III
Die grundlegenden anthroposophischen Schriften
Wir haben in den vorangehenden Kapiteln geschildert, wie Rudolf Steiner einerseits aus dem, was er als Entwicklungszustand und Bewußtseinsverfassung seines Zeitalters kennen lernte, anderseits aus dem, was ihm seine übersinnlichen Seelenerlebnisse als Triebkräfte und Entwicklungsimpulse des menschlichen Geisteslebens offenbarten, es als die Aufgabe der Zeit erkannte, daß das menschliche Bewußtsein von unserer Gegenwart an sich die geistige Welt wieder erschließe und deren Inhalte in die weitere Entfaltung seiner Kultur einfliessen lasse. Wie er dann in seinen erkenntnistheoretischen Darlegungen und in seiner Wiederaufnahme und Fortbildung der naturwissenschaftlichen Forschungsart Goethes die Weiterentwicklung des modernen Bewußtseins vorausnehmend zunächst bis an die Schwelle der geistigen Welt heranführte. Und wie er endlich durch genaue Feststellung des Punktes, an dem die Menschheit auf der Bahn ihrer Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts angekommen, und durch deutliche Kennzeichnung und unzweideutige Bejahung der Forderungen, die ihr auf diesem Punkte für die Gestaltung sowohl des Erkenntnislebens als auch des sittlichen Lebens erwachsen waren, allen Mißverständnissen über dasjenige vorbeugen wollte, was er als echte und mit ihrem ganzen Sinn im strengsten Einklang stehende Erfüllung dieser Forderungen zu verwirklichen beginnen wollte.
Um die Jahrhundertwende hatte dieses Durchdringen und Durcharbeiten des Zeitbewußtseins und das Prüfen und Durchleben seiner übersinnlichen Seelenerfahrungen die Reife erlangt, durch die er sich nun für fähig und damit für verpflichtet halten mußte, mit der Darstellung der übersinnlichen Welt in der Form einer aus der Naturwissenschaft als ihre objektive Fortbildung herausentwickelten Geisteswissenschaft zu beginnen. Diesem Beginnen (S48) standen gleichwohl auch jetzt große Schwierigkeiten im Wege. Und es waren schwere Entschlüsse dazu notwendig, mit ihm hervorzutreten. Denn Rudolf Steiner mußte sich ja gestehen, daß die Welt noch nicht mitgemacht hatte, was er erarbeitet, daß sie noch nicht erfaßt hatte, worauf all sein geistiges Ringen hinzielte. Und so notwendig ihm das Hereintreten eines neuen spirituellen Impulses in die moderne Zivilisation erschien, so wenig wollten die Menschen von einem solchen vorläufig doch wissen; so stark sich viele in ihrem Unterbewußtsein nach einem solchen sehnten, so wenig konnten sie ihn mit ihrem Oberbewußtsein ergreifen. Langsam, Stück für Stück nur konnte daher die Darstellung einer übersinnlichen Welt, höherer Erkenntniserlebnisse gegeben werden.
Den Anfang machte Rudolf Steiner damit, daß er, was er über diese Dinge zu sagen hatte, zunächst in Anknüpfung an historische Geisteserzeugnisse und Erscheinungen aussprach, die aus übersinnlichen Impulsen oder Erfahrungen hervorgegangen sind, indem er sie aus einen eigenen übersinnlichen Erlebnissen heraus so darstellte und erklärte, wie man sie in den aus em geistentfremdeten Bewußtsein unserer Zeit heraus gegebenen Darstellungen eben nicht geschildert finden konnte.
Es stehen diese seine Darstellungen gewissermaßen in der Mitte und bilden den bedeutungsvollen (und viel zu wenig beachteten) Übergang zwischen seinen früheren Schriften, in denen er von einer übersinnlichen Welt und übersinnlichen Erkenntnissen noch nicht als solchen gesprochen, und seinen späteren, in denen diese rückhaltlos und ausschließlich zum Gegenstand der Darstellung gemacht sind. Und zwar gehören zu diesen Übergangsschriften seine Aufsätze über Goethes Märchen mit dem Titel "Goethes geheime Offenbarung" (1899), über "Goethes Faust als Bild seiner esoterischen Weltanschauung" (1902), die er später, mit einem dritten zu einem eigenen Bändchen vereinigt, unter dem Titel "Goethes Geistesart" wieder herausgegeben hat, ferner das Buch "Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens" (1901) und endlich (S49) "Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums" (1902).
Den Anfang mit diesen Darstellungen, und das heißt: mit seinem öffentlichen geisteswissenschaftlichen Wirken überhaupt, machte also bedeutsamerweise der Aufsatz über Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Goethes hat in diesem Märchen in lebensvollen Bildern die Erlebnisse zur Darstellung gebracht, die die Lektüre von Schillers ästhetischen Briefen in ihm über diejenigen Angelegenheiten der menschlichen Seele entzündet hatte, de Schiller in diesen Briefen in philosophischer Art behandelt. Goethe fühlte sich durch die Briefe einesteils aufs tiefste befriedigt, weil er in ihnen in systematisch-philosophischer Weise als ein aus dem Wesen des Menschen heraus sich ergebendes Ideal begründet fand, was er sein eigenstes tiefstes Streben nennen mußte. Andernteils empfand er aber, daß man mit philosophischen Begriffen eigentlich nur wie von ferne auf das hindeuten könne, was in dieser Beziehung die Wirklichkeit ist. Und daß man, wenn man ein adäquates Bild von den Tatsachen und Kräften malen wolle, mit den man es in bezug auf das Streben nach Verwirklichung des höchsten Menschenideals zu tun hat, von den starren Begriffe des Verstandes übergehen müsse zu lebendigen Bildern der Phantasie. Und so stellte er denn in den Bildern seines Märchens Tatsachen einer inneren Entwicklung der menschlichen Seele dar, die mit den Mittel des philosophischen Denkens nicht voll erfaßt werden können. Es bedeutet dieses Märchen einen ersten aus der modernen Geistesentwicklung heraus versuchten Ansatz, durch Entwicklung einer über das Denken hinausgehenden imaginativen Seelennbetätigung diejenigen Gebiete menschlichen Seelenseins und Seelenwirkens darstellend zu erfassen, die dem in bloßen Begriffen sich bewegenden Bewußtsein verborgen sind. Man steht mit dem Märchen nach Rudolf Steiners Worten "im Vorhof der Esoterik", und darin liegt es begründet, daß die Anknüpfung an dasselbe zum ersten Ausgangspunkt für das anthroposophische Wirken werden konnte.
In anderer Art bot solche Anknüpfungspunkte der "Faust". (S50) Auch in ihm wird die innere Entwicklung einer Menschenseele geschildert. Faust ist ja der Mensch, der durch dasjenige, was ja erst im 19. Jahrhundert als die moderne naturwissenschaftliche Weltauffassung sich zu seiner vollen Ausprägung entwickelte, und was er auf allen Gebieten "mit heißem Bemühn studiert" hat, zur Verzweiflung an aller Erkenntnis, ja am Leben selber getrieben wird, und der dann von dieser überall nur den Tod erfassenden Erkenntnis zu einer solchen sich erhebt, die zu den Quellen des Lebens, zu den Müttern des Daseins dringt. Aber auf diesem Wege erfährt er, wie eine solche Erkenntnis nur durch eine innere Verlebendigung des Menschen selber und durch eine höhere Harmonisierung seiner einzelnen Seelenkräfte erlangt werden kann. Und auch auf die Kraft wird - in der Osterszene schon - hingewiesen, mit der der Mensch die Verbindung finden muß, wenn er - auf welchem Gebiet immer - aus dem Tode das Leben auferwecken will.
Wiederum in anderer noch unmittelbarerer Art bot die Darstellung der mittelalterlichen Mystiker Gelegenheit, von Seelenerlebnissen zu sprechen, die in ähnlicher Art über diejenigen des gewöhnlichen Bewußtseins hinausgehen, wie diese beim Erwachsenen über diejenigen des Kindes. Von höheren Seelenerlebnissen, die sich einstellen, wenn der Weg gesucht wird von dem Alltagserleben, das in die Dinge zerstreut ist, zu einer wahren Erkenntnis des eigenen Selbst, wie wir ihn die Mystiker beschreiten sehen. Eine höhere Erweckung der Menschenseele vollzieht sich da, wenn sie aus dem Lärm der Außenwelt in ihr Inneres einkehrt; was aber durch diese Erweckung aus ihren verborgenen Tiefen als ein Göttliches herausgeboren wird, von dem macht sie die Erfahrung, daß es nicht, wie das gewöhnliche Ich, von dem Wesen der Dinge getrennt, sondern mit dem Göttlichen innig verbunden, verwandt, wesenseins ist, das die Welt geschaffen, das wirkend und erhaltend sie ausfüllt. So wird Gott in der Menschenwelt wiedergeboren; und in dem Lichte, das von ihm ausstrahlt, werden nicht nur die Geheimnisse der eigenen Seele, sondern auch die verborgenen Namen (S51) der Dinge offenbar. Nicht als ein bloßes, nebuloses Insichhineinbrüten, sondern als ein in exakter Art beschreibbarer realer Entwicklungsprozeß der menschlichen Seele wird hier das mystische Erleben geschildert durch den diese zu einer höheren Stufe ihres Daseins in einem ähnlichen Sinne aufsteigt, wie die Pflanze einen höheren Entwicklungszustand erreicht, wenn sie von der Bildung des Laubblattes zu der des Blütenblattes übergeht. Als eine im Wesen der Menschenseele objektiv begründete, in sich gesetzmäßige, allgemein-menschlich bedeutsame Fortsetzung ihrer normalen Entwicklungsvorgänge wird namentlich im ersten Kapitel der "Mystik" das mystische Erleben gekennzeichnet, und aus diesem heraus werden dann die Anschauungen der einzelnen Mystiker erklärt. Und man spürt es dieser einleitenden Darstellung an, wie sie aus dem persönlichen Erleben des Verfassers herausgeschrieben ist, das aber von ihm nach seiner nicht nur persönlichen, sondern überpersönlichen, allgemein-menschlichen Bedeutung so erfaßt und ausgestaltet worden ist, wie dies eben nur nach einem vieljährigen inneren Durchleben und Durcharbeiten möglich ist. Und so ist in diesem bedeutungsvollen Einleitungskapitel der anthroposophische Erkenntnisweg, wenn auch in einer Form, wie sie gerade das mystische Suchen des Mittelalters zu beleuchten geeignet ist, doch durchaus schon ausgearbeitet vorhanden.
Und in ähnlicher Art wird endlich im "Christentum als mystische Tatsache" die Bedeutung des vorchristlichen Mysterienwesens aus dem eigenen mystischen Erleben heraus enthüllt. Wiederum wird zunächst in einem Einleitungskapitel das Wesen des mystischen Weges charakterisiert von der Seite her, von der besonderes Licht auf die alten Mysterien fallen kann. Dargestellt wird, wie alle alten Mysterien darauf ausgingen, in jedem Einzuweihenden das Weltenschicksal der Menschenseele lebendig werden zu lassen, von ihrem Herabstieg aus dem Schoße der Götter, durch die Leiden, die ihr die Verstrickung ins Irdische gebracht, bis dahin, wo sie sich reinigend von den Befleckungen der sinnlichen Erkenntnis in keuscher Hingabe an den verborgenen Weltenvater von diesem den (S52) Gottessohn empfangen und in sich zur Geburt bringen kann. In dem vielleicht großartigsten Mysterienmythus von Persephone-Dionysos wird dieses Schicksal ja in so gewaltiger Art dargestellt. Und wie das alte Mysterienwesen dann den Abschluß und die Krönung, auf die es seit Urzeiten hinzielte, gefunden hat in der Geburt Christi als des Gottessohnes in dem Menschen Jesus. Als eine zugleich äußere historische und innere mystische Tatsache wird das Christusereignis geschildert, durch welche, was zu allen Zeiten das höchste Ziel mystischen Strebens war, eine einmalige vollkommene Verwirklichung gefunden hat. Und wie alles vorchristliche mystische Streben Vorbereitung dieses höchsten Ereignisses bedeute, alles nachchristliche aber "Nachfolge Christi" sein müsse. So wurde also schon in diesem Buche von einer bestimmten Seite her nach seiner wahren Bedeutung gekennzeichnet, was später als das Zentralmysterium der Menschheitsentwicklung in umfassendster Art von den mannigfaltigsten Gesichtspunkten aus immer wieder in den Mittelpunkt anthroposophischer Darstellungen gerückt werden mußte.
Alle die genannten Darstellungen sind zuerst in Form von Vorträgen gegeben worden, die Rudolf Steiner in den ersten Jahren des Jahrhunderts in Berlin in einem kleinen Kreise von Menschen gehalten hat. Dieser Kreis hatte ihn, nachdem Rudolf Steiner den ersten Vortrag über Goethes Märchen in ihm gehalten hatte, zu weiteren Vorträgen eingeladen, um mehr von ihm nach dieser Richtung zu hören. Er bestand nämlich zum größten Teil aus Persönlichkeiten, die der damaligen theosophischen Bewegung angehörten und für solche Darstellungen einen offenen Sinn hatten. Daher auch konnte vor ihnen in den Vorträgen gleich so tief in die Geheimnisse der übersinnlichen Welt hineingeführt werden, wie dies die genannten Bücher zeigen. Diese Vorträge führten nun dazu, daß Rudolf Steiner von diesen Persönlichkeiten eingeladen wurde, der Theosophischen Gesellschaft beizutreten, und als man kurz danach eine deutsche Sektion derselben gründete, zu deren Generalsekretär gewählt wurde. Man hatte in diesem Kreise die Empfindung, die (S53) dann beim Theosophischen Kongreß in London 1902 eine der leitenden Persönlichkeiten Rudolf Steiner mit den Worten ausdrückte, daß, was er in seinem Buche über die Mystik ausgesprochen habe, die wahre Theosophie sei. Bei dieser Sachlage hatte er keinen Grund, der Einladung nicht Folge zu leisten. Denn wenn dasjenige, was seine eigene, ursprüngliche Geisterkenntnis war, von den Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft als die wahre Theosophie empfunden wurde, und wenn er die Möglichkeit hatte, innerhalb der Gesellschaft nur die Ergebnisse dieser seiner eigenen Geistesforschung vorzutragen, über welche Bedingung er niemand im unklaren ließ, dann bestand keine Ursache, der Gesellschaft nicht beizutreten. In anderer Hinsicht allerdings bedeutete der Eintritt in die Theosophische Gesellschaft für ihn einen ungeheuer folgenschweren Schritt. Auf der einen Seite war dadurch er und sein ganzes Wirken für die Außenwelt als "theosophisch" abgestempelt, und die ganze Antipathie und Ablehnung, die in dem offiziellen Geistesleben gegenüber dem, was seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als "Theosophie" auftrat, sogar weitgehend mit Recht lebte, übertrug sich dadurch auch auf das, was von ihm als ein ganz unabhängiges, ursprüngliches, mit allen Forderungen des modernen wissenschaftlichen Erkenntnislebens in strengster Übereinstimmung stehendes, ja aus dessen eigenen Entwicklungsnotwendigkeiten hervorgewachsenen Geistesstreben zu inaugurieren versucht wurde. Die Unbefangenheit, mit der man seinen Darstellungen folgte, solange er sie von sich aus gab, machte sofort den stärksten Vorurteilen Platz, als er sie in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der deutschen Theosophischen Gesellschaft fortsetzte, obwohl ihre innere Haltung, ihre Ziele genau dieselben geblieben waren. Auf der anderen Seite aber bot der Eintritt in die Theosophische Gesellschaft für Rudolf Steiner einen Vorteil, dessen Bedeutung für ihn die gekennzeichneten Nachteile bei weitem überwog. In seiner Selbstbiographie deutet er auf ihn mit den Worten hin: "Meine nicht-theosophischen Zuhörer wären nur geneigt gewesen, sich von meinen Ausführungen 'anregen' zu lassen, sie (S54) "literarisch" aufzunehmen. Was mir aber auf dem Herzen lag, dem Leben die Impulse der Geistwelt einzufügen, dafür gab es kein Verständnis. Dieses Verständnis konnte ich aber allmählich in theosophisch interessierten Menschen finden". In der Theosophischen Gesellschaft waren Menschen vereinigt, die von der geistigen Welt hören wollten. Das Unbefriedigtsein von der materialistischen Weltanschauung, die Empfindung, daß in unsere materialistische Zivilisation ein spiritueller Impuls hereingetragen werden müsse, hatte sie ja den Weg in diese Gesellschaft finden lassen. Vor ihnen konnte ohne Umschweife in die Darstellung der geistigen Welt eingetreten, es konnte rückhaltlos von den geistigen Impulsen gesprochen werden, die in unsere Zeit einfliessen müssen. Und dies bedeutete für Rudolf Steiner unermeßlich viel. Denn der Darsteller übersinnlicher Welten ist in einem viel höheren Grade von der Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft seiner Zuhörer abhängig, als der Darsteller irgendeines äußeren Tatsachengebietes. Bringen wir doch schon im gewöhnlichen Leben gewisse innerlich erkämpfte höhere Lebenseinsichten nur vor denen über die Lippen, die sie mit Ernst und Ehrfurcht aufzunehmen wissen. In unendlich gesteigertem Maße gilt dies aber von übersinnlichen Erlebnissen. Rudolf Steiner fand in der Theosophischen Gesellschaft das Publikum, das zu finden für ihn zunächst eine Notwendigkeit war, um die von ihm angestrebte geistige Bewegung in Gang zu bringen.
Aus den geschilderten Tatsachen dürfte aber auch hervorgehen, welch groben Irrtum die heute noch weit verbreitete Meinung darstellt, Rudolf Steiner habe bei seinem Eintritt in die Theosophische Gesellschaft seine Weltanschauung gewechselt, indem diese früher eine materialistische gewesen und jetzt eine spiritualistische geworden sei, und er habe erst in der Theosophischen Gesellschaft seine "Einweihung" in eine übersinnliche Welterkenntnis erhalten. Schon aus den vorangehenden Kapiteln ist ja wohl ersichtlich geworden, daß der eigentümliche Verlauf, den die Entwicklung seines Schrifttums von Anfang an genommen hat, nur verständlich wird aus der Tatsache eines ursprünglichen übersinnlichen Erlebens, (S55) und dem Bestreben, dessen Erkenntnisse in die Sprache der Zeitkultur zu kleiden und dadurch für diese fruchtbar zu machen. Ganz besonders aber aus den eingangs dieses Kapitels erwähnten, vor seinem Eintritt in die Theosophische Gesellschaft entstandenen Schriften, die den Anfang seines öffentlichen geisteswissenschaftlichen Wirkens bilden, wird jeder unbefangene Leser - wenn auch die Bezeichnung "Theosophie für die dargestellten Erlebnisse noch nicht gebraucht wird - die esoterischen Erkenntnisse durchaus beschrieben finden, die in den späteren Werken in anderer Form geschildert sind. In diesen Schriften ist das charakteristische Wesen dessen, was er später "Anthroposophie" genannt hat, durchaus schon da; ja, es ist sogar schon deren Mittelpunktserkenntnis, seine Christusauffassung, wie wir zeigen konnten, in voller Bestimmtheit vorhanden.
Durch die geschilderte Schicksalsfügung ist es nun also gekommen, daß die anthroposophische Geistesströmung die erste Periode ihrer eigentlichen Entfaltung im Schoße der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft erlebt hat. Innerhalb dieser Sektion, deren Leitung er ja von ihrer Begründung an übernommen hatte, hatte Rudolf Steiner nun die Möglichkeit, ganz unabhängig und selbständig von den elementarsten Grundlagen auf die als Fortsetzung der modernen Naturwissenschaft erstrebte moderne "Geisteswissenschaft" Stück für Stück aufzubauen und auszugestalten. Neben der Vortragstätigkeit, die er innerhalb der Gesellschaft entfaltete, begann er in einer Zeitschrift "Luzifer", die er gleich nach der Entstehung der deutschen Sektion begründete, mit den ersten öffentlichen Darstellungen der übersinnlichen Welt und ihrer Erkenntnis, auf denen dann organisch alles weitere aufgebaut wurde, was später dargestellt worden ist. In dieser Zeitschrift erschien sogleich in Fortsetzungen die Schilderung des Erkenntnisweges in die geistige Welt, die dann in Buchform unter dem Titel: "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" veröffentlicht worden ist, und bereits im Jahre 1904 erschien in dem Buche "Theosophie" die grundlegende systematische (S56) Darstellung dessen, was moderne Geisteswissenschaft sein will. In diesen beiden Büchern ist ohne jede Anlehnung an Historisches, rein aus den Tatsachen selbst heraus, die übersinnlicheWelt und der Weg zu ihrer Erkenntnis in einer Art beschrieben, wie sie dem wissenschaftlichen Erkenntnisleben und dem durch den Impuls der sittlichen Freiheit charakterisierten moralischen Leben der Gegenwart angemessen ist. Wonach Rudolf Steiner von Jugend an als nach dem von ihm für notwendig erachteten Ziele gestrebt hatte, in diesen Schriften sehen wir es nun verwirklicht. Einen Höhepunkt hatte sein Streben damit erreicht.
In der "Theosophie" wird zunächst der Mensch vor uns hingestellt als ein Wesen, das sich auf drei wesensverschiedene Arten zur Welt verhält und dadurch sich selbst als einen dreigliederigen Organismus verrät. Zunächst steht er als physisch-leibliches Wesen in der Welt und in den mannigfaltigsten physischen Beziehungen zu ihr, dann als seelisches Wesen, als welches er durch seine Gefühle, Empfindungen, Neigungen und Abneigungen sich von jedem anderen Menschen unterscheidet und als individuelle Persönlichkeit zur Geltung bringt, endlich als geistiges Wesen, als welches er das Wahre erkennt, das Schöne liebt, das Gute verwirklicht und sich dadurch in eine objektive, allen gemeinsame Lebensordnung eingliedert. Das Entwicklungsverhältnis der drei Glieder zueinander könnte im Bilde der Pflanze und ihrer drei Entwicklungsstufen veranschaulicht werden. In der Entfaltung des Leiblichen macht das Menschenwesen gewissermaßen sein Wachstums- oder Blattstadium durch, in der Entfaltung des Seelischen erhebt es sich zur Blüte, und im Heranreifen des Geistigen bringt es seine Früchte hervor. Aber so wie bei der Pflanze die Frucht, die als das letzte in die Sichtbarkeit tritt, schon von Anfang an im Unsichtbaren in ihr vorhanden ist in dem, was Goethe ihr entelechisches Prinzip nannte und was die ganze Entfaltung des Pflanzenwesens bewirkt, so ist das Geistige im Menschen nur der Erscheinung, nicht aber dem Wesen nach das letzte, sondern ruht von Anfang an im heranwachsenden Menschen in dessen Entelechie verborgen, die die (S57) ganze Entfaltung des Menschenwesens als ihre treibende Kraft bewirkt. Und wie das entelechische Prinzip in der Pflanze beim Hinwelken des alten Wesens in der Frucht geborgen vom Schoß der Erde aufgenommen wird und in ihm den Winter überdauert, um im kommenden Jahre ein neues Pflanzenwesen aus sich herauszubringen, ebenso wird auch die menschliche Entelechie beim Hinsterben des einen Menschenlebens durch die Früchte, die sie getragen, dem Tode entrissen und in den Schoß der geistigen Welt versenkt, aus dem sie zu ihrer Zeit zur Entfaltung eines neuen Menschendaseins wieder hervortritt. Nur sind die Früchte der Pflanze physisch-natürliche, diejenigen des Menschen geistig-moralische. Und darum sinkt die Entelechie der Pflanze nach ihrem Tode in den physischen Mutterschoß der Erde und steigt diejenige des Menschen hinauf in den geistigen Mutterschoß des Kosmos. Und aus diesem wächst sie zu einem neuen Erdenleben herab, wie die Pflanze im Frühling aus der Erde emporsteigt. Denn der Mensch wird durch die Erde zu einem neuen Leben angezogen, die Pflanze aber durch die Sonne aus den Erdentiefen heraufgerufen. So muß die Geisteswissenschaft von wiederholten Erdenleben sprechen, durch die die menschliche Entelechie hindurchgeht und deren jedes seine besondere Gestaltung erhält in Gemäßheit der Früchte, die aus den vorhergehenden in dasselbe herübergebracht werden. Der Mensch stammt nur seinem Leiblichen nach von seinen physischen Vorfahren ab; seinem Geistigen nach kann er als sein eigener Nachkomme bezeichnet werden. Das Seelische aber vermittelt diese beiden, wodurch dasjenige entsteht, was wir das Schicksal nennen. "Dreierlei bedingt den Lebenslauf eines Menschen innerhalb von Geburt und Tod. Und dreifach ist er dadurch abhängig von Faktoren, die jenseits von Geburt und Tod liegen: Der Leib unterliegt den Gesetzen der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal... Und der Geist steht unter dem Gesetz der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben. Man kann demnach das Verhältnis von Geist, Seele und Körper auch so ausdrücken: Unvergänglich ist (S58) der Geist; Geburt und Tod walten nach den Gesetzen der physischen Welt in der Körperlichkeit; das Seelenleben, das dem Schicksal unterliegt, vermittelt den Zusammenhang von beiden während eines irdischen Lebenslaufes" (Theosophie, 16. Auflage, S74).
Aber so, wie der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist, so ist auch die ganze Welt eine physische, eine seelische und eine geistige. Auch in der Welt ist Seelisches, auch in der Welt ist Geistiges. Denn so wie der Menschenleib aus den Stoffen der physischen Welt aufgebaut ist, so entstammt seine Seele der seelischen und sein Geist der geistigen Welt. Freilich ist draußen zunächst nur die physische Welt offenbar, die seelische und geistige sind verborgen. Und das ist eben das Wesen des Menschen, daß in ihm zur Offenbarung gelangt, was in der Welt als Verborgenes da ist. Seelisches waltet im Stein, in der Pflanze, aber auf verborgene Weise; es tritt hervor im Tiere und offenbart sich völlig im Menschen. Geistiges schafft in den Naturreichen als ein verborgenes; im menschlichen Geistesschaffen wird es ein offenbares. Aber als ein Wesenhaftes erscheint im Menschen der Geist. Wollen wir daher den schaffenden Geist in der Natur erfassen, so müssen wir bis zum Wesen, zur Wesenheit durch sie hindurchdringen.
Was geschieht nun mit dem Menschen zwischen Tod und neuer Geburt? Die Leibeshülle wird im Tode abgestreift; Seele und Geist erheben sich in die Seelenwelt. Das Seelische hat seine Aufgabe, Leib und Geist zu verbinden, erfüllt; es löst sch daher allmählich in der Seelenwelt wieder auf. Der Geist aber geht in das "Geisterland" ein. Dort durchdringt er sich je nach dem Maß der Früchte, die er aus dem Erdenleben mitgebracht, mit den schöpferischen, verjüngenden Kräften der Geistwelt, durch die diese Früchte in Keime eines neuen Erdendaseins verwandelt werden, und gestaltet danach die Arbeits- und Schicksalspläne für dieses aus. Im einzelnen werden in dem Buche die verschiedenen Stufen der Wege geschildert, die der Geist durch die geistige Welt wandert, wie sie sich dem geöffneten Geistesauge des Geistesforschers darstellen.
Dies ist in Kürze ungefähr der Inhalt der "Theosophie". Und (S59) den Weg zu solchen Erkenntnissen zeigt nun das Buch "Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?" Im irdischen Menschenleben sind Geist und Seele von der physischen Körperlichkeit umhüllt. Diese verschließt ihnen den Einblick in ihre Heimatwelten. Zwar arbeiten sich Geist und Seele im Leben bis zu einem gewissen Grade aus der Leibesgebundenheit heraus, aber doch nicht so weit, daß sie den Ausblick in die übersinnliche Welt erlangen könnten. Erst mit dem Ablegen des Leibes im Tode erschließt sich normalerweise für das seelische Erleben wieder die geistige Welt. Dies ist der eine Weg, um in die geistige Welt zu gelangen: durch den Abbau des Leibes bei gleichbleibender Verfassung der Seele. Dasselbe Ziel kann man nun aber auch erreichen, wenn man bei gleichbleibender Verfassung des Leibes, das heißt also während des Lebens, das Seelisch-Geistige um so viel stärker macht, als die Leibeswirkung im Tode schwächer wird. Dann kommt derselbe Grad der Unabhängigkeit des Seelischen vom Leiblichen zustande, wie sonst beim Durchgehen durch den Tod; nur jetzt nicht durch Schwächung und Ersterben des Leibes, sondern durch Stärkung und erhöhtes Leben der Seele. Man macht dadurch bei lebendigem Leibe dasselbe Erlebnis des inneren Freiwerdens von demselben durch, wie es, ohne solche Arbeit, erst im Tode, durch die Zerstörung des Leibes eintritt. Wie ist nun aber solche Verstärkung des Geistigen im Menschen zu erreichen? Wie im Kinde das Seelische zunächst noch im leiblichen Leben verborgen ist und im Laufe der Jahre allmählich aus ihm hervorkommt, so bleibt das Geistige auch beim Erwachsenen immer mehr oder weniger im seelischen Leben verborgen. Es muß aus den Tiefen der Seele erst heraufgeholt werden. Diese lebt im Denken, Fühlen und Wollen. In diesen drei Seelenkräften ist viel mehr verborgen, als im gewöhnlichen Leben von ihnen zur Entfaltung und Erscheinung kommt. Werden sie einer Schulung unterzogen, durch die sie zu höherer als der gewöhnlichen Entwicklung gebracht werden, dann blüht aus ihnen das Geistige des Menschen hervor, das sich mit dem Geistigen der Welt erkennend verbinden kann. (S60)
In den vorangehenden Kapiteln wurde dieses für das Denken ja bereits geschildert. Seine Entwicklung bildet den Anfang und führt zur ersten Stufe übersinnlichen Schauens. Wir zeigten, wie das Denken seinem innern Wesen nach gewissermaßen als Embryonalzustand eines geistigen Schauens bezeichnet werden kann, zu dem es sich auch verwandelt, wenn es durch systematische Schulung verstärkt wird. Es läßt den Menschen dann das lebendige Gedankenweben anschauen, aus dem die Geschöpfe der Natur ebenso herausgebildet werden, wie der Mensch seine Schöpfungen aus Gedanken und Idealbildern heraus formt. Imagination heißt diese erste Stufe übersinnlichen Erlebens. Aber wie hinter den menschlichen Gedanken als ihre Erzeugerin die menschliche Seele steht, so werden die schaffenden Weltgedanken von den Weltenseelenwesen der Geistwelt gedacht, und diese lernt der Mensch kennen, wenn er seine Gefühlskräfte entwickelt. Durch das Fühlen erleben wir das Seelische in der Außenwelt, im andern Menschen mit. Wird es bis zu einem genügenden Grade von Selbstlosigkeit und Hingabefähigkeit - namentlich gegenüber Geistigem - gesteigert, dann verwandelt es sich zu einer Art Geistesohr, durch welches die Seele die Wesen zu sich sprechen hört, die die Weltgedanken denken. Inspiration heißt deshalb diese zweite Stufe übersinnlichen Erlebens. Und wird endlich der Wille durch entsprechende Übungen so geschult, daß das Handeln des Menschen immer reiner aus dem herausfließt, was sich ihm an Impulsen aus der geistigen Welt ergibt, daß solches Handeln ihm selbstverständliches Verhalten wird, dann erlebt er in seinem Innern das Innere dieser geistigen Wesen selbst; ihre Erinnerungen, ihre Absichten, ihre Pläne leben in seinem Innern auf, und er erkennt sein eigenes tiefstes Wesen als wesensgleich mit den göttlichen Wesen, die die Welt geschaffen und sie erhalten. Sein Wille und der Weltenwille sind eins geworden; aus ihm heraus handelt er als Mitwirker, als Mitschöpfer am Weltenfortgang. Intuition heißt diese höchste Stufe übersinnlichen Erlebens.
In ausführlicher Art werden in dem genannten Buche die (S61) Mittel und Wege geschildert, die zu den hier angedeuteten Zielen führen.
Damit war nun ein aus dem modernen Bewußtsein herausgearbeiteter Weg zur übersinnlichen Erkenntnis und war eine Wissenschaft von der geistigen Welt begründet, die in bezug auf Strenge und Exaktheit ihrer Methode neben jeder anderen modernen Wissenschaft stehen kann. Die unerschütterlichen Grundlagen waren gelegt für die Entwicklung einer geistigen Bewegung, wie sie Rudolf Steiner als notwendig für unsere Zeit betrachtete. Was für besondere Aufgaben sich nun im weiteren für diese Bewegung ergaben, das zu zeigen wird die Aufgabe des nächsten Kapitels sein.