Zweiter Teil
1. Anthroposophische Arbeit in Österreich bis zum Anschluß an Hitler-Deutschland
Nach dem Hingang Rudolf Steiners stellte sich für die anthroposophische Bewegung die ernste Frage, ob sie nach dem Tode ihres Begründers imstande wein werde, fortzubestehen, sich weiter zu entwickeln und die großen und vielfältigen Aufgaben zu erfüllen, die ihr von ihm gestellt und unter seiner Führung in Angriff genommen worden waren. Im Blick auf manche damals führenden Vertreter derselben sowie auf die Überfülle von Impulsen und geistigen Hilfen, die Rudolf Steiner für deren Realisierung gegeben hatte, glaubte man, der Zukunft mit Zuversicht entgegengehen zu dürfen, zumal da der Enthusiasmus für die Ziele der Bewegung, den Steiner in den Seelen seiner Schüler entzündet hatte, damals noch in mächtigen Flammen loderte. Hinzu kam, daß mit der Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft auf der Weihnachtstagung von 1923 und der Eröffnung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum sowie mit alle dem, was sich an Initiativen daran angeschlossen hatte, die gesamte Tätigkeit der anthroposophischen Bewegung einen mächtigen neuen Einschlag und Anstoß erfahren hatte. Man glaubte zunächst, alle diese Aktivitäten mit demselben Elan weiterführen zu können. Man vergegenwärtigte sich nicht in vollem Maße, daß die Neugestaltung der Gesellschaft, die mit ihrer Neubegründung in Angriff genommen worden war, noch keineswegs abgeschlossen, und daß mit der Lehrtätigkeit innerhalb der Hochschule für Geisteswissenschaft, die damals begonnen worden war, Rudolf Steiner nurmehr den Anfang der ersten der drei "Klassen" hatte machen können, in welche ihr Lehrgang gestuft werden sollte. Man realisierte auch nicht im vollen (S70) Ausmaße, daß mit dem Tode Steiners der geistige Quell, von dem alle diese Aktivitäten ausgegangen und täglich neu gespeist worden waren, in der bisherigen Art zu fließen aufgehört hatte.
Der Begründer und Lehrer der Anthroposophie weilte nun nicht mehr unter uns, es waren nurmehr seine Schüler da. Steiner hatte in die Statuten der neubegründeten Gesellschaft hinsichtlich der Hochschule den Paragraphen aufgenommen, daß er als Leiter derselben einen eventuellen Nachfolger zu ernennen habe. Eine solche Ernennung war aber nicht erfolgt. Trotzdem oder gerade deswegen glaubte man, wie es in einer Kundgebung des Gesellschaftsvorstandes kurz nach Steiners Tod hieß, ihn "fortdauernd als Führer in unserer Mitte zu wissen". Die Stelle des Vorsitzenden wurde deshalb zunächst nicht neu besetzt. Erst zu Weihnachten 1925 erfolgte auf eine entsprechende Mahnung der Gemeinde Dornach hin die Neubesetzung dieses Amtes, indem von einer hierfür einberufenen Generalversammlung der Dichter Albert Steffen zum Vorsitzenden gewählt wurde. Die volle Tiefe der Zäsur, welche Steiners Hingang für die Bewegung bedeutete, war wohl allein von Frau Marie Steiner gesehen worden, hatte sie doch an seiner Seite als seine erste, engste und tatkräftigste Mitarbeiterin die anthroposophische Bewegung und Gesellschaft von Anfang an mit aufgebaut. Sie hatte darum unmittelbar nach Steiners Tod hinsichtlich der Neubesetzung des Vorsitzes sowie der Zusammensetzung des Vorstandes einen entsprechenden Vorschlag gemacht, war damit aber nicht durchgedrungen.
Die Bedeutung der angedeuteten Zäsur lag einerseits darin, daß mit dem Tode Steiners der Fluß der durch ihn errungenen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse nunmehr in der Art sich fortsetzte, daß eine Unzahl noch nicht gedruckter Nachschriften seiner Vorträge im Lauf der nun folgenden Jahrzehnte durch Marie Steiners unermüdliche Publikationstätigkeit allgemein zugänglich gemacht und damit ihrem Inhalte nach bekannt wurde. Damit stellte sich der Gesellschaft für die nächsten Jahrzehnte neben der Weiterentwicklung der Tochterbewegungen als Hauptaufgabe, den Inhalt der Anthroposophie nun in seiner Gesamtheit in ihr Bewußtsein aufzunehmen und zu erarbeiten. Auf der anderen Seite erlangte eben (S71) dadurch die Tätigkeit der Gesellschaft als solcher gegenüber früher eine erhöhte Wichtigkeit; denn diese Erarbeitung benötigte zu ihrer vollen Effektivität die Zusammenarbeit der Mitglieder derselben. Und dadurch traten jetzt mehr als früher die einzelnen Persönlichkeiten als Träger und Repräsentanten der Anthroposophie hervor, damit aber auch die verschiedenen Auffassungen und Auffassungsrichtungen, die sich innerhalb der Mitgliederschaft über das Wesen der Anthroposophie, über die Methodik ihrer Erarbeitung, über die Ziele ihres Wirkens herausbildeten. Das alles bedeutete, daß die Tätigkeit der Bewegung in ihrer nun beginnenden Entwicklungsphase ins Zeichen der innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Führung, Arbeitsmethode, Wirkensrichtung eintrat. Diese bestimmten in der Tat in den nun folgenden Jahrzehnten mehr als alles andere das Schicksal der Bewegung und hatten schwerwiegende, zum Teil tief tragische Geschehnisse zur Folge, welche ihre Wirksamkeit weitgehend lähmten und ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit schweren Schaden zufügten.
Indem ich zum zweiten Teil meiner Lebensrückschau übergehe, sei hiermit am Beispiel einer individuellen Tätigkeit gezeigt, in welcher Art die hier angedeuteten Momente in den nächsten anderthalb Jahrzehnten das Wirken der Bewegung bestimmten. Es läßt sich diese Phase meines Lebens zusammenfassend dahin charakterisieren, daß sie in der Hauptsache der weiteren inneren Aneignung und Verarbeitung dessen gewidmet war, was dieses Leben mit der Anthroposophie als seinen zentralen Einschlag empfangen hatte. Diese Tätigkeit erfolgte zunächst - schicksalsmäßig in Wien und Österreich - bezeichnenderweise in der Form einer Funktion innerhalb der dortigen Anthroposophischen Gesellschaft, - einer Funktion, die sich allmählich zur leitenden entwickelte, vor allem in Gestalt einer teils vortragsmäßigen, teils schriftstellerischen Wirksamkeit, die stetig wachsenden Umfang annahm und sich bald über einen immer größeren Teil der anthroposophischen Gesamtbewegung ausbreitete.
Die angedeutete neue Phase der Arbeit nahm in Wien ihren Anfang mit der unmittelbar nach dem Tode Steiners (Frühjahr 1925) erfolgten Übersiedlung der Gesellschaft aus den engwinkligen (S72) Verhältnissen einer Privatwohnung in wesentlich weiträumigere Lokalitäten in der Stiftskaserne in der Mariahilferstraße, einer der Hauptgeschäftsstraßen der Stadt. Es waren dies die ehemaligen Clubräume eines dort domizilierten, gut renommierten Cafés. Sie wurden vom Café abgetrennt und an die Anthroposophische Gesellschaft vermietet. Ein großer Saal mit mehreren Nebenräumen stand da zur Verfügung, in denen das Sekretariat, der Bücherverkauf, die Bibliothek untergebracht werden konnten. Im Saale wurde alsbald eine Bühne für künstlerische Darbietungen eingebaut. Neben der internen Studienarbeit und der öffentlichen Vortragstätigkeit, die von der Gesellschaft betrieben wurde, hatten schon früher auch Kurse in der von Steiner begründeten Kunst der Eurythmie stattgefunden. Diese erweiterten sich nun bald zu einer Eurythmie-Ausbildungsschule. Die Saalbühne gab die Möglichkeit zu öffentlichen Darbietungen dieser Kunst und so fanden denn auch die ganzen Jahre hindurch in regelmäßigen Abständen dort, später auch auf Theaterbühnen, öffentliche Eurythmie-Aufführungen statt. Nicht minder eifrig wurde die von Marie Steiner entwickelte Kunst der Sprachgestaltung in Lehrkursen gepflegt, einige Jahre hindurch unter der Leitung des bedeutenden Rezitators, Schauspielers und Regisseurs Max Gümbel-Seiling. Märchenspiele, von ihm für die Bühne bearbeitet, kamen da zur Aufführung, sowie alljährlich die bekannten Oberuferer Weihnachtsspiele. Schon im Jahre 1925 war es auch zur Gründung einer Rudolf-Steiner-Schule gekommen. Durch die äußerst schwierigen Verhältnisse, teils bedingt durch die wirtschaftliche Verarmung der Nachkriegszeit und die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, teils durch die derartigen pädagogischen Versuchen äußerst ungünstige damalige österreichische Schulgesetzgebung, hat sich diese Schule durch anderthalb Jahrzehnte tapfer durchgekämpft, bis sie nach dem "Anschluß" von den Nazis verboten wurde.
Was die anthroposophische Arbeit als solche betrifft, so waren aus Wien beziehungsweise Österreich schon vor der hier zu schildernden Zeit eine ganze Reihe tragender Vertreter derselben hervorgegangen, die damals größtenteils bereits in Stuttgart an der Waldorfschule und den dortigen naturwissenschaftlichen (S73) Forschungsinstituten tätig geworden waren: Ich nenne hier nur Walter Johannes Stein, Eugen und Lili Kolisko, Hermann v. Baravalle, Alexander Strakosch, Karl Schubert, Rudolf Treichler, Wilhelm Pelikan u.a. Aber auch danach hatte sich dank einem günstigen Schicksal wiederum eine ansehnliche Zahl tüchtiger Mitarbeiter in Wien zusammengefunden, die in gemeinsamem Wirken die Arbeit trugen. Außer Dr. Thieben und mir, auf denen die Hauptlast der öffentlichen und internen Vortragstätigkeit ruhte, seien als Mittätige nur genannt: die Ärzte Dr. Norbert und Maria Glas, die damals einen Kreis von aus der früheren Jugendbewegung gekommenen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft um sich scharten, - der Arzt Dr. Ferdinand Wantschura, eine warmherzige, liebenswerte Persönlichkeit, die sowohl in ärztlichen wie in allen sonstigen Angelegenheiten, die irgend eine Art von Hilfe erforderlich machten, mit Herz und Hand tätig zugriff, - die Chemiker Prof. Halla (von der Technischen Hochschule) und Dr. Ullmann, welch letzterer vielen ein hochgeschätzter Führer in die Tiefen der anthroposophischen Esoterik war, - der Mathematiker Dr. Ernst Müller, zugleich ein gründlicher Kenner der esoterischen Tradition des Judentums, - der Geiger Karl v. Baltz (Solist und Konzertmeister der Wiener Symphoniker) und der Komponist und Musikpädagoge Prof. Egon Lustgarten, welche durch ihre musikalische Mitwirkung bei den Eurythmieaufführungen den künstlerischen Bestrebungen der Eurythmieschule wertvolle Hilfe leisteten; - die Maler Bernhard Eyb und Antonin Trcka - der erstere von der akademischen Malerei her einen strengen Weg der Schulung und der Wandlung in die von Rudolf Steiner für die Malerei gewiesenen Richtung beschreitend, während im Schaffen des letzteren die Volkskunst seiner mährischen Heimat in individueller Gestaltung und Erhöhung neue Blüten trieb, - der bedeutende Pädagoge Prof. Friedrich Thetter, von dem ein Kreis junger begabter Lehrer fruchtbarste Anregungen für ihr unterrichtliches Wirken empfing, - schließlich Graf Polzer-Hoditz, dessen Gedanken und Bemühungen weiterhin um das geistige und politische Schicksal der europäischen Mitte kreisten. Auch der Arzt und spätere Begründer des Camphill-Movement, Karl König, machte damals in Wien seine ersten Schritte auf dem (S74) Felde anthroposophischer Arbeit. Einige Jahre hindurch erfreute uns auch die Anwesenheit eines Jugendfreundes Rudolf Steiners in unserer Mitte: des damals schon greisen Schriftstellers und liebenswerten Menschen Fritz Lemmermaxer, den das Schicksal durch einen gräßlichen Unglücksfall unmittelbar nach Steiners Tod in unsere Kreise führte. Er fand auf seine alten Tage noch den Zugang zur Anthroposophie und vermittelte uns in seinen mündlichen und auch schriftlich festgehaltenen Jugenderinnerungen wertvolle Bilder aus dem Geistesleben Wiens vor der Jahrtausendwende. In großer Zahl wurden auch auswärtige Vortragende zur Mitarbeit gewonnen, eine Reihe öffentlicher Tagungen fand im Lauf der Jahre statt, darunter eine Goethe-Tagung im Musikvereinssaal im Jahre 1932 zu Goethes 100. Todestag unter Mitwirkung Albert Steffens und des Sprechchors des Goetheanums. Die Zahl der Mitglieder der Wiener Gesellschaft stieg im Lauf dieser ganzen Zeit von etwa 100 auf über 300 an.
Meine eigene Vortragstätigkeit erstreckte sich bald über alle größeren Städte Österreichs, in denen Zweige der Gesellschaft bestanden, und setzte sich durch all die Jahre regelmäßig fort, was eine freundschaftliche Verbundenheit mit all den betreffenden Ortsgruppen und ihren Mitgliedern zur Folge hatte. Häufig kam ich zu Vorträgen auch nach Prag, Brünn und anderen Städten der Tschechoslowakei, - mehrmals auch nach Budapest, nach Zagreb und Beograd. Hierbei konnte immer wieder erlebt werden, wie stark unter der Oberfläche der neuen Verhältnisse die alte Verbundenheit der früheren Teile der Habsburger Monarchie noch fortwirkte. Aber auch in Deutschland führten mich Vortragsreisen in viele Städte. Im Jahre 1928, in welchem der mir freundschaftlich verbundene Leiter des Hamburger Zweiges Louis Werbeck starb, verbrachte ich 2 1/2 Monate dort, um die dadurch entstandene Lücke in der Leitung der Arbeit auszufüllen bis zur Übernahme derselben durch Dr. Hermann Poppelbaum. Im selben Jahr sprach ich bei der Tagung zur Eröffnung des zweiten Goetheanum-Baues erstmals auch in Dornach und wirkte seitdem als Mitglied des dortigen Mitarbeiterkreises regelmäßig durch Vorträge an den Tagungen am Goetheanum mit. Im Jahre 1935 übernahm ich, im Zusammenhang (S75) mit Auseinandersetzungen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, die damals einen ersten Höhepunkt erreichten und in abgeschwächtem Maß sich auch in Österreich auswirkte, den Vorsitz der österreichischen Landesgesellschaft.
Trotz all den vielfältigen Aktivitäten, die auf verschiedensten Arbeitsgebieten in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen von der Anthroposophischen Gesellschaft ausgingen, läßt sich - im ganzen betrachtet - nicht bestreiten, daß insbesondere seit dem Beginn der 30er Jahre diese Arbeit immer mehr in ein geistiges Getto geriet. Die polemischen Auseinandersetzungen wissenschaftlicher und religiöser, aber auch politischer Kreise mit der Anthroposophie, die zu Lebzeiten Steiners noch meist sehr heftig gewesen, freilich auch vor keiner Entstellung und Verleumdung derselben zurückgeschreckt waren, flauten mehr und mehr ab, - aber nicht minder auch die Auseinandersetzungen von anthroposophischer Seite mit dem, was an Erscheinungen des geistigen, an Ereignissen und Bewegungen des politischen und sozialen Lebens die Zeit mit sich brachte. Es hatte dies in der Hauptsache wohl zwei Gründe: der eine lag darin, daß die Kräfte und Interessen der Mitglieder der anthroposophischen Bewegung immer stärker von den methodischen und ideologischen Auseinandersetzungen absorbiert wurden, die sich innerhalb ihrer Kreise damals abspielten. Der andere bestand darin, daß in Europa immer stärker die totalitär-faschistischen Bewegungen in den Vordergrund traten, mit denen sachliche Auseinandersetzungen überhaupt nicht geführt werden konnten, da sie durch ganz andere Kräfte und Tendenzen als die der Ratio und der Suche nach Erkenntnis, nach Wahrheit impulsiert wurden. Nationalismus, Rassismus, Kommunismus, reaktionärer Klerikalismus erlangten immer mehr die Oberhand und drängten die Entwicklung immer deutlicher auf den Weg zu einer neuen Weltkriegskatastrophe, wie es Rudolf Steiner für den Fall der Ablehnung der neuen geistigen Impulse durch die Zeitwelt vorausgesagt hatte. Im spanischen Bürgerkrieg von 1936-1939 wurde bereits die Generalprobe einer solchen inszeniert.
Durch meine Zeitschrift "Österreichische Blätter", die ich bis 1930 herausgab, hatte ich noch mancherlei Beziehungen anknüpfen (S76) können. So etwa ergab sich durch einige meiner politischen Artikel ein mehrfacher Briefwechsel mit dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel. Schon aus den Erfahrungen innerhalb der Habsburgischen Monarchie heraus, zu deren letzter Regierung er noch gehört hatte, insbesondere aber aus denjenigen der Nachkriegsverhältnisse im östlichen Mitteleuropa waren seine politischen Gedanken in eine Richtung gelenkt worden, welche derjenigen der sozialen Dreigliederung nahekam.
Seit dem Beginn der 30er Jahre kristallisierten sich aus den Verhältnissen, die den zeitgeschichtlichen Hintergrund der hier geschilderten Tätigkeiten bildeten, in Europa und speziell auch in Österreich, jene Zustände heraus, die im Frühjahr 1938 in den Untergang des österreichischen Staates und anderthalb Jahre später in den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges einmündeten. Bedingt waren sie in Österreich durch den scharfen Gegensatz zwischen der stark links orientierten sozialdemokratischen Partei, welche die Stadt Wien regierte, und der katholischen, christlich-sozialen, die, in den Bundesländern verwurzelt, die Staatsregierung stellte. Die Spannung zwischen beiden nahm ständig zu. Schon im Jahre 1927 war es in Wien zur "Juli-Revolte" gekommen. Ein Freispruch von Mördern, die dem Frontkämpferverband angehörten, hatte die Empörung der Wiener Arbeiterbevölkerung derart zur Siedehitze gesteigert, daß der Justizpalast in Brand gesteckt wurde, wobei durch Eingreifen der Polizei mit der Schußwaffe gegen hundert Menschen getötet wurden. Seit dem Zusammenbruch der Wiener Kreditanstalt im Jahre 1931 in Auswirkung der damaligen Weltwirtschaftskrise stieg die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft an. Angesichts der zunehmenden Hinneigung der Regierung zum Faschismus italienischer Prägung verschärften sich die Gegensätze aufs äußerste. Nach deutschen und italienischen Vorbildern entstanden auf beiden Seiten Privatarmeen: Heimwehr, republikanischer Schutzbund, die sich auf den Bürgerkrieg vorbereiteten. In Deutschland, wo dieselbe Zuspitzung der Verhältnisse erfolgte, wurde er durch die Machtergreifung Hitlers zunächst verhindert. Im selben Frühjahr 1933 errichtete Dollfuß in Österreich eine faschistische Diktatur mit dem Ziel, einen katholischen Ständestaat zu konstituieren. (S77) Jedermann, der eine öffentliche Wirksamkeit welcher Art auch immer ausüben wollte, mußte nun einer der staatlich anerkannten Konfessionen angehören - in einer Stadt wie Wien, in welcher der größere Teil der Arbeiterbevölkerung seit langem konfessionslos geworden war!
Schon ein Jahr später kam es zur bewaffneten Auseinandersetzung in einem viertägigen Bürgerkrieg, der mit der totalen Zerschlagung der sozialdemokratischen Partei und ihrer Kräfte endete. Aber die Regierung hatte kaum mehr einen Rückhalt im Volke. Die Geschlagenen gingen in Scharen zu den Nationalsozialisten über, die durch ihre in Deutschland an die Macht gekommene Bruderpartei zur Übernahme der Macht auch in Österreich gedrängt wurden. Im Juli 1934 erfolgte der Naziputsch und die Ermordung von Dollfuss. Das ihm folgende Regime Schuschnigg vermochte sich nurmehr so lange zu behaupten, als es von Mussolini gegen Hitler gehalten wurde. Als er es diesem preisgab, fiel Österreich dem Nazismus anheim. Im März 1938 erfolgte der Einmarsch der Hitler-Armeen und der gewaltsame Anschluß an das Reich. Von den Nazis wurde er mit trunkener Begeisterung gefeiert, - um von vielen bereits bald darnach bereut zu werden.
Am Abend des Umsturzes, als Naziformationen singend und johlend durch die Mariahilferstraße marschierten, hielt ich noch einen Vortrag, der zufällig den Titel trug "Die Mission des Bösen". Es war der letzte, der stattfand. Am nächsten Tag sahen wir, meine Frau, ich und der uns befreundete Dr. Friedrich Hiebel, der damals als Lehrer an unserer Rudolf Steiner-Schule wirkte, vom Fenster unseres Gesellschaftslokals aus in der Mariahilferstraße den Einzug des "Führers". In einem Auto stehend und unablässig grüßend sauste er durch die Straße, die auf beiden Seiten von jubelnden und durch die Polizei im Zaun gehaltenen Menschenmassen gesäumt war. Einige Tage darnach lösten wir die Gesellschaft auf, da sie ja im Reich, zu dem wir jetzt gehörten, längst verboten war. Aber obwohl völlig legal erfolgt und von der Polizei bewilligt, wurde die Auflösung von den Nazis, als diese darnach die Polizei übernahmen, nicht anerkannt. Sie beanspruchten das Recht, sie ihrerseits auszuführen - und dabei das Gesellschaftsvermögen zu beschlagnahmen (S78). Was sie davon - auf Grund unserer den Behörden gemachten Angaben - bei einzelnen Mitgliedern, unter die es verteilt worden war, an Möbeln, Büchern, Geld noch auftreiben konnten, holten sie denn auch bei diesen noch ab. Kurz darauf wurde ich eines Morgens vor vier Mann der Gestapo abgeholt und den ganzen Vormittag einem Verhör unterzogen, dessen Protokoll ich dann unterschreiben mußte. Daraufhin entschloß ich mich, Österreich zu verlassen, um in einem anderen Lande meine Tätigkeit fortzusetzen.
Nach der russischen Revolution von 1917 und dem ihr nachfolgenden dortigen Bürgerkrieg war die Machtergreifung und Machtausbreitung des Nazismus in Mitteleuropa wohl das katastrophalste Ereignis unseres Jahrhunderts. Denn wie eine Kettenreaktion löste sie alle die in den nächsten Jahrzehnten nachfolgenden Katastrophen aus: die beispiellosen Verbrechen der versuchten Ausrottung des Judentums, den Zweiten Weltkrieg, die mit ihm verbundene Verüstung Europas und Zerschlagung des Deutschen Reiches, die Atombombe, den kalten Krieg zwischen West und Ost. Die Bewältigung der Aufgaben, die der Menschheit aus dem Gang ihrer neuerlichen Entwicklung heraus für unser Jahrhundert erstanden waren, hat dadurch eine ungeheuerliche Komplikation erfahren und eine fast erdrückende Erschwerung erlitten. Für diese galt es erst einmal wach zu werden. In dem Jahrzehnt, in dem sich diese Katastrophen vorbereiteten, stand für mich - und wohl auch für manche anderen Angehörigen meiner Generation - zunächst die Aufgabe im Vordergrund, die Anthroposophie in ihrer Bedeutung für den wahren Menschheitsfortschritt in den Blick des vollen Verständnisses und in den Griff der Darstellung zu bekommen.