III. Zeit und Geschichte
3. Die Struktur der Zeit
I.
(S175) Wenn in den vorangehenden Kapiteln gezeigt wurde, daß das besondere Verhältnis, das zwischen Zeit und Geschichte besteht, darin begründet ist, daß nur die Geschichte alle drei "Dimensionen" der Zeit - als gegliederte Drei-Einheit - in sich enthält, und zwar dadurch, daß sie in erster Linie die Welt der wesenhaften Gegenwart darstellt, in welcher sich aber Vergangenheit und Zukunft als in einem mittleren Dritten verbinden, - so kommt darin eine Auffassung der Geschichte zum Ausdruck, die sich erheblich von derjenigen unterscheidet, die im Laufe der neueren Zeit fast allgemein herrschend geworden ist. Für die letztere ist ja die Geschichte gleichbedeutend mit Vergangenheit, und der "Historiker" erscheint als der Menschentypus, dessen geistiger Blick zeitlich nach rückwärts gerichtet ist und der eine Sache um so höher schätzt, aus je älterer Vergangenheit sie herstammt. Darin liegt ja auch der Grund, warum "Tatmenschen", deren ganzes Sinnen und Trachten der Zukunftsgestaltung gilt, für die so aufgefaßte Geschichte nicht viel übrig zu haben pflegen und das "alte Gerümpel", das jene sorgfältig zu bewahren suchen -, wo immer möglich zu beseitigen streben.
In einer älteren Zeit, genauer gesagt: in jener Epoche der christlichen Ära, die der Moderne voranging, und in der zuerst der Begriff der Menschheitsgeschichte konzipiert wurde, bedeutete Geschichte noch nicht in demselben Maße Vergangenheit. Sie erschien damals noch als jener Gesamtprozeß, der da verläuft zwischen Sündenfall und jüngstem Gericht, und von dem ein Teil schon vergangen ist, ein andrer aber noch der Zukunft angehört. Und wenn auch von den sieben Welttagen der Geschichte, die Augustinus unterschied, fünf heute schon hinter uns liegen, so steht der siebente für uns, die wir uns in der Zeit des sechsten befinden, noch bevor. Für Joachim de Fiore aber, der die Gesamtgeschichte in die drei Epochen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes gliederte, erschien die Menschheit in seiner Zeit erst dicht vor der Schwelle des letzten Drittels der Geschichte angelangt. Für beide bedeutete jedenfalls die Betrachtung der Geschichte einen Blick nicht nur nach rückwärts in der Zeit, sondern ebensogut nach vorwärts, und entzündete darum auch jenes Feuer des Willens in ihnen, welches das (S176) Hinschauen auf die Zukunft in der menschlichen Seele zu entfachen vermag. Aber freilich: ihr Blick auf die Geschichte war zugleich noch eins mit ihrem Hinblicken auf die göttlich-geistige Welt. Sie bezogen das Wirken derselben noch in die Faktoren des geschichtlichen Geschehens mit ein. Die Geschichte spielte sich nach ihrer Auffassung gemäß einem göttlichen Heilsplan ab. Göttliche Vorsehung sahen sie in ihren Entscheidungen walten. Ihre Geschichtsauffassung war noch eine theologische. Ihre Darstellungen betrafen denn auch vornehmlich Religions- und Kirchengeschichte.
Die neuere Zeit hat, insbesondere seit Voltaire, die göttliche Vorsehung aus den Faktoren eliminiert, die sie in der Geschichte walten sieht. Sie hat an die Stelle der Geschichtstheologie zunächst eine Geschichtsphilosophie gesetzt. Sie verbindet mit dem Blick auf die Geschichte nicht mehr denjenigen auf die göttlich-geistige Welt. Und sie maßt sich deshalb auch nicht mehr ein Wissen von der Zukunft oder dem Ende der Geschichte an. Geschichtsbetrachtung wurde ihr vielmehr identisch mit Menschenbetrachtung d.h. mit der Erforschung der "menschlichen Natur", die ihr als eine unveränderliche erschien. Die Ereignisse der Geschichte - und dies waren ihr vor allem diejenigen, die der weltlich-profanen Sphäre angehören - bedeuteten ihr das unausschöpfbare Bilderbuch von Tatsachen und Erscheinungen, in denen sich die menschliche Natur in dem unendlichen Reichtum ihrer Anlagen und Möglichkeiten spiegelt, - der Schatz von Phänomenen, in denen sich der "Geist der Zeiten", der "Geist der Völker und ihrer Sitten" (Voltaire) offenbart. So war nun der Blick auf die Geschichte zwar zu einem solchen in die Vergangenheit geworden, in der man aber doch nur fand, was auch die Gegenwart zeigt.
Noch andere Bedeutung gewann dieser Blick in die Vergangenheit allerdings, seitdem im 19. Jahrhundert naturwissenschaftliche Denkgesinnung in die Geschichtsbetrachtung einbrach. Vorbereitet hatte sich dieser Vorgang allerdings schon in Geschichtsdenkern des 18. Jahrhunderts wie Turgot und Condorcet. Jetzt aber sollte die Historie im strengsten Sinne "zum Rang einer Naturwissenschaft erhoben werden" (J.St.Mill). Man suchte nach den Gesetzen, nach denen sich das geschichtliche Werden mit Notwendigkeit vollzieht. Geschichtsbetrachtung wurde - wie schon an früherer Stelle erwähnt - identisch mit dem Streben nach kausaler Erklärung der Abfolge geschichtlicher Ereignisse. Damit aber wurde Geschichte auch im wesenhaften Sinne zur "Vergangenheit", so wie es die Natur ist. Man könnte auch sagen: es wurde damit eigentlich der Mensch - für die Betrachtung - aus der Geschichte ausgeschaltet; und zwar vor allem der Mensch als Individualität, zu welcher er ja gerade erst in der Geschichte geworden ist, und in welcher allein Zukunft und Vergangenheit zu wahrhafter Gegenwart sich verschlingen können. Die Ausschaltung der menschlichen Individualität zeigte sich (S177) fürs erste darin, daß anstelle derselben innerhalb dieser naturwissenschaftlich orientierten Geschichtsbetrachtung die "Gesellschaft", nationale oder klassenmäßige Kollektive als Träger der Geschichte traten - bei Marx sogar als Faktoren derselben die Gestaltungen der rein wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse; zum zweiten darin, daß die Geschichte - infolge ihres naturgesetzlich bestimmten Ablaufs - in bezug auf ihre Zukunftsgestaltung als berechenbar erschien. Und so trat das Paradoxon auf, daß gerade diejenigen Geschichtsauffassungen, für welche Geschichte - im oben angedeuteten Sinne - zur wesenhaften Vergangenheit geworden war, dadurch sich kennnzeichneten, daß sie bestimmte Zukunftsbilder entwarfen und zur Grundlage von "fortschrittlichen", ja revolutionären Bestrebungen wurden. So schon bei A.Comte, der mit der von ihm aufgestellten Theorie von den "drei Stadien" der Geschichte einen Kultus der Menschheit, eine Art positivistischer Kirchenorganisation zu inaugurieren strebte, - so vor allem aber K.Marx, dessen materialistische Geschichtstheorie gipfelte in der Propagierung der sozialen Revolution und Errichtung der Diktatur des Proletariats, durch welche die Verwirklichung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaftsordnung als des Endzieles der Geschichte herbeigeführt werden sollte.
Gewiß gehörte in allen solchen Theorien das Interesse an der Geschichte vor allem dem, was diese in Zukunft noch bringen sollte. Der Glaube an den geschichtlichen "Fortschritt" war ja zur Religion des 19. Jahrhunderts geworden. Charakteristisch ist aber dennoch, daß dieser Fortschritt als ein mit naturgesetzlicher Notwendigkeit sich vollziehender betrachtet wurde und daher keine echte Zukunft in sich begriff, die ja nur mit dem Elemente der Freiheit verbunden gedacht werden kann. Daher konnte der Fortschrittsoptimismus - je nach der Art, wie man die geschichtlichen "Errungenschaften" wertete - auch unversehens und unmittelbar in Niedergangspessimismus umschlagen. Was als ein solchen schon bei einzelnen Denkern des 19. Jahrhunderts (Baudelaire, Jak.Burckhardt, Nietzsche, Tolstoi u.a.) sich gezeigt hatte, das erfuhr dann im 20. seine ausgearbeitetste und wuchtigste Formulierung in der Geschichtsphilosophie O.Spenglers. Auch sie ist ja eine durch und durch naturwissenschaftliche, wenn sie auch den Begriff der mechanisch-physikalischen Kausalität durch denjenigen der organischen Lebensgesetzlichkeit ersetzt wissen will. Der naturwissenschaftliche Charakter ihrer Geschichtsdeutung zeigt sich ferner darin, daß ein Grundgedanke derselben derjenige der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" in den aufeinanderfolgenden Lebensphasen der verschiedenen Kulturen und damit auch derjenige von deren Berechenbarkeit ist, - und der Charakter der wesenhaften Vergangenheit, den dadurch die Geschichte bekommt, dokumentiert sich schließlich darin, daß Spengler, indem er in die "Zukunft" blickt, nur den (S178) unentrinnbaren, weil mit Naturnotwendigkeit sich vollziehenden "Untergang des Abendlandes", - ja in seinem letzten Werke (Mensch und Technik) sogar der Menschheit schlechthin erblicken kann.
Demgegenüber bedeutet die Geschichtstheorie, wie sie in neuerer Zeit A.Toynbee in seiner großangelegten "Study on History" entwickelt hat, in gewisser Weise eine Wiedereinsetzung des Menschen bzw. der menschlichen Individualität in die Geschichte. Sie bedeutet damit zugleich die Geltendmachung des wesenhaften Gegenwarts-Charakters der Geschichte. Denn ist nichts anderes als die Kennzeichnung des Erlebens der wesenhaften Gegenwart, was in der Entgegensetzung einer von außen an den Menschen herankommenden "Herausforderung" und einer von ihm auf diese aus seinem Innern heraus zu erteilenden "Antwort" gegeben ist. Denn jede gegebene Situation, in der sich der Mensch in einem je gegenwärtigen Augenblicke befindet, wirkt auf ihn, insofern er ein handeln könnendes Wesen ist, als Herausforderung zu einer bestimmten Tat, - wie er aber diese beantwortet, dafür gewährt sie ihm dennoch immer einen gewissen Spielraum freier Entscheidung. In dieser Zweiheit erlebt er unmittelbar Vergangenheit und Zukunft, Notwendigkeit und Freiheit, - und in ihrer Beziehung zueinander erfühlt er die jeweilige Gegenwart, - wie ja schon das Herstellen dieser Beziehung von ihm selbst Geistesgegenwart verlangt. Mit all dem hängt es zusammen, daß Toynbee den Gedanken einer Berechenbarkeit der geschichtlichen Zukunft ablehnt.
Das Unzulängliche der Geschichtsbetrachtung Toynbees, auf deren verschiedene Elemente hier im übrigen nicht eingegangen werden soll, liegt lediglich darin, daß er diese im Prinzip richtige Auffassung der Geschichte zu einer in gleichmäßiger Art für alle ihre Phasen gelten sollenden Theorie verabsolutiert - oder anders gesagt: daß er sie nicht in der für ihre verschiedenen Phasen notwendigen Weise zu metamorphosieren vermag. Dadurch wird er zwar gewissen mittleren Partien der Menschheitsgeschichte gerecht, nicht aber den älteren, und ebenso unzulänglich ist, was er an Zukunftsperspektiven entwickelt. Denn wir haben im Vorangehenden bereits öfter angedeutet und werden es im Folgenden noch genauer darzustellen haben, daß in den älteren Epochen der Geschichte, und zwar noch eine sehr große Strecke weit, Verhältnisse der Vorgeschichte nachwirken, in welcher die Menschheit noch ein ganz andersgeartetes Verhältnis zur Zeit gehabt hat, - und auch für die Zukunft muß abermals ein anderes als das gegenwärtige Verhältnis zur Zeit vorgestellt werden. Man könnte daher auch sagen: die Unzulänglichkeit Toynbees liegt darin, daß er, was ein methodisches Prinzip der Geschichtsbetrachtung sein muß, durch dessen Ausgestaltung zu einer Theorie in ein inhaltliches verwandelt hat. (S179)
Damit sind wir bei der Frage angelangt: welche methodischen Konsequenzen für die Betrachtung der Geschichte ergeben sich aus ihrer in den vorangehenden Kapiteln entwickelten Kennzeichnung als der wesenhaften Gegenwart bzw. als der Welt, welche die Totalität der drei Zeitdimensionen in sich enthält? Die Beantwortung dieser Frage wird auch zeigen, wie dieses Prinzip je nach den in der Sache liegenden Forderungen metamorphosiert werden kann. Daraus wird schließlich auch noch deutlicher zu ersehen sein, wie die kritischen Bemerkungen über Toynbee im Konkreten gemeint sind.
II.
Wir fassen zu diesem Zweck den Lebenslauf des einzelnen Menschen ins Auge, wie er sich - gemäß unsrer Erfahrung an uns selbst - in geschichtlicher Zeit gestaltet, und zwar vom Aspekte des Zeit-Erlebens aus. Es ist aus allem Vorangehenden bereits mit hinlänglicher Deutlichkeit ersichtlich geworden, daß das Grundmerkmal des geschichtlichen Menschen darin liegt, daß er im Verlaufe seines Lebens sich zur geistig auf sich selbst gestellten Persönlichkeit heranentwickelt oder sich heranzuentwickeln wenigstens - unter normalen Umständen - die innere Anlage und die äußere Möglichkeit hat.
Dadurch, daß dies geschieht, bildet sich zwischen ihm gerade als geschichtlichem Menschen und den Wesen der verschiedenen Naturreiche - wir wiesen darauf bereits früher hin - ein entschiedener Gegensatz heraus. Wir können diesen jetzt auch so kennzeichnen, daß es nur beim geschichtlichen Menschen zu einem Inkarnationsprozess kommt, den wir als einen vollständigen bezeichnen können, während dagegen die Inkarnationsprozesse, die in den verschiedenen Naturreichen stattfinden, im Vergleich damit als unvollständige erscheinen. Allerdings erlangt in diesem Gegensatz nur seine höchste Steigerung, was als Unterschied schon begründet worden ist durch das verschiedene "Tempo", in welchem einerseits die menschliche Leiblichkeit, andrerseits die Körperlichkeiten der verschiedenen Naturwesen im Laufe des Weltenwerdens in die sinnliche Erscheinung eingetreten sind. Wir deuteten an früherer Stelle darauf hin, wie jede einzelne derselben sich früher verfestigte als der menschliche Leib, der alle Metamorphosen seiner Entstehungsgeschichte in einer nicht-physischen Sphäre durchlaufen und die physische Welt als letzte ihrer Bildungen betreten hat. Durch das gegenüber dem Menschen verfrühte Sichverstofflichen der Naturreiche konnte das, was geistig-schöpferisch in ihnen lebt und wirkt, sich nun unvollständig in ihnen verleiblichen, während dagegen durch das Zurückbleiben des Menschenleibes im Geistigen das, was als Menschlich-Geistiges in ihm lebt und schafft, ihn so (S180) lange umzuformen vermochte, bis er imstande war, es ganz in sich aufzunehmen. Und erst dann erfolgte seine volle materielle Verfestigung. Freilich war auch jetzt das menschliche Inkarnationsgeschehen noch nicht völlig abgeschlossen. Vielmehr hat, was damals grundsätzlich an Möglichkeiten errungen worden, durch seither eingetretene feinere, im inneren Gefüge der menschlichen Organisation liegende Veränderungen - die wir in früheren Kapiteln geschildert haben sich im Lauf der Vorgeschichte und der Geschichte erst voll verwirklicht. Und so kommt es, daß heute im Menschenreiche ein Geistiges unmittelbar als solches im Physischen d.h. aber in jedem einzelnen Menschenleibe voll anwesend ist. Damit aber hat sich - wie ja auch schon vielfach hervorgehoben - die menschliche Geistigkeit im Laufe der Zeiten aus einer allgemein-gattungsmäßigen immer mehr in eine individuell-persönliche umgewandelt. Diese Umwandlung ist nur der andre Aspekt ihres immer tieferen Untertauchens in die leibliche Organisation d.h. des seiner Vollendung zustrebenden Inkarnationsgeschehens.
Die Folge davon ist, daß, wenn eine menschliche Individualität sich heute durch die Geburt inkarniert, sie sich stufenweise von der allgemeinen Geistwelt absondert, bis sie sich gleichsam völlig von ihr abgeschnürt hat. Dadurch aber gelangt sie dazu, sich im Erdenleibe in sich selbst zu erfassen, indem sie ein Innenleben entwickelt, das sich gewissermaßen zu einer eigenen inneren Welt ausgestaltet. Diese Innenwelt wird vor allem repräsentiert durch die Gedanken, Vorstellungen und Erinnerungen, die der Mensch sich bildet und die ja alle ein in sich gleichartiges oder doch verwandtes und in mannigfaltiger Weise miteinander verbundenes Ganzes darstellen. Den Gedanken können wir als eine von der Sinnesanschauung abgezogene Vorstellung, - die Vorstellung als einen auf eine Anschauung bezogenen Gedanken bezeichnen, - und wie mit der Vorstellungs- bzw. Begriffsbildung die Erinnerung zusammenhängt, wurde ja schon an früherer Stelle ausgeführt. (s. II.2 Geschichtliche Erinnerung)
Nun haben wir aber auch schon darauf hingewiesen, wie die Erinnerung das Organ bildet, mittels dessen wir die Vergangenheit erleben. Hier sei nun ins Auge gefaßt, daß die Ausbildung der Erinnerungsfähigkeit im Laufe des einzelnen Menschenlebens, genauer: während des Heranwachsens des Menschen von der Geburt bis zur Volljährigkeit hin eine Reihe von Stufen durchschreitet, die wir durchaus in Parallele setzen können zu jenen, durch welche im Laufe der Geschichte die Menschheit die spezifisch geschichtliche d.h. persönliche Form der Erinnerung errungen hat. Wir unterscheiden ja an solchen Stufen jene drei, die wir - im Anschluß an Steiner - als die der lokalisierten, der rhythmisierten und der seelisch-gedanklichen Erinnerung bezeichneten. Dieselbe Stufenfolge von Erinnerungsformen durchläuft - in einer gewissen Abwandlung - heute noch der einzelne Mensch, und zwar in jenen drei siebenjährigen Entwicklungsepochen: von der Geburt bis zum Zahnwechsel, (S181) vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife und von da bis zum Erwachsensein hin, in welche sich ja das erste Drittel des Lebens so deutlich gliedert. Freilich darf die Unterscheidung dieser Stufenfolge nur so verstanden werden, daß in den drei Jahrsiebenten nacheinander die verschiedenen Arten des Erinnerns diesem gleichsam die Grundfärbung geben, ohne daß deshalb die jeweils anderen völlig fehlen.
So erbildet sich, was im vor-schulpflichtigen Kinde als Erinnerungen an Personen und Dinge sich entwickelt, unmittelbar dadurch, daß die betreffenden Personen und Dinge ihm immer wieder vor die Anschauung treten oder gebracht werden. Gewiß setzt das Kind nicht in der Art, wie dies die Menschheit in der entsprechenden Epoche einstmals getan hat, Merkzeichen und Denkmäler. Als "lokalisiert" darf aber seine Erinnerung in diesem Alter dennoch bezeichnet werden, weil sie sich unmittelbar daran entwickelt, daß Personen und Gegenstände sich seiner sinnlichen Anschauung innerhalb einer bestimmten räumlichen Umgebung darstellen. Und was aus früher Kindheit erinnert wird, sind auch vor allem bestimmte räumliche Verhältnisse oder im Raum sich abspielende Geschehnisse, - noch keine rein seelischen Erlebnisse. (Eine sehr charakteristische und anschauliche Schilderung seiner sogearteten "frühesten Erlebnisse" hat der Schweizer Dichter Carl Spitteler in einer so betitelten kleinen Schrift gegeben.) Den hauptsächlichsten Inhalt des kindlichen Erlebens und "Lernens" in diesem ersten Lebensjahrsiebent bildet ja auch das Sichhereinfinden in die physische Raumeswelt, angefangen vom Sichaufrichten, Stehen- und Gehenlernen, über die Übungen im Tasten, Greifen und Sichbewegen mit Händen und Fingern bis zum richtigen Gebrauch der Sinnesorgane.
Überschreitet sodann das Kind die Schwelle des Zahnwechsels und setzt mit dem damit beginnenden Schulunterricht nun die eigentliche Zeit des Lernens ein, so wird ja das Meiste von dem, was jetzt dem Gedächtnis eingeprägt werden soll, ihm dadurch einverleibt, daß es in oftmaliger Wiederholung durchlebt wird. Und einen großen Teil dessen, was so im Elemente der Wiederholung webt, bildet gerade das, was als rhythmisiertes Sprachliches oder Musikalisches in Gedichten, Liedern, Instrumentalkompositionen von ihm in diesem Alter geübt wird. Nicht so sehr bedarf es für die gedächtnismäßige Aneignung des Lehrstoffes in dieser Periode des gedanklichen Verständnisses und begrifflichen Durchdringens als vielmehr des rhythmisch wiederholten, gefühlsmäßigen Durchlebens desselben, wie es gerade in der Bemühung um dessen künstlerische Gestaltung erfahren wird. Und es gibt kein andres Lebensalter, in welchem auf diesem Wege so leicht "auswendiggelernt" wird, - auch keines, von dessen Gedächtniserwerbungen so viel für das ganze weitere Leben bewahrt wird. So erscheint diese Lebensepoche als diejenige, in der das menschliche Gedächtnis die größte Empfänglichkeit und (S182) stärkste Einprägungskraft besitzt, und sie läßt sich mit jener Epoche der Menschheitsgeschichte vergleichen, in der jene erstaunlichen Gedächtnisleistungen vollbracht wurden, denen wir die jahrhundertelange mündliche Überlieferung der Nationalepen und Heldenlieder verdanken. All dies hängt mit der Tatsache zusammen, daß in diesem Lebensalter die leiblich-organischen Rhythmen des Atmens und des Blutpulses erst ihr festes Zeitmaß annehmen und damit das ganze Lebensgeschehen und Bewegungsverhalten des Organismus durchrhythmisieren.
Erst mit dem Übergang in das dritte Lebensjahrsiebent und dem Eintritt der Pubertät reift die Fähigkeit und damit auch das Bedürfnis voll heran, dasjenige was als Wissen erworben werden soll, auch gedächtnismäßig sich dadurch anzueignen, daß man es mit begrifflichem Verständnisse durchdringt. Es führt dies bisweilen bis zum Entstehen der Meinung: was man (z.B. auf dem Gebiete der Mathematik) einmal wirklich verstanden hat, das könne man aus diesem Verständnis heraus jederzeit reproduzieren, ohne es sich auch rein gedächtnismäßig anzueignen. Wie auch oftmals sich jetzt geradezu eine Abneigung dagegen geltend macht, etwas seinem Gedächtnis einprägen zu sollen, was man nicht voll verstanden hat. Ja, es nimmt des "Studieren" im ganzen genommen jetzt viel mehr den Charakter eines Auffassens von Begriffen an, während es vorher den eines gedächtnismäßigen Sichaneignenes getragen hat. Und was als Gedächtnisschatz sich ansammelt, entsteht mehr als Begleiterscheinung des sich erweiternden und vertiefenden gedanklichen Verstehens.
All dies ist jedoch nur die eine Seite in der Entwicklung des Innenlebens, wie sie sich in Kindheit und Jugend vollzieht. Die andre besteht darin, daß im selben Maße, wie die innere Welt sich vertieft und verselbständigt, auch die Fähigkeit wächst, aus dem eigenen Innern heraus Willensimpulse zu entfalten und in Verhalten und Tun in äußere Wirklichkeit umzusetzen. In all dem aber entfaltet sich das Erleben der Zukunft. Auch darin kann eine Dreiheit von Stufen unterschieden werden, die im zeitlichen Parallelismus zu der vorangehend geschilderten Entwicklung des Gedächtnisses bzw. des Vergangenheitserlebens durchschritten wird. Auch für ihre Charakteristik schließen wir uns an eine Darstellung Steiners (Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik) an.
Auf einer ersten Stufe tritt das Erleben der Zukunft in Gestalt der Wünsche auf. Die Zukunft erscheint da gleichsam noch am weitesten entfernt, noch vage in ihren Konturen und noch nicht durch das eigene Tun verwirklichbar. Ihr entspricht in der Seele nur ein unbestimmtes Sehnen oder wechselndes Begehren. Das kleine Kind wünscht sich vom lieben Gott (im Gebet) oder von seinen Eltern bald dies, bald jenes, wovon es doch nur verschwommene Vorstellungen hat; und seine Wünsche können noch nicht durch sein eigenes (S183) Tun, sondern nur durch entsprechende Geschenke seiner Umwelt in Erfüllung gehen.
Eine nächste Stufe der kindlichen Entwicklung läßt den Wunsch in den Vorsatz sich wandeln. Dieser ist seinem Inhalte nach nicht mehr so unbestimmt und wechselnd wie jener, sondern zeigt schon deutlichere Konturen und kennzeichnet sich durch eine gewisse Dauerhaftigkeit. Denn wenn sein Inhalt auch nicht mehr so weit in der Ferne schwebt wie der des Wunsches, sondern schon näher an die Gegenwart heranreicht, so läßt er sich doch nicht unmittelbar verwirklichen, sondern nur durch eine während längerer Zeit stets wiederholte Übung erzielen. Es muß hier also der eigenen Kraft noch diejenige zu Hilfe kommen, die aus der regelmäßigen Wiederholung eines in bestimmter Richtung orientierten Tuns quillt. Gerade in der mittleren der drei Siebenjahrperioden, im eigentlichen Schulalter, spielt für das Meiste, was da an Fähigkeiten zu erwerben, an Tugenden zu üben, an Gewohnheiten anzueignen oder zu überwinden ist, der Vorsatz als Mittel der Verwirklichung eine große Rolle. Und so weist diese mittlere Stufe auch in der Entwicklung des Wollens bzw. des Zukunftserlebens eine besondere Beziehung zum Elemente des Rhythmus, der Wiederholung auf. Denn zum Vorsatz gehört es, daß er, obzwar bestimmter als der bloße Wunsch, doch ein Generelles vorstellt, meist eine allgemeine moralische Maxime des Handelns, die dann übungsweise in vielen speziellen Fällen angewendet wird.
Ist dann der heranwachsende Mensch noch etwas älter geworden, geht er der Volljährigkeit entgegen, so reift er dazu heran, Entschlüsse zu fassen. Zu diesen pflegt heute als ein wichtigster dieser zu gehören, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, - und da dies auch schon das Einschlagen eines entsprechenden Bildungsweges bedeutet, so muß der betreffende Entschluß auch schon sogleich in die Tat umgesetzt werden. So rückt mit ihm die Zukunft bereits dicht an die Gegenwart heran. Außerdem verlangt dieser Entschluß in der Regel eine Entscheidung nicht nur in einer ganz allgemein, sondern in einer schon sehr speziell bestimmten Richtung. Und mit der Berufswahl sind meist noch viele andre Entschlüsse in mit ihr zusammenhängenden Fragen zu fassen. Für all dies gilt es, die ebenfalls in diesem Alter sich entwickelnde Kraft der gedanklichen Überlegung, der Urteilsbildung aufzurufen, - und so rücken auch die beiden Pole der sich entwickelnden Innenwelt einander immer näher. Oftmals zeigt sich nach kürzerer oder längerer Zeit, daß der erstgefaßte Entschluß nicht der richtige war oder sich nicht durchführen läßt; dann sieht sich der junge Mensch genötigt, einen neuen, andersgearteten zu fassen, "umzusatteln", - und nicht selten wiederholt sich dieser Vorgang in dieser Lebensepoche noch ein weiteres Mal. In vielen Fällen ist er mit all jenen Zweifelsqualen, Unsicherheiten, Ratlosigkeiten verbunden, die eine solche Lebensentscheidung mit sich bringen kann. (S184) Im Hinblick auf all das Geschilderte darf behauptet werden, daß der Mensch in der Phase seines Heranwachsens in bezug auf sein seelisches Erleben in zwei Zeitdimensionen webt: in Vergangenheit und Zukunft. Im Elemente der Vergangenheit lebt er durch alles das, was er zu lernen, an Wissen zu erwerben, an Tatsachen seinem Gedächtnis einzuprägen hat. In all dem hat er zu bewahren, was einmal an ihn herangetreten, ihm übermittelt worden ist. Und großenteils bezieht sich auch der Inhalt dieses Gedächtnis-Wissens-Stoffes auf die Vergangenheit: handelt es sich doch dabei einerseits um die wesenhafte Vergangenheitswelt der Natur, andererseits um aus Urzeiten überlieferte Götter- und Heldensagen, um die Vergangenheit des eigenen Volkes und die Geschichte der Menschheit (die kaum je bis zur "Gegenwart" fortgeführt wird), um die Erzählungen des Alten und Neuen Testaments, um die Entstehung der handwerklichen und technischen Erfindungen, um die großen Kunstschöpfungen der Vergangenheit usw. Auf der andern Seite ist er durch seine Wünsche, Vorsätze, Studienziele, Lebenspläne, Berufsvorbereitung ganz der Zukunft zugewendet, - dem, was er als Erwachsener dereinst zu schaffen, zu leisten, zu erreichen haben wird.
Was ihm noch fehlt, ist das eigentliche Leben in der Gegenwart, und zwar in doppelter Weise. Einerseits in dem Sinne, daß er - sofern nicht "Frühreife" vorliegt - noch nicht imstande ist, gegenüber einer gegebenen Situation in voller Freiheit und Selbstverantwortlichkeit Entscheidungen zu treffen und Handlungen zu vollziehen, wie die betreffende Situation sie erfordert, um im vollen Sinne gemeistert zu werden. Solche Situationen treten - unter normalen Umständen - deshalb ja auch noch nicht an ihn heran: Er wird noch nicht der "Welt" schlechthin ausgesetzt; zwischen dieser und ihm steht noch der Erzieher. Andrerseits in der Bedeutung, daß er noch nicht in der Lage ist, die geschichtliche Gegenwartssituation seiner näheren und weiteren menschlich-menschheitlichen Umwelt so in ihrer Eigenart zu erfassen und zu überschauen, daß er sich mit seinem Verhalten verantwortlich handelnd und umgestaltend in sie hineinstellen könnte. Dazu reift er erst mit seinem Erwachsensein heran, und darum wird er erst in diesem Zeitpunkt für "mündig", für "volljährig" erklärt und übernimmt politische Rechte und Pflichten.
So tritt uns also auch im Leben des einzelnen Menschen, in der Phase seines Heranwachsens, entgegen, was wir im letzten Kapitel im Leben der Menschheit, in der Phase ihrer Vor- und Frühgeschichte fanden: daß zunächst nur die Elemente der Zukunft und der Vergangenheit vorhanden sind, dasjenige der wesenhaften Gegenwart aber noch fehlt. Und was in der Entwicklung der Menschheit erst in der geschichtlichen Epoche allmählich errungen wird und zwar durch die während dieser sich vollziehende Geburt der menschlichen Individualität, das wird heute im einzelnen Menschenleben erst im (S185) Alter der Volljährigkeit erreicht, mit welchem im Einzelleben der Inkarnationsvorgang erst zum Abschluß d.h. die betreffende Individualität erst völlig "zur Welt" kommt: Es ist das volle Sich-Erleben im Elemente der Gegenwart. Denn dies ist es in der Tat, was - vom Aspekte des Zeit-Erlebens aus - den Erwachsenen gegenüber dem Kinde kennzeichnet, daß er in der Welt der Gegenwart lebt. Erst er steht unmittelbar der "Welt" selbst gegenüber. Er hat jeden neuen Morgen die "Forderungen des unmittelbar gegenwärtigen Tages" zu erfüllen. Er sieht sich jeden Tag einer neuen Situation gegenüber, die von außen gegeben ist und bestimmte Entschlüsse und Taten von ihm verlangt, für deren Wahl ihm aber doch ein Spielraum der Freiheit gelassen und darum die volle Verantwortung aufgebürdet ist. So bringt jeder neue Tag eine bestimmte "Herausforderung" mit sich, die er durch sein Verhalten zu "beantworten" hat. Darin erlebt er zugleich Notwendigkeit und Freiheit, Vergangenheit und Zukunft, und in ihrem Sichverschlingen die Gegenwart. Aber was er in dieser eigentlich erlebt und betätigt, ist sein eigenes Ich. Denn nur dieses ist es, wodurch dieses Verschlingen stattfinden kann.
Was ist nämlich hierzu notwendig? Auf der einen Seite muß das Vergangenheitserleben dadurch bis an die Gegenwart herangeführt werden, daß Erinnerungs- und Vorstellungskraft so gesteigert werden, daß man sich von der jeweils unmittelbar gegebenen Situation ein gedankendurchdrungenes Bild zu machen vermag; auf der andern Seite muß das Zukunftserleben der Gegenwart dadurch angenähert werden, daß nicht nur ein genereller Vorsatz gefaßt, einer allgemeinen Maxime nachgelebt, sondern eine Tat-Idee verwirklicht wird, welche der konkreten Gegebenheit der unmittelbaren Situation entspricht. Beides ist nur dann möglich, wenn die beiden polaren Betätigungen: die denkend-erinnernde und die wollend-zielsetzende sich miteinander verschmelzen. Denn die gedankliche Erfassung der gegebenen Situation, um die es sich hierbei handelt, kann nicht eine sozusagen "naturwissenschaftliche" sein, die nur das an ihr ergreift, was sie von der Vergangenheit her mit Notwendigkeit so gestaltet hat, wie sie ist; sondern sie muß eine "moralische" sein, welche die Möglichkeiten, Tendenzen, Forderungen des Handelns erschaut, welche in ihr enthalten sind. Das Auge hierfür erbildet sich ihr aber nur, wenn sie sich mit der Kraft des Willens durchdringt. Und andrerseits soll der Tat-Entschluß, der zu fassen ist, nicht nur einem allgemeinen moralischen Ideal entsprechen, sondern auch der konkret-speziellen Sachlage, die durch ihn gemeistert, ja erfüllt werden soll. Das kann er aber nur, wenn in das sittliche Wollen selbst das Denken aufgenommen wird. Zu dieser gegenseitigen Durchdringung der Pole ist aber nur das "Ich" fähig; ja in ihr bringt es sich recht eigentlich erst zur Geburt und wird auch nur in ihr erlebt. Sie gelingt daher auch nur in dem Maße, wie das Ich anwesend, d.h. (S186) soweit es geistesgegenwärtig ist. Sofern dies nicht der Fall ist, kann die echte Gegenwart auf zweifache Weise verfehlt werden. Entweder das Denken wird nicht genügend vom Wollen durchdrungen; es erfaßt dann die gegebene Situation nur "naturwissenschaftlich" in ihren Notwendigkeiten. Der Mensch läßt sich im Handeln von diesen bestimmen. Die Vergangenheit überwältigt die Gegenwart und läßt eine echte Zukunft nicht entstehen. Oder aber das Wollen wird nicht genügend vom Denken durchdrungen: dann handelt der Mensch nur aus seiner Freiheit im Sinne von allgemeinen Moralprinzipien. Die Zukunft vergewaltigt damit die Gegenwart und zerstört, was von der Vergangenheit her als Gegebenheiten entstanden ist. Sein Handeln erscheint gegenüber der vorhandenen Sachlage als willkürlich. So wird das Ich an der Grenze erlebt, wo Notwendigkeit und Willkür d.h. Übermacht der bloßen Vergangenheit oder der bloßen Zukunft als Gefahren drohen, - und es wird als das erlebt, was in der Überwindung dieser Gefahren erst die wahre Freiheit begründet.
Diese Verhältnisse, die die Geheimnisse des "Ichs" und der "Freiheit" umschließen, haben denn auch erst in unsrer Epoche vollste Aktualität erlangt. In ihnen liegt, was wir heute im eigentlichsten Sinne als das Wesen der menschlichen "Existenz" empfinden. Ihre Aufweisung und Aufhellung bildet daher auch den Kernpunkt der Existenzphilosophie unsres Jahrhunderts. Sie sind aber zum erstenmal grundlegend bereits dargestellt worden in der "Philosophie der Freiheit" von Rudolf Steiner. Er hat in diesem Werke gezeigt, wie erst durch die gegenseitige Durchdringung von Denken und Wollen der Mensch dazu gelangen kann, im wahren Sinne des Wortes in der Gegenwart d.h. aber als geistig selbständige Individualität zu leben und damit die Freiheit zu verwirklichen, die dem Menschen überhaupt zukommen kann. Man könnte diese "Philosophie der Freiheit" daher auch als die Philosophie des wahrhaft "mündig" gewordenen Menschen bezeichnen. Was daran nun für unsere gegenwärtige Betrachtung von besonderer Bedeutung ist, das ist dies, daß, wer die Höhe der inneren Entwicklung erklommen hat, zu welcher diese Philosophie hinführen will, d.h. wer sich dazu erzieht, sich in seinem Handeln weder durch bloße Gewohnheit, Erfahrung, Erinnerung noch auch durch bloße allgemeine moralische Prinzipien bestimmen zu lassen, sondern in jeder neuen Situation die von dieser geforderte sittliche Handlung zu vollziehen, dadurch in sich das Organ ausbildet, durch welches auch in der Geschichte das Element der wesenhaften Gegenwart wahrzunehmen vermag. So darf gesagt werden, daß durch dieses Werk der Weg gebahnt, die Methode entwickelt worden ist, durch welche die Geschichte als die Welt der wesenhaften Gegenwart erst wahrhaft erfaßt werden kann.. Nicht wurde darin eine bestimmte Geschichtstheorie entwickelt, aber jene Sphäre sselisch-geistiger Erfahrung und Betätigung aufgewiesen, von welcher (S187) aus das wesenhafte Gegenwartselement der Geschichte, das durch "Herausforderung" und "Beantwortung" gekennzeichnet ist, erst wirklich gesehen werden kann. Und es wurde dieser Erlebnisbereich so erschlossen, daß im Erkennen auch die Metamorphosen mitvollzogen werden können, welch dieser Gegenwartscharakter der Geschichte in ihrem Verlaufe erfährt. Denn es ist vervollständigend noch das Folgende hinzuzufügen:
Hat der Mensch sich im Alter des Erwachsenseins, oder genauer: im mittleren Drittel seines Lebens zu jener Ebene des Icherlebens und der Ichbetätigung erhoben, wie sie durch die "Philosophie der Freiheit" repräsentiert wird, so kann er, wenn er in die vierziger Jahre vorrückt, Erfahrungen machen und sich vor Forderungen gestellt fühlen, die wiederum von ganz neuer Art sind. Wenn freilich schon jene vorangehend geschilderte innere Entwicklungshöhe der Lebensmitte nicht von allen Menschen erreicht wird, so ist die Zahl derjenigen, in deren Leben und Schaffen die nachstehend zu beschreibenden Tatsachen in irgendeiner Art zu deutlicher Ausprägung kommen, eine noch geringere, und man muß schon die Lebensläufe hervorragender, bis in ihre höheren Altersstufen geistig sich fortentwickelnder Persönlichkeit ins Auge fassen, um Beispiele für das nun zu Schildernde zu finden (Siehe zu dieser ganzen Darstellung auch das Buch des Verfassers: "Der menschliche Lebenslauf", Freiburg i.Br.1953).
Die Erfahrung, die man im Laufe der vierziger Jahre machen kann, ist nämlich diese, daß man es für den weiteren Fortschritt seiner Entwicklung wieder in besonderer Weise zu tun bekommt mit jenen intellektuellen Kräften, die im dritten Lebensjahrsiebent, zur Zeit der Geschlechtsreife, in der Seele erwacht sind und u.a. die rhythmisierte in die gedankliche Erinnerung übergeführt haben. Es sind die Fähigkeiten, die damals das eigene Urteilen haben aufkeimen lassen und dazu drängten, alles, was als Lehrstoff aufzunehmen war, mit gedanklichem Verständnis zu durchdringen. Diese Fähigkeiten steigen nun gleichsam aus den Tiefen des eigenen Wesens in besonderem Maße wieder herauf, eine "Herausforderung" in sich enthaltend, die eine "Beantwortung" erheischt. Wird dieser Herausforderung nicht Genüge geleistet, so kommt es dazu, daß, was in der Lebensmitte als Lebensstil, als Schaffensweise, als Welt-Anschauung und Wirkensart ausgebildet wurde, in eine philosophische Theorie, eine künstlerische Manier, eine praktische Routine sich verwandelt und verfestigt, die im einzelnen zwar noch weitere Vervollkommnung erfahren können, aber keine wesentlich neuen Momente mehr in Erscheinung treten lassen; - ein Vorgang, den wir im Lebensgange von Philosophen, Künstlern und Lebenspraktikern häufig genug beobachten können. Worauf diese Herausforderung zielt, das ist die Verwandlung dieser intellektuellen Fähigkeiten, durch welche wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnis zur Weisheit sich vertieft, künstlerischer Stil im Flusse lebendiger Weiterbildung erhalten bleibt und Lebenspraxis in produktive Lebenserfahrung übergeht. Hat man früher z.B. gewisse allgemeine Wahrheiten (S188) in abstrakten Begriffen erfaßt, so wollen an deren Stelle jetzt sinnbildlich-repräsentative Vorstellungen treten, die ebenfalls vieles einzelne, aber in einer anschaulicheren und darum konkreteren Weise umfassen. Ein Musterbeispiel dessen, was damit gemeint ist, hat man vor sich, wenn darauf hinblickt, wie die Darstellung, die im Jahre 1795 der damals 36-jährige Schiller von der "höheren Menschwerdung" des Menschen in seinen "Briefen über die ästhetische Erziehung" gegeben hatte, den damals 46-jährigen Goethe dazu anregte, dasselbe Thema in den dichterischen Sinnbildern seines "Märchens von der grünen Schlange und der schönen Lilie" darzustellen (siehe R.Steiners Ausführungen hierzu und das Buch des Verfassers "Die deutsche Klassik", Basel 1944). Wird die Forderung dieses Lebensalters völlig erfüllt - was durch entsprechende "Übungen" bewußt angestrebt werden kann -, so erbildet sich durch die Umwandlung des Denkens in der angedeuteten Richtung jene höhere Erkenntnisfähigkeit, die im Sinne der von Steiner begründeten Geisteswissenschaft als "Imagination" bezeichnet wird und die erste der Erkenntnisquellen darstellt, denen ihre Ergebnisse entstammen.
Überschreitet der Mensch sodann die Schwelle der fünfziger Jahre, so treten in analoger Art aus den Tiefen des eigenen Wesens wieder jene Kräfte hervor, die im zweiten Lebensjahrsiebent als diejenigen des gefühlsmäßigen Erlebens in besonderem Maße erwacht waren und in der seelischen Betätigung das in den Vordergrund hatten treten lassen, was im Elemente der rhythmischen Wiederholung sich entfaltet. Daß in diesem Alter gewissermaßen in umgekehrter Richtung die Schwelle wieder überschritten wird, die in der Zeit der Pubertät überschritten wurde, darauf deuten auch die Phänomene des Klimakteriums hin, die in der männlichen mehr im psychologischen Bereiche verbleiben. Wiederum wird der Mensch zu einer Umwandlung "herausgefordert". Sie kann unter besonderen Umständen (wie etwa bei Niklaus von der Flüe oder in andrer Art bei Tolstoi) in Gestalt einer "seelischen Erweckung", einer "Erleuchtung", der "Geburt eines höheren Menschen" eintreten. Sie führt, wenn sie im Zusammenhang mit der vorangehend geschilderten durch eine bewußte, planmäßige Schulung (wie die Geisteswissenschaft sie lehrt) herbeigeführt wird, zur Ausbildung jener zweiten Stufe geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, die als "Inspiration" bezeichnet wird. Unterbleibt diese Verwandlung dagegen völlig, so tritt in diesem Alter besonders die Gefahr einer Rückbildung der allgemein-menschlichen Interessen, einer seelischen Verengung, des Versinkens in das "Philisterium" ein.
Und schließlich begegnet der Mensch mit dem Herannahen der sechziger Jahr im inneren Erleben wiederum jenen Kräften, welche ihn im ersten Lebensjahrsiebent in die irdisch-physische Raumeswelt sich haben hineinfinden lassen. Und zum drittenmal wird eine Umwandlung von ihm (S189) gefordert. Kommt diese gar nicht zustande, so verfällt er als Seele ganz der Fesselung durch seinen allmählich verfallenden Körper: materialistische Gesinnung, Geiz, Starrsinn, Griesgrämigkeit, Melancholie - und wie alle die Laster eines so gearteten Greisenalters heißen - sind die Folge davon. Findet aber die gebotene Umwandlung in geringerem oder größerem Maße statt, so macht sich der Mensch von dieser Fesselung seelisch frei und wächst mit seinem inneren Erleben über die Enge der physischen Welt hinaus in die Weiten der kosmischen Geistwelt, in die er mit dem Tode wieder ganz eintritt. Erreicht diese Umwandlung gar den höchsten Grad, so bildet sich die dritte und höchste des rein geistigen Erkennens aus, die im Sinne der Geisteswissenschaft als "Intuition" bezeichnet wird.
In solcher Weise also können Stufen und Möglichkeiten einer seelisch-geistigen Altersentwicklung charakterisiert werden, die den Menschen noch weit über das Niveau der Lebensmitte hinausführt. Und es wird nun wohl kaum erstaunen, wenn wir als ein einzigartiges Beispiel solcher seelisch-geistigen Altersentwicklung gerade den Begründer der Geisteswissenschaft selbst, Rudolf Steiner, anführen. Denn ohne daß diese Entwicklungsmöglichkeiten einmal durch einen Menschen eine paradigmatische Verwirklichung erfuhren, hätte ja von ihrem Vorhandensein gar nicht gesprochen und diese Geisteswissenschaft gar nicht begründet werden können. Es ist nun auf der einen Seite zwar bezeichnend, daß Steiner seine "Philosophie der Freiheit", die wir oben als die Philosophie des "mündige" gewordenen Menschens kennzeichneten, die genauer die Philosophie der Lebensmitte genannt werden könnte, in seinem 33. Lebensjahr veröffentlicht hat. Auf der andern Seite aber ist es für ihn nicht weniger bezeichnend, daß sein geistiges Schaffen und Wirken von etwa dem Beginne seiner vierziger Jahre an, mit dem er als "Geistesforscher" aufzutreten begann, bis zu seinem im 65. Lebensjahre erfolgten Tode eine so deutliche Gliederung in drei je etwa siebenjährige Epochen, genauer: eine so streng gesetzmäßig fortschreitende Entfaltung und durch drei Stufen hindurchgehende Metamorphose aufweist, wie sie im Lebenslauf und Lebenswerk keiner andern Persönlichkeit der neueren Geschichte zu finden ist (siehe hierzu G.Wachsmuth: "Die Geburt der Geisteswissenschaft. Rudolf Steiners Lebensgang von der Jahrhundertwende bis zum Tode. Eine Biographie", Dornach 1941, ferner F.Poeppig: "Die Bedeutung der siebenjährigen Entwicklungsperioden im Lebensgange Rudolf Steiners, Bern 1950). Und zwar eben in der Weise, daß, obwohl alle drei in gewissem Maße schon vom Beginne dieser Zeit an vorhanden sind, doch im ersten der betreffenden Jahrsiebente das "imaginative", im zweiten das "inspirierte" und im dritten das "intuitive" Erleben seinem Wirken die Grundfärbung verleiht. Und so ist es denn auch nicht verwunderlich, daß er sich in einem Vortrag einmal über den Zusammenhang ausspricht, in welchem die Ausbildung dieser höheren Erkenntnisfähigkeiten steht mit der Umwandlung jener Kräfte, die in den drei ersten Lebensjahrsiebenten zur Entfaltung kommen. Er sagt hierüber ("Geistverstehen - Menschenverstehen", 4.10.1919, veröffentlicht in "Blätter für Anthroposophie" Basel April 1951 - GA191): (S190) "Es wird sehr häufig gefragt, durch welche Kräfte der Menschennatur die Erkenntnis der übersinnlichen Welten erlangt wird. Man versucht sich die Frage bloß so zu beantworten, daß man eben davon spricht: Es gibt die Möglichkeit, Übersinnliches durch gewisse Kräfte der Menschennatur zu erkennen. Aber in welchen Beziehungen diese Kräfte zur Menschennatur stehen, danach wird nicht immer gefragt. Daher wird auch so wenig Rücksicht genommen darauf, die Erkenntnisse der übersinnlichen Welten für das gewöhnliche Leben richtig fruchtbar zu machen. Man kann sagen: gerade für unser Zeitalter werden die übersinnlichen Erkenntnisse den Mensche immer notwendiger und notwendiger werden. Dann aber müssen sie auch in ihrer Beziehung zum gewöhnlichen alltäglichen Leben erfaßt werden.
Sie wissen, die erste Fähigkeit, die den Menschen hinaufführt ins übersinnliche Wesen, ist die Kraft der Imagination, die zweite Fähigkeit ist die Kraft der Inspiration, die dritte Fähigkeit ist die Kraft der Intuition. Nun fragt es sich: Sind das Fähigkeiten, die man einfach nur ins Auge fassen muß, wenn von Erkenntnis übersinnlicher Welt die Rede ist, oder sind das Fähigkeiten, die auch irgendeine Rolle spielen im sonstigen Leben des Menschen? Das letztere, sehen Sie, ist der Fall. Wir verfolgen ja das menschliche Leben... nach drei Epochen: nach der Epoche von der Geburt bis zum Zahnwechsel, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, von der Geschlechtsreife bis etwa zum einundzwanzigsten Jahr. Wer nicht oberflächlich die menschliche Natur betrachtet, der wird darauf kommen, daß die ganze Art der Entwicklung des Menschen eine andre ist in den ersten sieben Jahren, eine andre in den zweiten sieben Jahren, eine andre in den dritten sieben Jahren des kindlich-jugendlichen Lebens. Damit, daß die dann bleibenden Zähne herausgetrieben werden, hängt zusammen die Entfaltung nicht bloß von Kräften, die etwa, sagen wir, in den Kiefern oder in ihren Nachbarorganen sitzen, sondern die Kräfte, welche diese Zähne heraustreiben, sitzen im ganzen physischen Menschen. Da geht etwas vor in diesem physischen Menschen zwischen der Geburt und dem siebenten Jahre, was seinen Abschluß findet, indem die bleibenden Zähne herausgetrieben werden aus der Menschennatur.
Diese Kräfte, die da arbeiten an der menschlichen physischen Wesenheit, die sind übersinnlicher Natur. Das Sinnliche ist bloß das Material, in dem sie arbeiten. Diese übersinnlichen Kräfte, die in den ersten sieben Lebensjahren des Menschen in seiner ganzen Organisation tätig sind, werden gewissermaßen stillgelegt, wenn ihr Ziel erreicht ist, wenn die bleibenden Zähne erschienen sind. Diese Kräfte gehen nach dem siebenten Jahr, ich möchte sagen, schlafen. Sie sind verborgen in der Menschennatur. Und sie können hervorgeholt werden aus diese Menschennatur, wenn man solche Übungen macht, wie ich sie in dem Buche 'Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren (S191) Welten?' beschrieben habe, die da führen bis zur Intuition. Denn die Kräfte, die in der intuitiven Erkenntnis angewendet werden, sind dieselben Kräfte, mit denen man bis zum siebenten Jahre so wächst, daß dieses Wachsen seinen Ausdruck findet im Zahnwechsel... Die Kräfte wiederum, die vom 7. bis zum 14. Jahre, bis zur Geschlechtsreife, tätig sind und dann schlafen gehen, drunten in der Menschennatur ruhen, die werden heraufgeholt und bilden die Kraft der Inspiration. Und diejenigen Kräfte, welche... den Menschen vom 14. bis zum 21. Jahre die jugendlichen Impulse eingeben... und die Organe geschaffen haben im physischen Leibe für diese jugendlichen Ideale, das sind dieselben Kräfte, die dann aus ihrem schlafenden Zustand hervorgeholt werden und die Imagination bewirken können. Sie sehen daraus, daß die Kräfte der Imagination, der Inspiration und der Intuition nicht beliebige, von unbekannt woher geholte Kräfte sind, sondern daß es dieselben Kräfte sind, mit denen wir von unsrer Geburt bis zum 21. Jahre wachsen."
Auch die hiermit angedeuteten Tatsachen sind nun für die uns hier beschäftigende Problematik von eminenter Bedeutung. Und worin liegt diese?
Durch die Ausbildung der geschilderten höheren Erkenntnisfähigkeiten entsteht von Altersstufe zu Altersstufe in der Seele Neues im höchsten Sinn der Wortes. Es ist in der Tat so "neu", daß es heute noch von den meisten Menschen für ganz unmöglich gehalten wird. Die seelisch-geistige Entwicklung schreitet dadurch im vollwirklichsten Sinne durch das ganze Leben hindurch fort. Man wächst durch diese Entwicklung in eine Welt der Zukunft hinein, die sich als solche nicht zuletzt auch dadurch bezeugt, daß diese Entwicklung ganz das Ergebnis eines freien, immer wieder von neuem zu verwirklichenden Entschlusses ist. Wie aber geschieht dies eigentlich? Es geschieht dadurch, daß der Vergangenheit Angehöriges, Verwandlung fordernd, einem gleichsam von der Zukunft her entgegenkommt, und zwar einer um so früheren Vergangenheit Angehöriges, je weiter man in der Richtung der Zukunft fortschreitet. Und das eigentlich Zukünftige, Neue, entsteht erst dadurch, daß jenes Vergangene verwandelt wird. Die entscheidende Erfahrung aber, die in all dem gemacht wird, ist diese, daß die Zeit nach vorwärts und rückwärts symmetrisch gebaut und um eine Mittelachse herum gelagert ist. Je weiter man sich in der Richtung der Zukunft vorwärts bewegt, desto tiefer kommt man zugleich in die Vergangenheit zurück. Und der Unterschied zwischen der Zukunft und der Vergangenheit liegt in der Verwandlung, welche die letztere in der ersteren erfährt. So kann die Zukunft als das verwandelte Spiegelbild der Vergangenheit bezeichnet werden. Das eigentliche Geheimnis der Zeit aber liegt in dieser Verwandlung. Was diese nämlich bewirkt, ist immer das Ich. Dieses aber ist, wie wir sahen, identisch mit der wesenhaften Gegenwart. Und so ist in der Verwandlung der Vergangenheit, durch welche Zukunft entsteht, immer (S192) zugleich auch Gegenwart anwesend. Nur ist das Element der Gegenwart nicht immer in gleicher Weise vorhanden. Ihre Sphäre breitet sich vielmehr im Verlaufe des Lebens immer weiter aus; sie gewinnt sozusagen immer größeren Umfang.
Im ersten Drittel des Lebens sind, wie wir sahen, zunächst nur Zukunft und Vergangenheit für das Erleben da; aber sie berühren sich gleichsam noch nicht. Das Element der Gegenwart fehlt da noch. Das Ich ist noch nicht ganz geboren.
In der mittleren Zeit des Lebens kommt das Ich zur vollen Geburt; es bringt Vergangenheit und Zukunft zur Vereinigung im Erleben der Gegenwart und im geistesgegenwärtigen Handeln. Aber dieses Gegenwartselement tritt hier gleichsam immer nur als Berührungspunkt der beiden auf.
Auf den höheren Lebensstufen durchdringen sich Vergangenheit und Zukunft immer mehr; sie schieben sich gleichsam immer mehr übereinander. Die Sphäre ihrer Durchdringung dehnt sich immer weiter aus: Das Reich der Gegenwart erweitert sich ständig.
Wir haben es also mit einer fortlaufenden Metamorphose des Gegenwartselementes zu tun. Stellt man sich jedoch den zuletzt eintretenden Prozeß immer weiterschreitend vor, so kommen Zukunft und Vergangenheit in immer wachsendem Umfang zur Deckung, und da die Fläche ihrer Überlagerung zugleich sich ausdehnende Gegenwart bedeutet, so wachsen die drei Zeitdimensionen zur ungeschiedenen Einheit zusammen; ihre Differenzierung hebt sich auf, und es wird für das Erleben wieder das Element der wahren (S193) Ewigkeit erreicht; denn dieses ist ja, wie wir weiter oben sahen, nichts anderes als die noch unzertrennte Einheit der drei Zeitdimensionen. Damit ist aber nur von einer andern Seite her die Bedeutung jener höheren Formen des Erlebens und Erkennens charakterisiert, die durch die sich steigernde Durchdringung von Vergangenheit und Zukunft entstehen: der imaginativen, inspirierten und intuitiven. Sie stellen in der Tat die stufenweise Geburt des Ewigen in der Menschenseele dar und führen daher den Menschen im Erleben Schritt für Schritt vom Zeitgebundenen, zeitlich Unterschiedenen, zum Unvergänglichen, Dauernden, und insbesondere die letzte und höchste von ihnen, die Intuition, bedeutet das völlige Einswerden im Erleben mit der Welt der Wesenhaftigkeit, die zugleich auch diejenige der Ewigkeit ist.
Diese Charakteristik läßt zugleich noch ein anderes deutlich werden. Indem wir das Ich als den Repräsentanten der "Gegenwart" erkannten, kann die Erweiterung der Gegenwartssphäre über immer weitere Bereiche der Vergangenheit und der Zukunft auch als eine fortschreitende "Durchichung" der menschlichen Wesenheit bezeichnet werden. In der Umwandlung immer tieferer Schichten des "Vergangenen" in "Zukünftiges", des "Alten" in "Neues" dehnt das Ich seine Herrschaft über immer weitere Sphären des menschlichen Wesens aus. Es bedingt dies freilich eine fortschreitende Verstärkung und Erhöhung seiner Kräfte. Es kommen dadurch immer höhere Entwicklungsformen des Ich-Erlebens und des Ich-Charakters des Menschen zur Ausbildung. In der Tat unterscheidet Steiner im Zusammenhang mit der oben angedeuteten Ausbildung der höheren, übersinnlichen Erkenntnisarten (in den "Anthroposophischen Leitsätzen") "vier Gestalten des Ichs".
Eine erste würde derjenigen Entwicklungsstufe entsprechen, die durch die Darstellungen der "Philosophie der Freiheit" repräsentiert ist. Der Inkarnationsprozeß des Ichs kommt da zum Abschluß. Das Ich, was während des Heranwachsens des Menschen noch mehr oder weniger verborgen war, kommt innerhalb des Physischen voll zur Welt, tritt im physischen Leib voll in Erscheinung. Es ist die Stufe, die dem "Mündiggewordensein", genauer: der mittleren Lebenszeit entspricht, - die Stufe des "physischen Ichbewußtseins.".
Eine zweite Gestalt des Ichs würde der Ausbildung des imaginativen Erlebens entsprechen, welches durch die Verwandlung der intellektuellen Kräfte entsteht, die zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr sich entfaltet haben. Der Mensch entreißt diese Kräfte durch diese Verwandlung der Leibgebundenheit und erringt dadurch ein sinnbildlich "schauendes" Denken. Dessen Träger ist nicht mehr der physische Leib, genauer: die Nervenprozesse, auf die sich das gewöhnliche Denken stützt, sondern jene übersinnliche Organisation, welche diesen zum sich gestaltenden, wachsenden fortpflanzungsfähigen und alternden Organismus macht (Äther- oder Bildekräfteleib). (S194)
Die dritte Gestalt des Ichs entspricht der Erlangung des inspirierten Erlebens, das durch die Verwandlung jener seelisch-gefühlsmäßigen Kräfte entsteht, die zwischen dem 7. und 14. Jahre sich entwickeln. Der Träger dieses Erlebens wird jene höhere übersinnliche Organisation, welche die Geisteswissenschaft als die "astralische" bezeichnet und die den Menschen zum beseelten Wesen macht. Nur erlebt sich das Ich jetzt unmittelbar innerhalb dieser seelischen Organisation, während vorher die leiblichen Vorgänge, in denen sie zum Ausdrucke kommt (die rhythmischen Prozesse des Atems, der Blutzirkulation usw.), die Stütze seines fühlenden Erlebens bilden.
Seine vierte Gestalt endlich entspricht der Entwicklung des intuitiven Erlebens, das durch die Umwandlung jener Kräfte entsteht, durch die der Mensch im ersten Lebensjahrsiebent als körperliches Wesen sich in die physische Raumeswelt hineinlebt. Es sind dies Kräfte willensartiger Natur. Durch deren Verwandlung macht sich das Ich im Erleben unabhängig von allen seinen Hüllen und erfaßt sich unmittelbar in seinem eigensten Wesen. Damit aber erfaßt es sich als ewige, unvergängliche Wesenheit, die der Welt der Ewigkeit angehört und durch wiederholte Erdenleben hindurchschreitet, um sich auf diesem Wege allmählich ihres unvergänglichen Wesens bewußt zu werden. So zeigt sich auch von diesem Aspekte her, wie auf diesem Entwicklungswege stufenweise die Welt des Ewigen für das Erleben errungen wird.
III.
Worauf es bei all diesen Entwicklungsprozessen für unsere gegenwärtige Betrachtung ankommt, ist dieses, daß durch sie ein ganz neues Bild vom Wesen und der Struktur der Zeit gewonnen wird. Freilich erwächst dieses Bild zunächst aus den inneren Erfahrungen an dem je eigenen, einzelmenschlichen Lebenslauf. Wir werden aber im weiteren noch sehen, daß es sich nicht nur gültig erweist, weil in ihm das Wesen der Zeit schlechthin zur Erscheinung kommt. Zunächst sei versucht, die Eigentümlichkeit dieses Bildes dadurch zu verdeutlichen, daß wir es den beiden hauptsächlichen Bildern der Zeit gegenüberstellen, die bisher geherrscht haben und die in den vorangehenden Kapiteln schon charakterisiert wurden.
Das erste dieser Bilder ist das der ständig sich wiederholenden Kreisläufe, in deren Folge nichts Neues entsteht, sondern nur dasselbe immer von neuem wiederkehrt. Es gilt, wie wir sahen, für die Erscheinungen des Lebendigen in der gegenwärtigen Natur. Es wurde in den alten orientalischen Kulturen und bis ins Griechentum hinein auch auf den Menschen und die Menschheit, ja auf den gesamten physisch-geistigen Kosmos bezogen. Denn für den (S195) Orient war auch der Mensch in der Natur beschlossen; ja er sah die ganze kosmische Evolution in Bildern, die vom Naturleben hergenommen waren. Diese Zeitvorstellung beruht - worauf M.Eliade hingewiesen hat - auf einer "Ontologie", die im Platonismus noch eine philosophische Formulierung erfahren und - wie wir früher zeigten - als die Lehre von den "universalia ante res" selbst noch einen Bestandteil der mittelalterlichen Universalienlehre gebildet hat. Es ist die Auffassung, daß die Sinnenwelt keine selbständige Bedeutung und Wirklichkeit besitzt, sondern nur abbildet, was in der geistigen bzw. Ideenwelt fertig vorgebildet ist und die alleinige Wirklichkeit darstellt. Diese geistige Wirklichkeit geht als solche nie in die Sinneswelt ein, sondern verbleibt immer außer oder über ihr und schattet sich in ihr nur ab. Daher kann die Sinneswelt nur immer von neuem wiederholfen, was in der geistigen Welt urbildlich da ist. Und es ist diese Wiederholung nur der Ausdruck dafür, daß in der Sinneswelt die Vielheit, in der geistigen aber die Einheit herrscht. Es ist das eine Geistige, das in der Vielheit seiner sinnlichen Abbilder immer wieder als dasselbe sich erweist. Diese Vielheit kann entweder im räumlichen Neben- oder im zeitlichen Nacheinander erscheinen. Beides aber ist, wie die Sinneswelt überhaupt, "Maja", bloßer Schein. Das Sein kommt einzig der geistig-ideellen Welt zu, die weder Raum noch Zeit kennt. Plato bringt diese Zeit-Auffassung in seinem "Timäus" in den folgenden Worten zum Ausdruck: "Als nun aber der Vater, welcher das All erzeugt hatte, es ansah, wie es bewegt und belebt und ein Bild der ewigen Götter geworden war, da empfand er Wohlgefallen daran, und in dieser seiner Freude beschloß er denn, es noch mehr seinem Urbilde ähnlich zu machen. Gleichwie nun dieses selber ein unvergängliches Lebendiges ist, ebenso unternahm er es daher, auch dieses All nach Möglichkeit zu einem ebensolchen zu machen. Nun war aber die Natur des höchsten Lebendigen eine ewige, und diese auf das Entstandene vollständig zu übertragen war eben nicht möglich; aber ein bewegtes Bild der Ewigkeit beschließt er zu machen, und bildet, um zugleich dadurch dem Weltgebäude seine innere Einrichtung zu geben, von der in der Einheit beharrenden Ewigkeit ein nach der Vielheit der Zahl sich fortbewegendes dauerndes Abbild, nämlich eben das, was wir Zeit genannt haben. Nämlich Tage, Nächte, Monate und Jahre, welche es vor der Entstehung des Weltalls nicht gab, läßt er jetzt bei der Zusammenfügung derselben zugleich mit ins Entstehen treten. Dies alles aber sind Teile der Zeit, und das 'War' und 'Wird sein' sind Formen der entstandenen Zeit, obwohl wir mit Unrecht, ohne dies zu bedenken, dieselben dem ewigen Sein beilegen. Denn wir sagen ja von ihm: 'Es war, ist und wird sein', während ihm doch nach der wahren Redeweise allen das 'Es ist' zukommt, wogegen man die Ausdrücke 'es war' und 'es wird sein' lediglich von dem in der Zeit fortschreitenden Werden gebrauchen darf. Denn beides (S196) bezeichnet Bewegungen; demjenigen aber, welches sich unbeweglich stets auf die gleiche Weise verhält, kommt es nicht zu, weder älter noch jünger zu werden im Verlaufe der Zeit, noch es ehemals oder jetzt geworden zu sein oder es in Zukunft werden zu sollen; kurz: es kommt ihm überhaupt nichts von alledem zu, was das Werden mit den im Gebiete der Sinnenwelt sich bewegenden Dingen verknüpft hat, sondern es sind dies alles die Formen der die Ewigkeit nachahmenden und nach den Zahlenverhältnissen im Kreise ich fortbewegenden Zeit geworden. Und ebenso steht es mit Ausdrücken folgender Art: das Entstandene sei ein Entstandenes, und das Entstehende sei ein Entstehendes, und das Entstehenwerdende sei ein Entstehenwerdendes, und das Nichtseiende sei ein Nichtseiendes, welches alles keine genauen Bezeichnungen sind."
Das zweite der Bilder ist dasjenige, das sich auf dem Boden des Christentums in bezug auf die Menschheitsgeschichte entwickelt und nach einigen ihm vorangehenden Vorläufern in Augustinus den weltgeschichtlich wirksamsten Repräsentanten gefunden hat. Es ist die "lineare" Zeitvorstellung, - linear, weil sie sich durch das Bild einer durch Anfang und Ende begrenzten geraden Linie veranschaulichen läßt. Für sie ist das geschichtliche Werden als ganzes ein einmaliger Prozeß, beginnend mit dem Sündenfall und endigend mit dem Jüngsten Gericht, und auch jedem einzelnen Ereignis innerhalb dieses Prozesses kommt einmalige Bedeutung zu. Dieser Auffassung liegt die Vorstellung zugrunde, daß der physisch-sinnlichen Welt volle Realität zuerkannt werden muß, und damit erhalten auch Zeit und Raum vollen Wirklichkeitscharakter. Warum darf die Sinneswelt volle Realität beanspruchen? Weil in ihr die zweite Person der Gottheit in Christus Mensch geworden und durch den Tod gegangen ist. Auch dieses Ereignis verlöre seine Realität, wenn die Sinneswelt zum Scheine verflüchtigt würde. Und warum kommt dem geschichtlichen Gesamtprozeß der Charakter der Einmaligkeit zu? Weil die Christustat eine einmalig-unwiederholbare ist, deren Gnadenwirkung für alle Zeiten ausreicht. Mit der Einmaligkeit der Gesamtgeschichte ist aber auch jedem einzelnen ihrer Geschehnisse die Einmaligkeit verbürgt. So erweist sich die Augustinische Lehre von Zeit und Geschichte deutlich als eine Wirkung des Christusereignisses, - wie sie ja auch auf den Glauben an dieses von ihm begründet wird. Tiefer gesehen liegt ihr allerdings zugleich ein noch nicht überwundener Dualismus zwischen physischer und geistiger Welt zugrunde. Beiden wird zwar Wirklichkeit zuerkannt, aber die Verbindung zwischen ihnen ist noch zerrissen bzw. nicht wiederhergestellt. Daß die Zeit als eine gerade Linie erscheint, ist ein Beweis dafür, daß sie nur als in der von der geistigen Welt abgesonderten physischen Welt verlaufend gedacht, oder anders gesagt: daß eine sich wandelnde Beziehung der physischen zur geistigen Welt nicht in ihren Verlauf miteinbezogen wird. (S197)
Was als solcher Wandel betrachtet werden könnte, liegt vor dem Anfang und nach dem Ende dieser geschichtlichen Zeit. In beiden Fällen hat jedoch dieser Wandel den Charakter einer Katastrophe, eines Sturzes. Am Anfang steht der Fall in die Ursünde, - am Ende der Sturz (der Mehrzahl der menschlichen Seelen) in die ewige Verdammnis. Denn aus eigener Kraft vermag der Mensch den Sündenfall nicht zu überwinden. Nicht einmal die Christustat macht es dem Menschen möglich, sich zur Erlangung seines Heils seiner eigenen Kraft zu bedienen. Die wenigen, die durch sie erlöst werden, erlangen vielmehr die Seligkeit ohne jedes eigene Verdienst ausschließlich durch die Gnade Christi, die ihnen aus einem unerforschlichen Ratschluß heraus vorbestimmt ist. Und so wenig, wie sich der Mensch des Göttlich-Geistigen, das in Christus in der Sinneswelt erschienen ist, für sein Handeln zur Erlangung der Seligkeit selbst bemächtigen kann, so wenig vermag er es für sein Denken zur Erlangung eines Verständnisses der Christustat: Sie kann nur Gegenstand des Glaubens sein.
Wenn auch die Kirche die strenge Prädestinantionslehre später zum Semipelagianismus milderte, so hat sie doch an der Augustinischen Zeitauffassung bis auf den heutigen Tag festgehalten. Sie mußte daher, als in Joachim de Fiore erstmals, noch in keimhafter Form, die hier von uns zu vertretende Auffassung in Erscheinung trat, diese verketzern; denn mit seiner Lehre von den Zeitaltern des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes machte Joachim einen Wandel im Verhältnis zwischen physischer und geistiger Welt innerhalb des geschichtlichen Zeitverlaufs geltend, der im kirchlich-christlichen Geschichtsbild keinen Raum hat.
Dem orientalisch-griechischen und dem christlich-kirchlichen Zeitbild gegenüber kann nun jenes, das auf dem seelisch-geistigen Entwicklungswege, wie die Anthroposophie ihn lehrt, - zunächst hinsichtlich des einzelnen Lebenslaufes - erlangt wird, durch das folgende Schema veranschaulicht werden.
Es hat mit dem vorangehenden gemeinsam, daß sowohl der Zeitverlauf im ganzen wie seine einzelnen Ereignisse einmaligen Charakter haben, und daß (S198) die Zeit durch Anfang und Ende begrenzt ist. Das heißt, daß auch hier der Zeit volle Realität zuerkannt wird. Nur verläuft die Zeit nicht geradlinig, sondern stellt eine Kurve dar, - wodurch diese Zeitvorstellung wieder mit der ältesten verwandt erscheint. Das bedeutet, daß der Dualismus zwischen physischer und geistiger Welt überwunden ist und Übergänge von der einen zur andern (In- und Exkarnation) in das Zeitgeschehen miteinbezogen sind. Aber die Kurve rundet sich nicht zum Kreis, sondern bleibt ein Halbkreis. Ihre Mitte bildet einen tiefsten Punkt, welcher ihrer Symmetrie-Achse angehört. Ihre Symmetrie aber zeigt sich darin, daß jeder Punkt auf der einen Seite zu einem solchen auf der andern in einer innern Wesensbeziehung steht. Und das, was diese Beziehung herstellt, ist das Ich. Es wird als solches im Tiefpunkt der Kurve im Physischen geboren und erzeugt, zunächst in diesem Punkte, das Erlebnis der Gegenwart. Je weiter die Zeit fortschreitet, desto mehr erweitert sich dieser Punkt zu Linien, welche sich zwischen den spiegelbildlichen Punkten erstrecken und sie im Sinne einer Verwandlung miteinander verbinden. Im selben Maße erweitert sich der Bereich der Gegenwart und steigt das Sicherleben und Sichbetätigen des Menschen als "Ich" zu immer höheren Gestalten auf.
Es läßt sich diese Zeitvorstellung jedoch auch noch in andern schematischen Bildern versinnlichen. Ein erstes solcher Bilder würde die erste Lebenshälfte bzw. das erste Lebensdrittel kennzeichnen, in welchem als Erlebnis erst die Elemente der Vergangenheit und der Zukunft vorhanden sind und schrittweise aufeinander zukommen. Was sie einander nähert, ist das noch im Verborgenen wirkende Ich
Ein zweites Bild entspräche der mittleren Zeit des Lebens, in welcher das Ich im Physischen zur Erscheinung kommt in der Berührung der beiden Elemente, durch welche zunächst punktförmig die Gegenwart entsteht.
Ein drittes Bild bezöge sich auf die zweite Lebenshälfte bzw. das letzte Lebensdrittel und zeigte die Überkreuzung der beiden Strömungen, die mit dem Aufsteigen des Ich-Erlebens zu immer höheren Stufen verknüpft ist. (S199)
Diese Verbildlichung des Zeitwesens läßt vor allem hervortreten, daß wir es im Gesamtgeschehen desselben mit zwei Strömungen zu tun haben, deren eine von der Vergangenheit in die Zukunft, und deren andre in umgekehrter Richtung verläuft. Die erstere wird durch die denkend-erinnernde Tätigkeit repräsentiert (Ätherisches), welche das Frühere bewahrend in spätere Zeiten hineinträgt; die letztere durch die wollend-begehrende Tätigkeit (Astralisches), welche das Künftige verwirklichend in Gegenwärtiges umsetzt und es dadurch zu Vergangenem werden läßt. Und gewissermaßen "senkrecht" zu diesen beiden Strömungen steht diejenige der Ich-Entwicklung, welche die Überkreuzung der beiden andern bewirkt und in dem Maße, als diese fortschreitet, immer höhere Stufen erreicht. (In dieser Weise hat auch Steiner in seinen Vorträgen über "Psychosophie" 1911 das Verhältnis des Menschen zur Zeit dargestellt.)
Diese Verbildlichung zeigt aber noch ein andres und noch Bedeutungsvolleres: daß nämlich das Geheimnis der Zeit in der Totalität ihres Wesens kein andres ist als dasjenige des menschlichen Wesens selbst. Denn daß überhaupt Zeitlichkeit in der Differenzierung ihrer verschiedenen "Dimensionen" aus der Ewigkeit heraus in Erscheinung tritt und von ihm erfahren wird, hat der Mensch der Tatsache zuzuschreiben, daß er in einem physischen Leibe sich verkörpert. Die von der Vergangenheit in die Zukunft verlaufende Strömung derselben wird durch seine ätherische Organisation repräsentiert, die von der Zukunft nach der Vergangenheit verlaufende durch seine astralische, und das Element der Gegenwart durch sein. Da aber, wie wir sahen, das letztgenannte Element zunächst in Punktgestalt auftritt, mit der weiteren Entwicklung des Ichs jedoch sich immer mehr über Vergangenheit und Zukunft erweitert und diese dadurch wiederum zur ungeschiedenen Ganzheit des Zeitwesens vereinigt, so wird der Mensch durch sein Ich zuletzt wieder aus der Zeitlichkeit hinaus in die Welt der Ewigkeit zurückgeführt. Als eine aus den vier "Gliedern" des physischen, des ätherischen, des astralischen "Leibes" und des Ichs sich "zusammensetzende" Organisation stellt sich aber, wie an früherer Stelle schon erwähnt, die Totalität des Menschenwesens der Geisteswissenschaft von einem bestimmten Gesichtspunkte aus gesehen dar (siehe hierzu wie auch zum Folgenden Steiners "Theosophie" und "Geheimwissenschaft im Umriß").
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nächstes Kapitel: III.4 Die Schichtung der Zeitsysteme