des heutigen Standes der Erforschung der Menschheitsvergangenheit das menschliche Dasein nicht mehr schlechthin mit geschichtlichem Dasein gleichgesetzt, vielmehr das letztere nurmehr als eine Phase des ersteren betrachtet werden kann, dem andere Phasen desselben vorausgegangen sind, - jene nämlich, die wir dann in einer bestimmt umrissenen Bedeutung als diejenigen der "Vorgeschichte" und der "Urzeit" kennzeichneten. Daß dieser Satz heute so ausgesprochen werden kann und muß, erwies sich darin begründet, daß in den letzten hundert Jahren aus jenen Epochen des Menschheitswerdens, die der geschichtlichen vorausgingen, in immer wachsender Fülle und Mannigfaltigkeit Überreste sowohl von Menschen selbst als auch von menschlichen Kulturschöpfungen zutage getreten sind, welche eindeutig beweisen, daß der Mensch auch damals schon im vollen Sinne des Wortes "Mensch" gewesen ist. Die Bedeutung dieser Tatsachen liegt nun vor allem darin, daß durch die Einbeziehung dieser der geschichtlichen vorangehenden Phasen in die Betrachtung der Menschheitsvergangenheit sich heute die Möglichkeit ergibt, zu einem bestimmteren Begriff des geschichtlichen Daseins zu gelangen, als dies vordem möglich war. Ja, dadurch, daß uns jene vorgeschichtlichen Epochen des menschlichen Daseins durch die prähistorisch-archäologische Forschung namentlich des letzten halben Jahrhunderts weitgehend erschlossen worden sind, ist in der Gegenwart überhaupt erstmals die Möglichkeit entstanden, das Besondere, Spezifische des geschichtlichen Werdens in seiner Eigenart zu fassen.

  Allerdings bedarf es hierfür noch einer anderen Voraussetzung, einer Voraussetzung, die aber bereits als nächstes Postulat durch die Erweiterung unseres Horizonts über Vorgeschichte und Urzeit erstanden ist: nämlich dieser, daß ein Begriff vom Wesen des Menschen schlechthin entwickelt werde, der einerseits von solcher Bestimmtheit, andererseits von so umfassender Weite ist, daß in ihm der urzeitliche, der vorgeschichtliche und der geschichtliche Mensch (S40) als spezielle Ausgestaltungen desselben Raum finden. Welches Spezifikum dabei dem geschichtlichen zuzuerkennen sei, läßt sich dann durch unterscheidendes Vergleichen mit dem vorgeschichtlichen und urzeitlichen Menschen bestimmen.

   Ein solcher Begriff vom Menschen ist in ersten Ansätzen in den verschiedenen philosophischen und namentlich geschichtsphilosophischen Bemühungen des deutschen Geisteslebens der Goethezeit und neuerdings innerhalb der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts in Erscheinung getreten. Er besagt - wenn wir für das Gemeinsame seiner mannigfaltig variierenden Formulierungen einen zusammenfassenden Ausdruck suchen -: daß der Mensch seinem Kerne nach ein geistiges Wesen sei, d.h. daß ihm, die Erscheinungswelt transzendierend, eine Beziehung, Kommunikation, Wesensverwandtschaft mit dem eigne, was den Wesensgrund des Weltganzen bildet. Will man diesem Wesensgrund den Namen des Göttlichen geben, so bedeutet dies, daß der Mensch in seinem Kerne göttlichen, gottverwandten Wesens sei. Es erhebt sich heute nur die Forderung, diesen Begriff des Menschen so zu erweitern und zu vertiefen, daß mittels desselben auch der Charakter und die Leistungen seines vorgeschichtlichen und urzeitlichen Daseins umfaßt und verstanden werden können. Diese Forderung fanden wir hinsichtlich der Methoden und Ergebnisse in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners erfüllt, - daher wir denn diese von der Seite des Begrifflichen her zur Grundlage unserer Darlegungen machten. Für die Urzeit nämlich - dies suchten wir des weiteren zu zeigen - handelt es sich darum, aus diesem Menschenbegriff heraus die Bildung der menschlichen Leibesgestalt, die in ihr erfolgt, zu verstehen. Dies ist dann möglich, wenn für sie das geistige Wesen des Menschen noch als ein in voller Einheit mit dem weltschöpferischen göttlichen Geiste schaffendes erfaßt wird. Denn nur dann läßt sich begreifen, wie in der menschlichen Leibesform inmitten aller anderen, spezialisierten Formen der Naturwesen jenes einzigartige, universelle, den Makrokosmos in sich als Mikrokosmos zusammenfassende Gebilde entstehen konnte, als welches sie sich der neuesten anthropologischen Forschung immer entschiedener darstellt.

   Für die Vorgeschichte sodann muß aus diesem Menschenbegriff heraus die Bildung der Sprache verstanden werden, die deren bedeutsamste, wesentlichste Leistung repräsentiert. Dies wird dann möglich, wenn für sie der menschliche Geist einerseits als noch in der Gesamtmenschheit als einheitlich-"kollektiv" wirkender, andererseits als ein solcher erfaßt wird, der mit dem in den Welterscheinungen wirkenden Wesenhaften noch erlebend verbunden ist.

   Für die Geschichte schließlich muß aus diesem Menschenbegriff heraus die Entfaltung des Denkens (als des Vermögens, abgezogene Allgemeinbegriffe zu bilden) sowie das durch das Denken stufenweise zustande kommende Sichselbsterfassen des Menschen verständlich werden. Denn diese beiden Motive (S41) machen das "Grundthema" der geschichtlichen Entwicklung aus. Dies erfordert, daß für sie der Menschengeist als Individualität erfaßt wird.

   Der Menschenbegriff der deutschen idealistischen Philosophie entsprach mehr oder weniger dieser letzten, geschichtlichen Daseinsform und Wirkensweise des Menschengeistes. Dennoch vermochte er, gerade weil er nur diese umfaßte, auch ihr noch nicht in vollem Maße gerecht zu werden. Denn in ihrer ganzen Eigenart läßt auch sie sich nur erfassen, wenn ihr durch eine entsprechende Vertiefung des Geistbegriffes vergleichend diejenigen der Vorgeschichte und der Urzeit gegenübergestellt werden können. Dann zeigt sich nämlich, daß es sich in allen drei Phasen, nur eben auf drei verschiedenen Stufen, in drei verschiedenen Formen, um die Ausprägung des Menschlichen schlechthin handelt. In der ersten Phase erfolgt diese auf der leiblichen Stufe in der Bildung der Menschengestalt, die als das Gattungsmäßige jeder Mensch in wesentlich gleicher Konfiguration an sich trägt. In der zweiten Phase kommt sie auf seelischer Stufe zustande in der Bildung der menschlichen Sprache, in welcher die Gesamtmenschheit als Kollektivgeist schöpferisch ist. In der dritten endlich auf spezifisch geistiger Stufe in der Ausbildung der Begriffswelt, welche die Leistung des einzelnen Menschen als die eines individuellen Geistes darstellt. Es läßt sich dies auch so ausdrücken, daß auf der ersten Stufe das Menschliche schlechthin durch die gattungsmäßige Leibesgestalt repräsentiert wird, auf der zweiten Stufe durch die eine einzige, einheitliche Sprachgemeinschaft bildende Gesamtmenschheit, auf der dritten durch die denkend-erkennend sich selbst erfassende menschliche Individualität.

   Eben dadurch entsteht erst auf dieser letzten Stufe die geschichtliche Daseinsweise der Menschheit; denn die Geschehnisse und Taten, welche diese konstituieren, kommen durch einzelne Menschen zustande, d.h. in solcher Weise, daß diese, auch wenn sie in großen Massen sich an jenen beteiligen, doch als je Einzelne, mit dem Einsatz ihrer Individualitäten sich dabei betätigen. Allerdings erscheinen und wirken diese in einem einzelnen Leben nur in sehr beschränktem Maße als Repräsentanten des Menschlichen schlechthin. Sie können sich außerdem im allgemeinen erst im Lauf der Geschichte zu solchen erheben: nur in dem Grade nämlich, als die anfängliche volkhafte und geschlechtsbedingte Gebundenheit überwunden wird und durch die stufenweise Ausbildung einer allgemeinen, einheitlichen Menschheitskultur einerseits, durch die zunehmende Verselbständigung der Individualität andererseits die Voraussetzungen hierfür entstehen. Sie können es mit anderen Worten nur in dem Maße, als sie die Vielfalt der räumlich über die Erde ausgebreiteten menschlichen Daseinsformen und diejenige der zeitlich aufeinanderfolgenden Kulturgestaltungen sich geistig anzueignen vermögen. Diese Aneignung ist nicht als eine bloß intellektuelle, sondern als eine existentielle zu verstehen. Dies ist aber - wie im ersten Bande schon angedeutet wurde (S42) und im folgenden nun näher ausgeführt werden soll - nur dadurch möglich, daß sie in wiederholten Verkörperungen die ganze Fülle der räumlich und zeitlich verschiedenen Lebens- und Kulturgestaltungen lebensmäßig durchlaufen. Und so bildet es denn auch ein Kernmoment des durch die Steinersche Geistesforschung erweiterten Begriffes vom Wesen des Menschen bzw. des menschlichen Geistes, daß dieser - für die geschichtliche Phase - als durch wiederholte Erdenleben hindurchschreitende Individualität gefaßt werden muß. Zu all dem kommt als ein weiteres wesentliches Moment dieses hinzu, daß nach den Ergebnissen der geisteswissenschaftlichen Forschung - wie im ersten Band ausführlich begründet und dargestellt wurde - die je kleineren zeitlichen Einheiten menschlich-menschheitlichen Werdens die je größeren hinsichtlich ihrer Struktur in sich abbilden. Demgemäß spiegeln sich die drei Hauptphasen des gesamtirdischen Menschheitswerdens: Urzeit, Vorgeschichte, Geschichte (Wir sehen hier zunächst von der - ebenfalls schon dargestellten - genaueren Einteilung in eine Siebenheit von Epochen ab) in der Gliederung der letzten dergestalt wider, daß diese, die Geschichte, wiederum erst in der letzten, dritten ihrer Hauptepochen ihr eigenes Wesen vollständig zur Erscheinung und Ausprägung bringt. Wir schilderten, wie diese dritte Epoche der Geschichte selbst erst seit dem 15. nachchristlichen Jahrhundert heraufzuziehen begonnen, und wie seither in der Tat der Grundcharakter der Geschichte überhaupt innerhalb ihrer selbst immer entschiedener zum Durchbruch gekommen ist. Dies geschah einerseits dadurch, daß die Entdeckungsfahrten des 15. Jahrhunderts und das, was sich als Kolonisationen und beginnender Welthandel an sie angeschlossen hat, seit dem Beginne des 19. Jahrhunderts dann die modernen technischen Nachrichten-, Verkehrs- und wirtschaftlichen Produktionsmittel und das, was diese als Weltverkehr und Weltwirtschaft haben entstehen lassen, in unserer Gegenwart erstmals die Gesamtmenschheit in allen ihren Teilen zu einer faktischen Lebens- und Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen und damit die Geschichte im vollen Sinne zu einer solchen der Menschheit gemacht haben. Nach der einen Seite hin können wir mindestens für die Zukunft die Geschichte nicht mehr als eine solche von Völkern (Ranke), von "Kulturen" (Spengler) oder "Gesellschaften" (Toynbee), sondern wir müssen sie als eine solche der Menschheit schlechthin fassen. Die "Menschheit" ist nicht mehr bloß eine Idee, ein Ideal oder gar eine Fiktion, sondern die unmittelbar gegebene Realität, welche Geschichte macht, erlebt und erleidet. Auf der anderen Seite hat die Emanzipation der Individualität aus ihren völkischen, nationalen, klassenmäßigen Gebundenheiten heute überall, wenn auch in Abstufungen und vielfach noch durch Rückfälle in gruppenhafte Fanatismen und Chauvinismen retardiert, einen solchen Grad erreicht, daß Wohl und Wehe der (S43) Gesamtmenschheit in den Bereich ihrer Verantwortungen und Entscheidungen gerückt sind. Damit aber stellen sich für die Zukunft in einem Maße wie niemals vorher als die hauptsächlichsten auf die Geschichte bezüglichen Fragen diese beiden:


Erstens wie ist die Menschheitsgeschichte zeitlich zu gliedern und welchem Verhältnis stehen ihre aufeinanderfolgenden Epochen zueinander?

Zweitens: wie steht die einzelne Individualität im Ganzen der Geschichte drinnen? In welchem Sinne kann und muß sie ihre Stellung und Bedeutung innerhalb des Ganzen der Geschichte verstehen?


   Die erste dieser Fragen haben wir schon im dritten Teil (Zeit und Geschichte) des ersten Bandes zu beantworten begonnen (III.1 Zeit und Geschichte). In den folgenden Kapiteln soll diese Beantwortung eine Vervollständigung erfahren. Außerdem soll zu ihr die Beantwortung der zweiten Frage hinzukommen. Hierbei wird eben zu zeigen sein, daß diese in einer befriedigenden Weise nur durch die Berücksichtigung der Tatsache der Reinkarnation erfolgen kann.


II.

   Zu diesem Zweck soll zunächst die in dieser Frage enthaltene Problematik etwas genauer dargelegt werden.

   Wir hatten schon im ersten Bande geschildert, wie das, was im modernen Sinne unter Geschichtsphilosophie verstanden wird und seit dem 18. Jahrhundert entstanden ist, mindestens seit Voltaire gleichbedeutend wurde mit der Lehre vom geschichtlichen Fortschritt, von der geschichtlichen Entwicklung. Wir wollen hier nicht nochmals näher darauf eingehen, daß wir es bei dieser Fortschritsstheorie mit der säkularisierten eschatologischen Geschichtsschau des Christentums zu tun haben. Wir erinnern nur daran, daß der von ihr gemeinte Fortschritt im 18. Jahrhundert zunächst als ein solcher in der verstandesmäßigen Aufklärung und in der Humanität aufgefaßt wurde, im 19. Jahrhundert sodann einerseits unter dem wachsenden Einfluß der Naturwissenschaft z.B. bei Comte als ein solcher von einem religiös-mythologischen über ein philosophisch-metaphysischen zu einem wissenschaftlich-empirischen Weltverständnis hin erschien, andererseits, bedingt durch die heraufziehende soziale Problematik, z.B. bei dem Hegelschüler Marx als ein solcher verstanden wurde, der nach den Gesetzen der dialektischen Bewegung von einer durch Unterdrückung und Ausbeutung gekennzeichneten wechselnden Klassenherrschaft zur Erringung einer klassenlosen Gesellschaftsordnung hinführt. Wir haben auch schon darauf aufmerksam gemacht, wie diese Fortschrittstheorie, dieser Aufstiegsoptimismus bei einzelnen Geistern (Gobineau, Baudelaire, Wagner, Nietzsche, J.Burckhardt) schon im 19. Jahrhundert, in viel größerem und noch immer zunehmenden Umfang aber im 20. Jahrhundert, (S44) in eine Verfallstheorie, einen Niedergangspessimismus (Spengler, Th.Lessing, Klages u.a.) umgeschlagen hat. Dieser Umschlag wurde zunächst dadurch bewirkt, daß schon im vergangenen Jahrhundert die Schattenseiten der modernen Zivilisation: Verintellektualisierung des geistigen, Verapparatung des staatlichen und Mechanisierung des materiellen Lebens hervorzutreten begannen. Und er erlangte dann in unserem Jahrhundert die stärkste Wucht und größte Breite angesichts der Tatsache, daß durch die sozialen und kriegerischen Katastrophen mit all ihren Begleiterscheinungen, die es mit sich gebracht hat, die Fortschrittstheorie völlig widerlegt, ja ad absurdum geführt schien.

   Er gründete allerdings noch in einer anderen, tieferen Ursache, auf die wir im ersten Bande auch schon hingewiesen hatten: Unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Denkweise wurde ja der geschichtliche Fortschritt zumal im 19. Jahrhundert vielfach als eine Fortsetzung jener biologischen Entwicklung aufgefaßt, die nach Darwin von den primitivsten Lebewesen bis zum homo sapiens heraufgeführt hatte, - war es doch der Ehrgeiz gerade der Fortschrittstheoretiker jener Zeit, die Geschichtsforschung "zum Range einer Naturwissenschaft zu erheben"! Es erschien also dieser Fortschritt als ein mit mechanischer Zwangsläufigkeit sich vollziehender Prozeß der Höherentwicklung der menschlichen Gattung, dessen weiterer Verlauf daher bis zu einem gewissen Grad vorausberechnet werden könne. Von menschlicher Freiheit konnte ja im Sinne dieser naturwissenschaftlichen Denkweise nicht die Rede sein. Damit aber bedeutete sein weiterer Fortgang - zufolge den Darlegungen unseres ersten Bandes - gar keine "echte Zukunft", sondern nur das Weiter- bzw. Zuendeführen des von der Vergangenheit her Bestimmten und mit Notwendigkeit sich Vollziehenden. Diese Vorstellung mußte, sowie einmal die Schattenseiten dieser "Entwicklung" sich in den Vordergrund drängten, zur Überzeugung führen, daß diese unabwendbar einem Ende, einem Verfall entgegenführe, - wie er denn auch von Spengler nicht nur vorausgesagt, sondern sogar vorausberechnet worden ist.

   Ganz gleichgültig nun aber, ob die Linie des Geschichtsverlaufs als eine nach aufwärts oder nach abwärts, zu höherer Vollkommenheit oder zu Dekadenz führende gedeutet wurde, in beiden Fällen ergab sich eine Konsequenz, die für das geschichtsphilosophische Denken zur eigentlichen Crux werden mußte: die Konsequenz nämlich, daß der einzelne Mensch in eine bestimmte Epoche fixiert erschien und nur über diejenigen Möglichkeiten des "Menschseins" verfügte, welche diese Epoche, d.h. die entsprechende Fortschritts- oder Verfallsstufe ihm gewährte. Dadurch waren im Falle des Aufstiegs die je früher Geborenen gegenüber den je später Geborenen benachteiligt, im Falle des Niedergangs die je späteren Generationen gegenüber den je früheren. Damit aber verlieren die sittlichen Forderungen, die wir uns für die Gestaltung unseres (S45) Lebens gestellt empfinden, sowie die moralischen Maßstäbe, mit denen wir menschliches Verhalten zu messen uns gedrängt fühlen, mindestens ihren Absolutheitsanspruch. Der einzelne Mensch konnte mit anderen Worten von dieser Schau aus nicht als Repräsentant des Menschlichen schlechthin gelten, sondern höchstens als ein solcher seiner Epoche.

   In einer bestimmten Form trat diese Problematik bereits gegenüber der Hegelschen Geschichtsphilosophie auf. Wenn dieser zufolge jede Epoche nur ein Moment innerhalb der dialektisch verlaufenden Bewegung der Geschichte bedeutet, und das Ziel der letzteren erst an ihrem Ende erreicht wird, hat keine einen absoluten, sondern jede nur einen relativen Wert und Wahrheitsgehalt in sich, der durch den Ort, an welchem sie innerhalb der Gesamtbewegung steht, bestimmt ist. Jede wird durch die nächstfolgende in ihrer Gestalt "mediatisiert". Es ist bekannt, wie dieser Herabsetzung der einzelnen Epochen zu bloßen Momenten der dialektischen Bewegung des Geschichtsverlaufs Ranke die Behauptung entgegenstellte, jede Zeit sei "unmittelbar (immediat) zu Gott". Es ergab sich aus dieser Behauptung allerdings die Frage, worin sich dann die einzelnen Zeitalter voneinander unterscheiden, welches ihre Beziehung zueinander sei und in welchem Sinn von einer geschichtlichen Entwicklung die Rede sein könne. Ranke entwickelte hierüber die Auffassung, daß die ganze Fülle der Anlagen des menschlichen Geistes zwar nur im Verlauf der Gesamtgeschichte zur Ausprägung gelange, nicht aber in der Weise, daß dadurch die je früheren Epochen durch die späteren überwunden bzw. in ihrer Annäherung an das Absolute, Göttliche übertroffen werden, sondern lediglich dergestalt, daß in jeder Epoche gewissermaßen eine andere Seite des menschlichen Geistes hervortrete, so daß "in allen geschehe, was in keiner einzelnen möglich ist, damit die ganze Fülle des dem menschlichen Geschlechte von der Gottheit eingehauchten geistigen Lebens in der Reihe der Jahrhunderte zutage komme". Die Ordnung, nach welcher dieser Wechsel im Erscheinen der verschiedenen Kräfte des menschlichen Geistes sich vollzieht, ist die in der Geschichte waltende göttliche Vorsehung und kommt zum Ausdruck in der zeitlichen Gliederung der Geschichte bzw. in der Aufeinanderfolge der geschichtlichen Epochen. Die "Gesetze", die dieser zugrunde liegen, können wir zwar wohl ahnen, nicht aber erkenntnismäßig völlig durchdringen. Gar ein Ziel der Geschichte aufzustellen, auf welches sie sich zubewege, hieße, die göttliche Vorsehung in ihrer Freiheit beeinträchtigen zu wollen.

   Dazu ist zu sagen, daß, auch wenn die "Entwicklung" des Menschengeistes in der Geschichte nicht im Sinne eines Fortschrittes zum Vollkommenen oder einer dialektischen Bewegung, sondern einer gleichsam stückweisen Offenbarung der Gesamtheit der in ihm veranlagten Kräfte verstanden wird - bei gleichmäßiger "Unmittelbarkeit aller Epochen zu Gott" -, die Zuordnung der einzelnen menschlichen Persönlichkeit bloß zu einer einzelnen Erscheinungsform (S46) des menschlichen Geistes doch nicht völlig überwunden wird. Carl Hinrichs schließt daher in seinem Buche "Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit" (Göttingen 1954) den Abschnitt, in welchem er diese Problematik der Rankeschen Geschichtsschau bespricht, mit dem Satze: "Immer noch bleibt hier also eine nicht ganz geschlossene Naht zwischen dem Gedanken des Immediatsverhältnisses jeder Epoche zum Göttlichen und dem Gedanken der in einer Entwicklung des menschlichen Geistes zum Ausdruck kommenden göttlichen Weltregierung, - eine Lücke, die Lessing durch den Gedanken der Metempsychose zu schließen gesucht hatte" (S171).

   Außerdem aber kommt hier bei Ranke auch schon die Spannung zum Vorschein zwischen dem Gedanken des "Immediatverhältnisses" der einzelnen Epochen zum Absoluten und der erkenntnismäßigen Erfassung des Charakters dieser Epochen und ihrer Beziehung zueinander. Entweder nämlich tritt in dem Maße, als man die letzteren in bestimmter, konkreter Weise zu fassen versucht, jenes Immediatverhältnis in den Hintergrund, - oder aber in dem Maße, als man dieses betont, werden die Charaktere und Zusammenhänge der einzelnen Epochen undeutlich, unwesentlich, undurchdringbar, eine Sache der uns verschlossenen "göttlichen Vorsehung". Es erinnert dieses Verhältnis an jenes, das sich in der Physik unseres Jahrhunderts herausgebildet hat zwischen der Auffassung des Lichtes als Wellen- und derjenigen als Korpuskularbewegung. Es gibt Phänomene, welche zur ersteren, und solche, welcher zur letzteren Auffassung nötigen; und es bleibt nichts anderes übrig, als beide Auffassungen nebeneinander als komplementäre gelten zu lassen. Auch der Begriff der Heisenbergschen "Unbestimmtheitsrelation" drängt sich in diesem Zusammenhang auf, der besagt, daß, wenn der Bewegungsimpuls eines kleinsten Partikels der Materie gemessen wird, die Ortsbestimmung desselben unsicher wird, umgekehrt aber je genauer die Ortsbestimmung gemessen wird, desto unbestimmter der Wert für den Bewegungsimpuls wird. Wir werden der gleichen Erscheinung auch den im folgenden zu erwähnenden Versuchen zur Lösung dieser Problematik in der Geisteswissenschaft begegnen. In analoger, aber noch verschärfter Art als in der Hegelschen Geschichtsphilosophie kommt in der materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung Marxens die Ineinssetzung der Einzelpersönlichkeit mit einem bestimmten Moment der geschichtlichen Bewegung und die dadurch bedingte Relativierung, ja schlechthin die Vernichtung der sittlichen Forderungen, welche der Einzelne als für sich verbindlich empfinden muß, zum Ausdruck. Der "Bourgeois", eben weil er ein Glied er Bourgeoisie ist, also in einem bestimmten geschichtlichen Zusammenhang drinnensteht, kann, ihr zufolge, gar nicht anders als den Proletarier ausbeuten. Dieser wiederum, ganz gleichgültig, wie seine persönliche Moralität beschaffen ist, darf, ja muß, einfach weil er der proletarischen Klasse angehört, im Umsturz der sozialen Revolution sich an (S47) der Aufrichtung der Diktatur des Proletariats über die Bourgeoisie beteiligen. Er hat in den "Kapitalisten", wie immer auch der eine oder andere von ihnen sich verhalten mag, nicht die Menschen, sondern lediglich - die "Bourgeois" zu sehen.

   Mit der marxistischen Fortschrittstheorie hat sich in grundsätzlicher Weise N.Berdjajew in seinem Buche "Der Sinn der Geschichte" (1925) auseinandergesetzt. Auch er sieht den Grundmangel derselben zunächst darin, daß sie alle diejenigen, die vor der Erreichung des von ihr gekennzeichneten Endzieles der Geschichte gelebt haben, denen gegenüber erniedrige, die als die letzten geboren werden, indem sie sie nur als Mittel und Werkzeuge betrachtet, durch deren Wirksamkeit jener Endzustand herbeigeführt wird, in dessen Genuß dann nur die letzten kommen. "Der Fortschritt verwandelt jede menschliche Generation, jede menschliche Persönlichkeit, jede Geschichtsepoche in ein Mittel und Werkzeug für das Endziel: die Vollkommenheit, Macht und Seligkeit der kommenden Menschheit, daran keiner von uns sein Teil haben wird... Diese Lehre behauptet bewußt und wissentlich, daß es für die ungeheure Masse der menschlichen Generationen und für eine unermeßliche Reihe von Zeiten nur den Tod und das Grab gebe. Sie lebten in einem unvollkommenen, leidenden, widerspruchsvollen Zustand, einzig und allein aber soll irgendwo auf der Höhe des geschichtlichen Lebens, auf den erkalteten Gebeinen aller früheren Generationen solch eine Generation von Glücklichen erscheinen, die die Höhe erklimmen werde und für die die höchste Lebensfülle, die höchste Seligkeit und Vollkommenheit möglich sein würden. Alle Generationen erscheinen lediglich als ein Mittel zur Verwirklichung dieses seligen Lebens, dieser glücklichen Generation Auserwählter, die in einer uns unbekannten und fremden Zukunft auftreten soll... Solch eine Unterordnung aller menschlichen Geschicke zugunsten von irgendeiner Art messianischen Festes derjenigen Generation, der es gelingen sollte, die Höhe des Fortschritts zu erklimmen, empört das sittlich-religiöse Bewußtsein der Menschheit. Die Fortschrittsreligion, die sich auf einer derartigen Vergottung einer kommenden Generation von Glückskindern gründet, ist erbarmungslos gegenüber Gegenwart und Vergangenheit, sie verbindet einen grenzenlosen Optimismus hinsichtlich der Zukunft mit einem grenzenlosen Pessimismus hinsichtlich der Vergangenheit" (S259f).

    Berdjajew zeigt im weiteren, daß diese Überschätzung der Zukunft und Unterschätzung der Vergangenheit letzlich auf einer unzureichenden Vorstellung von der Zeit beruht. Diese Fortschrittstheorie vergißt nämlich, daß die linienhaft von der Vergangenheit in die Zukunft bzw. von dieser in jene fließende Zeit, innerhalb welcher sie den Fortschritt zu dem von ihr vorgestellten "irdischen Paradies" sich vollziehend glaubt, die von der Ewigkeit abgerissene Zeit ist, in der Vergangenheit und Zukunft auseinandergefallen sind und die jeweilige Gegenwart zu einem nicht faßbaren, weil stets vergehenden Jetzt verflüchtigt (S48) ist, - und daß dieser Zeit, in der alles relativ und Bruchstück ist, ein Absolutes, Vollkommenes und Dauerndes überhaupt nicht zur Verwirklichung kommen kann. Mit diesem Zeitbegriff ist nach seiner Meinung die Geschichte in ihrem tiefsten Wesen, in ihrem letzten Sinn überhaupt nicht zu fassen. Das wird vielmehr nur möglich, wenn erkannt wird, wie diese zerbrochene Zeit aus der "heilen", der Ewigkeit, in der ihre Momente noch eine ungeschiedene Einheit bildeten, hervorgegangen ist und in der Zukunft wieder in sie zurückkehren wird. In der endlichen, in ihr Dimensionen zerrissenen Zeit ist eine "Erfüllung" der Geschichte nicht zu finden: in ihr ist alles zum Scheitern verurteilt. Nur im Enden dieser Zeit, in ihrem Übergang in eine "heile", wieder "ganz" gewordene Zeit löst sich diese Tragik alles Geschichtlichen auf. Die Menschheitsgeschichte wird so, wie sie im Himmel begonnen hat, auch im Himmel, d.h. in einer andern "Zeit", enden.

   So völlig wir diese Auffassung gerade im Sinne unserer eigenen Darlegungen über das Zeitproblem im ersten Band bejahen können und müssen, so unterscheidet sich sich von diesen doch dadurch, daß das Wie dieses Übergangs von der Zeit zur Ewigkeit bei Berdjajew nicht konkret gefaßt wird, sondern im Unbestimmten bleibt, - wie er denn auch am Schlusse bekennen muß, daß "das Problem des individuellen Geschicks innerhalb des Bereiches der Geschichte unlösbar, - daß der tragische Konflikt des individuellen Geschicks mit dem Weltgeschick, mit dem Geschick der gesamten Menschheit unlösbar" sei (S282). Wie denn also der Einzelne in der Geschichte, soweit sie in der endlichen Zeit verfließende und in Epochen sich gliedernde Geschichte ist, eigentlich drinnensteht, das bleibt auch für ihn ein unauflösbares Rätsel.

   In jüngster Zeit hat sich mit der Fortschrittstheorie der englische Historiker Herbert Butterfield in seinem Buche "Christentum und Geschichte" (deutsch, Stuttgart 1952) auseinandergesetzt. In ähnlicher Weise wie Berdjajew betont auch er,

   daß "wir das Leben unserer Vorväter nicht als bloßes Mittel betrachten dürfen zu einem Zweck, der über das Individuum hinausführt, das heißt als der Geschichte irgendeines Systems oder einer Organisation untergeordnet... Die Technik der Geschichtsforschung selber fordert, daß wir jede Generation sozusagen als Selbstzweck betrachten, als eine Menschenwelt, die ihre eigene Daseinsberechtigung hat" (S78), und er weist (wie übrigens auch Berdjajew) in diesem Zusammenhang auf das oben zitierte Rankewort von dem Unmittelbarsein jeder Generation zu Gott. "Der Zweck des Lebens liegt also nicht in der fernen Zukunft..., sondern hier und jetzt ist das Ganze gegenwärtig in all der Fülle, die es jemals auf diesem Planeten haben kann. Es ist immer ein 'Jetzt', das in Beziehung zur Ewigkeit steht, nicht eine ferne Zukunft... Auch kenne ich keine weltliche Erfüllung des Lebens, die nur uns offenstehen sollte, während die Menschen im Zeitalter von Jesaias oder Plato, Dante oder Shakespeare keinen Zugang zu ihr gehabt hätten... Es wäre eine (S49) Illusion, sich vorzustellen, als hätte das Jahr 2000 oder 40 000 eine nähere Beziehung zur Ewigkeit als das Jahr 1949... Wenn daher Geschichte einen Sinn hat, so liegt dieser nicht in den Systemen und Organisationen, die für ihre Entstehung lange Zeiträume benötigen, sondern in etwas, das sehr viel menschlicher ist, etwas, das in jeder Person liegt, die innerhalb der Sinnzusammenhänge dieser Welt als Selbstzweck betrachtet werden muß." Der Sinn der Geschichte erfüllt sich ihm also immer wieder in der Existenz der einzelnen Persönlichkeiten, - in dem, was diese als Menschen aus sich machen.

   Wie verhält es sich dann aber mit dem Charakter und der Aufeinanderfolge der einzelnen Epochen? Butterfield vermag diese Frage nicht anders als mit Gleichnissen zu beantworten:

   "Die Geschichte gleicht nicht einem fahrenden Zug, der die einzige Bestimmung hat, an sein Ziel zu gelangen; sie gleicht auch nicht der Vorstellung, die mein jüngster Sohn von ihr hat, wenn er 365 Tage bis zu seinem nächsten Geburtstage zählt und sie alle als lästiges und bedeutungsloses Zwischenspiel betrachtet, das man nur erdulden muß im Hinblick auf das, was es am Ende bringt. Wenn wir nach einer Analogie zur Geschichte suchen, müssen wir an etwas denken wie eine Beethoven-Symphonie, deren Fülle nicht für das Ende aufgehoben wird, deren Musik nicht eine bloße Vorbereitung ist auf eine Schönheit, die erst im Schlußakt zur Entfaltung kommt. Und wenn auch in gewissen Sinne das Ende von der Gesamtarchitektur her bestimmt ist, so hat doch in einem anderen Sinn jeder Moment seine eigene Existenzberechtigung, jede Note hat ihre eigene Beziehung, die so wichtig ist wie die jeder anderen, und jede Stufe hat eine unmittelbare Bedeutung, ganz abgesehen davon, daß auch irgendeine Erfüllung stattfindet" (S80).

   So tiefsinnig man den letzten dieser Vergleiche auch empfinden mag, - mehr findet sich in dem ganzen Buche über Charakter und Beziehung der geschichtlichen Epochen nicht ausgeführt; und so ist es denn bezeichnend, daß gerade hier, wo der Sinn der Geschichte in der einzelnen Persönlichkeit sich zusammenfassend und erfüllend gesehen wird, Eigenart und Folge der Epochen nicht nur "unscharf" werden, sondern gänzlich außerhalb der Betrachtung verbleiben.

   Wenn auch in anderer Art als für die moderne, auf den Fortschrittsgedanken begründete Geschichtsphilosophie, war das Problem der Stellung der menschlichen Persönlichkeit im Ganzen der Geschichte aber doch bereits seit jeher auch für das Christentum gestellt, nur eben hier nicht auf einen Endpunkt oder Endzustand der Geschichte bezogen, sondern auf die Christustat als deren Mittelpunkt, - in Gestalt der Frage nämlich, ob - da erst durch Christus der Menschheit die Erlösung von der Erbsünde gebracht und damit der Himmel wieder aufgeschlossen worden ist - die "Gerechten", die in der vorchristlichen Zeit gelebt haben, auch der Erlösung teilhaftig geworden seien (S50) oder nicht. Die christliche Glaubenslehre hat diese Frage bekanntlich durch die Vorstellung beantwortet, daß Christus nach dem Tod auf Golgatha in die Vorhölle hinabgestiegen sei und die "Gerechten", die bis dahin an diesem Orte hatten verharren müssen, in den Himmel herausgeführt habe. Es darf hier daran erinnert werden, wie z.B. Dante in der "Göttlichen Komödie" seinen Führer Virgil in dem Augenblick, da sie miteinander den Vorhof der Hölle durchschreiten, diese Lehre vortragen läßt:


Und ich begann: "Mein Herr und Meister, sprich,

(Ich wollte mich in jenem Glauben stärken,

Vor dessen Licht des Irrtums Nacht entwich)

Kam keiner je durch Kraft von eignen Werken,

Durch fremd Verdienst von hier zur Seligkeit? -

Er schien des Worts versteckten Sinn zu merken

Und sprach: "Ich war noch neu in diesem Leid,

Da ist ein Mächtiger hereingedrungen,

Bekrönt mit Siegesglanz und Herrlichkeit.

Der hat des Urahns Geist der Höll' entrungen,

Auch Abels, Noahs; und auch Moses hat,

Der Gott gehorcht, mit ihm sich aufgeschwungen.

Abram und David folgten seinem Pfad,

Jakob, sein Vater, seine Söhne schieden,

Und Rahel auch, für die soviel er tat.

Sie und viel andre führt er ein zum Frieden,

Und willen sollst du nun: Vor diesem war

Erlösung keinem Menschengeist beschieden."


   In einer seiner letzterschienenen Schriften "Kultur am Scheidewege" (Civilisation on Trial, deutsch 1949) hat A.Toynbee dieses Problem vom Gesichtspunkt seiner Geschichtsauffassung wieder aufgegriffen (in dem Aufsatz "Christentum und Kultur" S233ff). Er unterscheidet darin in der Geschichte ein Zweifaches: einerseits das Auf und Ab der aufeinanderfolgenden Kulturen (deren er bekanntlich bisher etwa 20 zu erkennen glaubt), andrerseits - und hier liegt seine Differenz mit Spengler - einen durch die ganze Geschichte durchgehenden einheitlichen Faden, den er in der fortschreitenden Entwicklung des religiösen Lebens erblickt. Jede Kultur hinterläßt bei ihrem Sterben der Nachwelt gewissermaßen als ihr Ergebnis und Erbe einen Beitrag zur Höherentwicklung des religiösen Lebens. "Stellen wir uns die Religion als einen Triumphwagen vor, so sind die Räder, auf denen er gen Himmel rollt, die immer wiederkehrenden Zusammenbrüche der Kulturen auf Erden. Es hat den Anschein, als bewegten sich die Kulturen immer im Kreise herum, (S51) während die Religion einen einzigen, stetigen Weg nach oben verfolgt." So etwa hat die griechisch-römische Antike mit ihrem Untergang dem Christentum, welches das "Beste" aller früheren Religionen, die in den verschiedenen Gebieten dieses Kulturkreises einst entstanden waren, in sich aufgenommen und bewahrt hat, seinen Weg als "Weltreligion" anzutreten ermöglicht. Und so hält Toynbee es für möglich, daß unsere gegenwärtige, erstmals die ganze Erde umfassende Zivilisation bei ihrem Untergang einer nachfolgenden hinterlassen wird ein über die ganze Menschheit ausgebreitetes Christentum, welches als ihr Erbe dann in sich aufgenommen haben wird das "Beste" aller Religionen, die in den verschiedenen Teilen der ganzen Erde früher vorhanden waren, und so erst die wahre Welt- bzw. Menschheitsreligion geworden sein wird. Wird eine solche christliche Universalkirche - denn Toynbee identifiziert die christliche Religion durchaus mit ihrer kirchlichen Oragnisation - dann aber das "Reich Gottes auf Erden" darstellen? Toynbee verneint dies, da der Mensch, solange er in der Geschichte auf Erden lebt, immer der der Erbsünde unterworfene bleiben wird. Sie wird deshalb höchstens eine "irdische Provinz" dieses Reiches sein können. Was heißt das?

   Toynbee macht hier eine wichtige Unterscheidung. Der Mensch ist für ihn ein Doppelwesen: einerseits eine individuelle Seele und steht als solche in Beziehung zur göttlich-geistigen Welt, - andererseits ist er ein Gesellschaftswesen und gehört als solches der Geschichte an. Der geistig-moralische Fortschritt, den die Menschheit in der Geschichte machen kann und macht durch die kontinuierliche Höherentwicklung der Religion (wie Toynbee sie zu sehen glaubt), ist primär ein solcher im Verhältnis des Menschen als Individualität zur göttlich-geistigen Welt. Er sondert aber, recht verstanden, den Menschen nicht aus der Erdengemeinschaft heraus, sondern hat als Begleiterscheinung oder Nebenwirkung zur Folge, daß das Verhältnis von Mensch zu Mensch, das soziale Leben fortschreitend von der Kraft der Nächstenliebe, der Moralität durchdrungen wird.

   Wie steht nun das Christentum in diesem Fortschritt drinnen? Wenn unter "Erlösung" das Öffnen der Wege zur Verbindung mit dem Göttlichen verstanden wird, so konnten dieser durchaus auch die Angehörigen der vorchristlichen Zeit durch ihre Religionen als Seelen, als Individualitäten teilhaftig werden. Dazu brauchte nicht erst das Christentum in die Welt zu kommen. Und da diese "Erlösung" das Primäre für den Menschen ist, so waren die Menschen der vorchristlichen Zeit nicht benachteiligt.

   "Was Christus, die Propheten vor ihm und die Heiligen nach ihm der Kirche vermacht haben, und was diese infolge ihrer Entwicklung zu einer unvergleichlich leistungsfähigen Einrichtung immer noch mit Erfolg sammelt, bewahrt und aufeinanderfolgenden Christengeschlechtern mitteilt, ist ein wachsender Schatz der Erleuchtung und Gnade. Ich verstehe hier unter 'Erleuchtung' die Entdeckung oder Offenbarung, (S52) oder die geoffenbarte Entdeckung des wahren Wesens Gottes und der wahren Bestimmung des Menschen im Diesseits und Jenseits, unter Gnade den Willen oder die Inspiration, oder den inspirierten Willen, der darauf gerichtet ist, Gott näherzukommen und ähnlicher zu werden... Ist die seelische Möglichkeit, die das Christentum oder die anderen höheren Religionen, die seine Vorläufer waren und seine Gaben der Erleuchtung und Gnade zum Teil vorwegnahmen, gewähren, eine unerläßliche Bedingung für die Erlösung, - wobei wir unter Erlösung das Erlebnis einer Seele verstehen, die Gott sucht und ihn auf ihrem Erdenweg findet? Verhielte es sich so, dann wären unzählige Generationen von Menschen, die niemals Gelegenheit hatten, die vom Christentum und den anderen Religionen vermittelte Erleuchtung und Gnade zu empfangen, geboren worden und gestorben, ohne die mindeste Aussicht auf jene Erlösung, die die wahre Bestimmung des Menschen und der wahre Sinn des Erdenlebens ist. Das wäre, obwohl es einem widerstrebt, denkbar, wenn wir glaubten, daß der wahre Sinn des Erdenlebens nicht in der Vorbereitung der Seelen auf ein anderes Leben, sondern in der Errichtung der bestmöglichen menschlichen Gesellschaft liege. Das ist aber nach christlichem Glauben nicht der wahre Zweck, wenn auch eine fast sichere Begleiterscheinung eines Strebens nach dem wahren Zweck. Faßt man den Fortschritt als den sozialen Fortschritt des Leviathan und nicht als den seelischen Fortschritt des Einzelmenschen auf, dann wäre es vielleicht denkbar, daß zu Ehr und Frommen der Gesellschaft ungezählte Generationen vor uns zu einem tieferstehenden sozialen Leben verurteilt waren, auf daß schließlich die Nachfolger die Früchte ihrer Arbeit genießen und ein höheres soziales Leben führen könnten. Dies wäre denkbar unter der Voraussetzung, daß die Seele des Einzelmenschen um der Gesellschaft willen und nicht um ihrer selbst oder um Gottes willen da sei. Aber die Anschauung widerstrebt einem nicht nur, sie ist auch undenkbar, wenn wir uns mit der Religionsgeschichte beschäftigen, wo der höchste Wert auf den Fortschritt der menschlichen Seele zu Gott hin und nicht auf den der Gesellschaft in dieser Welt gelegt wird... Doch wenn die Menschen auf Erden nicht den Anbruch höherer Religionen, die im Christentum gipfelten,, abzuwarten brauchten, um sich während ihres Erdenlebens ein Anrecht auf den Zustand ewiger Glückseligkeit in der anderen Welt nach dem Tode zu sichern, wozu traten dann überhaupt höhere Religionen auf und wozu kam das Christentum selbst in die Welt? Ich möchte sagen: deshalb, weil unter der christlichen göttlichen Ordnung eine Seele, die die ihre gebotenen Möglichkeiten nach Kräften nützt, in ihrem Streben nach Erlösung der Gemeinschaft mit Gott und er Gottähnlichkeit unter den Verhältnissen des irdischen Lebens vor dem Tode näherkommt, als dies den Seelen möglich war,denen während ihrer Erdenpilgerschaft das Licht der höheren (S53) Religionen nicht leuchtete. Eine heidnische Seele kann ebensogut wie eine christliche endlich erlöst werden. Aber eine Seele, der die Erleuchtung und die Gnade des Christentums dargeboten ward, und die sich ihr öffnete, wird schon in dieser Welt das Licht der andern Welt heller leuchten als einer heidnischen, die erlöst wurde, weil sie die geringere ihr hier gebotene Möglichkeit nach Kräften nützte."

   In dem unmittelbar darauf folgenden Aufsatz "Geschichte und Seelenleben" desselben Buches sucht Toynbee das Fazit der wiedergegebenen Ausführungen noch durch eine prinzipielle Betrachtung zu begründen. Er stellt da zwei Auffassungen einander gegenüber, von denen jede, für sich allein absolut genommen, eine Unmöglichkeit bedeutet, relativ genommen aber doch "ein Körnchen Wahrheit" enthält. Die eine ist diese, daß der Mensch nur Glied der Gesellschaft und der ganze Sinn seines Daseins in der Gesellschaft beschlossen sei. "Das Individuum ist um der Gesellschaft willen da, nicht diese um seinetwillen. Dabei ist das Charakteristische und Bedeutsame im menschlichen Leben nicht die geistige Entwicklung der Seelen, sondern die soziale Entwicklung der Gemeinschaften." Aus dieser Auffassung heraus kann man zwar einen geschichtlichen Fortschritt in der Theorie begründen und in der Praxis herbeiführen. Was dadurch sich vervollkommnet, ist aber nicht eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft, sondern eine Art Ameisen-, Bienen- oder Termitenstaat. Denn diese Auffassung verkennt, daß das Wesen des Menschen dadurch gekennzeichnet ist, daß "die Einzelseele echtes Eigenleben besitzt, das sich vom Leben der Gesellschaft unterscheidet". Ihre Verwirklichung führt daher zu solchen Barbarismen, wie sie in älterer Zeit etwa in Sparta, in der Gegenwart in noch gesteigertem Maße in den verschiedenen totalitären "sozialistischen" Systemen in Erscheinung getreten sind. "Nach religiösen Begriffen ist diese Behandlung des Einzelnen als eines bloßen Teiles der Gemeinschaft eine Verleugnung des persönlichen Verhältnisses der Seele zu Gott und bedeutet den Ersatz der Gottesverehrung durch den Kult der Gemeinschaft, - eine sittliche Ungeheuerlichkeit." Dennoch enthält diese Auffassung ein Körnchen Wahrheit: daß der Mensch nämlich ein geselliges Lebewesen ist. Christlich ausgedrückt: Die Seele bedarf außer ihrer Beziehung zu Gott auch der Beziehung zu ihren Mitmenschen, die auch Kinder Gottes sind.

   Die entgegengesetzte Auffassung geht dahin, daß für die Seele der ganze Sinn ihres Daseins außerhalb der Geschichte liege, und daß das ganze Diesseits vollkommen sinnlos und böse sei. Sie faßt die menschiche Seele nur als Einzelwesen und in seiner Beziehung zum Göttlichen. Der extremste Vertreter dieser Auffassung ist der Buddhismus, in gemilderter Form hat sie aber auch lange Zeit innerhalb des Christentums geherrscht. Sie drängt die Seele dazu, sich ganz aus der Erscheinungswelt bzw. der menschlichen Gesellschaft herauszuziehen und mit dem Göttlichen eins zu werden. Da die Seele aber selbst (S54) auch einen Teil jener Welt bildet, so bedeutet ihre Vereinigung mit dem Göttlichen ihr Erlöschen, ihre Auflösung im Nirwana. Auch dieser Weg also führt schließlich, wenn auch in anderer Art und Richtung als der erst geschilderte, zur Auslöschung bzw. Aufhebung des Menschlichen. Diese Auffassung ist außerdem auch unchristlich; denn, wäre sie wahr, warum ist denn dann Christus Mensch geworden und im Erdendasein erschienen? Doch damit die Seelen der Menschen während ihres Erdenlebens erlöst werden! So hat Gott der ganzen Menschheit seine Gnade und Liebe geschenkt, und darum soll der Mensch auch seine Mitmenschen lieben. Und doch birgt auch diese Auffassung ein Körnchen Wahrheit in sich. Es ist diese, daß das menschliche Erdenleben kein Ganzes und kein Selbstzweck, sondern nur ein Bruchstück eines größeren Ganzen ist, und daß in diesem größeren Ganzen der Mittelpunkt und der herrschende Zug im Leben der Seele ihr Verhältnis zu Gott ist.

   Was ergibt sich hieraus?

   Der Seinszweck der Seele liegt weder zur Gänze innerhalb der Geschichte noch außerhalb derselben. Ihn ganz und nur in der Geschichte sehen zu wollen, würde bedeuten, ihr als Seele ihren Eigenwert abzusprechen und ihre Beziehung zu einer höheren Welt zu verneinen, und müßte zu all den oben angedeuteten praktischen Konsequenzen führen, die sich aus einer solchen Auffassung ergeben. Bestünde jedoch für die Seele, ganz unabhängig von jeder geschichtlichen Situation, die stets gleiche Möglichkeit, Gott zu erkennen und zu lieben, so wäre die Geschichte sinnlos. Es ist bekannt, welche Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte schon die altindische Religion, insbesondere aber der Buddhismus, bei ihren Bekennern erzeugt haben. Und wir haben im ersten Bande gezeigt, welche relative Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte selbst die gemilderte Form dieser Auffassung, wie sie im mittelalterlichen Christentum geherrscht hat, zur Folge hatte. Wir hatten dort darauf hinzuweisen, wie die Augustinische Geschichtsphilosophie, der dieser Auffassung in ihrer gemilderten Form zugrundeliegt, deshalb noch bis zu einem gewissen Grade eine ungeschichtliche war, indem sie nämlich die Geschichte nur insoweit in sich begriff, als sie vom Standpunkt des Einzelnen aus gesehen "Heilsgeschichte" bedeutet.

   Worin kann also der Sinn der Geschichte und des geschichtlichen Fortschritts liegen? Da Toynbee irgendeine Veränderung des Menschen in körperlicher und geistiger Beziehung während der Geschichte nicht zuzugeben vermag, scheint ihm der geschichtliche Fortschritt einzig in der "Verbesserung unseres sozialen Erbes", in der Vervollkommnung der Beziehungen zwischen den Menschen bestehen zu können. Wie aber kann ein solcher Fortschritt erreicht werden? Nur dadurch, daß "eine Anhäufung und Vermehrung der Gnadenmittel stattfindet, die jeder Seele auf dieser Welt zur Verfügung stehen. Der Erfolg davon läge darin, daß es den Seelen ermöglicht würde, schon im (S55) Diesseits Gott besser zu erkennen und ihn inniger auf seine eigene Art zu lieben. In solcher Schau erscheint die Welt nicht als ein geistiger Übungsplatz jenseits der Grenzen des Reiches Gottes; sie ist vielmehr eine Provinz seines Reiches..."

   Wir haben es, wie man aus diesen Darlegungen ersieht, bei Toynbee mit einer ganz eigenartigen Fassung des Problems der Geschichte zu tun:

   Auf der einen Seite erscheint auch bei ihm die Geschichte vom einzelnen Menschen als solchen und dessen letzter, höchster Bestimmung her gesehen. Diese Bestimmung ist für Toynbee gegeben durch des Menschen Beziehung zur göttlich-geistigen Welt. Sie zielt auf die Erlangung der ewigen Seligkeit nach dem Tode, mit anderen Worten auf die "Erlösung". Diese Bestimmung begründet jedoch keine Geschichte; sie repräsentiert vielmehr das Element der Stabilität, der Unveränderlichkeit des menschlichen Daseins. Denn die Chancen für ihre Erfüllung sind - negativ: durch die Unüberwindbarkeit der "Erbsünde", positiv: durch die Hilfen der Religionen - grundsätzlich zu allen Zeiten vorhanden. Ja, in dieser Urbestimmung des Menschen liegt sogar ein antigeschichtliches Moment; denn wollte der Mensch nur ihr nachleben, so würde dies zur völligen Verneinung und Aufhebung seines irdisch-geschichlichen Daseins führen.

   Auf der anderen Seite steht das Geschichtsbild Toynbees doch zugleich im Zeichen des mit der modernen Geschichtsanschauung verbundenen Fortschrittsgedankens. Denn ohne irgendeinen Fortschritt gäbe es ja keine wirkliche Geschichte. Der geschichtliche Fortschritt liegt aber für Toynbee nur in einer gradweisen Verbesserung und Vermehrung der Chancen für die Erfüllung der menschlichen Grundbestimmung, und er hat seinen eigentlichen Schwerpunkt in einem Sekundären: im Gebiete der Beziehungen zwischen den Menschen. Er bringt eine Vervollkommung dieser mit sich, und zwar als Begleiterscheinung der Verbesserung der genannten Chancen. In diesem Zusammenhang liegt die Bedeutung, die dem Christentum zukommt. Würde jedoch der Mensch dieses Sekundäre: die Vervollkommnung der Beziehungen, mit anderen Worten das eigentlich Geschichtliche für sich allein zum Primären, zum Selbstzweck erheben, so vernichtete er damit die Möglichkeit, seine eigentliche Bestimmung zu erreichen.

   Toynbees Geschichtsbild stellt also einen Versuch dar, in der Auffassung der Geschichte das Moment der Stabilität, der Unveränderlichkeit mit demjenigen des Fortschritts, der Wandlung zu versöhnen. Es ist zugleich ein Versuch, den christlichen Glauben, der ja in seiner bisherigen Ausgestaltung (Augustinus!) noch kein im vollen Sinne geschichtliches Bild der Geschichte zu entwickeln vermochte, mit dem aus der modernen Geschichtsauffassung geborenen Fortschrittsgedanken zu versöhnen. Das Ergebnis dieses Versuches ist allerdings ein bloßer Kompromiß zwischen beiden, - ein Kompromiß, der gleichzeitig (S56) zentrale Lehren des christlichen Glaubens ihres substantiellen Inhaltes entleert und sich in Widerspruch setzt mit geschichtlichen Tatsachen, über die uns gleichermaßen die geschichtliche Vergangenheits-Erforschung wie unsere eigene geschichtliche Gegenwartsforschung belehren. Denn einerseits entkleidet Toynbee die Begriffe der Erbsünde und Erlösung völlig des Sinnes und gegenseitigen Zusammenhanges, der ihnen im Christentum zukommt. Dieses kennt keine wirkliche "Erlösung" vor der Tat auf Golgatha und außer in Christus. Und als eine "Provinz des Gottesreiches" könnte in seinem Sinne höchstens das Paradies bezeichnet werden, in dem der Mensch ursprünglich gelebt hat, nicht aber die Erdenwelt, in die er nach seinem Fall in die Erbsünde herausgestoßen worden ist. Auf der anderen Seite sieht sich Toynbee, weil er den Einzelmenschen und seine Bestimmung gemäß den im tieferen Sinne noch ungeschichtlich gearteten bisherigen christlichen Glaubensvorstellungen faßt, genötigt, das Element des Geschichtlichen im wesentlichen auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Menschen einzuschränken; und da Geschichte für ihn von Fortschritt untrennbar ist, muß er eine moralische Vervollkommung dieser Beziehungen annehmen, die durch die geschichtlichen Tatsachen nicht nur nicht erhärtet, sondern geradezu widerlegt wird. Ganz abgesehen davon, daß sie auch im Widerspruche steht zu der von ihm (im Sinne des bisherigen christlichen Glaubens) behaupteten Unüberwindbarkeit der Erbsünde in geschichtlicher Zeit. Dieser würde viel eher die Vorstellung Berdjajews von dem ständigen Scheitern aller irdisch-geschichtlichen Bestrebungen entsprechen. (Berdjajew gibt mit dieser Vorstellung allerdings die Idee eines geschichtlichen Fortschritts preis. Er sieht die Geschichte nicht als einen Prozeß des Fortschrittes, nicht einmal im Sinnbilde einer Beethovensymphonie, sondern in dem eines Dramas, einer Tragödie).

   So kann also auch die Auffassung Toynbees nicht als eine befriedigende Lösung der Frage nach der Beziehung der menschlichen Individualität zur Geschichte gelten, wenn ihr auch zugebilligt werden muß, daß sie die in dieser Frage enthaltene Problematik bzw. Antinomie in bemerkenswerter Klarheit herausarbeitet.

   Zweifellos ist mit dem Begriff der Geschichte unabtrennbar verbunden derjenige der Wandlung der Veränderung, - ob man diese nun als Entfaltung, Fortschritt, Verfall oder wie immer auffaßt. Denn wodurch sonst würde sich das geschichtliche Dasein der Menschheit von dem geschichtslosen der Naturreiche unterscheiden? Soll es nun aber in der Geschichte letzten Endes doch um den einzelnen Menschen gehen, soll er als der Repräsentant der geschichtlichen Existenz der Menschheit erscheinen, so gibt es zuletzt keinen anderen Ausweg, als diese Wandlungen, welche die Geschichte ausmachen, im einzelnen Menschen selbst aufzufinden. Dies ist aber nur durch den Gedanken der (S57) Reinkarnation möglich. Diese entscheidende Einsicht war es, die schon Lessing in seiner "Erziehung des Menschengeschlechts" errungen hatte.

   Wird die geschichtliche Entwicklung als eine solche aufgefaßt, die sich im Innern der einzelnen durch die Folge ihrer Verkörperungen hindurchschreitenden Menschen vollzieht, dann kann sie durch keine äußere Katastrophe widerlegt werden. Sie ist durchaus verträglich mit dem Scheitern aller äußeren Bestrebungen. Denn alles Äußere ist nicht Ziel oder Zweck, sondern nur Mittel, durch das innere Errungenschaften gemacht werden.

   Dann aber werden durch solche Entwicklung auch nicht die früher Geborenen zugunsten der Späteren benachteiligt. Denn die Späteren sind ja selbst die wiederverkörperten Früheren. Und alle werden auch die Letzten sein.

   Und dann braucht auch dem Christentum nicht der Anspruch auf die absolute Geltung der durch die Tat auf Golgatha gebrachten "Erlösung" aberkannt werden, insofern diese als ein integrierendes Moment dieser Entwicklung aufgefaßt wird. Denn alle, die in der vorchristlichen Ära gelebt haben, werden ja in der christlichen wiederverkörpert und der Gnadenwirkung teilhaftig, die von Golgatha ausstrahlt.

   Mit diesen Bemerkungen sollte hier zunächst nur ein Grundsätzliches angetönt werden. Wie das Bild der Geschichte im Konkreten sich im Lichte der Reinkarnation darstellt, soll in den folgenden Kapiteln von verschiedenen Aspekten her gezeigt werden. Daraus wird auch erhellen, wie in diesem Lichte die Frage nach dem Verhältnis der Einzelpersönlichkeit zu den Wandlungen der Geschichte im Genaueren sich beantwortet.

   Nur eines ist dieser Darstellung hier noch vorauszuschicken. Bei Lessing trat die Idee der Wiederverkörperung als geschichtsphilosophischer Gedanke auf, den er am Ende seiner "Erziehung" sogar nur in Form einer Frage aussprach. Rudolf Steiner hat in unserem Jahrhundert (20.Jhdt.) die Wiederverkörperung als einen der übersinnlichen Erfahrung sich ergebenden Tatbestand geltend gemacht, - jener übersinnlichen Erfahrung, welche die Quelle der von ihm begründeten geisteswissenschaftlichen Forschung überhaupt bildet, und zu deren Erwerbung er in seinem Buche "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" die Wege gewiesen hat. Er hat darum nicht nur das Daß der Reinkarnation behauptet, sondern auch ihr "Wie" aus der übersinnlichen Anschauung heraus in allen Einzelheiten beschrieben. Bezüglich dieser Einzelheiten muß daher auf seine einschlägigen Darstellungen verwiesen werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Darstellung der Bedeutung, die der Wiederverkörperung des Menschen für die Probleme der Geschichte zukommt.

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