Erster Teil, Erstes Kapitel:
Die durch die Freiheitsentwicklung bewirkten Wandlungen des Verhältnisses zu Gut und Böse in Urzeit und Vorgeschichte
I. Urzeit. Die Bedeutung des Sündenfalls
(S31) Im Einklang mit Alfred Weber hat sich uns im Vorangehenden ergeben, daß die innere Auseinandersetzung des Menschen mit der Gegensätzlichkeit des Guten und Bösen im wesentlichen der geschichtlichen Phase seines Werdens angehört. Wir haben auch den Grund kennen gelernt, warum sich dies so verhält. Er liegt darin, daß erst in dieser Entwicklungsphase der Mensch zur geistig auf sich selbst gestellten, sich selbst bestimmenden, d.h. freien Invidividualität heranreift.
Bevor wir nun darangehen können, diese Auseinandersetzungen mit Gut und Böse in ihrer geschichtlichen Entfaltung darzustellen, haben wir uns zunächst mit dem zu befassen, was man als ihre Vorstufen bezeichnen kann, die ihr in der Vorgeschichte, ja schon in der Urzeit vorangegangen sind. Denn der Auffassung, der Mensch erlebe sich erst in geschichtlicher Zeit in die Gegensätze von Gut und Böse hinein- bzw. vor die Wahl zwischen ihnen gestellt, wird von christlich-religiöser Seite ja sofort der Einwand entgegentreten, allein schon die Erzählung vom Sündenfall in der mosaischen Geschichte beweise, daß der Mensch bereits vom Beginne seines Daseins als Mensch an in die Entscheidung zwischen Gut und Böse hineingestellt sei.
Dieser Einwand bildet das exakte Gegenstück zu jenem, den wir im Anschluß an das erste Kapitel des ersten Bandes gegen das in ihm Ausgeführte selbst vorgebracht haben. Wir hatten dort nämlich in analoger Weise zu zeigen versucht, daß der Mensch die Fähigkeit des Denkens als des Bildens von aus den Sinneserscheinungen abgezogenen Allgemeinbegriffen erst in geschichtlicher Zeit erworben habe. Dieser Behauptung, so sagten wir darnach, könne der Einwand entgegengehalten werden, daß dem Menschen, insofern er das Vernunftwesen (homo sapiens) ist, die Fähigkeit des Denkens durch seine Natur zukomme, und daher nicht erst in geschichtlicher Zeit zugewachsen sein könne, zumal wenn man, wie wir es dort taten, auch im vorgeschichtlichen und im (S32) urzeitlichen Menschen schon einen Menschen im vollen Sinne des Wortes erblickt. Wir erkannten die Berechtigung dieses Einwandes denn auch an, vorausgesetzt, daß unter dem "Denken" die Beziehung des Menschen zur Begriffswelt überhaupt verstanden wird. Nur machten wir geltend, daß diese Beziehung eine sehr verschiedengeartete sein kann - und wir zeigten sodann in den folgenden Kapiteln, daß auf eben diesen Verschiedenheiten die Unterschiede zwischen dem geschichtlichen, dem vorgeschichtlichen und dem urzeitlichen Menschen beruhen. Unter Zuhilfenahme der von der mittelalterlichen Scholastik ausgebildeten Unterscheidung von universalia ante res, in rebus und pst res faßten wir diese Unterschiede in der Weise, daß dem geschichtlichen Menschen die Beziehung zu den universalia post res (von den Sinneserscheinungen abgezogene Allgemeinbegriffe), dem vorgeschichtlichen diejenige zu den universalia in rebus (in den Naturwesen wirkende lebendige Formkräfte) und dem urzeitlichen eine solche zu den universalia ante res (weltschöpferische Potenzen) zugeordnet werden müsse. Es durchläuft das Verhältnis des Menschen zum Begriffselemente also bestimmte Metamorphosen in dem Sinne, daß es die verschiedenen Weisen gleichsam durchwandert, in denen das Begriffselement in der Welt bzw. im Menschen vorhanden ist. Für das Genauere muß auf die Darstellungen des ersten Bandes verwiesen werden.
In analoger Art kann nun auch dem Einwand zugestimmt werden, daß das Drinnenstehen des Menschen in der Spannung zwischen Gut und Böse, oder - was, wie wir gesehen haben, dasselbe ist -, seine Freiheit, ihm durch sein Wesen zukomme und daher zu allen Zeiten, in denen er als Mensch überhaupt angesprochen werden kann, vorhanden gewesen sei und sein werde: unter der Voraussetzung nämlich, daß man die Begriffe in einem sehr umfassenden Sinne versteht. Was damit gemeint ist, läßt sich auch so ausdrücken, daß, wenn der Mensch in geschichtlicher Zeit in der Art, wie wir dies in der Einleitung behaupteten, zu dem freien, der Entscheidung zwischen Gut und Böse fähigen Wesen geworden ist, er das nur werden konnte, weil er von allem Anfang an dazu veranlagt war. Diese Veranlagung hat aber im Verlauf seines Werdens Wandlungen durchgemacht, bis sie jene bestimmte Gestalt annehmen konnte, die den geschichtlichen Menschen kennzeichnet. Und diese ihre aufeinander folgenden Metamorphosen sind es, die den geschichtlichen, den vorgeschichtlichen und den urzeitlichen Menschen voneinander unterscheiden.
In diesem ersten Teil dieses Bandes sollen nun diese Metamorphosen so zu Darstellung kommen, wie sie auf dem in der Einleitung in seinen Grundzügen rekapitulierten Wesensbilde des Menschen und seines Werdens erscheinen. Wir werden hierbei sehen, daß, den drei genannten Hauptphasen dieses Werdens entsprechend, drei verschiedene Entwicklungsgestalten sowohl der Freiheit wie auch ihrer Kehrseite: des Sichverhaltens des Menschen im Sinne (S33) von Gut und Böse unterschieden werden müssen. Es lassen sich diese drei Entwicklungsformen, bildlich gesprochen, so kennzeichnen, daß die Freiheit in der Urzeit als Keim in die Sichtbarkeit tritt, während der Vorgeschichte sich zur Blüte entfaltet und im Lauf der Geschichte zur Frucht ausreift, sodaß also ihre geschichtliche Erscheinungsform, so betrachtet, nur ihre letzte, vollausgereifte Gestalt darstellt. Entsprechendes gilt auch von den drei Arten der Auseinandersetzung des Menschen mit Gut und Böse, die in diesen drei Phasen stattfinden, und deren letzte nur deshalb als solche im eigentlichsten Sinne bezeichnet werden kann, weil in ihr das Gesamtgeschehen, um das es sich hierbei handelt, in sein entscheidendes Stadium eintritt.
Wenden wir uns nun sogleich der ersten dieser Gestalten zu, die der Urzeit angehört! Wir dürfen uns hinsichtlich dieser Epoche als solcher auf die verschiedenen Ausführungen beziehen, die wir über sie im ersten Bande (I.4 Urzeit und Menschengestalt S77ff; III.2 Kosmogonische ... Zeit S159ff) gemacht haben. Diesen zufolge fällt in das Ende derselben - in geisteswissenschaftlicher Terminologie: in das Ende der lemurischen Epoche - jenes Geschehen, das als die erste Auseinandersetzung des Menschen mit Gut und Böse bezeichnet werden darf. Selbstverständlich ist diese nicht als ein Ereignis aufzufassen, das sich an einem einzigen Tage oder in einem bestimmten Jahre abgespielt hat, sondern als ein Entwicklungsprozeß, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckte. In der Gestalt, in der er sich in mythologischen Erinnerung der geschichtlichen Menschheit, genauer: des althebräischen Volkes erhalten hat, finden wir ihn in der Tat in der oben erwähnten Sündenfall-Legende der mosaischen Genesis geschildert. Daß von diesem Geschehen und seinen tief einschneidenden Folgen schon bei der Darstellung von Urzeit und Vorgeschichte im ersten Bande die Rede war, beweist, daß die Tatsache des Zurückreichens der moralischen Problematik bis in den Beginn seines Menschseins auch auf dem hier vertretenen Bilde des Menschen zu ihrem Rechte kommt. Allerdings haben wir dort die Bedeutung dieses Geschehens nicht vom Standpunkt des Moralischen aus charakterisiert, sondern von dem der Kosmo- und Anthropogenie, für die sie eine nicht geringere Rolle spielt. Wir dürfen uns daher an dieser Stelle nun um so eher darauf beschränken, sie vom moralischen Gesichtspunkt aus zu kennzeichnen. Hierfür aber brauchen wir uns nur im strengen Sinne an den mosaischen Bericht zu halten: denn im Unterschied zu anderen mythologischen Erinnerungen an dieses Ereignis, die mehr seine kosmogonische Bedeutung hervorheben, liegt seine Eigentümlichkeit gerade darin, daß er es vom rein moralischen Gesichtspunkt aus schildert. Es hat dies darin seinen Grund, daß von allen geschichtlichen Völkern das althebräische die moralische Problematik des menschlichen Daseins am intensivsten erlebt hat. Die Darstellung der mosaischen Genesis ist nun aber dadurch eine so einzigartige, daß sie den springenden Punkt, auf den es - vom moralischen Gesichtspunkt aus betrachtet - bei jenem Ereignis ankommt, mit (S34) einer nicht zu übertreffenden Prägnanz bezeichnet. Denn worin besteht - ihr zufolge - die "Sünde", die der Mensch durch jenes Ereignis begangen hat?: In dem Genuß von den Früchten des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen! Diese Darstellung der Sache wird dadurch noch unterstrichen, daß der Bericht nach erfolgtem Sündenfall die Gottheit die Worte sprechen läßt: "Siehe, Adam ist worden wie unsereiner: er weiß das Gute und das Böse."
Hat diese Schilderung ihre Richtigkeit, so bestand also der "Sündenfall" darin, daß der Mensch aus einem Wesen, das von dem Unterschied zwischen Gut und Böse nichts wußte, in ein solches sich verwandelte, das diesen Unterschied kennt. Wußte aber der Mensch von diesem Gegensatz vorher noch nichts, so konnte er auch noch nicht zwischen ihm wählen bzw. sich entscheiden, und daher trifft ihn für die hier gefallene Entscheidung noch keine moralische Verantwortung. Die erste seiner Sünden unterscheidet sich somit von allen seinen folgenden dadurch, daß er durch sie noch keine moralische Schuld auf sich lud. Will man schon hier überhaupt von einer Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse sprechen, so hat man es daher mit einer solchen zu tun, deren Subjekt noch nicht der Mensch ist, sondern die sich noch außerhalb desselben abspielt zwischen kosmischen Mächten des Guten und des Bösen - in der Sprache der Genesis: zwischen Gott dem Herrn und der Schlange, die in ihrer Darstellung denn auch als die Repräsentanten dieses Gegensatzes und als die in diesem Geschehen eigentlich Tätigen auftreten, während dagegen der Mensch lediglich als derjenige erscheint, an dem sich die Folgen der Auseinandersetzung zwischen jenen auswirken.
Wir können uns auch vorstellen, warum es bei dieser Auseinandersetzung ging: es konnte dies - um in der Sprache der Genesis weiter zu sprechen - nur die Frage sein, ob der Herr der Schlange den Zutritt zum Paradiese gestatten solle oder nicht. Denn im Sinne des mosaischen Schöpfungsberichtes hätte es ja durchaus in seiner Macht gelegen, ihr den Zutritt zu ihm, und damit die Verführung des Menschen zu verwehren. Und wenn die Auseinandersetzung zwischen dem Herrn und der Schlange damit endete, daß ihr der Zugang zum Paradies gestattet wurde, so können wir uns - um in dieser Sprache noch weiter zu reden - sogar vorstellen, mit welchen Worten etwa ihr diese Erlaubnis erteilt wurde. Diese Worte werden ähnlich gelautet haben wie jene, mit denen in einem analogen Fall eine entsprechende Erlaubnis erteilt wird: nämlich am Ende des "Prologs im Himmel" in Goethes Faust. Denn auch da handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen kosmischen Mächten des Guten und des Bösen: zwischen dem "Herrn" und Mephisto, der die "berühmte Schlange" als seine "Muhme" bezeichnet, - um eine Auseinandersetzung über die Frage, ob dem letzteren die Erlaubnis zu erteilen sei, sich verführend an den Menschen Faust heranzumachen und ihn "von seinem Urquell abzuziehen". Er erhält diese Erlaubnis schließlich mit den Worten:
(S35)
"Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh',
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen."
Es ist also, recht verstanden, die Freiheit, zu der die Gottheit den Menschen bestimmt bzw. veranlagt hat, um deretwillen sie dem Versucher den Zutritt zum Menschen gestattet. Dieser erweckt sie, indem er den Menschen dazu verleitet, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, und so ist es - von der andern Seite her gesehen - nichts anderes und nichts geringeres als der Geburtsakt der Freiheit, dem wir in diesem Ereignis beiwohnen. Durch die "Geburtshilfe" der Schlange tritt die menschliche Freiheit hier zunächst in einer ersten Entwicklungsgestalt in Erscheinung. Suchen wir also die Freiheit auf in der Form, in der sie in der Urzeit vorhanden war, so haben wir sie in der Gestalt ins Auge zu fassen, in der sie am Ende derselben durch den "Sündenfall" zuerst in die Sichtbarkeit getreten ist.
Wir schalten an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung ein: Innerhalb des Christentums ist die Lehre von der seit dem Sündenfall auf der Menschheit lastenden "Erbsünde" im 5. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Streit um den Pelagianismus zum Dogma erhoben worden. Als im Fortgang der christlichen Entwicklung nach den Auseinandersetzungen und dogmatischen Fixierungen hinsichtlich der Lehren von der göttlichen Trinität, vom Verhältnis des Sohnes zum Vater, von der gott-menschlichen Natur Christi die Frage nach der eigentlichen Bedeutung der Menschwerdung des Gottessohnes und seiner Opfertat auf Golgatha zur definitiven dogmatischen Beantwortung drängte, konnte diese, namentlich im Hinblick auf die Formulierungen im Römerbrief des Paulus, nur als Erlösung von der durch Adam verschuldeten "Erbsünde" der Menschheit verstanden werden. Dem Begriff der "Erbsünde" als einer ererbten Untertänigkeit gegenüber dem Bösen stellten sich aber Pelagius und seine Anhänger (Cölestius, Julian u.a.) entgegen mit dem Argument, daß sie der vollen Willens- das heißt: Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse widerspreche, die dem Menschen auch nach dem Sündenfall zuerkannt werden müsse. Mit dieser Behauptung schien jedoch das Geschenk der Gnade, das der Menschheit durch die Christustat zuteil geworden, seiner wesentlichen Bedeutung entkleidet. Augustinus, der schärfste und machtvollste Gegner des Pelagianismus, vertrat daher die Auffassung, daß die volle Willens- bzw. Wahlfreiheit (posse non peccare), mit welcher der Mensch bei seiner Schöpfung ausgestattet worden war, ihm nur vor dem Sündenfall eignete, aber gerade durch diesen Fall verloren ging, sodaß er seither dem Bösen unterworfen ist und die Sünde nicht vermeiden kann (non posse non peccare). Was hieran an dieser Stelle interessiert, ist die Tatsache, daß der Streit (S36) zwischen Augustinus und Pelagius sich in gewisser Weise zu einem solchen über den Geltungsbereich der Willens-(Wahl-)Freiheit zuspitzte. Während Pelagius von diesem keinen Menschen ausgeschlossen wissen wollte, schränkte ihn Augustinus auf Adam und Eva vor dem Fall ein. Daß die Willensfreiheit, insbesondere von Pelagius, so entschieden geltend gemacht wurde, daß sie zu einem Hindernis für die Anerkennung der wahren Bedeutung der Tat auf Golgatha zu werden drohte, hatte darin seinen Grund, daß damals eine weitere, höhere Entwicklungsgestalt der Freiheit, von der weiter unten die Rede sein wird, zuerst in den menschlichen Seelen aufzukeimen begann. Was aber damals noch fehlte, das war eine wahrhaft geschichtliche, oder genauer: eine entwicklungsgeschichtliche Auffassung. Daher wurde, sowohl von Pelagius ie auch von Augustinus, mit Selbstverständlichkeit die Freiheit, wie man sie damals erlebte, nach rückwärts bis in den Ursprung der Menschheit gleichsam ausgedehnt. Nur so konnte von einer moralischen "Schuld" Adams gesprochen werden. Eben diese Auffassung machte es dann aber konsequenterweise unmöglich, diese Schuld als eine "Erbschuld" auf seine Nachkommen zu übertragen. Denn schuldig kann ein Mensch nur für das sein, was er aus seiner freien Wahl heraus selbst verschuldet. Ihm die Schuld eines Anderen auch als die seine zuzurechnen, widerspräche der Gerechtigkeit Gottes. Augustinus dagegen mußte, um die volle Bedeutung von Christi Menschwerdung als der "Erlösungstat" zu retten, eine Herabminderung der Freiheit, ein Unterworfensein des Menschen unter die Sünde seit dem Fall im Paradiese postulieren. Wie dies, hinsichtlich des Ursprungs der einzelnen Seelen, zu erklären sei, schien ihm freilich nicht ergründbar. Er schwankte zwischen Traducianismus (Herleitung der Einzelseelen aus einer menschheitlichen Gesamtseele) und Creationismus (Neuschöpfung derselben bei der Geburt). Jedenfalls aber vermag nach dieser Auffassung der Mensch ausschließlich durch die von der Christustat ausstrahlende Gnade das Gute zu tun und damit das Heil zu gewinnen. Diese Lehre von der allbestimmenden Bedeutung der Gnade führte aber Augustinus zuletzt unausweichlich zu derjenigen von der Gnadenwahl (Prädestination), da ja offensichtlich nicht alle Menschen der Erlösung teilhaftig werden. Ihm schien aber diese Lehre nicht nur von der Gnade, sondern auch von der Gnadenwahl in der Heiligen Schrift, insbesondere im Römerbrief, unwiderleglich begründet (Emil Bock hat in seinem Paulus-Buche, Stuttgart 1954-S233ff) nachgewiesen, daß die von Paulus an der betreffenden Stelle des Römerbriefes (8,28-33) gebrauchten Ausdrücke im Griechischen noch einen ganz anderen Sinn besitzen als den erst durch die Juristensprache des Lateinischen entstandenen der Prädestination; sie deuten in Wahrheit hin auf die verschiedenen Stufen der leiblich-seelisch-geistigen Entwicklung, welche das Menschenwesen im Lauf der kosmischen Evolution durchschreitet).
(S37) Der unlösbare Widerspruch zwischen den beiden Auffassungen, von denen die eine die Bedeutung von Christi Opfertod vernichtigte, die andere die Freiheit aller Nachkommen Adams aufhob - weshalb denn die Kirche schließlich im Semi(halb-)pelagianismus sich auf einen Kompromiß zwischen ihnen einigte -, hatte seine wahre Ursache darin, daß beide die menschliche Freiheit an eine Stelle versetzten, wo sie noch nicht vorhanden, noch nicht "geboren", sondern erst veranlagt war. Daß sie dies taten, lag freilich nicht bloß im damaligen Fehlen des Entwicklungsgedankens begründet, sondern auch darin, daß damals, auf dem Höhepunkt der Verstandesentwicklung, der kaum irgendwo deutlicher als in der dialektischen Kunst Augustins in Erscheinung trat, die sinnbildlich-mythische Sprache der Genesis nicht mehr verstanden wurde.
Zwar betont Augustinus ("Zwölf Bücher zum wörtlichen Verständnis der Genesis". Siehe C.Bindemann: Der heilige Augustinus, 3.Band 1869), daß die Genesis einen zweifachen Sinn: einen geschichtlichen und einen mystischen habe. Aber er faßt ihre Darstellung, namentlich die des Sündenfalls, im wesentlichen doch nur "geschichtlich" auf. Für eine solche Auffassung aber konnte ihre Darstellung allerdings zu einem Mißverständnis verleiten. Denn wenn sie auch den Sündenfall als den Genuß vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen schildert, so läßt sie ihm doch das göttliche Gebot vorangehen: "Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben", - ein Gebot, das sinnvollerweise nur einem Wesen gegeben werden kann, das die Möglichkeit hat, sich ihm auch zu widersetzen. Und nach geschehenem Falle fährt sie fort zu erzählen: "(Gott zu Adam): Hast du nicht gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot, du sollst nicht davon essen? Da sprach Adam: das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. Da sprach Gott der Herr zum Weibe: Warum hast du das getan? Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich also, daß ich aß", eine Darstellung, die für eine "geschichtliche" Auffassung den Eindruck erwecken muß, als sei das erste Menschenpaar sich nach geschehener Tat sogleich seiner Schuld bewußt gewesen. Augustin faßt denn auch in der Tat die Bezeichnung des Baumes als desjenigen der Erkenntnis des Guten und Bösen so auf, daß er lediglich deshalb "der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen genannt wird, weil an ihm, wenn die verbotene Frucht gekostet ward, die Übertretung des Gebots haftete, welche dem Menschen durch Erfahrung der Strafe den Unterschied zwischen dem Gut des Gehorsams und dem Übel des Ungehorsams einprägte" (a.a.O.S652). Und bei dieser Auffassung ist es innerhalb des konfessionellen Christentums bis heute geblieben.
(38) Innerhalb der modernen Geschichtsphilosophie ist der wahre Sinn jenes Geschehens, welches die mosaische Genesis als den "Sündenfall" schildert, vom moralischen Aspekt aus wohl am klarsten von Schiller wiedererkannt und - wenn auch in der Sprache der Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts - ausgesprochen worden in seinem Aufsatz "Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde", der sich unter seinen historischen Schriften findet. "An dem Leitbande des Instinkts, woran sie noch jetzt das vernunftlose Tier leitet", so beginnt er darin die Schilderung des paradiesischen Ursprungszustandes, "mußte die Vorsehung den Menschen in das Leben einführen, und da seine Vernunft noch unentwickelt war, gleich einer wachsamen Amme hinter ihm stehen." Und er fährt nach dieser Schilderung fort: "Setzen wir also, die Vorsehung wäre auf dieser Stufe mit ihm stillgestanden, so wäre aus dem Menschen das glücklichste und geistreichste aller Tiere geworden, - aber aus der Vormundschaft des Naturtriebs wäre er niemals getreten, frei und also moralisch wären seine Handlungen niemals geworden, über die Grenze der Tierheit wäre er niemals gestiegen. In einer wollüstigen Ruhe hätte er eine ewige Kindheit verlebt - und der Kreis, in welchem es sich bewegt hätte, wäre der kleinstmögliche gewesen, von der Begierde zum Genuß, vom Genuß zur Ruhe, und von der Ruhe wieder zur Begierde.
Aber der Mensch war zu ganz etwas anderem bestimmt, und die Kräfte, die in ihm lagen, riefen ihn zu einer ganz anderen Glückseligkeit. Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt selbst für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Anteil, den er daran hatte, sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen. Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft, und als ein freier, vernünftiger Geist dahin zurückkommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wäre es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinaufarbeiten, einem solchen nämlich, wo der dem moralischen Gesetz in seiner Brust ebenso unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkte gedient hatte. Was war also unvermeidlich? Was mußte geschehen, wenn er diesem weitgesteckten Ziele entgegenrücken sollte? Sobald seine Vernunft ihre ersten Kräfte nur geprüft hatte, verstieß ihn die Natur aus ihren pflegenden Armen, oder richtiger gesagt, er selbst, von einem Triebe gereizt, den er selbst noch nicht kannte, und unwissend, was er in diesem Augenblicke Großes tat, er selbst riß ab von dem leitenden Bande und mit seiner noch schwachen Vernunft von dem Instinkte nur von ferne begleitet, warf er sich in das wilde Spiel des Lebens, machte er sich auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit. Wenn wir also jene (S39) Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntnis verbot, in eine Stimme seines Instinkts verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anderes als - Abfall von seinem Instinkte, also erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte, der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte; von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt. Der Volkslehrer hat ganz recht, wenn er diese Begebenheit als einen Fall des ersten Menschen behandelt, und wo es sich tun läßt, nützliche moralische Lehren daraus zieht; aber der Philosoph hat nicht weniger recht, der menschlichen Natur im Großen zu diesem wichtigen Schritt zur Vollkommenheit Glück zu wünschen. Der erste hat recht, es einen Fall zu nennen, - denn der Mensch wurde aus einem unschuldigen Geschöpf ein schuldiges, aus einem vollkommenen Zögling der Natur ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem glücklichen Instrument ein unglücklicher Künstler. Der Philosoph hat recht, es einen Riesenschritt der Menschheit zu nennen, denn der Mensch wurde dadurch aus einem Sklaven des Naturtriebs ein freihandelndes Geschöpf, aus einem Automat ein sittliches Wesen, und mit diesem Schritt trat er zuerst auf die Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft führen wird."
In dieser richtigen Einsicht in die Bedeutung des Sündenfalls mag es begründet liegen, daß Schiller später - worauf wir in einem der folgenden Kapitel zu sprechen kommen werden - die Möglichkeit erlangte, in zutreffender Weise auch die Bedeutung zu charakterisieren, die der Christuserscheinung für die moralische Entwicklung der Menschheit zukommt.
Fahren wir nun in unserer Darstellung fort, so läßt sich nach dem Vorangehenden die Frage aufwerfen, warum, wenn den Menschen für den "Sündenfall" noch keine moralische Schuld trifft, hier überhaupt von "Sünde" gesprochen werden darf. In der mosaischen Genesis selbst wird ja weder das Wort "Sünde" noch der Ausdruck "Sündenfall" gebraucht. Wenn diese Worte später dennoch mit diesem Ereignis verbunden worden sind, so war dies zunächst insofern berechtigt, als der Mensch durch dasselbe aus einem Zustand, in welchem er - im Sinne des Aufsichladens einer moralischen Schuld - noch nicht sündigen konnte, in einen solchen übergegangen ist, in welchem er dazu imstande war. Es handelt sich - in dieser Art verstanden - beim "Sündenfall" also - wie Alfred Schütze in seinem Buche "Das Rätsel des Bösen" (Stuttgart 1951) es treffend formuliert - nicht um einen Fall durch die Sünde, sondern um einen solchen in die Sünde.
(S40) Es darf die Bezeichnung "Sünde" aber noch in einer anderen Bedeutung berechtigterweise mit diesem Ereignis in Verbindung gebracht werden - insofern nämlich, als es die Vertreibung des Stammelternpaares der Menschheit aus dem Paradiese zur Folge hatte. Dies wird aber nur ganz verständlich, wenn noch ein weiterer, dritter Aspekt des "Sündenfalles" berücksichtigt wird. Solange der Mensch den Unterschied von Gut und Böse noch nicht kannte, und das heißt, noch nicht zu einem freien Wesen geworden war, war er - zwar kein Tier, aber in einer dem Tier in gewissem Sinne doch vergleichbaren Art noch ein bloßes Gattungswesen. Das Tier ist ja, seiner inneren Natur nach, kein wirkliches Individualwesen. Er einzelne Löwe, der einzelne Fuchs verhält sich so, wie es der Löwen-, der Fuchsgattung entspricht. Wenn wir abgekürzt vom Löwen, vom Fuchs sprechen, so meinen wir darum nicht ein bestimmtes einzelnes Exemplar, sondern die durch diese Worte bezeichneten Tiergattungen. Entsprechend lebte sich im Verhalten der "einzelnen" Menschen vor dem Sündenfall nur das Wesen der menschlichen Gattung dar. Dies meint denn auch die Bibel, wenn sie von "Adam" spricht. Dieses Wort ist kein Eigenname wie "Meier" oder "Müller", der einen bestimmten einzelnen Menschen bezeichnet, sondern bedeutet den "Erdenmenschen" schlechthin. Adam ist kein bestimmter Einzelmensch, sondern Sinnbild der menschlichen Gattung, wie sie vor der Geburt der menschlichen Einzelpersönlichkeit war. In ihm "fiel" nicht ein einzelner Mensch, sondern die menschliche Gattung. Und da dieser "Fall" identisch war mit der Geburt der Freiheit, so bedeutet er zugleich die Verwandlung des Menschen aus einem bloßen Gattungswesen in ein Individualwesen. Als dieses Individualwesen, das er durch den Genuß vom Baum der Erkenntnis zu werden begonnen hatte, wurde der Mensch nun aber aus dem Paradiese vertrieben und dadurch des Umganges mit der Gottheit beraubt, den er dort genossen hatte. (Wir haben diesen Vorgang in den früheren Bänden so dargestellt, daß ein Teil der ursprünglich einheitlichen, mit der weltschöpferischen göttlichen Geistigkeit noch verbundenen Geistigkeit der Menschheit sich in einzelne Seelen zerteilte, die nun ihren Weg durch die aufeinanderfolgenden irdischen Inkarnationen antraten.) Insofern das Wort "Sünde" seinem ursprünglichen Sinne nach dieses "Abgesondertwerden" des Menschen von der Gottheit bedeutet, kann die Vertreibung desselben aus dem Paradies als sein Hinausgestoßenwerden in den Zustand der "Sündhaftigkeit" aufgefaßt werden. Worin äußert sich dieser? Der Mensch erlebt sich fortan, indem er sich im Prozeß der Individualisierung befindet, das heißt ein "Ich" zu werden strebt, als von der Gottheit abgesondert, in sich selbst eingesperrt, "ichsüchtig", egoistisch. Dieser Egoismus hat zur Kehrseite, daß zwischen den einzelnen Menschen nun Antipathie, Haß, Streit, Totschlag, Krieg sich entwickelt. Im Brudermord Kains kommt der Beginn dieser Entwicklung urbildlich zum Ausdruck. Er zeigt, daß der Mensch, indem diese (S41) Ichsucht nun zum Grundtrieb seines Wesens geworden ist, diesen Grundtrieb als gleichbedeutend mit seiner Neigung zum Bösen, mit seinem Hang zur Sünde empfinden muß. Bestimmt er nun sein Handeln aus seinem Selbst heraus, und das heißt: in Freiheit, so handelt er wegen dessen "selbst-süchtigem" Charakter, aus seinem Hang zur Sünde heraus. Und so wird die Freiheit selbst - als die Gabe, die er der Schlange verdankt - in ihrer ersten der Urzeit angehörenden Entwicklungsgestalt identisch mit dem Bösen.
Hierin liegt es begründet, daß noch in der geschichtlichen Ära - in jene Epochen derselben, in denen diese urzeitlichen Geschehnisse in der Menschheitserinnerung wiederaufleben, ja selbst noch in späteren Zeiten - der Freiheit noch keineswegs jene Schätzung zuteil wurde, die wir ihr heute entgegenbringen, vielmehr die Auffassung herrschte: weit wichtiger, als daß er zu der von ihm gewünschten Freiheit gelange, sei es für den Menschen, daß ihm die rechte Führung zuteil werde; denn ohne eine solche gerate er durch jene unweigerlich auf Abwege.
In dieser Auffassung kommt eine andere Folge des Sündenfalls zum Ausdruck. Die Vertreibung aus dem Paradies ist nämlich nur die eine seiner Folgen; die andere besteht darin, daß dem Menschen der Baum des Lebens entzogen wird. Die Zusammengehörigkeit beider bezeugt sich in den Abschlußworten der Paradiesesgeschichte: "Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld baute, davon er genommen ist, und trieb Adam aus und lagerte vor den Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen, hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens". Der Verlust des Lebensbaumes wird gewöhnlich dahin aufgefaßt, daß der Mensch mit seiner Vertreibung aus dem Paradies zugleich dem Tode unterworfen wurde, - worauf ja auch die anschließenden Worte des Herrn zu Adam hindeuten. Wir werden später sehen, daß dies nur die eine Folge eines umfassenderen Verwandlungsprozesses war, der sich mit dem Menschen vollzog. An dieser Stelle sei zunächst nur bemerkt, daß, nach den Ergebnissen der Geistesforschung, der Lebensbaum dem Menschen nicht im absoluten Sinne entzogen war. Die Verwaltung seiner Kräfte ging fortan in die Hände derjenigen über, welche in der einsetzenden zweiten Hauptphase der irdischen Menschheitsentwicklung: der Vorgeschichte, die geistige Führung der Menschheit repräsentieren.
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