Hans Erhard Lauer
Geschichte als Stufengang der Menschwerdung
Ein Beitrag zu einer Geschichtswissenschaft auf geisteswissenschaftlicher Grundlage
III. Band:
"Wille und Vorsehung
Der moralische Aspekt der Geschichte"
"Die Weltgeschichte ist das Weltgericht"
Schiller
Einleitung
I
Eine Schau der Geschichte vom Aspekt des Moralischen als Forderung der Gegenwart
(S9) Es läßt sich wohl nicht bestreiten, daß der Geschichte der Menschheit in unserem Jahrhundert bisher mehr als alles andere die Tatsache das Gepräge gegeben hat, daß sie Böses von einem Ausmaße, einer Macht und einer Bedrohlichkeit innerhalb der Menschheit hat in Erscheinung treten lassen, wie es wohl noch in keiner früheren Epoche der Geschichte zutage getreten war und noch vor wenigen Jahrzehnten von niemand hätte vorgestellt werden können.
In drei - nach dem Osten, der Mitte und dem Westen sich differenzierenden - Hauptgestalten hat sich dieses Böse manifestiert. Da diese teils noch allgemein in frischer Erinnerung sind, teils noch die hauptsächlichsten Themen der gegenwärtigen Weltdiskussion bilden, braucht hier nur mit wenigen Worten auf sie hingedeutet zu werden.
Im Osten ist dieses Böse in der Form zur Wirksamkeit gelangt, daß dort dasjenige, was gerade die neuere Geschichte als ihre bedeutsamste Errungenschaft und als ein höchstgeschätztes Gut des menschlichen Lebens mit sich gebracht hat: die freie Selbstbestimmung der Einzelpersönlichkeit auf allen Gebieten des Lebens, verneint wird und weitgehend vernichtet worden ist, am allermeisten gerade auf jenem Gebiete, das ihren Quellbereich bildet und auf welchem ihr die größte Bedeutung zukommt: auf dem Gebiete des geistigen Lebens. Mit dieser Vernichtung der Freiheit des Geistes wird diesem zugleich eine selbständige Realität überhaupt abgesprochen, - was denn auch im Zeichen einer extrem materialistischen Weltauffassung in der Tat geschieht. Und da das Geistige identisch ist mit dem, was auch als das Göttliche in der Welt und im Menschen bezeichnet werden darf, so bedeutet seine Verneinung zugleich die Leugnung des Göttlichen und lebt sich denn auch als militante Propaganda des Atheismus gegen jegliche Art von Gottesverehrung dar.
In der Mitte trat das Böse in der Weise auf, daß der Mensch hier, als wenn er ein Tier wäre, nurmehr als Produkt von Blutsabstammung und Vererbung betrachtet und behandelt, und demgemäß der Versuch unternommen wurde, derjenigen Strömung, die sich selbst für die edelste hielt, die Weltherrschaft zu (S10) verschaffen dadurch, daß sie selbst, unter Mißachtung aller moralischen Prinzipien, reiner und höher gezüchtet und vermehrt, gegen die andern aber, die als minderwertig galten, ein Feldzug der Vertilgung wie gegen Ungeziefer inszeniert wurde. Zum Atheismus des Ostens gesellte sich so der Antihumanismus der Mitte. Und wie jener mit der Verneinung der Freiheit des Geistes den Geist bzw. das Göttliche überhaupt verneint, so verneinte dieser das spezifisch Menschliche im Menschen, das über alle Verschiedenheit der Blutsabstammung hinweg die wesenhafte Gleichheit unter den Menschen begründete: die vom Leibe zu unterscheidende menschliche Seele.
Im Westen ist, seitdem im zweiten Weltkrieg dort die Atombombe konstruiert und ohne zwingende militärische Notwendigkeit erstmals eingesetzt wurde, das Böse in Gestalt der Tendenz in Erscheinung getreten, in einem kriegerischen Konflikt aus bloßen Gründen des eigenen Vorteils den Gegner je nach dem Umfang, in welchem dies von Nutzen erscheint, in seiner physischen Existenz schlechthin auszulöschen. Von da hat deshalb die heute die ganze Erde umfassende atomische Kriegsrüstung ihren Ausgang genommen, die schon durch die Versuchsexplosionen, die sie erfordert, die Gesundheit der gegenwärtigen und besonders der kommenden Menschheitsgenerationen, im Kriegsfalle aber sogar die physische Existenz der ganzen Menschheit mit Vernichtung bedroht und darüber hinaus die außermenschliche Erdennatur einer vorzeitigen Zerstörung entgegenführt. Diese Atomkriegsbedrohung ist aber nur die markanteste Erscheinungsform einer allgemeiner gearteten Wirksamkeit des Bösen, das in diesem Teile der Welt beheimatet ist. Diese zielt darauf hin, auch durch die bloß "friedliche" Verwendung der durch die moderne Technik entfesselten Energien den Menschen überhaupt immer mehr technisch-wirtschaftlichen Nützlichkeiten unterzuordnen und ihn allmählich in einen aller Seele und allen Lebens berauten Roboter im Sklavendienste einer zum Selbstzweck gewordenen technisch-wirtschaftlichen Zivilisationsmaschinerie zu verwandeln. Wie durch die andern Gestalten des Bösen die moralischen Ideale der Freiheit und Gleichheit, so wird durch diese dritte, die sich gegen das den Menschen und die Natur durchwaltende Leben richtet, das Ideal der Brüderlichkeit - derjenigen zwischen Menschen, aber auch jener gegenüber den mit dem Menschendasein geheimnisvoll verbundenen Naturreichen, verneint.
Die mit diesem verschiedengestaltigen Bösen verknüpften Ideologien haben in den letzten Jahrzehnten sich gleich Epidemien über die Welt verbreitet und zahllose Menschen in allen Teilen derselben angesteckt, ja gleichsam so von sich "besessen" gemacht, daß geistige Auseinandersetzungen und Diskussionen oder gar eine Verständigung mit diesen für Andersdenkende immer aussichtsloser wurden. Bedenkt man aber die schlechthin unbezwinglich erscheinende Macht, über welche die Menschenkreise und Institutionen verfügen, welche dieses mannigfaltige Böse repräsentieren, (S11) andererseits die Ohnmacht all der Warnungen, Proteste und Aktionen, die gegenüber den von jener Seite bereits verübten Untaten und den für die Zukunft drohenden Verbrechen erfolgt sind, so kann einen der Eindruck überkommen, als seien heute außermenschliche Mächte des Bösen in einem Maße wie kaum je zuvor entfesselt und hätten sich zu einem Generalangriff auf die Menschheit verschworen, der darauf hinzielt, diese in die Selbstvernichtung hineinzutreiben. Hierin liegt wohl der Grund, warum in der Gegenwart vielfach wieder eine ältere religiös-mythologische Geschichtsbetrachtung neu auflebt, welche das geschichtliche Geschehen überhaupt von einem moralischen Gesichtspunkte aus und unter Verwendung von Vorstellungen solcher außermenschlich-kosmischer Mächte des Guten und des Bösen beurteilt.
So sucht z.B. Anton Böhm in seinem Buche "Epoche des Teufels" (Stuttgart 1955) die Auffassung zu begründen, daß in der Gegenwart in der Tat metaphysische Gewalten des Bösen in einem nie dagewesenen Maße entfesselt seien. Und er entwirft darin eine umfassende Phänomenologie dieses ihres entfesselten Waltens, das er in den Orgien der Grausamkeit, des Mordes, der Schändung von Menschen, die in diesen Jahrzehnten gefeiert wurden, im Evangelium des Hasses, im Kult des Geschlechts, in der Anbetung des Kollektivs, in der Vergötzung der (Staats-)Macht, in der Kriminalisierung der Justiz, in der Auflösung der Ordnung, in der Entfesselung der Maschinenwelt, in der Krönung der Lüge, in der Inthronisierung des Chaos usw. usw. sich offenbaren sieht. und Alfons Rosenberg ("Michael und der Drache", Olten 1954) erblickt in unserem Jahrhundert eine neue "Michaelszeit", in welcher der Erzengel Michael wieder um die Rettung der Menschheit im Kampfe mit dem Drachen steht, der sich von neuem gegen sie erhoben hat, um sie zu verschlingen.
Aber auch Persönlichkeiten, die nicht eine religiöse, sondern eine philosophisch-wissenschaftliche Welt- und Geschichtsbetrachtung vertreten, sehen sich heute genötigt, die Gegenwartslage der Menschheit in einer Art zu charakterisieren, die von den Anhängern dieser religiös-moralischen Geschichtsbetrachtung wie eine Bestätigung ihrer Auffassung empfunden werden kann. So gelangt der Philosoph Karl Jaspers in seinem kürzlich (1958) erschienenen Buche "Die Atombombe und die Zukunft des Menschen", in welchem auch er eine umfassende Analyse der Gegenwartssituation der Menschheit durchführt, zu dem Ergebnis, daß diese durch die neueste technische, politische und zivilisatorische Entwicklung in eine Lage geraten sei, in der sie vor ihrem aller Wahrscheinlichkeit nach sonst nicht mehr abwendbaren nahen Untergang einzig und allein durch eine grundlegende innere Wandlung gerettet werden könne - eine Wandlung, welcher die Kraft innewohne, den gegenwärtigen kalten Krieg zwischen Ost und West in einen wirklichen Weltfriedenszustand überzuführen. Diese Wandlung und Wendung, (S12) die Jaspers als eine solche zur Herrschaft der "Vernunft" versteht, müßte zugleich eine Entbindung von moralischen Kräften bedeuten, wie sie bisher noch niemals aktiviert worden sind.
Ein anderer Schriftsteller, Günther Anders, in seinem Buche "Die Antiquiertheit des Menschen" (München 1956), in welchem auch er eine glänzende, messerscharfe Analyse der heutigen Menschheitslage gibt, leitet die uns bedrohenden Gefahren davon her, daß durch die Entwicklung der Naturforschung und Technik in neuester Zeit im Menschen eine Spaltung entstanden sei, an der er, wenn sie nicht überbrückt werde, zugrunde gehen müsse. Seinen technischen Möglichkeiten nach verfüge er heute über eine Macht, die weit über alles hinausgeht, was ihm noch bis vor kurzem seinem Wesen und seiner Wertstellung nach zugemessen schien - über eine Art Allmacht (freilich nur der Zerstörung!). Damit sei ihm auch eine moralische Verantwortung zugewachsen, wie er sie bisher nie getragen habe - eine Verantwortung, die über das bisher dem Menschen Zuerkannte ebensoweit hinausgehe. In seinen moralischen Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen sei er aber der kleine, auf seine persönliche Lebenssphäre sich beschränkende Mensch geblieben, und daher jener Verantwortung in keiner Weise gewachsen. So erscheine heute der Mensch größer bzw. kleiner, als er in Wirklichkeit ist - je nach dem Standpunkt, von welchem aus man ihn beurteile. Dieser Widerspruch bedrohe seine Existenz in solchem Maße mit Vernichtung, daß er nur dadurch zu retten sei, daß er seine moralische Empfindungs- und Verantwortungskapazität erweitere. "Sofern nicht alles verloren sein soll, besteht die heute entscheidende moralische Aufgabe in der Ausbildung der moralischen Phantasie, d.h. in dem Versuch, ...die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens, den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaße dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also als Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten...
Ob, was uns zu 'leisten' heute aufgegeben ist, überhaupt geleistet werden kann; ob es möglich ist, das Volumen unsrer Vorstellung und unseres Fühlens willentlich zu erweitern, das wissen wir erst einmal nicht. Vielleicht besteht die Voraussetzung der Unmöglichkeit, also die, daß die Kapazität unseres Fühlens starr (mindestens nicht beliebig erweiterbar) sei, zu Recht. Wenn das zutrifft, ist die Lage hoffnungslos. Aber der Moralist kann diese Unterstellung nicht einfach akzeptieren. Vielleicht liegt ihr Faulheit zugrunde; vielleicht eine ungeprüfte Theorie des Fühlens. Selbst wenn er die Durchbrechbarkeit der Grenzen für ganz unwahrscheinlich hält - mindestens von sich selbst muß er den Versuch einer solchen Durchbrechung verlangen. Denn nur im wirklichen Experiment kann über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit entschieden werden. Überlegungen darüber, ob es willentliche (S13) Erweiterungen oder gar Neuschöpfungen von Gefühlen auch früher schon gegeben hat, kann er nachher anstellen; und das wird er auch tun. Erst einmal aber kommt es ausschließlich darauf an, daß er mit dem Experiment beginne, also 'moralische Streckübungen' versuche; Überdehnungen seiner gewohnten Phantasie- und Gefühlsleistungen, kurz daß er Exerzitien durchführe, um die angeblich festliegende, 'proportio humana' seiner Vorstellung und seines Fühlens zu transzendieren..." (S273).
Die moderne Wissenschaft hat sich einer solchen moralischen Betrachtung der Geschichte - von einer religiös orientierten ganz zu schweigen - seit langem entwöhnt. Der Gründe hierfür sind viele. Der wohl hauptsächlichste liegt darin, daß solche teuflisch-satanische Wesen, wie sie die letztere als Feinde und Verführer des Menschen ständig am Werke sieht, oder auch deren Gegner und Beschützer der Menschheit: der Erzengel Michael nicht der sinnlichen, sondern einer übersinnlichen Welt angehören oder angehörend vorgestellt werden müssen. Diese Welt ist aber - zufolge der in den letzten Jahrhunderten zu allgemeiner Herrschaft gelangten Meinung - dem menschlichen Erkennen, zumindest einem wissenschaftlich gearteten, nicht zugänglich.
Ein anderer Grund liegt darin, daß unter der Einwirkung der naturwissenschaftlich-materialistischen Weltauffassung, wie sie in neuerer Zeit ausgebildet wurde, eine Welt übersinnlicher Wesenheiten vielfach überhaupt nicht als existent anerkannt wird. Und mit der Leugnung dieser Welt wird folgerichtig diejenige auch irgendeiner Realität von Gut und Böse selbst verbunden. Der Mensch erscheint solcher Auffassung als ein bloßes Naturwesen wie andere Naturwesen auch, in seinem Verhalten ausschließlich durch Naturtriebe (Hunger und Liebe) bestimmt. Es wird ihm da mit andern Worten auch die Freiheit des Willens abgesprochen, da diese der allwaltenden Naturgesetzlichkeit widerspreche. Gut und Böse erscheinen infolgedessen als bloße Erzeugnisse von Konventionen, die sich teils durch Tradition forterben, teils auch von Volk zu Volk, von Epoche zu Epoche sich wandeln. Und wechselt nicht in der Tat auch die moralische Beurteilung geschichtlicher Persönlichkeiten in der Folge der Zeiten oftmals bis zum Umschlagen in ihr völliges Gegenteil? Zufolge der marxistisch-materialistischen Geschichtsauffassung gelten solche Urteile als bloße Widerspiegelungen der jeweiligen ökonomisch-politischen Machtverhältnisse.
Der Umstand freilich, daß auch gerade dieser dialektische Materialismus in einer Art von Besessenheit in unserem Jahrhundert Millionenmassen von Menschen ergriffen hat, und der weitere, daß im Zeichen seiner Herrschaft Verbrechen an Menschen, Völkern und Klassen verübt wurden, die zu dem scheußlichsten dieser Zeit gehören, hat inzwischen vielerorts die Überzeugung entstehen lassen, daß wir es auch hierbei in Wahrheit mit einer Verführung durch das Böse zu tun haben. Die Art, wie hier die (S14) Herrschaft einer Ideologie in der Vergötzung eines politischen Machtkollektivs alle Menschenrechte ausgelöscht hat, erscheint als ein nur allzu deutlich sprechender Beweis hierfür. Man hat das hier vorliegende Phänomen vielfach als Tyrannis eines "Wissenschaftsaberglaubens" bezeichnet und insofern als ein Gegenstück zu älteren Herrschaftsepochen eines religiös gearteten Aberglaubens. In der Tat handelt es sich auch hierbei durchaus um einen Glauben, der, in einer Kirche (der Partei) organisiert, seinen Papst, seine Konzilien, sein Dogma, seine Ketzer und seine Inquisition besitzt. Als dieser religionsartig sich gebärdende Atheismus bzw. als diese atheistische Religion aber, die die Herrschaft des "Diamat" in Rußland darstellt, erweist sie sich in der Tat unmittelbar als Phänomen einer seelisch-geistigen Perversion.
Grundsätzlich dasselbe gilt aber auch von der in Amerika am weitesten ins Antimenschliche entarteten technisch-wirtschaftlichen Zivilisation. Auch die Antriebe, welche in ihrer Entfaltung durch Jahrhunderte wirksam waren, wurzelten ursprünglich - wie Max Weber gezeigt hat - in bestimmten religiös-moralischen Vorstellungen (calvinistische Ethik). Auch hier hat - durch die fortschreitende Verweltlichung der ursprünglichen Impulse, etwas wie einer Perversion stattgefunden, durch welche anstelle des himmlischen Paradieses, das man sich durch Bewährung in wirtschaftlicher Betätigung einstmals hatte verdienen wollen, das irdische Paradies einer ins Grenzenlose sich steigernden wirtschaftlichen Prosperity und technischen Lebenskomfortabilität getreten ist - ein irdisches Paradies, dessen Erlangung allerdings mit dem Verlust dessen bezahlt werden muß, was den Menschen innerlich erst zum wahren Menschen macht.
Der Blick auf alle solche Tatbestände verstärkt daher heute nur die Neigung, die Geschichte doch wieder als eine solche des Kampfes von lichten und finsteren Mächten um den Menschen zu deuten.
Trotzdem: die Entwicklung, welche die wissenschaftlich-philosophische Forschung in neuester Zeit genommen hat, macht es heute unmöglich, zur älteren moralisch-religiös-mythischen Geschichtsschau zurückzukehren. Denn es gibt noch andere Gründe, die dem im Weg stehen.
Im Gegensatz zu der im 19. Jahrhundert allherrschend gewesenen materialistischen Weltanschauung hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts, namentlich in Deutschland, wie die Geistwesenheit des Menschen geltend gemacht und zur Anerkennung gebracht - und damit auch die ihm eigentümliche Fähigkeit, im Transzendieren der gesamten Schöpfung in unmittelbare Kommunikation mit dem zu treten, was als der geistige Wesensgrund der Welt bezeichnet werden kann. Sie hat (M.Scheler, N.Hartmann) die Welt der sittlichen Werte wieder als eine solche eines objektiven idealen Seins aufgewiesen, welche der Mensch als geistiges Wesen durch seine Vernunft zu "vernehmen" in der Lage ist. Sie hat aber (S15) (insbesondere N.Hartmann) ebenso entschieden darauf hingewiesen, daß der Mensch dieser Welt als je individuelle Person gegenübersteht und mit der Fähigkeit ausgestattet ist, ihre Inhalte in freier Entscheidung für sie durch sein Handeln in äußere Wirklichkeit umzusetzen. Nur durch des Menschen freie Entschlüsse und Taten gelangt das Sittliche in der Welt zu realem Dasein.
Hierin gerade liegt die Würde des Menschen, daß er ebensowenig wie ausschließlich durch Naturkräfte oder -gesetze auch durch sittliche Werte oder Forderungen in seinem Verhalten determiniert ist.
Eine Geschichtsbetrachtung aber, die das menschlich-geschichtliche Leben lediglich als Schauplatz des Kampfes von außermenschlichen Mächten des Guten und des Bösen deutet, vernichtet die Würde des Menschen und schaltet ihn selbst gewissermaßen aus der Geschichte aus. Sie hebt damit die Geschichte als eine solche des Menschen auf und verwandelt sie in jene Göttergeschichte zurück, welche sie in den Zeiten noch darstellte, denen die religiös-mythologischen Weltbilder entstammen. In ihr ist kein Raum für die menschliche Freiheit, für wirkliche sittliche Entscheidung. Sie verleitet in der heutigen Situation dazu, entweder gegenüber der Übermacht des Bösen schlechthin zu kapitulieren oder aber das Heil einzig im Erbitten oder Erwarten der göttlichen Gnadenhilfe zu erblicken. Sie verführt den Menschen dazu, alles das entweder asketisch zu versagen oder fanatisch zu bekämpfen, worin sie das Böse am Werke sieht. Sie weiß außerdem keine Antwort auf die Frage zu geben, warum die Mächte der Hölle sich gerade heute mehr als jemals dem Menschen gegenüber entfesselt zeigen. So bekennt Anton Böhm (a.a.O.S9): "Es gibt ohne Zweifel Epochen, die durch ein Übermaß von Bosheit gekennzeichnet sind. In solchen Zeiten... scheint Satan aus dem 'Abgrund von Nacht auf eine Zeitlang' freigelassen und die Neigung des Menschen zum Bösen die Neigung zum Guten weit zu überwiegen. Wir wissen nicht, warum es so ist, unfähig, die Pläne des Herrn der Geschichte zu durchschauen. Unsere Augen sind, was den Sinn solcher zwischenzeitlichen Vorherrschaft des Bösen betrifft, gehalten."
Die moderne Forschung muß aber nicht nur die Verwirklichung des Guten ausschließlich dem Menschen selbst zuschreiben, sondern auch die Urheberschaft des Bösen. Hier kommen vor allem die Auffassungen in Betracht, welche die Seelenwissenschaft unseres Jahrhunderts, speziell die Tiefenpsychologie, ausgebildet hat. Für sie zeigt sich ein solches Phänomen wie das der "Besessenheit", das wir eingangs als Symptom anführten, welches auf das Wirken eines objektiv-außermenschlichen Bösen hinzudeuten scheint, in der menschlichen Seele selbst bzw. in ihrer Entwicklung begründet. Diese bringt nämlich notwendigerweise eine Differenzierung mit sich in die Gegensätzlichkeit eines Bewußtseinsbereichs, in welchem sich die Seele als in sich geschlossene Individualität erlebt, und in ein allmenschlich-kollektives (S16) Unbewußtes, dessen Äußerungen ihr als die einer fremden, übermenschlichen, numinosen Macht erscheinen. Diese Differenzierung hat sich durch den Gang der neuzeitlichen Geistesentwicklung in der modernen abendländischen Menschheit zu einem solchen Übermaß gesteigert, daß man ganz generell von einer Erkrankung der modernen Seele sprechen muß. In ihrer extremsten Erscheinungsform tritt diese im Phänomen der Persönlichkeitsspaltung auf. Da sie sowohl das Moment des Individuellen wie das des Menschheitlich-Kollektiven in sich enthält, vollzieht diese sich ebenso in der Einzelseele wie in der Menschheit als ganzer. Innerhalb der letzteren tritt sie in geschichtlich wechselnden Gegensätzen bzw. Parteiungen zutage, als da sind z.B. diejenigen zwischen Glauben und Wissen, Religion und Naturwissenschaft, zwischen Individualismus und Kollektivismus, West und Ost usw. Das Phänomen der Besessenheit nun entsteht dadurch, daß, anstatt diese Spaltung im Wesen der Seelenentwicklung begründet zu erkennen, die Wollungen jeweils der einen Seelenhälfte bzw. die Anhänger jeweils der einen Parteirichtung nur ihre eigene für berechtigt, d.h. für "gut" halten, der andern aber die Berechtigung absprechen, d.h. den Makel des "Bösen" anheften und, indem sie diese bekämpfen, um das "Gute" zur Alleinherrschaft zu bringen, Zerstörungskräfte und Vernichtungstriebe in sich entfesseln, durch die sie selbst dem "Bösen" verfallen. Hierbei erwecken sie infolge der Gespaltenheit der Seele dem jeweils entgegengesetzten Teil derselben bzw. dem Lager des entgegengesetzten Standpunkts zugleich den Eindruck, unter dem Diktat einer außerseelischen, nicht-menschlichen Macht zu handeln.
So sieht also die Tiefenpsychologie die Wurzel des Bösen im Wesen der Seele und ihrer Entwicklung begründet - spezieller und genauer: in der Selbsttäuschung über die wahren Tatbestände gerade auch der je eigenen Seele und in dem daraus folgenden Entwickeln von gegen einen Teil des eigenen Wesens sich richtenden Zerstörungstrieben. Freilich: obgleich wir es hier mit einer extrem anthropozentrischen Erklärung auch des Bösen zu tun haben, so betont gerade C.G.Jung doch immer wieder, daß sie nur denjenigen Aspekt der betreffenden Tatbestände biete, der sich der speziell psychologischen Betrachtungsweise darstelle; daß es sich also hierbei lediglich um einen Aspekt handle, durch den andere keineswegs ausgeschlossen seien. Und so läßt die Tiefenpsychologie die Frage völlig offen, wie die Dinge vom religiös-metaphysischen Standpunkt aus erscheinen. Sie muß das um so mehr tun, als gerade ihren Auffassungen zufolge die Seele in ihrem Wurzelgebiet sich gegenüber der Welt des Transzendent-Metaphysischen nicht in gleichem Maße abgrenzen läßt wie im Bereiche des individualisierten Bewußtseins. Ebenso wie sie das Religiöse psychologisch betrachtet, kann man auch das Psychologische religiös betrachten. "Die Quelle des Übels" - so schreibt C.G.Jung in "Gegenwart und Zukunft" (S17) (1957,S49) - "liegt, wie die Erfahrung zeigt im Menschen, wenn man nicht, in Übereinstimmung mit der christlichen Weltanschauung ein metaphysisches Prinzip des Bösen postulieren will. Letztere Auffassung hat den großen Vorteil, eine allzu schwere Verantwortlichkeit vom menschlichen Gewissen abzuwälzen und sie dem Teufel zuzuschieben, in psychologisch richtiger Würdigung der Tatsache, daß der Mensch viel eher das Opfer seiner psychischen Konstitution als der willkürliche Erfinder derselben ist."
In höchst eindrucksvoller Art, welche die Polarität der geschilderten Aspekte in ihrer ganzen Divergenz entfaltet und zugleich in einer Synthese zu umfassen sucht, kommt die Problematik, welche die Gegenwart aufwirft, in Anschauungen zum Ausdruck, wie sie der jüngst verstorbene Nestor der deutschen Soziologie, Alfred Weber, in seinen letzten, der Problematik der Geschichte und der Gegenwart gewidmeten Werken "Abschied von der bisherigen Geschichte" (1946) und "Der dritte oder der vierte Mensch" (1955) vertreten hat. Obgleich ganz vom Geiste der modernen Wissenschaft durchdrungen, zu deren hervorragendsten Repräsentanten auf dem Gebiete der Kulturwissenschaften in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts er gehörte, konnte sich Weber angesichts dessen, was seit 1933 in Deutschland geschehen war, aber auch dessen, was im europäischen Osten schon seit längerem geschah und heute noch geschieht, doch nicht der Empfindung, ja der Erfahrung erwehren, daß in all dem Mächte am Werke seien, die zwar im Menschen und durch ihn wirkend, dennoch nicht nur innermenschlicher, sondern objektiv-metaphysischer Natur sind, und die er deshalb als "immanent-transzendente" bezeichnete. "Sollten wir", so schrieb er schon in dem erstgenannten der Bücher (1946), "flach genug sein, das, was in all dem an Tieferem liegt, die früher einmal wohl gekannte Schicht des Transzendenten und Metaphysischen, von der hier nur eine von ihren vielen Seiten sich vor unseren Augen für eine gewisse Zeit zum Herrn des Daseins gemacht hat, nicht zu bemerken? Und wenn wir diese Schicht erfassen, wenn auch nur zunächst von diesem Ausgangspunkt her ergreifen, ist das nicht das universelle Daseinserlebnis, das unsere Wiederanknüpfung an frühere Zeiten hinweg über einen tiefen nihilistischen Abgrund gestattet? Diese Anknüpfung und die aus ihr folgende Orientierung ist keine moralische, sie ist eine transzendente. Sie ist zugleich nicht privat, sie ist vielmehr, da im Ergreifen objektiver Mächte begründet, soweit der Kreis der Erfahrenden reicht, allgemeinverbindend" (S226f). Und in dem zweiten der genannten Werke heißt es ähnlich: "...Das Mit-Erleiden des Schicksals der Menschen des ein Drittel des Globus umspannenden Terrorregimes, das jedes Selbst zerbrechen will, ebenso wie die Erinnerung an das, was uns Deutschen an Furchtbarem derart an uns selbst widerfahren ist - gerade diese Tatsachen möchten vielleicht geeignet sein, uns den Weg in diese versunken gewesene, aber uralte menschliche Daseinssicht wieder zu bahnen. Denn was geschieht oder (S18) geschah, ist doch nur aus den Einbrüchen von untergründigen, zerklüftenden Kollektivgewalten unmittelbar zu verstehen und zu begreifen" (S115).
Selbstverständlich war sich auch Weber dessen wohl bewußt, daß die Welt dieser Mächte "in dem modernen wissenschaftlich empiristischen 'Erfahrungsbereich' keine Unterkunft findet" (S111). Schuld hieran ist aber nach seiner Ansicht nicht nur die moderne naturwissenschaftliche Forschung, die nur Sinnliches als Erfahrungsinhalt kennt und eine moralische Bewertung an ihre Beobachtungsgegenstände nicht herantragen darf, sondern auch schon die dieser Forschungsart vorangehende philosophische Welterfassung, wie sie das Griechentum begründet und die Renaissance erneuert hatte. Denn diese bewegt sich nur in logisch-ontologischen Begriffen und verbindet mit dem, was ihr das "Sein" bedeutet, ebenfalls nicht die Vorstellung von moralisch qualifizierbaren Kräften, Mächten, Wesenheiten. Von ihr gilt: "quid non es in logicis, non est in mundo" (S113).
Im Unterschied von dieser logisch-philosophischen Welterfassung, aus der in neuerer Zeit die empirisch-wissenschaftliche hervorgegangen ist, kannte eine frühere Epoche der Menschheitsgeschichte, die in den den ersten geschichtlichen Hochkulturen Vorderasiens zu ihrer Blüte sich erhob, noch eine Welt von lichten und finstern, von göttlichen und widergöttlichen Mächten und sah den Menschen in ihren Gegensatz hineingestellt; insbesondere war dies, wenn auch in bedeutsam verschiedener Art, bei den Persern und bei den Israeliten der Fall. Von ihnen ist die Lehre von diesen Mächten dann ins Christentum übergegangen und hat dort ihre umfassendste und zugleich vertiefteste Ausgestaltung erlangt - hat dieses doch die gesamte Menschheitsgeschichte, wie sie zwischen Sündenfall und Jüngstem Gericht verfließt, als ein einziges Drama des Sturzes der Menschheit in das Böse und ihrer Wiedererhebung von diesem erschaut - als ein Drama, in welches göttliche und gegengöttliche Mächte neben dem Menschen als entscheidende Mitakteure: als Verführer und als Erlöser mit einbezogen sind. Im Sinne dieser Grundauffassung entwarf dann Augustinus in seinem "Gottesstaat" jenes Bild der Geschichte, auf welchem diese als der ständige Kampf zwischen den beiden Reichen: demjenigen Gottes und dem des Satans (civitas dei und civitzas terrena) erscheint. Was im Laufe der Zeitalter wechselt, sind lediglich die irdisch-menschlichen Repräsentanten derselben. Hatte das erstere in der vorchristlichen Ära seinen Vertreter im Alten Bunde Gottes mit dem auserwählten Volke, so in nachchristlicher Zeit in der römisch-christlichen Kirche.
Dieses Geschichtsbild erhielt sich noch durch das ganze Mittelalter hindurch; und wenn Karl der Große als gelehriger Schüler Augustins mit seiner Kaiserkrönung das heilige römische Reich begründete, so erweiterte und ergänzte er damit den Gottesstaat der römischen Kirche nur bis zur vollständigen (S19) Umfassung auch des irdisch-weltlichen Lebensbereiches. Und nicht umsonst wurde der Erzengel Michael zum besonderen Schirmherrn dieses Reiches erwählt.
In neuerer Zeit aber ging mit der Rezeption der paganen (heidnischen) Antike in der Renaissance diese Weltsicht unter, der selbst in ihrer kirchlich dogmatisierten Form Dante noch ihre größte dichterische Gestaltung zu verleihen vermocht hatte, und seitdem waren nurmehr Künstler wie Michelangelo und Shakespeare imstande, aus unmittelbarem Erleben und Erfahren in undogmatischer Weise die Welt dieser waltenden, wirkenden Mächte des Lichtes und der Finsternis in bildnerisch-dichterischen Formen zu verkörpern. Die moderne wissenschaftliche Weltsicht aber hat jene Mächtewelt dem Blicke vollständig entschwinden lassen. Ihre unsere ganze heutige Geistesverfassung und Lebensgestaltung bestimmende Herrschaft macht es uns außerdem auch unmöglich, zu jener älteren religiös-metaphysischen Weltschau in ihrer dogmatisch fixierten Form zurückzukehren.
Wir haben das - Weber zufolge - aber auch gar nicht nötig. Wir brauchen nur die "Transzendenzerfahrung", die uns durch die geschichtlichen Ereignisse unseres Jahrhunderts zuteilgeworden ist, uns bewußt zu machen und ganz nüchtern und sachlich zu beschreiben - "ohne daß wir irgend etwas von den mythologisierenden oder magistischen Perzeptionsformen, die nach unserer Bewußtseinsstufe ein für allemal für uns überholt sind, übernehmen. Übereifrige Romanciers und Literaten, die in dieser unserer neuen Lage ganze Dämonologien entwickeln, sind weit entfernt, das Neu-Alte in der der Gegenwart adäquaten Form wieder zu beleben (vom Verfasser hervorgehoben). Sie schaden der neu sich bildenden Erkenntnis, weils sie sie in die Nähe eines abergläubischen Obskurantismus bringen, mit der sie ganz und gar nichts zu tun hat. Diese Erkenntnis ist vielmehr in ihrem Wesen nüchtern, einfach Tatsachen, die ihr unleugbar scheinen, konstatierend. Und sie versucht und muß versuchen, in einfachster, gar nicht mythologisierender oder mystifizierender Sprache durch Gebrauch der allergewöhnlichsten Alltagslogik, diese Tatsachen ins Bewußtsein zu heben und sie, soweit es geht, innerlich nach ihrem Wesen mit uns und unter sich verbinden" (S115f).
In diesem Sinn unternimmt Weber den Versuch, die Welt dieser Mächte aus unmittelbarer Erfahrung und mit einfachsten Begriffsmitteln in ihrer Gegensätzlichkeit zu kennzeichnen, ohne sich irgendeiner dogmatisch ausgeformten religiösen Metaphysik zu verschreiben. "Positiv seien sie genannt, insofern sie uns von unserer Personeingesperrtheit befreien und, in einer vorsichtigen Weise sei es gesagt, erlösen. Negativ, insofern sie uns hinabziehen in unsere Selbsteingefangenheit und unserm eigenen Gefühl nach erniedrigen. Und wenn wir fragen, woher das eine und das andre, so ergibt sich: die positiv erfahrenen (S20) Mächte sind universalisierend und dadurch befreiend. Sie fügen uns in eine Weite und erlösen und befreien uns damit von dem Eingesperrtsein in unsere subjektive Enge. Die negativen aber sind partikularisierend. Sie verengen oder isolieren uns, sie haben in dieser Verengung und Isolierung den Effekt, sofern sie praktisch wesentliche Mächte sind, unsere Anlagen der Gewalt, des Hasses und der Zerstörung zu wecken" (S103).
Auf Grundlage dieser Begriffsbestimmungen entwirft er dann im Blick auf die Stellung des Menschen zu dieser Mächtewelt in skizzenhaften Strichen ein Bild der Geschichte. Hierbei ist nun zweierlei bedeutsam:
Fürs erste, daß diese Mächte sich als das, was sie sind, erst in dem Maße betätigen und enthüllen, als der Mensch in eine bewußte Auseinandersetzung mit ihnen eintritt. Und dies geschieht - nach Weber - erst vom Beginn der eigentlichen Geschichte an, also innerhalb der ersten geschichtlichen Hochkulturen. Es erreicht dort das Erleben derselben und die Auseinandersetzuzng mit ihnen sogleich auch schon die höchste Intensität. Demgegenüber erscheint der vorgeschichtliche Mensch noch zu sehr in einen Kosmos magisch wirkender Kräfte eingeordnet, als daß er sich innerlich schon mit diesen Mächten auseinanderzusetzen vermöchte. Es besteht für den Einzelnen noch kein genügender Spielraum eigenen Entscheidens und freien Sichbetätigens, um eine solche Auseinandersetzung zu ermöglichen oder herauszufordern. Man hat es einfach mit kosmischen Kräftewirkungen zu tun, die zwar von gegensätzlicher Natur sind, aber noch nicht eigentlich moralisch gewertet werden - wie dies z.B. noch die altchinesische Tao-Lehre zeigt.
Zum zweiten ist charakteristisch, daß Weber die Geschichte aber doch nicht unmittelbar - etwa in der Art Augustins - bloß als Kampfplatz oder Kampfergebnis dieser Mächte kennzeichnet. Vielmehr kann - ihm zufolge - nur geschildert werden, was der Mensch in Auseinandersetzung mit diesen Mächten, in freier Entscheidung zwischen ihnen als moralisches Erträgnis erringt, d.h. als moralische Sinndeutung des Lebens zu entwickeln oder als moralische Sinngebung seinem Dasein einzuprägen vermocht hat. Das Studium der betreffenden geschichtlichen Phänomene zeigt, daß die Bedingungen für solche Errungenschaften in den verschiedenen Kulturkreisen sehr verschiedene sind. Sie hängen ab von der jeweiligen Stufe der Bewußtseins- bzw. Individualitätsentwicklung sowie vom Maße der Durchdringung der Kultur mit dem Elemente der Intellektualität. Je mehr Magie und Mythus der Intellektualisierung des geistigen Lebens Platz machen, desto größere Schwierigkeiten stellen sich solcher Sinnprägung entgegen. Dasselbe gilt von den Fortschritten, welche die Emanzipation der Individualität aus ihren blutsmäßigen Zusammenhängen im Lauf der Geschichte macht. Dagegen ist mit fortschreitender Bewußtseinserhellung auch eine sich steigernde Möglichkeit verknüpft, den universalisierenden Kräften (S21) Geltung zu verschaffen. So stehen Zunahme und Abnahme der Voraussetzungen moralischer Sinnerfüllung des Daseins in der Folge der Epochen einander kompensierend gegenüber, und die geschichtliche Existenz bleibt damit identisch mit der "Existenz am kriegerischen Abgrund", d.h. am Abgrund der ständigen Möglichkeit ihres Scheiterns und stellt sich, soweit wir bisher auf sie zurückblicken können, dar - wie schon Schiller es formuliert hat - als "das Ergebnis des dauernden Konflikts der Naturkräfte untereinander selbst und mit der Freiheit des Menschen". Man sieht also: die Erfahrung, aus der heraus Weber diesen Entwurf des "moralischen Aspekts der Geschichte" skizziert hat, und die er für notwendig hält, um das Wesentliche gewahr werden zu können, um das es in der Geschichte geht, ist nicht die rein physische Empirie, sondern eine "Transzendenzerfahrung", der sich objektive Mächte positiven und negativen moralischen Charakters erschließen, die zwar im Menschen, aber als transzendente wirksam sind. Und diese Transzendenzerfahrung sieht Weber durch den Gang der geschichtlichen Ereignisse selbst uns heute aufgedrängt. Nur gelangt eben ihr Inhalt bei ihm nicht in - philosophisch oder religiös - dogmatischer Fixierung, sondern in schlichter, gleichsam stammelnder Beschreibung zur Darstellung.
Andrerseits: in eine Geschichtsbetrachtung können die Mächte, die solcher Transzendenzerfahrung sich zeigen, nur in solcher Art einbezogen werden, daß der Mensch mit seiner Freiheit der sittlichen Entscheidung im Mittelpunkte derselben stehen bleibt. Die Geschichte erweist sich als das in der Auseinandersetzung des Menschen mit diesen Mächten und im Kampf der letzteren gegeneinander Geschaffene und Gewordene. Der Mensch kann sich seiner Verantwortung nicht entschlagen; die Empfindung derselben muß vielmehr im Angesicht der wirkenden Mächte nur eine um so eindringlichere werden.
Es scheint somit von der Gegenwart dieses Zweifache gefordert: einerseits eine objektiv-tranzendente Welt von moralisch zu qualifizierenden Mächten als die Realität zu erfassen, der man im geschichtlichen Leben gegenübersteht - andererseits die Geschichte gleichwohl vom Menschen als freiem, für sein Schicksal verantwortlichem Wesen her zu verstehen und in ihm eine Empfindung zu erwecken für das Maß, welches diese seine Verantwortung durch seine gegenwärtige Entwicklungslage angenommen hat, sowie die moralischen Energie in ihm zu aktivieren, welche zur Meisterung dieser Lage nötig sind. Die Frage erhebt sich: wie verhält sich das Bild des Menschen und der Geschichte, das wir in den bisherigen Bänden dieses Werkes zu zeichnen begonnen haben, zu dieser Doppelforderung? Vermag es ihr gerecht zu werden? Und wenn ja, in welcher Art und in welchem Maße kann es sie erfüllen?
Die Antwort auf diese Frage soll den Inhalt dieses dritten, abschließenden Bandes bilden.
II.
Der moralische Aspekt der Geschichte im Lichte der hier vertretenen Lehre vom Menschen und der Geschichte
(S22) Aus den beiden vorangehenden Bänden konnte bereits mit hinlänglicher Deutlichkeit ersehen werden, daß die Darstellungen dieses Werkes auf einem neuen Wesensbilde des Menschen überhaupt fußen, ja sogar dieses Bild - soweit dies von der speziellen Problematik der Geschichtserkenntnis aus möglich und nötig ist - selbst auch zu entwerfen versuchen.
Dieses Bild kennzeichnet sich in der Hauptsache durch zwei Momente. Das eine derselben erscheint insofern nicht als neu, als es in bestimmter Art auch den meisten Menschenwesensbildern eignet, welche die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts entworfen hat (M.Scheler, N.Hartmann, W.Sombart, Th.Litt, K.Jaspers u.a.). Es darf den Anspruch auf Neuheit aber doch erheben aus dem Grunde, weil es beim Schöpfer des hier gemeinten Bildes: Rudolf Steiner, zum erstenmal in diesem Jahrhundert aufgetreten ist. Dieses Moment liegt darin, daß der Mensch seinem Kerne nach als geistiges Wesen aufgefaßt wird, d.h. als ein Wesen, das, insoweit es sich selbst mit Bewußtsein in seiner Kernsubstanz ergreift, die gesamte Welt der Schöpfung zu übersteigen und sich mit ihrem Seinsgrund in erfahrungsmäßige Beziehung zu setzen vermag. Es steht dieses Bild dadurch also - wie das auch von den verschiedenen philosophischen Menschenbildern unseres Jahrhunderts gilt - im Gegensatz zu dem bloß psychologistischen oder gar materialistisch-naturalistischen des 19. Jahrhunderts, auf deren letzterem der Mensch bloß als die höchstentwickelte Spezies (homo sapiens) des Tierreiches erschien.
Das andere Merkmal dieses Bildes, durch das es sich nun wiederum von den bloß philosophischen Menschenbildern unseres Jahrhunderts unterscheidet, liegt darin, daß es ein in bestimmten Sinne erweitertes Bild des Menschen darstellt - ein Bild, auf welchem das menschliche Wesen größer, umfangreicher, umfassender erscheint als auf jenen.
Zu solcher Erweiterung drängen seit geraumer Zeit viele Tatbestände mit Entschiedenheit hin: von seiten der Natur- und Geschichtsforschung, der Psychologie, des sozialen Lebens, der Technik usw. Wir hatten und haben in diesem Werke vornehmlich diejenigen Anstöße nach dieser Richtung im Auge, welche einerseits von der Archäologie und der Prähistorie her, andererseits durch die aus der technischen und sozialen Entwicklung erwachsenen Lebensforderungen der Gegenwart erfolgt sind. Was die genannten Zweige der wissenschaftlichen Forschung betrifft, so haben diese ja in unserm Jahrhundert unsern Vergangenheitshorizont bezüglich des Menschen um viele (S23) Jahrtausende erweitert, und zwar in solcher Weise, daß dem rückschauenden Blick, soweit er auch in die Fernen der Vergangenheit dringen mag, der Mensch schon immer als Mensch begegnet. Wenn auch nicht als geschichtlicher Mensch, so doch eben als Mensch - nicht als Tier, oder als das langgesuchte Zwischenglied zwischen beiden. Diese Tatsache zwingt uns heute dazu, unsern Begriff vom Menschen so zu erweitern, daß innerhalb desselben nebeneinander als sozusagen gleichberechtigte, aber verschiedengeartete Typen des Menschichen schlechthin die drei des geschichtlichen, des vorgeschichtlichen und des urzeitlichen Menschen (des "dritten", "zweiten" und "ersten" Menschen im Sinne Alfred Webers) Platz finden. In einer Weise, welche die Eigenart des vorgeschichtlichen und des urzeitlichen Menschen in ihrem gleichwohl vollmenschlichen Charakter neben jener des geschichtlichen in zureichendem Maße zur Geltung kommen läßt, ist eine solche Erweiterung aber einzig auf dem von Rudolf Steiner erarbeiteten Menschenbilde erfolgt. Diese Erweiterung ist dem Umstande zu verdanken, daß hier die Erfahrung des Geistigen im Menschen - gegenüber dem bloß philosophischen Erfassen desselben - eine entscheidende Vertiefung erfahren hat. Diese Vertiefung hatte einerseits zur Folge, daß mit den tieferen, bisher unerschlossenen Schichten des menschlichen Geistes zugleich eine mit diesen verbundene Welt außer- bzw. übermenschlicher Geistigkeit - in der Sprache Alfred Webers: eine "immanent-transzendente" Geistwelt in einer "neuen Transzendenzerfahrung" - für die wissenschaftliche Forschung erobert wurde - wodurch sich zu der wissenschaftlichen Erforschung der sinnlichen Welt eine (in dieser bestimmten Bedeutung verstandene) "geisteswissenschaftliche" Erforschung der übersinnlichen hinzugesellt hat. Das heißt aber jener Welt, welcher solche Wesen wie der Erzengel Michael oder auch die teuflisch-dämonischen Mächte angehören. Andrerseits ermöglichte diese Vertiefung erstmals, die Metamorphosen, welche die Betätigungsart des Menschlich-Geistigen in der Aufeinanderfolge von Urzeit, Vorgeschichte und Geschichte durchläuft, in ihrem vollen Umfang zu erfassen.
Von seiten der zünftig-akademischen Forschung werden zwar weder die Methoden noch die Ergebnisse dieser "Geistesforschung" heute schon anerkannt, da sie dem zum Dogma erstarrten Glauben an die wissenschaftliche Unerkennbarkeit der übersinnlichen Welt widersprechen. Aber ebenso wie einstmals der Kopernikanismus dem eingewurzelten Glauben an das geozentrische Weltsystem widersprach und sich trotzdem durchsetzte, und wie heute die noch vor wenigen Menschenaltern für unmöglich gehaltene technische Eroberung des außerirdischen Weltraums vor unseren Augen sich vollzieht, so wird über kurz oder lang auch auf dem Gebiete des menschlichen Erkennens als solchen nichts anderes übrig bleiben, als die Möglichkeit einer solchen Erweiterung desselben anzuerkennen, wie sie durch Rudolf Steiner (S24) errungen worden ist. Was nun die erwähnten Metamorphosen der Wirksamkeit des menschlichen Geistes betrifft, so ergibt sich der hier gemeinten "geisteswissenschaftlichen" Forschung - wir rekapitulieren die Sache zunächst von der Seite her, von der aus wir sie in den vorangehenden Bänden betrachteten -, daß erst in der geschichtlichen Phase seines Werdens der Mensch die Fähigkeit des Denkens als des Bildens von aus Sinneserscheinungen abgezogenen Allgemeinbegriffen (universalia post res) entwickelt. Dadurch reift er auch erst in dieser Zeit in geistiger Beziehung zur auf sich selbst gestellten Individualität heran. Denn jene Fähigkeit muß von ihm selbst in langer geschichtlicher Entwicklung stufenweise durch Übung, Erfahrung und Überlieferung ausgebildet werden. Dadurch entsteht - hinsichtlich der Vergangenheit - auch erst die Fähigkeit einer persönlich-individuellen Erinnerung: denn diese ist wesenhaft an Begriffs- und Vorstellungsbildung gebunden. Und, in bezug auf die Zukunft, entfaltet sich dadurch die Fähigkeit, moralische Ideale, sittliche Lebenszielsetzungen zu entwerfen; denn auch diese treten in Form von Vorstellungen oder Begriffen auf.
Im Unterschied hierzu - so zeigt sich dieser Forschung des weiteren - war in vorgeschichtlicher Zeit das Geistige des Menschen noch nicht individualisiert, sondern erst nach Blutszusammenhängen differenziert und wirkte innerhalb derselben als eine naturhaft-instinktive Kollektivkraft. Dafür eignete ihm damals noch die Fähigkeit, in die formbildenden und formumwandelnden Kräfte der Natur (universalia in rebus) im erkennenden und handelnden Erleben unterzutauchen. Hiervon schreibt sich einerseits die jener Epoche angehörende Bildung der menschlichen Sprache her, die ja dem in den Dingen gestalten wirkenden "Weltenwort" (Logos" nachgebildet ist und eine Kollektivschöpfung darstellt, andrerseits das Durchsetztsein des ganzen damaligen Lebens mit dem Elemente der Magie. Ein Individualwesen war der Mensch damals erst in leiblicher und seelischer Beziehung.
Dieser vorgeschichtlichen Periode geht schießlich diejenige der Urzeit voran. Unter ihr ist im Sinne der Geistesforschung - in weiterer Bedeutung - diejenige zu verstehen, in welcher der menschliche Leib stufenweise aufgebaut und zu dem gebildet worden ist, was sein Wesen ausmacht: zum Mikrokosmos, der wie in einem Auszug den ganzen Makrokosmos in sich zusammenfaßt. In einer engeren Bedeutung ist diese Urzeit jene, in welcher diese Leibesbildung zum Abschluß gekommen ist. Beide: Mikro- und Makrokosmos, traten - zufolge den Ergebnissen der Geistesforschung - in einem parallel oder, genauer gesagt: nach zwei Polen auseinanderlaufenden Doppelwerdegeschehen aus demselben geistig-schöpferischen Urgrund heraus ins Dasein. Es ist also der menschliche Leib nicht, wie der Darwinismus glaubte, ein spätes oder gar das letzte Produkt der Entwicklung des Tierreiches, sondern er ist, wenigsten seiner ersten Anlage nach, so alt wie die ganze ihn heute umgebende Naturwelt. In dieser Art
(S25) und als dieses mikrokosmische Gegenstück des Makrokosmos wurde aber der menschliche Leib vom menschlichen Geiste selbst aufgebaut und gestaltet, und zwar dadurch, daß dieser in jener Zeit - als das gesamte in Entstehung begriffene Menschentum umfassende Einheit - noch innerhalb der weltschöpferischen göttlichen Geistigkeit (universalia ante res) beschlossen war. Es ist also auch der menschliche Geist zur menschlichen Leiblichkeit nicht erst als ein spätes Produkt ihrer Entwicklung hinzugekommen, sondern hat, in einer von seiner späteren verschiedenen Daseins- und Wirkensform, ihrer ganzen Entwicklung von Anfang an schöpferisch und gestaltend zugrunde gelegen.
So wirkt also der menschliche Geist in der Urzeit leibbildend in Einheit und Gemeinsamkeit mit dem weltschöpferischen Gottesgeist, in der Vorgeschichte als menschheitlich-kollektiver sprachbildend und mit magischer Kraft ausgestattet, während der geschichtlichen Phase schließlich als individueller gedankenbildend und im Denken sich selbst als "Ich" erfassend.
So viel - oder so wenig - sei an dieser Stelle zunächst über die grundlegenden Züge des hier vertretenen Menschenbildes rekapituliert.
Um nun zur Geschichte zurückzukehren, so bedeutet die in ihrem Verlaufe stattfindende Individualisierung des menschlichen Geistes dasselbe wie die stufenweise Entwicklung der menschlichen Freiheit. Der Mensch als Einzelpersönlichkeit emanzipiert sich Schritt für Schritt aus den blutsgebundenen und standesmäßigen Zusammenhängen und geistigen Gebundenheiten, in denen er in relativ älteren Zeiten noch drinnensteht, und lernt, sich in seinem Denken und Handeln immer mehr und mehr aus sich selbst heraus zu bestimmen.
Dieses stufenweise Hineinwachsen in die Freiheit - als Selbstbestimmung des einzelnen verstanden - ist aber zugleich ein solches in die innere Auseinandersetzung mit Gut und Böse - ja, beide sind ein und dasselbe, nur von verschiedenen Seiten gesehen. Diejenigen, die "Gut" und "Böse" für bloße Konvention erklären, d.h. für bloße Worte, denen keine in sich bestehende Realität entspreche, waren darum auch immer jene, die dem Menschen die Freiheit aberkannten. Bei Wesen aber, welche die Freiheit wirklich nicht kennen - bei den Naturwesen -, finden wir Gut und Böse nicht einmal als Konvention oder als Namen.
So führt also auch das hier vertretene Menschenbild zu der Auffassung, die uns oben bei Alfred Weber entgegengetreten ist, daß die Auseinandersetzung des Menschen mit dem, was wir den Gegensatz von Gut und Böse nennen, erst der geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens angehört und daß sie einen Tatbestand darstellt, der im Innern des einzelnen Menschen als geistiger Individualität seinen Ort hat.
(S26) Diese Auseinandersetzung findet ihren Niederschlag einerseits in der Ausbildung sittlicher Ideale und in dem Streben, diese im Handeln zu verwirklichen, andrerseits in der - in Gemäßheit dieser Ideale - erfolgenden sittlichen Beurteilung geschehener Taten. Insofern aber in der Ausgestaltung moralischer Ideale diejenige Beziehung zur Zukunft zum Ausdrucke kommt, die - zufolge den obigen rekapitulierenden Bemerkungen - den geschichtlichen Menschen charakterisiert, kann auch gesagt werden, daß die Freiheit als dasjenige Merkmal erscheint, das ihn speziell in seinem Verhältnis zur Zukunft bezeichnet. In der Tat sprechen wir ja auch die Freiheit vornehmlich seinem Willen zu, durch den er seine jeweilige Zukunft gestaltet. Was schon Gegenwart oder gar Vergangenheit geworden ist, kann nicht mehr gewollt werden. Eben deshalb empfinden wir namentlich die letztgenannte als das Element der Notwendigkeit, der Unabänderlichkeit in unserem Leben. Und ihr ist in unserm Verhältnis zur Zeit zugeordnet, was im Lauf der Geschichte als unser erkennendes Erinnern bzw. erinnerndes Erkennen sich entfaltet.
Durch all dies ist es bedingt, daß das menschliche Dasein in seiner geschichtlichen Phase sich uns in drei hauptsächlichsten Aspekten darbietet:
Ein erster derselben zeigt den Menschen in seinem Erkenntnisverhältnis zur Geschichte. Er erscheint da in seiner Beziehung zur Vergangenheit und in den Wandlungen, welche diese Beziehung im Verlauf der Geschichte erfährt. Denn diese bleibt keineswegs in allen Epochen der Geschichte dieselbe, sondern macht die tiefgreifendsten Veränderungen durch. Sie bildet mit diesen ihren Veränderungen einen wesentlichen Bestandteil des geschichtlichen Daseins. In der Art, wie die Geschichte vom Gesichtspunkte dieser Beziehung aus sich darstellt, treten vor allem die Momente der Gesetzmäßigkeit und der Notwendigkeit hervor, die sie durchwalten, und zwar desto schärfer, je entschiedener ein wirkliches Erkenntnisverhältnis gegenüber der Vergangenheit sich herausbildet. Wir haben diesen Aspekt der Geschichte im ersten Band unseres Werkes: "Erkenntnis und Erinnerung" zu umreißen versucht. Dem Charakter dieses Aspektes gemäß mußte darin die Darstellung nicht nur der vorangehenden Epochen der Geschichte selbst, sondern auch der diesen noch vorangehenden der Vorgeschichte und der Urzeit einen verhältnismäßig breiten Raum einnehmen.
Der zweite Aspekt - in gewissem Sinne der zentralste - zeigt den Menschen in seinem Verhältnis zur jeweiligen geschichtlichen Gegenwart, d.h. wie er sich als je gegenwärtiger fühlt. Auch diese Empfindung bleibt sich nicht durch alle Zeitalter der Geschichte hindurch gleich. Vielmehr verändert sie sich in der Weise, daß der Mensch sich in zunehmenden Maße als geistig auf sich selbst gestellte Individualität empfindet, erlebt und zuletzt mit vollem Bewußtsein erfaßt. Dieser Aspekt hat somit die stufenweise Umwandlung der vorgeschichtlich-kollektiven in die geschichtlich-inidividuelle Geistigkeit darzustellen. (S27) Wir haben dies im zweiten Band unseres Werkes zu tun versucht. Sein Inhalt gestaltete sich in der Hauptsache zur Darstellung dessen, was wir zum Ausdruck brachten in seinem Titel "Die Wiederverkörperung des Menschen als Lebensgesetz der Geschichte." Denn die Umwandlung der kollektiv-instinktiv wirkenden Geistigkeit in individuell-bewußte, wie sie im Verlauf der Geschichte stattfindet, wird nur dadurch möglich, daß der sich individualisierende Geist des Menschen auf dem Wege durch wiederholte Verkörperungen hindurch ebenso die ganze Geschichte durchschreitet, wie der kollektive Geist auf dem Wege der in der Generationenfolge wirkenden Vererbung sich durch die ganze Vorgeschichte hindurchgezogen hat. Und so mußte unsere Darstellung von vielen Seiten her die fundamentale Bedeutung kennzeichnen, welche der Wiederverkörperung des individuellen Menschengeistes für das geschichtliche Werden zukommt. Hierbei bildete einen wesentlichen Punkt der Hinweis auf die zentrale Stellung, welche innerhalb der stufenweisen Umwandlung der ehemals kollektiven in die individuelle Geistigkeit das Christusereignis einnimmt. Abschließend versuchten wir alle diese Momente als an einem konkreten Beispiel am Urphänomen einer Reinkarnationsreihe zu illustrieren.
Der dritte Hauptaspekt endlich, den das geschichtliche Werden durch sein eigenes Wesen zu zeichnen verlangt, hat das Willensverhältnis des Menschen zur Geschichte oder, was dasselbe ist: sein jeweiliges Verhältnis zur Zukunft aufzuweisen. Denn auch dieses unterliegt geschichtlichen Wandlungen, welche denjenigen der genannten anderen Verhältnisse entsprechen. Sie liegen in der Richtung der sich stufenweise entfaltenden Freiheit in bezug auf die Gestaltung der Zukunft. Zufolge der Identität von Freiheit und Hineingestelltsein in die Entscheidung zwischen Gut und Böse wird das hier entstehende Bild der Geschichte gleichbedeutend sein mit dem Entwurf ihres "moralischen Aspekts". Wie der Titel dieses letzten Bandes unseres Werkes andeutet, soll er dem Versuche gewidmet sein, einen solchen Entwurf durchzuführen.
Es erhellt aus dem eben Gesagten, daß es bei einem solchen Versuch nicht etwa darum geht, einzelne geschichtliche Geschehnisse vom Standpunkte irgendeiner bestimmten Auffassung von Gut und Böse aus moralisch zu beurteilen - aber auch nicht darum, eine bloß äußerliche historische Aneinanderreihung der verschiedenen in der Geschichte aufgetretenen Moralauffassungen zu geben. Vielmehr handelt es sich hier darum, zu zeigen, wie gemäß dem innern Gang ihres geschichtlichen Werdens selbst, und d.h. ihrer Freiheitsentwicklung, die Menschheit in den verschiedenen Phasen derselben ihr Hineingestelltsein in die Spannung zwischen Gut und Böse auf verschiedene Art erlebt - wie sich diesem ihrem Werdegang gemäß ihre Vorstellungen von der Zukunft, ihre Zielbilder von ihrer Zukunftsbestimmung, kurz: die ganze Art ihres Sichverhaltens zur Zukunft wandeln.
(S28) In diesem Sinne verstanden, erwächst also auch für das hier vertretene Wesensbild des Menschen aus der Natur des geschichtlichen Werdens selbst heraus eine Schau desselben vom Aspekte des Moralischen als eine der hauptsächlichsten Forderungen, die es an seinen Betrachter stellt.
Dieser moralische Aspekt der Geschichte ist hier allerdings nicht mehr der einzige und ausschließliche, wie es in den vorderasiatischen Kulturen und auch noch in der christlichen Geschichtstheologie der Fall war, sondern nurmehr einer von den drei Hauptaspekten, die unerläßlich sind, wenn die Totalität dessen, was das Wesen des Geschichtsprozesses ausmacht, zur Darstellung kommen soll.
Für diesen Aspekt zeigt sich die Stellungnahme zu Gut und Böse zunächst auch durch den Geistcharakter der menschlichen Individualität bzw. den Individualcharakter des menschlichen Geistes bestimmt, wie er sich eben im Lauf der Geschichte herausbildet. Es erweist sich diese Stellungnahme mit andern Worten in der Freiheit des Menschen begründet, wie er sie im geschichtlichen Werden erringt. Das erweiterte Menschenbild, das dieser Darstellung zugrunde liegt, ermöglicht nun aber ebenso, wie das im ersten Bande in bezug auf den Erkenntnisaspekt der Fall war, so auch den moralischen Aspekt über die Geschichte hinaus auf die Vorgeschichte und die Urzeit auszudehnen und dadurch auch die Vorstufen dieser Auseinandersetzung mit Gut und Böse darzustellen, als deren Metamorphose sie dann in geschichtlicher Zeit sich herausgebildet hat. Hierbei wird ersichtlich, daß sie erst mit diesen ihren Vorstufen zusammen ein wirkliches, zusammengehöriges Ganzes bildet und in ihrem eigentlichen, spezifischen Charakter erst von diesem Ganzen her faßbar wird. Es tritt nämlich hierdurch zutage, daß dem Gegensatz von Gut und Böse auf diesen Vorstufen, obwohl er da auch schon vorhanden ist, noch eine ganz andere Beziehung zukommt als in geschichtlicher Zeit. Er muß da nämlich noch als ein solcher von außermenschlich-kosmischen Mächten betrachtet werden. Indem nun aber Urzeit und Vorgeschichte in verschiedener, jedoch innerlich gesetzmäßiger Art in die Geschichte hineinwirken, enthüllt sich hierin zuletzt der Grund dafür, daß die Problematik von Gut und Böse in der Gegenwart in solcher Art auftritt, wie wir das im vorangehenden Abschnitt geschildert haben. Damit ergibt sich aber zugleich auch der Schlüssel für die Beantwortung der Frage, die sich hinsichtlich dieser Problematik als die eigentliche Gegenwartsaufgabe stellt.
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