Vorwort zum zweiten Teil
Blickt man auf den ersten Teil dieser Broschüre zurück, dann wird man sich erinnern, daß es ein Hauptanliegen dieses Teiles war, zu zeigen, daß man nicht nur von einer Dreigliederung des Menschen oder des sozialen Organismus sprechen kann, sondern auch, wie Rudolf Steiner es auf dem Wiener West-Ost-Kongreß (GA83) erneut tat, von einer dreigliedrigen Weltsituation von Ost, West und Mitte. So verschieden im Menschen das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem von dem rhythmischen System oder dem Kopf-Nervensystem ist, oder so verschieden das Wirtschaftsleben im sozialen Organismus von dem Rechtsleben oder dem Geistesleben ist, so verschieden ist, wenn man auf die inneren Anlagen schaut, der Westen vom Osten oder der europäischen Mitte. Es war immer das Bestreben Rudolf Steiners, verständlich zu machen, daß aus diesem Grund jedes der drei Gebiete sich aus den eigenen Kräften entfalten müßte, dann erst würde herauskommen, was der Menschheit wirklich dient.
Im Westen der Welt leben die Menschen vorzugsweise im Stoffwechsel-Gliedmaßensystem, in dem der unbewußte Wille lebt. Er ist die wirkende Kraft in allen Ernährungsvorgängen, er ist die bewegende Kraft in den Gliedern der Menschen, die Kraft in seinen Instinkten und Trieben. Dringt man aber durch Geisterkenntnis weiter in das innere Wesen der Willenskraft ein, dann offenbart sie sich als eine in der höheren Geistwelt wurzelnde Macht, die den Menschen in steter Verbindung mit dem Kosmos und seinem Weltgeschehen hält. Diese höhere Sphäre der Geisteswelt ist nur der Intuition zugänglich. Es ist die Sphäre, in welcher der Mensch im Tiefschlaf oder nach dem Tode weilt, eins ist mit allen Wesen und Vorgängen in der Welt. In dieser Sphäre ist der Wille reiner Opferwille. Heute schläft im wachenden Tagesmenschen der Wille, er wirkt nur dem Menschen vollkommen unbewußt. Er kann aber erweckt werden, wenn das Licht spiritueller Weisheit in seine dunklen Felder dringt. Das ist dann wie das allmähliche Erwachen eines sonst in uns schlafenden kosmischen Menschen. Den Westen so in seinem inneren Wesen, in seiner inneren Anlage kennenzulernen, bedeutet das Gewahrwerden seiner in ihm veranlagten Eigenkräfte. Auf der Erde offenbaren sie sich heute oft als das direkte Gegenteil.
Auf diesem Wege lernt der Mensch erkennen, wie sein spirituell gewordener Wille aufwärts durch den rhythmischen Menschen, durch sein Herz, ins intellektuelle Denken strömen kann, dieses zu wandeln, mit Leben zu erfüllen, II es fähig zu machen, alles Natur- und Weltgeschehen tiefer zu verstehen; und wie der Strom des lebenerweckenden Erkenntnislichtes wieder durch das Herz hinunterfließen kann in den Willen, um seine tieferen Anlagen in ihm zu erwecken, den Impuls der alle Menschen einenden Brüderlichkeit, der lebenschaffenden Opfersubstanz, des starken Willens, bis in das Härteste der Erde hinunterzuwirken, um es ins Geistige zu wandeln. Es sind Impulse, die einmal das Alltagsleben bis in alle wirtschaftliche Betätigung hinein wandeln können. Der so strebende Mensch wird erkennen, wie der mittlere Mensch, der Herzensmensch, in der westlichen Zivilisation zwischen intellektuellem Denken und triebhaft gewordenem Willen zerrieben und damit seiner kreativen Kraft beraubt wurde. Wie dadurch alles Menschliche in unserer Zeit versank und wilde Zerstörungskräfte in ihr entfesselt wurden, die wir heute so rapide aufschießen sehen. Wird aber das Herz durch die spiritualisierten auf- und abfließenden Kräfte wieder durchströmt, dann wird es ätherisiert, spiritualisiert und gewinnt seine kreative Kraft zurück.
So lernt der Mensch aus eigenem Erleben nicht nur den Westen (Wille) in sich erkennen, sondern auch die Mitte (Herz, Fühlen) und den Osten (Geist, Denken). So Westen, Mitte und Osten in sich erfahrend, erhebt er sich zum Weltbürger. Diese bedeutsame Wahrheit sprach einmal Wladimir Solowjew in folgender Weise aus: "In diesem Sinne kann gesagt werden, daß die menschliche Gesellschaft die Ergänzung oder Erweiterung der Persönlichkeit, die Persönlichkeit aber der zusammengedrängte oder konzentrierte Inhalt der Gesellschaft sei" ("Die Rechtfertigung des Guten"). Eines muß dann noch hinzukommen. Man muß die einer solchen Entwicklung feindlichen Mächte gründlichst kennenlernen. Nur durch eine durchdringende Erkenntnis ihre Wesens und ihres Gegenwirkens kann man sich ihrer erwehren, kann man manches zum Guten wenden.
Der zweite Teil nun soll nicht so sehr eine Erweiterung des bisher Gesagten bringen, sondern mehr eine Vertiefung. Ich habe mich im ersten Teil bemüht, so zu schreiben, daß auch neu zur Anthroposophie Hinzugekommene ihn verstehen können. Ich mußte auch berücksichtigen, daß durch die deutsche Ausgabe Nichtamerikaner erreicht wurden. Was Amerikanern bekannt oder selbstverständlich ist, das ist manchem Nichtamerikaner nicht so selbstverständlich. Der zweite Teil muß, will man das gesteckte Ziel erreichen, weitergehen.
Ich möchte Christine Stegmann, welche mir durch ihre guten anthroposophischen Kenntnisse entscheidend half, herzlich danken; ebenso Erich Reinke für die vielen Hilfen, der er gab bei der Durchsicht des deutschen Textes, Elisabeth Müller für das Schreiben beider deutschen Teile, Lore Walter für mannigfaltige Hilfen, Jonitha Hasse für die Aufstellung der Bibliographie.
Carl Stegmann
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