Die zehn Urlaute des Weltenwortes
Wie sehr alles Streben der Rosenkreuzer auf die Erkenntnis des Menschen und seiner Entwicklung orientiert war, geht besonders aus den alchimistischen Symbolen hervor. Wer das Streben der Alchimisten als ein bloß äußeres Experimentieren mit den Elementen der Natur auffaßt, geht an ihrem Wesen völlig vorbei. In jedem alchimistischen Laboratorium war im Hintergrund das geistige Urbild des Menschen anwesend. Auch in den Naturkräften und ihrer verschiedenartigen Mischung - dem auflösenden Prinzip (solve) und dem sich verdichtenden Prinzip (coagula) - suchten sie jene Tendenzen zu erforschen, die auch im Menschen als das luziferischer und ahrimanische Prinzip zur Wirksamkeit gelangen. Doch ist der Mensch nach alchimistischer Auffassung nicht nur die Zusammenfassung und höchste Ausgestaltung der natürlichen Kräfte, sondern er ist dazu berufen, die natürliche Schöpfung fortzusetzen, indem er aus sich ein neues Reich erschafft. Ohne die Schöpfertätigkeit de Menschen kann die Schöpfung nicht ihr Ziel erreichen. In diesem Sinne ist Goethe einer der größten Alchimisten, der in seinem Rätselmärchen das geheime Streben der Rosenkreuzer in anmutigen Bildern zur Offenbarung gebracht hat.
Zunächst kann der geometrische Zeichencharakter der alchimistischen Symbole befremden, der wie eine künstliche Geheimschrift wirkt. Das bildhaft-imaginative Element tritt hier fast ganz zurück. Liegt hierin eine bewußte Absicht, die okkulten Geheimnisse vor den Blicken der Profanen zu schützen?
Zweifellos hatten die rosenkreuzerischen Alchimisten Grund, ihre Geheimnisse vor den Uneingeweihten zu hüten. Nicht nur, um sich vor den Nachstellungen der kirchlichen Inquisition zu schützen (obwohl auch erlauchte Häupter zu ihren Kreisen zählten), sondern weil die esoterischen Einsichten nur Verwirrung stiften mußten, wenn sie von Außenstehenden aufgenommen wurden, denen der tiefere Sinn verborgen war. Das betrifft besonders die >Tempellegende<, in deren Grundzug ein antikirchlicher Charakter zum Ausdruck kommt. Dies ist auch der Grund, weshalb die römische Kirche die Freimaurer von jeher bekämpft hat. Warum aber bedienten sich die Alchimisten gerade der geometrischen Zeichen für ihre Geheimsprache?
Diese Geheimschrift der Alchimisten ist nicht willkürlich ersonnen. Sie beruht auf der Erkenntnis, daß der Weltenbaumeister selber ein Geometer ist, der nach geometrischen Gesetzen verfährt. Das haben Künstler wie Albrecht Dürer und andere erkannt, wenn sie ihren Bildern geometrische Gesetzmäßigkeiten zugrunde legten. So gibt Dürer den Künstlern den Rat, die >wahre Natur< in der Natur zu erforschen und sie in ihrer verborgenen Geometrie zu enthüllen: >Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie herausreißen kann, der hat sie... Welches durch die Geometria sein Ding beweist und die gründliche Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt glauben...< Und eben dies war das Streben der rosenkreuzerischen Alchimisten. Sie wollten in ihrer Zeichensprache das Weltenwort darstellen, das aus zehn Buchstaben oder Urworten besteht. Im Lesenlernen der einzelnen Laute dringt der Mensch in die Geheimnisse des Weltenwortes ein, denn er vermag aus diesen symbolischen Zeichen mehr von den Weltenkräften, wie sie im Menschen und in der Welt wirken, zu erkennen als aus den Buchstaben der gewöhnlichen Schrift. Das hängt mit dem sinnbildlichen Charakter dieser Zeichensprache zusammen: Je nachdem, wie man sie liest, von rechts nach links, von oben nach unten oder umgekehrt, enthüllt sie immer neue Einsichten und Perspektiven.
Die zehn Urlaute des Weltenwortes
Wie wir sahen, kann die Zeichensprache der Alchimisten im Grunde nur auf dem Hintergrund einer geisteswissenschaftlichen (okkulten) Kosmologie entziffert und verstanden werden. Fehlt dieser Schlüssel, so rätselt man vergeblich an den einzelnen Zeichen herum, selbst wenn man deren Bedeutung kennt. Wir müssen hier diese kosmische Entwicklungslehre voraussetzen und verweisen unsere Leser auf die >Geheimwissenschaft< Rudolf Steiners, worin ihre Grundzüge dargestellt sind.
Beginnen wir zunächst mit den ersten Urlauten dieses Alphabets, welche die Grundsäulen des ganzen Weltenbaues enthalten. Man kann sie als die Vaterwelt bezeichnen, welche das physische Fundament für den Tempel der Gottheit bildet, die sich in den vier Elementen von Erde, Wasser, Luft und Feuer manifestiert.
Auf manchen Abbildungen sind diese Zeichen als menschliche Gestalten dargestellt, mit den entsprechenden Symbolen, welche die vier Elemente versinnbildlichen:
Um das Prinzipielle dieser Zeichensprache zu verstehen, erinnern wir an die Ausführungen über die >Tempellegende<. Das nach oben gerichtete Dreieck deutet auf die nach aufwärts gewandte Richtung des strebenden Geistes, wie sie in der Ichkraft zum Ausdruck kommt. Es ist zugleich das Symbol für die Flamme, das Feuer. Das Dreieck mit der Spitze nach unten ist das Symbol für die von oben sich ergießende Weisheit, deren äußeres Abbild im wäßrigen Element erblickt wurde (vgl. die Bedeutung des Wassers im Laotzismus Chinas). Diese beiden Zeichen, die als Symbole für Feuer und Wasser gebraucht werden, erhalten durch den Strich in der Mitte die Verdichtung ihrer Wesensart, so daß das Wärme- oder Feuerelement zur Luft, das Wasserelement zur Erde wird.
Liest man diese vier Zeichen nun im Hinblick auf die kosmische Weltentwicklung von rechts nach links, so erhält man die vier Stationen der kosmischen Evolution, wobei sich die Erde vom geistigen Wärmeelement stufenweise über Luft und Wasser bis zum mineralischen Element der Erde verdichtet hat. Es sind die vier Entwicklungsstufen, wie sie Rudolf Steiner in seiner >Geheimwissenschaft im Umriß< als Saturn (Feuer), Sonne (Luft), Mond (Wasser) und Erde (Mineral) bezeichnet, wobei nicht die heutigen Himmelskörper gemeint sind, sondern die der Erde vorangehenden kosmischen Entwicklungsstufen.
Liest man die vier Zeichen im Hinblick auf den Menschen, so ergeben sich die Grundelehmente des physischen Leibes, wie sie in der mineralischen Knochensubstanz, den wäßrigen, luftartigen und wärmehaften Prozessen zum Ausdruck kommen. Wir können sie aber auch im Hinblick auf die vier menschlichen Wesensglieder lesen, die der Mensch als physischen Leib (Erde), Ätherleib (Wasser), Astralleib (Luft) und Ich (Feuer) in sich trägt. Daraus wird ersichtlich, wie diese Zeichen in sehr verschiedener Art gelesen werden können und dadurch immer neue Einblicke in das Wesen von Mensch und Welt offenbaren.
Die mittlere Reihe (siehe das nachfolgende Schema) enthält jene drei Urlaute, welche bei den Rosenkreuzern eine so große Rolle spielten: Schwefel, Merkur (Quecksilber) und Salz.
Diese Zeichen offenbaren zugleich die ätherischen Wirkungen in Mensch und Kosmos. Im Schwefel (Sulfur) sind es die Farben- und Lichtwirkungen, im Merkurialen ist es der Klang- oder chemische Äther und im Salz die Stärke, die dem menschlichen Organismus seine Formgebung verleiht.
In derselben Art können diese drei Zeichen auch für die drei Grundideale der Rosenkreuzer gelten. Weisheit, Schönheit und Stärke:
Weisheit Schönheit Stärke
Licht- Klang- Lebensäther
Vom Gesichtspunkt der Erdenentwicklung offenbaren dieselben Zeichen die drei großen Erdkatastrophen, welche die Erde in der lemurischen Zeit, der atlantischen Epoche und am Ende der nachatlantischen Zeit durchmacht, die unsere gegenwärtige Erdenepoche abschließt durch die Katastrophe des >Krieges aller gegen alle<.
Wir kommen nun zu der oberen Reihe des Weltenwortes oder Sephirots, wie es die Kabbala bezeichnet (vgl. den Vortrag von R.Steiner vom 24.9.1924 vor den Arbeitern am Goetheanum). Es sind die zwei Zeichen für die entgegengesetzten Kräfte in der menschlichen Seele (Astralleib): Sonne und Mond. Sie können auch als Feuer und Wasser gelesen werden.
Die Spitze der Pyramide bildet das Zeichen für die Erde, das als Zeichen für das Ich eingesetzt werden kann, da der Mensch sein Ich der Erdenentwicklung verdankt. So erhalten wir die zehn Zeichen des Weltenwortes oder des Sephirotbaumes:
Man kann dieses Schema von den verschiedensten Gesichtspunkten lesen, sowohl vom Aspekt der menschlichen wie der kosmischen Entwicklung. Lesen wir die unterste Reihe von links nach rechts, dann ergibt sich vom kosmischen Gesichtspunkt der Weltentwicklung, wie
1. das Ich in der Wärme des Saturnfeuers veranlagt wurde;
2. der Seelenleib im Luftartigen der alten Sonne;
3. der Lebensleib im Wäßrigen des alten Mondes;
4. der physische Leib im festen Element der Erde.
s.Kap. "Der neue Mercurio als Ziel der Alchimisten" Der neue Mercurio
Die Dualität des Seelenlebens ergibt sich aus den beiden entgegengesetzten Kräften der oberen Reihe: Mond und Sonne. Der Mondanteil als Erbstück der alten Mondenentwicklung muß überwunden werden, um zum höheren Geistselbst umgewandelt zu werden. Wer hätte diesen inneren Widerstreit in seinem Seelenleben nicht erfahren? Zugleich ist der Mond das Symbol für das weibliche, die Sonne für das männliche Seelenelement. Alles Streben der Rosenkreuzer zielte auf die Vereinigung beider Elemente im Sinne einer höheren Synthese, woraus der höhere Mensch, der neue Merkur, entstand, der die Geschlechtertrennung überwunden hat.
Die Welt baut mit wenigen Elementen, so wie die Sprache mit 25 Buchstaben den Weltinhalt auszudrücken vermag. So ist auch in dieser Tafel alles enthalten, was den Schlüssel zu den Weltgeheimnissen gibt, wenn man sie richtig liest. Daher sagten die Rosenkreuzer: in 1 plus 2 plus 3 plus 4 = 10 ist alles enthalten.
Im Sinne der 10 Kategorien des Aristoteles können wir das Schema folgendermaßen lesen:
Die zehn Kategorien des Aristoteless. Kap.: "Der neue Mercurio als Ziel der Alchimisten, Der neue Mercurio
Auch in Tibet ist dies Schema bekannt als die >10 Gewaltigen< oder die >10 Schrecklichen<, worin die 10 Buchstaben des tibetischen Alphabets zusammengestellt sind. Vom Gesichtspunkt der Kabbala offenbaren diese 10 Urlaute den Namen JACHVAH = >Ich bin, der ich bin!< Der Name Jehova ist der veränderte (exoterische) Name, um den esoterischen Namen nicht auszusprechen. Man findet diese Tafel auch mit lauter Flämmchen geschrieben, mit dem hebräischen Zeichen für J = y, das zehnfache J = Javeh.
Das geheime Wort auf dem goldenen Dreieck der Bundeslade stellt den unaussprechlichen Namen dar: I H V, dessen Ersatz >Jehova< geworden ist.