Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

8. Das geschichtliche Urphänomen einer Reinkarnationsreihe

Der Herold des Christentums

I.

(S197)    Würde das, was unter Zugrundelegung der modernen geisteswissenschaftlichen Reinkarnationserkenntnis an tieferen Einblicken in den inneren Gang der Geschichte gewonnen werden kann, sich erschöpfen in Erkenntnissen von der Art, wie sie in diesem Buche dargestellt worden sind, so könnte gegen dies alles ein gewichtiger Einwand erhoben werden. Man könnte zwar zugeben, daß alle diese Darlegungen ein in sich logisch zusammenhängendes und folgerichtig durchgebildetes Ganzes ausmachen, aber mit Recht behaupten, daß sie uns dennoch nicht weiterbringen in dem, worauf es zuletzt für das Verständnis der Geschichte ankommt: in der tieferen Erfassung bestimmter einmaliger geschichtlicher Ereignisse und Gestalten. Wenn hierin schon immer das eigentlichste und eigenste Ziel geschichtlicher Erkenntnis gesehen wurde, so muß es gerade vom Gesichtspunkt der in diesem Buche vertretenen Anschauungen in noch viel höherem Grade, in einem noch viel tieferen Sinne so erscheinen, als dies bisher verstanden wurde. Wird doch hier der einzelnen menschlichen Individualität, indem sie als eine während vieler Erdenleben am Fortgang des geschichtlichen Werdens sich beteiligende aufgefaßt wird, eine weit umfassendere Bedeutung für dieses zuerkannt, als dies bisher geschah, - und löst sich doch - wie es am Ende des vorangehenden Kapitels formuliert wurde - "die Menschengeschichte zuletzt in gewisser Beziehung in die Geschichte der einzelnen durch die Folge ihrer Verkörperungen hindurchwandernden menschlichen Individualitäten und der auf diesem Wege aufs mannigfaltigste sich wandelnden Schicksalsbeziehungen zwischen diesen auf". Ja, es wurde sogar der Gedanke ausgesprochen, daß "jede Individualität einen ganz bestimmten Beitrag zum Gesamtprozesse der Menschheitsentwicklung zu leisten habe, an dessen Erfüllung sie, wenn auch in ganz verschiedenen äußeren Formen, doch durch die ganze Reihe ihrer Inkarnationen hindurch arbeitet", - daß "dieser Beitrag oder Auftrag ihr erst ihr bestimmtes individuelles Profil gebe", - und daß durch die Erfassung dieser spezifischen "Missionen" der einzelnen menschlichen Individualitäten innerhalb des Gesamtprozesses (S198) der geschichtlichen Entwicklung das Moment ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit eine unendliche Vertiefung im qualitativ-wesenhaften Sinne erfahre. Nun bleiben aber alle im Vorangegangenen dargelegten Erkenntnisse dennoch bloß im Allgemeinen, Grundsätzlichen und damit im Elemente des bloß Programmatischen. Ihre Fruchtbarkeit für die geschichtliche Erkenntnis könnten sie in vollem Maße erst dann erweisen, wenn die Erkenntnisart, der sich die Tatsache der Reinkarnation überhaupt als Erfahrung in dem hier geschilderten Sinne ergibt, auch die Möglichkeit in sich schlösse, bestimmte historische Persönlichkeiten in ihrem Schicksal und ihrem geschichtlichen Wirken aus ihren Reinkarnationszusammenhängen heraus zu verstehen.

   Diese Einwand gegenüber darf nun zwar geltend gemacht werden, daß selbst dann, wenn sich auf dem geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg für denjenigen, der hierfür genügend weit auf ihm voranzukommen vermag, nur die Rückschau in die eigenen früheren Verkörperungen und damit die Tatsache der Reinkarnation überhaupt als Erfahrung ergäbe, schon damit eine Erkenntnis sich erschlösse, der für die Auffassung des geschichtlichen Werdens als solchen grundlegende Bedeutung zukommt. Denn mit einer solchen Erfahrung ist - wie schon im ersten Bande erwähnt wurde - unmittelbar verbinden diejenige der inneren Verschiedenheit der geschichtlichen Epochen, denen ja diese vergangenen Verkörperungen angehören. Und es ist ferner mit ihr verknüpft die Einsicht in die Mittelpunktsstellung und die alles umwälzende Bedeutung, die innerhalb des geschichtlichen Werdens den Ereignissen zukommt, die am Ausgangspunkte der christlichen Entwicklung stehen. Freilich betreffen alle diese Erfahrungen vornehmlich den Sinn, der dem geschichtlichen Werden überhaupt innewohnt, sowie die Stellung, welche dieses in dem umfassenderen Ganzen der Welt- und Menschheitsentwicklung einnimmt.

   Nun hat aber der Begründer der anthroposophischen Geisteswissenschaft, der allerdings bisher auch ihr einziger vollgültiger Repräsentant war, für sich in Anspruch genommen, mit den Erkenntnismitteln ihrer Forschung auch die Reinkarnationszusammenhänge anderer menschlicher Individualitäten auffinden zu können, und er hat in diesem Sinne die Wiederverkörperungsreihen einer großen Zahl von historischen Persönlichkeiten dargestellt (Siehe hierzu den Vortragszyklus "Okkulte Geschichte. Persönlichkeiten und Ereignisse der Weltgeschichte" sowie vor allem die vier Bände "Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge" <heute in 6 Bänden>). Diese Darstellungen wurden allerdings von ihm nicht alle speziell vom Gesichtspunkt geisteswissenschaftlicher Geschichtserkenntnis aus gegeben, sondern größtenteils im Zuge der Ausgestaltung der geisteswissenschaftlichen Lehre von Wiederverkörperung und Schicksal als solcher. Sie bringen daher zugleich das Wie des Hindurchgehens des Menschen durch den Wechsel von physisch-irdischen (S199) und geistig-kosmischen Daseinsformen überhaupt und der damit verbundenen Metamorphosen der Schicksalsbildung, deren Schilderung nicht zu den Aufgaben dieses unseres Buches gehörte, in allen Einzelheiten zur Darstellung enthalten die Mitteilungen über die Reinkarnationszusammenhänge bestimmter Individualitäten großenteils lediglich im Sinne von illustrierenden Beispielen für die in all dem waltenden Gesetzmäßigkeiten. Die letzteren werden daher im vollumfänglichen Sinne nur verständlich im Zusammenhang mit der Darstellung jener allgemeinen Gesetze von Wiederverkörperung und Schicksalsbildung. Rudolf Steiner hat hierbei immer wieder aufs nachdrücklichste betont, daß solche Reinkarnationszusammenhänge niemals auf dem Wege logischer Deduktion oder einer irgendwie gearteten gedanklichen Spekulation aufgefunden werden können, sondern ausschließlich mit den Methoden geisteswissenschaftlicher Forschung.

   Man kann sich nun zu den betreffenden Darstellungen auf mehrerlei Weise verhalten. Man kann sie entweder als bloße Phantasieprodukte abtun oder sie als etwas, das sich der Nachprüfbarkeit durch Nicht-Geistesforscher schlechterdings entzieht, auf sich beruhen lassen. Man kann sie aber, sofern einem die allgemein-prinzipiellen Darstellungen des Reinkarnationsgesetzes, wie sie - speziell vom geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus - auch in diesem Buche gegeben wurden, bereits einleuchtend oder gar überzeugend geworden sind, bei der eigenen Beschäftigung mit den betreffenden Persönlichkeiten als Arbeitshypothesen zugrundelegen, wobei man die Frage ihrer Richtigkeit oder Unrichtigkeit noch ganz offen läßt. Man verfährt dann mit ihnen ähnlich, wie man es innerhalb der Naturforschung mit den naturwissenschaftlichen Hypothesen tut, die ja in neuerer Zeit in großer Zahl ausgebildet worden sind. Nur besteht dennoch ein wesentlicher Unterschied. Die Hypothesen der modernen Naturwissenschaft beziehen sich auf Tatbestände, die von dieser selbst als grundsätzlich jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeit gelegen betrachtet werden. Sie sind nur Vorstellungsweisen, welche gewisse Phänomengebiete im Sinne bestimmter Grundannahmen über die Beschaffenheit der Natur überhaupt verständlich machen sollen. Sie haben nicht Wahrheits-, sondern nur Nützlichkeitswert. Sie können sich - beim Bekanntwerden neuer Phänomene - als unzureichend erweisen und dann durch leistungsfähigere ersetzt werden, wie dies ja auch immerfort geschieht. Die Darstellungen Rudolf Steiners über Reinkarnationszusammenhänge sind von ihm selbst nicht als Hypothesen gemeint, sondern als Ergebnisse einer Erfahrung, - freilich einer übersinnlichen Erfahrung, die auf dem von ihm gelehrten Forschungswege erlangt und deren Zustandekommen von ihm in ihrem Wie genau geschildert wird. Ihr Sinn und Wert liegt nicht allein in ihrer Leistungsfähigkeit für die Erklärung geschichtlicher Phänomene, sondern vor allem darin, daß sie in demjenigen, der sie - wenn auch zunächst nur als (S200) Hypothesen - seinem geschichtlichen Studium zugrundelegt, die "geistigen Augen" aufzuschließen vermögen, durch welche er sich einen tieferen Blick erwirbt für die innere Struktur der menschlichen Wesenheit überhaupt, insbesondere aber für jenes im tiefsten Sinne Individuelle im Menschen, das durch wiederholte Erdenleben hindurchgeht. Sie waren von Rudolf Steiner als Übungsmaterial gedacht, an dem das Organ für wahre Menschenwesenserkenntnis herangebildet und geschult werden kann. Eine zwingende Beweiskraft von der Art, wie sie mathematischen Ableitungen oder logischen Schlüssen eignet, wohnt ihnen nicht inne und kann ihnen durch die Natur ihrer Inhalte selbst nicht innewohnen. Denn die menschliche Individualität wählt sich in dem Dasein zwischen Tod und neuer Geburt ihre jeweilige nächste Inkarnation in Freiheit, d.h. gemäß jenen höheren Weltennotwendigkeiten, deren Erkenntnis sich ihr allein in diesem Dasein eröffnet; denn mit dieser Erkenntnis ist hier ein diesen Weltnotwendigkeiten entsprechendes moralisches Wollen verbunden. Wären die Darstellung ihrer Inkarnationsfolgen im Sinne der Mathematik oder der gewöhnlichen Logik zwingend, dann vermöchten sie auch das menschliche Bewußtsein nicht zu einem höheren Niveau zu erheben, sondern höchstens eine Schulung des Intellektes zu bewirken. Ihre Bedeutung liegt aber darin, den Menschen zu einem höheren Bewußtsein erwecken zu können, in welchem er, unter voller Wahrung seiner denkerischen Besonnenheit, "sieht", was er vorher nicht "gesehen" hat. Zu diesem Aufwachen zu einem höheren Schauen aber muß er in Freiheit durch Steigerung seiner Erkenntniskräfte selber beitragen. Was nun als ein solches höheres Schauen mit Bezug auf Reinkarnations- und Schicksalszusammenhänge bezeichnet werden kann, läßt sich auch mit einem "Lesen" vergleichen, für welches geschichtliche Taten und Schicksale zu einer "Schrift" werden, die über die im gewöhnlichen Sinne zu verstehenden Verursachungs- und Wirkungszusammenhänge hinaus, in denen sie drinnenstehen, noch einen weiteren, höheren oder tieferen "Sinn" offenbart. Dieser schließt sich mit dem, was sich auf Grund der Reinkarnationserkenntnis im allgemeinen als Sinn und Bedeutung des geschichtlichen Werdens enthüllt, zu einem Ganzen zusammen und zeigt sich zugleich in diesem gegründet. Es setzt sich dieser "Sinn" also keineswegs an die Stelle dessen, was die übliche historische Forschung als geschichtliche Zusammenhänge nach Ursache und Wirkung statuiert; die letzteren bleiben vielmehr durchaus bestehen, nur werden sie gewissermaßen zu "Buchstaben", welche eine Schrift bilden, durch die sich eine höhere Bedeutung offenbart.

   Im Folgenden soll nun - zum Abschlusse der Ausführungen dieses Buches - aus den von Rudolf Steiner dargestellten Reinkarnationsreihen eine einzige als Beispiel herausgegriffen und besprochen werden, um an ihr die Fruchtbarkeit der Reinkarnationserkenntnis für die konkrete geschichtliche Erkenntnis (S201) im Sinne der hier entwickelten Gesamtauffassung vom Wesen der Geschichte zu illustrieren. Wir sind uns zwar der Fragwürdigkeit durchaus bewußt, die einem solchen Versuch anhaften muß, zumal wenn er in der Kürze eines einzigen Kapitels durchgeführt wird. Denn erstens erforderte eine solche Darstellung, um in ihren einzelnen Behauptungen voll begründet und verständlich zu erscheinen, als Unterbau eine Skizzierung der verschiedenen Phasen, in welche der durch Leben zwischen Geburt und Tod und Leben zwischen Tod und neuer Geburt sich hindurchbewegende menschliche Daseinkreislauf gesetzmäßig sich gliedert. Zweitens wäre mindestens der Umfang eines ausgewachsenen Buches nötig, um in befriedigender Deutlichkeit herausarbeiten zu können, worauf es bei einer solchen Darstellung ankommen muß. Wenn wir trotz alledem einen derartigen Versuch in diesem Schlußkapitel wagen, so tun wir es einerseits, weil eine größere Ausführlichkeit desselben den Rahmen unseres Werkes sprengen würde, andererseits weil es uns doch unerläßlich erscheint, die allgemeinen Darlegungen der vorangehenden Kapitel wenigstens an einem Beispiel ins Konkrete hineinzuführen. Dazu ermutigt uns noch die folgende Erwägung: Da es sich bei den Reinkarnationsfolgen nicht um Theorien, sondern um Tatsachen handelt - wenn auch um nur der übersinnlichen Forschung auffindbare Tatsachen -, so gilt doch für diese nicht minder, was auch für sinnlich wahrnehmbare Tatsachen gilt: daß sie nämlich in unendlichfachen Beziehungen zum gesamten Weltendasein stehen, die durch keine erkenntnismäßige Darstellung jemals völlig ausgeschöpft werden können. Da somit jede solche Darstellung nur bestimmte Aspekte derselben ins Licht setzen kann, so darf es auch erlaubt sein, einen solchen Tatsachenkomplex einmal ausschließlich vom speziell geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus ins Auge zu fassen.


II.

   Das Beispiel, das wir wählen, ist nun allerdings kein beliebiges, sondern ein solches, das innerhalb menschlicher Reinkarnationszusammenhänge überhaupt eine einzigartige Stellung einnimmt. Hierin liegt wohl auch der Grund, warum es von Rudolf Steiner innerhalb seiner geisteswissenschaftlichen Vortragstätigkeit mit am frühesten und am öftesten als Beispiel von solchen angeführt und in vertieftester Darstellung noch einmal im allerletzten Vortrag seines Lebens behandelt worden ist. Goethe sagt einmal, daß die Natur kein Geheimnis habe, das sie nicht an irgendeinem Orte ihrem Betrachter nackt vor Augen stellt. Dieses Wort darf dahin abgewandelt werden, daß auch die Geschichte kein Geheimnis in sich birgt, das sie nicht an irgendeiner Stelle ihrem Betrachter unmittelbar offenbart. Betrachten wir in unserem Zusammenhang (S202) das Gesetz der Reinkarnation als ein solches Geheimnis, so bildet der Reinkarnationszusammenhang, von dem im Folgenden die Rede sein soll, diejenige Stelle, an der dieses Geheimnis am unverhülltesten zutage tritt. Diese Tatsache ist selbstverständlich in dem besonderen Wesen der betreffenden menschlichen Individualität begründet und hängt mit dem Charakter ihrer speziellen geschichtlichen "Mission" zusammen. Das heißt freilich nicht, daß diese Mission etwa darin bestünde, der Menschheit das Wissen von der Reinkarnation als Lehre zu verkünden. Eine solche Mission darf im eminentesten Sinne Rudolf Steiner zugeschrieben werden. Die hier in Rede stehende Individualität dagegen ist in ihren bisherigen Verkörperungen nie als Lehrer der Reinkarnation aufgetreten. Ihre Mission bestand und besteht vielmehr darin, durch ihr geschichtliches Wirken den hauptsächlichsten Beitrag dazu zu leisten, daß die Tatsache der Reinkarnation im Verlauf der Geschichte der Realität nach diejenige Bedeutung erlangt, die in den vorangehenden Kapiteln dieses Buches gekennzeichnet worden ist. Dieser Beitrag schließt in sich ein, das Gesetz der Reinkarnation in solcher Weise darzuleben, daß es aus seinem Verborgensein in die Sichtbarkeit hervortritt. Eine Folge davon ist, daß das Wesen und Wirken dieser Individualität in ihren verschiedenen Verkörperungen auf ihre jeweiligen Zeitgenossen einen solchen Eindruck gemacht hat, daß es in ihren Seelen - selbst in Zeiten und Volkszusammenhängen, in denen die Wiederverkörperungslehre sonst keine Rolle spielte - Ahnungen oder geradezu Behauptungen eines Rinkarnationszusammenhanges, in dem sie drinnenstehe, auslöste. Im Hinblick auf diese Rolle, welche diese Individualität für die Bedeutung spielt, welhe die Tatsache der Reinkarnation innerhalb des geschichtlichen Werdens erlangt hat, gehört die Betrachtung derselben zu der Darstellung der "Wiederverkörperung als des Lebensgesetzes der Geschichte" als deren Schlußstein unerläßlich hinzu.

   Bevor wir in diese Betrachtung eintreten, haben wir uns aus all dem bisher Ausgeführten das Folgende erinnernd zu vergegenwärtigen: Wir haben fürs erste immer wieder darauf hingewiesen, wie die Wiederverkörperung zum "Lebensgesetz" des geschichtlichen Werdens dadurch wird, daß im Verlaufe des letzteren die Kollektivgeistigkeit der vorgeschichtlichen Zeit sich in individuelle Geistigkeit verwandelt, indem sie in die einzelnen menschlichen seelen einzieht. Wir haben gesehen, wie dies stufenweise in der Art geschieht, daß, was ehemals allmenschliche und zunächst nur differenziert nuancierte Kollektivgeistigkeit war, sich in Volks-, Standes- und Familiengeistigkeit differenziert und endlich individuell-persönliche Geistigkeit wird, und wie dadurch der einzelne Mensch zum geistig auf sich selbst begründeten Ich-Wesen heranreift. Wir haben des weiteren gesehen, wie das entscheidende, allesumwälzende Ereignis innerhalb dieser Entwicklung die Christus-Erscheinung bildet, in welcher zum erstenmal und in einzigartiger Weise die gesamt-menschheitliche (S203) Geistigkeit, die zugleich die Zusammenfassung der Weltgeistigkeit, den "Welten-Logos" darstellt, in einer menschlichen Persönlichkeit sich verleiblicht hat. Wie durch dieses Ereignis deshalb der Same der "Auferstehung" in die Menschheit eingepflanzt wurde, als Keim jenes Prozesses, durch welchen die im Wechsel von Inkarnation und Exkarnation sich bewegende Daseinsform in eine über Geburt und Tod erhabene geist-leibliche Daseinsweise allmählich sich verwandelt. Und wir haben zuletzt gesehen, wie den Boden zu bereiten und zu bilden, auf dem dieses Ereignis sich abspielen konnte, die geschichtliche Mission des althebräischen Volkes ausgemacht hat. Diese Mission kam schon darin zum Ausdruck, daß das alte Hebräertum zum eigentlichen Begründern eines geschichtlichen Bewußtseins geworden ist. Denn dieses althebräische Geschichtsbewußtsein hatte zwei Wurzeln. Es gründete einerseits in dem Rückblick auf die Menschheitsvergangenheit, der diese bis zum Ursprung des Mensch im Paradiese, ja bis zur Weltschöpfung schlechthin zurückverfolgte, - wie es in der Mosaischen Genesis dargestellt ist. Andererseits in dem Vorblick auf das Kommen des Messias, den das Hebräertum als aus seiner Mitte hervorgehend erwartete. Und so, wie mit der Rückschau auf Menschheitsvergangenheit und Menschheitsursprung verbunden war die Erinnerung an den Sündenfall und die Austreibung aus dem Paradiese, so war mit dem Vorblick auf das Kommen des Messias verknüpft die Hoffnung auf die Erlösung von der Erbsünde und die Herbeiführung eines Lebens in Frieden und Gerechtigkeit. Diesen Doppelaspekt seines Geschichtsbewußtseins, welches zugleich das Bewußtsein seiner eigenen geschichtlichen Sendung in sich schloß, brachte das Hebräertum auch in der Weise zum Ausdruck, daß es als dasjenige, worin der wesentliche Inhalt seines geschichtlichen Lebens sich zusammenfasse, bezeichnete "Moses bzw. das Gesetz und die Propheten". Denn so wie Moses, mit dessen Namen die Aufzeichnung der Erinnerung an Weltschöpfung, Menschenursprung und Sündenfall verknüpft wurde, im "Gesetz" der Menschheit zugleich die geistige Stütze im Kampf gegen die Übermacht der Sünde, der sie verfallen war, gegeben hatte, so wiesen die Propheten auf den Messias hin, der durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben der Menschheit die Erlösung von der Erbsünde bringen werde.

   Wir hatten schon im ersten Bande (III.2 Kosmogonische ... Zeit) dargestellt, wie der "Sturz" der sich im "Paradiese" - im Sinne der hier vertretenen Anschauungen: beim Übergang von der "Urzeit" zur "Vorgeschichte" - ereignet hatte, aufzufassen ist als eine Art Zerspaltung des ursprünglichen Menschenwesens in zwei Teile, von denen der eine, wie wir dort sagten, ein Stück weit unter das dem Menschen ursprünglich vorbestimmte Daseinsniveau ins Göttlich-Übermenschliche hinauf erhoben wurde. Einen Ausdruck fand diese Zerspaltung darin, daß (S204) die beiden Geschlechter, die in dem androgynen Urmenschen noch miteinander verbunden waren, sich trennten. Einen anderen in dem Vorgang, auf den die Bibel mit den Worten hindeutet, daß dem Menschen, nachdem er vom Baum der Erkenntnis genossen hatte, der Baum des Lebens entzogen wurde. Denn das Genießen vom Baum der "Erkenntnis hatte die Entstehung jenes irdischen Selbstgefühls und Selbstbewußtseins zur Folge, das in den menschlichen Seelen sich jetzt stufenweise in den Zeiten entfaltete, in denen sie von einem irdischen Leibe zwischen Geburt und Tod umschlossen waren. Und der Sturz in das Untermenschlich-Natürliche bestand darin, daß die Leiber, welche die Entfaltung dieses Selbstbewußtseins ermöglichten, jetzt durch geschlechtliche Zeugung geboren wurden und daher - wie alles Natürliche - zum Altern und Sterben verurteilt waren. Der "Mensch", der vom Erkenntnisbaume genossen hatte und "gefallen" war, wurde also repräsentiert durch alle diejenigen, die sich jetzt in den Daseinszuständen zwischen Geburt und Tod in fortschreitendem Maße als Einzelseelen fühlten. Jenen Teil dagegen, der als der Baum des Lebens ins Übermenschlich-Göttliche erhoben worden war, bildete die allmenschich gebliebene und zunächst nur farblich differenzierte Kollekgivgeistigkeit, die den Menschen auch noch mit der Welt- und Naturgeistigkeit verband und die Quelle der menschlichen Kulturgestaltung in vor- und frühgeschichtlicher Zeit darstellte. Wir bezeichneten sie auch als das Element der Menschheitsführung für jene Zeiten, das in besonderer Weise durch die Orakel- und Mysterienstätten repräsentiert wurde, in denen einzelne Menschen durch Überwindung alles Selbstisch-Persönlichen sich zur Anschauung der geistigen Welt und dadurch zur geistigen Führerschaft gegenüber ihren Mitmenschen erhoben. Wir schilderten, wie innerhalb aller Völker der frühgeschichtlichen Zeit bis ins Griechentum herein solche Orakel- bzw. Mysterienstätten bestanden, und wie das "Entzogensein" des Lebensbaumes darin zum Ausdrucke kam, daß das in den Mysterienstätten zu erlangende höhere Wissen der Masse der Uneingeweihten verborgen blieb.

   Wir haben (im ersten Bande) schließlich auch darauf hingewiesen, wie die Fleischwerdung des "Wortes" in der Persönlichkeit des Jesus, sein Leben, Sterben und Auferstehen aufgefaßt werden muß als das Ereignis, durch welches in die äußere Sichtbarkeit trat und dadurch zu einem geschichtlichen und zugleich "mystischen" Geschehen wurde, was früher im Innern der Mysterien von Einzelnen durch ihre Entselbstung als Initiation durchgemacht worden war, und wie dadurch der Baum des Lebens mit dem der Erkenntnis wiedervereinigt wurde.

   Eine Ausnahmestellung wies auch in bezug auf alle diese Verhältnisse dem althebräischen Volk seine besondere geschichtliche Mission an. Es kannte kein Mysterienwesen von der Art, wie es bei den heidnischen Völkern allüberall (S205) bestand. Die Stelle eines solchen vertrat bei ihm der Bund, den Jahwe mit ihm als Volk geschlossen hatte. Die in der Kulturgestaltung sich auswirkende geistige Führung, welche bei anderen Völkern von ihrem Mysterienwesen ausging, gestaltete sich bei ihm zu der in seiner Geschichte sich auswirkenden Führung durch Jahwe selbst als seinen Volksgott. Als seines Werkzeuges hierfür bediente sich dieser des Prophetentums, das ebenfalls als eine charakteristische und einzigartige Erscheinung innerhalb dieses Volkstums auftrat. Wie innerhalb des Heidentums die Wirksamkeit des Mysterienwesens als eine auf das Christuereignis vordeutende und vorbereitende aufgefaßt werden muß (Siehe Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums), so wurden im Hebräertum die Propheten zu dessen Vorverkündern und Vorbereitern. Aber diese Propheten waren keine Eingeweihten im Sinne der heidnischen Mysterien. Sie wurden von Jahwe selbst zum Prophetenamt berufen gemäß ihren schicksalsmäßigen Vorbedingungen, und diese Berufung selbst wiederum wurde für sie zum Schicksal. Entsprechend dem durch und durch geschichtlichen, d.h. auf ein Zukunftsziel ausgerichteten Charakter der hebräischen Volksmission wirkte sich die Inspiration Jahwes in den Propheten als menschheitsgeschichtliche Zukunftsschau aus.


III.

   Hält man sich all dies vor Augen, so kann es nicht wundern, sondern darf vielmehr erwartet werden, daß die Individualität, die dazu berufen war, den entscheidenden Beitrag dazu zu leisten, die Wiederverkörperung zum Lebensgesetz der Geschichte werden zu lassen, erstens in ihren aufeinanderfolgenden Inkarnationen in einzigartigem Maße sich darstellt als Träger und Repräsentant der menschheitlichen Kollektivgeistigkeit und ihrer im Lauf der Geschichte erfolgenden Umwandlung in Individualgeistigkeit; zweitens, daß sie in der vorchristlichen Ära innerhalb des althebräischen Volkes auftrat, das an dieser Umwandlung, durch welche die Geschichte erst in vollem Maße Geschichte wurde, als Volk den hervorragendsten Anteil gehabt hat; drittens, daß sie innerhalb dieses Volkes als eine seiner Prophetengestalten in Erscheinung getreten ist; und viertens, daß ihr Wirken in späterer Zeit im allerinnigsten Zusammenhange mit der Menschwerdung und Erlösungstat des Christus gestanden hat.

   In der Tat tritt uns diese Individualität - nach den Ergebnissen der Geisteswissenschaft - nicht nur als irgend eine, sondern als diejenige unter den althebräischen Prophetengestalten entgegen, welche das Prophetentum schlechthin (S206) ebenso repräsentierte wie Moses das Gesetz: nämlich als Elias (Siehe hierzu den Vortrag Rudolf Steiners "Der Prophet Elias im Lichte der Geisteswissenschaft" GA61, sowie die Aufsätze über Elias von Hermann Beckh, Emil Bock und Walter Johannes Stein in der Monatsschrift "Die Drei", Jahrgang VI-1926Heft2). Denn wenn in der "Verklärung auf dem Berge" (Matthäus 17, Markus 9) Christus den drei Jüngern inmitten dieser beiden Gestalten erscheint, und wenn in der Apokalypse (11), zurückdeutend auf Ereignisse, die sich in den Tagen des Moses und Elias als deren Taten abspielten, von den "zwei Zeugen" gesprochen wird, die "als die zwei Ölbäume und zwei Fackeln vor dem Herrn der Erde stehen", so ist damit auf die beiden Grundsäulen des "Gesetzes" und der "Propheten" gewiesen, auf welchen die althebräische Volksmission beruhte, - auf jene beiden Grundsäulen, denen in der jüdischen Tempelesoterik die zwei "Säulen" Jakim und Boas entsprechen, welche ihrerseits wiederum die Bäume der Erkenntnis und des Lebens versinnbildlichen. Wie Moses den Blick in die Vergangenheit repräsentiert, so Elias denjenigen in die Zukunft. Und wie jener für die Strömung der durch den Sündenfall individuell gewordenen Einzelseelen steht, so steht dieser für diejenige der damals noch kollektiven Geistigkeit, die aber in Zukunft sich immer mehr in individuelle umwandeln sollte, ja, schon in ihm als in ihrem individuellen irdischen Vertreter sich manifestierte. Es könnte dies als ein Widerspruch erscheinen. Aber gerade hierin liegt das Eigentümliche dieser Wesenheit in ihren vorchristlichen Inkarnationen, daß die Repräsentation der damaligen Kollektivgeistigkeit die Mission bildete, die ihr als Individualität oblag, - und nur aus diesem Tatbestand heraus läßt sich die eigenartige und rätselvolle Weise ihres damaligen Wirkens und ihrer Wiederkehr in der Folge ihrer damaligen Inkarnationen verstehen.

   Dieses Rätselvoll-Eigenartige liegt nämlich darin, daß sie in jenen Zeiten - und namentlich eben in ihrer Elias-Inkarnation - in solchem Maße noch als eine Doppelwesenheit erscheint, daß das Alte Testament (Könige I,17ff), indem es sie in diesem ihrem Doppel-Aspekt zeichnet, geradezu von zwei verschiedenen Gestalten zu sprechen scheint. Und es bildet einen wesentlichen Bestandteil dessen, was die Geistesforschung über die Bedeutung dieser Individualität und ihrer Reinkarnationsfolge zu sagen hat, daß sie die Tatsache aufweisen muß, daß es sich bei der betreffenden Zweiheit der von der Bibel geschilderten Gestalten in Wirklichkeit um eine und dieselbe Wesenheit handelt, die aus den dargelegten Gründen ihren Zeitgenossen eben in so unterschiedlicher Art erscheinen mußte, indem sie sich ihnen einmal in ihrer irdisch-individuellen Persönlichkeit, ein andermal wieder in ihrer damals noch überindividuell-übermenschlichen Geistwesenheit darstellte. 

(S207)    So zeigt sich Elias in den Berichten der Bibel auf der einen Seite - und diese Erscheinungsweise steht durchaus im Vordergrund, da ja eben die Vertretung der Kollektivgeistigkeit die geschichtliche Mission seines damaligen Wirkens ausmachte - in besonderem Maß als der geistig beauftragte und bevollmächtigte Hüter und Wahrer der Gottesherrschaft Jahwes, als der feurige Kämpfer für deren Wiederherstellung und Behauptung in einer Zeit, da im Nordreich Israel unter König Ahab durch dessen Verehelichung mit Jesabel, der Königstochter von Sidon, der phönizische Baalskult die Verehrung Jahwes zu verdrängen drohte. Gemäß der Kollektivgeistigkeit, als deren Werkzeug er wirkt, gibt die Bibel die Darstellung dieses seines Auftretens im Gewand mythisch-symbolischer Bilder. Wie immer man diese aber im einzelnen auch auffassen mag: ob als Sinnbilder bloß der inneren seelisch-geistigen Entwicklung, die er in dieser Eigenschaft durchmacht, oder auch seines äußeren Wirkens, sie lassen ihn jedenfalls als eine Persönlichkeit erscheinen, die über magische Kraft verfügt und den Elementen und Naturgewalten gebietet in einer Weise, die an die Art erinnert, in der Jahwe selbst, zumal in den Zeiten des Moses, seinem Volke sich als Herr über dieselben bezeugt hat. So, wenn er im Hause der Witwe von Sarepta die Nahrung nicht ausgehen läßt und deren Sohn vom Tode auferweckt, oder wenn er Feuer vom Himmel fallen und seine Feinde verzehren, wenn er Trockenheit und Dürre eintreten läßt und wiederum wohltätigen Regen herbeiruft. In all dem erweist er sich im Bunde mit den Mächten, die im Wohl und Wehe des Schicksals seines Volkes walten, die nun aber immer mehr und mehr der Einzelne ins Innerste seiner Seele aufnehmen soll. Auf sein Wirken im Sinne dieser Verinnerlichung deutet die Erzählung, die ihn Moses in der Weise gegenüberstellt, daß sie berichtet, wie er auf demselben Berge, auf dem Jahwe unter Blitz und Donner, in Rauch und Flammen dem letzteren die Gesetzestafeln übergeben hatte, die Stimme des Herrn - wie Luther übersetzt - "im stillen, sanften Sausen" vernahm, d.h. in der Stille seines Innern erlauschte. Dagegen wird wiederum die ihn noch umhüllende und umwehende Kollektivgeistigkeit, aus der heraus er dennoch wirkt, durch das Bild seines "Mantels" bezeichnet, den er seinem von ihm erwählten Nachfolger Elisa überläßt und mit dem er seine Mission und magische Kraft auf diesen überträgt, - im Gegensatz zu dem "Stabe" des Moses, in welchem sich das sich aufrichtende Selbstgefühl der Einzelseele symbolisiert. Bezeichnend schließlich ist, daß sein Abschied von der Erde sich so vollzieht, daß seine Seele dem Geistesauge seines Nachfolgers Elisa in einem von feurigen Rossen gezogenen feurigen Wagen im Wetter gen Himmel fahrend erscheint, - im Gegensatze zum Tode des Moses, dem das "Gelobte Land" nurmehr zu schauen, aber nicht zu betreten vergönnt war, und um dessen Leichnam (nach der Legende) ein Streit zwischen Michael und dem Satan sich entspann.

(S208)    Auf der anderen Seite fügt die Bibel gerade an der Stelle, wo man nach dem vorausgegangenen Racheschwur, den Jesabel gegen Elias getan hat, die Ausführung desselben erwartet, die Erzählung von Naboth ein, dem Besitzer des Weinbergs in der Nachbarschaft des königlichen Palastes, den Jesabel dem Tode überliefert, weil er seinen Besitz nicht abtreten will. Der Sinn dieser rätselhaften Episode, auf die dann die Verfluchung Ahabs und seiner Nachkommen durch Elias folgt, enthüllt sich nur, wenn man sie - im Sinne der Ergebnisse der Geistesforschung - auf die irdische Persönlichkeit bezieht, die der Träger der Elias-Wesenheit ist, - so daß das Wirken des letzteren, das sich nach der Ermordung des Naboth fortsetzt, als ein nachtodliches aufgefaßt werden muß. Und so ist es denn die leibbefreite Seele des Elias, die sich seinem Nachfolger Elisa im feurigen Wagen gen Himmel fahrend zeigt (Siehe hierzu auch die Darstellung des Elias bei Emil Bock: "Könige und Propheten" S144ff).

   Bedeutsam und charakteristisch ist es nun, daß schon die esoterische jüdische Tradition zwischen der damals in Elias verkörperten Individualität und einer Persönlichkeit aus dem Zeitalter des Moses (Siehe E.Bock: "Moses und sein Zeitalter" S113) eine Identität behauptet hat, - eine Identität, die sich im Sinne eines Reinkarnationszusammenhanges für die geisteswissenschaftliche Forschung als den Tatsachen entsprechend bestätigt. Es handelt sich hierbei um die Gestalt des Pinehas, von der im 4. Buch Mose (Kap.25) das Folgende erzählt wird: "Und das Volk hub an zu huren mit der Moabiter Töchtern, welche luden das Volk zum Opfer ihrer Götter. Und das Volk aß und betete ihre Götter an. Und Israel hängte sich an den Baal-Peor. Da ergrimmte des Herrn Zorn über Israel, und er sprach zu Mose: Nimm alle Obersten des Volkes und hänge sie dem Herrn auf an der Sonne, auf daß der grimmige Zorn des Herrn von Israel gewandt werde. Und Mose sprach zu den Richtern Israels: Erwürge ein jeglicher seine Leute, die sich an den Baal-Peor gehängt haben. Und siehe, ein Mann aus den Kindern Israel kam und brachte unter seine Brüder eine Midianiterin vor den Augen Moses und der ganzen Gemeinde der Kinder Israel, die da weinten vor der Türe der Hütte des Stifts. Da das sah Pinehas, stand er auf aus der Gemeinde und nahm einen Spieß in seine Hand und ging dem israelitischen Manne nach hinein die Kammer und durchstach sie beide, den israelitischen Mann und das Weib, durch ihren Bauch. Da hörte die Plage auf von den Kindern Israel. Und es wurden getötet in der Plage 24000. Und der Herr redete mit Mose und sprach: Pinehas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, des Priesters, hat meinen Grimm von den Kindern Israel gewendet durch seinen Eifer um mich, daß ich nicht in meinem Eifer die Kinder Israel vertilge. Darum sage: Siehe, ich gebe ihm meinen Bund des Friedens; und er soll haben und sein Same nach (S209) ihm den Bund eines ewigen Priestertums, darum daß er für seinen Gott geeifert und die Kinder Israels versöhnt hat." In einer Situation des drohenden Abfalls der Isrealiten von ihrem Gotte, ihrer Hinwendung zum Baalskult und ihrer Vermischung mit fremdem Blute, in der sich gleichsam jene vorbildete, die einige Jahrhunderte später im Reiche Israel unter Ahab und der Phönizierin Jesabel eintrat, wurde da also durch die entschlossene Tat eines einzigen Mannes das Volk aus der über ihm schwebenden Gefahr seiner "Vertilgung durch Jahwe" errettet, der Bund des Friedens zwischen seinem Gotte und ihm wiederhergestellt und im besonderen diesem Manne und seinen Nachkommen als Inhabern eines ewigen Priestertums anvertraut, "darum daß er für seinen Gott geeifert und die Kinder Israel versöhnt hat". Eine Tat, die in bezug auf das "Eifern für seinen Gott" wie eine Vorerscheinung der Taten des Elias sich darstellt, in denen ein ähnlich unbarmherziges "Eifern für seinen Gott" sich darlebte. Und eine Verbindung mit dem Gotte resultierte aus ihr, welche verständlich macht, warum in späterer Zeit Elias wie "das irdische Antlitz dieses Gotte selbst" (Steiner) innerhalb jenes Volkes empfunden wurde, - aber auch, warum eine ähnliche Situation den Zorn des Elias zu ähnlichen Taten entflammte, die - wie die Vernichtung der Baalspriesterschaft auf de Berge Karmel oder die Verfluchung Ahabs und Jesabels - nun wie das vertilgend-strafende Wirken des ergrimmten Gottes selber erscheinen. Die Pinehas-Inkarnation bezeichnet also den Punkt, an welchem diese Individualität durch ihr damaliges Verhalten erst zu jener Repräsentation der israelitischen Volksgeistigkeit (Jahwes) erwählt und erhoben wurde, welche dann in der Elias-Naboth-Inkarnation ihre geschichtliche Mission bildete. Vielleicht ist es dadurch bedingt, daß, während über Pinehas' späteres Schicksal die Bibel nichts berichtet, Elias in der Person Naboths dem Hasse seiner Gegnerin Jesabel zum Opfer fiel.

   Jedoch nicht allein nach der Vergangenheit, sondern auch nach der Zukunft hin wird - und nun im Alten Testamente selbst, in Form einer Vorherverkündigung - von einem Wiedererscheinen der Individualität gesprochen, die in Elias verkörpert war. Gewiß kann diese Prophezeiung nur so verstanden werden, daß denjenigen, die sie aussprachen, die geschichtliche Mission dieser Individualität zum Bewußtsein gekommen war, und daß sie sich daher darüber klar waren, daß diese Mission ihren Träger ins irdische Dasein zurückführen werde in entsprechender Verbindung mit dem Ereignis, dessen Vorbereitung sie in einzigartiger Weise zum Ziele hatte. Diese Vorherverkündigung findet sich zunächst in den Eingangsworten des Schlußkapitels der letzten der kanonischen Schriften des Alten Testamentes: des Buches Maleachi in dieser Weise: "Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr suchet; und der Engel des Bundes, des ihr begehret, siehe, er kommt!, spricht der Herr Zebaoth", (S210)  - und dann, den Sinn dieser Worte verdeutlichend, noch einmal in den letzten Sätzen dieses Kapitels, mit denen das Alte Testament überhaupt schließt, abermals in Gegenüberstellung von Moses und Elias: "Gedenket des Gesetzes Moses, meines Knechtes, das ich ihm befohlen habe auf dem Berge Horeb an das ganze Israel samt den Geboten und Rechten. Siehe, ich will euch senden den Propheten Elias, ehe denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Kinden und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, daß ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage." Ein drittesmal also soll - zufolge dieser Verkündigung - durch das Erscheinen und die "Bekehrungstätigkeit" dieser Individualität innerhalb des hebräischen Volkes die Gefahr abgewendet werden, daß der Herr "das Erdreich mit dem Bann schlage". Indem nun hier einmal von dem Engel, das anderemal von Elias die Rede ist, der gesendet werden soll, wird dadurch, am Ende des Alten Testaments, ein letztesmal darauf hingedeutet, daß die Geistigkeit, die in und durch Elias wirkte, noch eine übermenschlich-engelhaft-göttliche, keine im vollsten Sinne vermenschlicht-individualisierte war, dennoch aber eine menschliche Individualität zu ihrem Träger hatte. Individualisiert konnte sie selbst erst durch die Christuserscheinung werden. Indem ihr Wiederscheinen aber hier als dieser vorangehend und ihr den Weg bereitend angekündigt wird, weist der Schreiber an dieser Stelle auf jene innigste Beziehung hin, in welcher die Mission dieser Individualität zu der Menschwerdung Christi steht. Und worin zeigte sich diese Beziehung?


IV.

   Das Markus-Evangelium, welches als das älteste der vier Evangelien gilt, beginnt mit den Sätzen: "Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohne Gottes, wie geschrieben steht in den Propheten: 'Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der da bereite deinen Weg vor dir'". Indem es also in seinem Eingang an die Prophezeiung des Buches Maleachi anknüpft und mit dieser eine andere des Propheten Jesajas verbindet: "Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, machet seine Steige richtig!", fährt es fort: "Johannes, der war in der Wüste, taufte und predigte von der Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Johannes aber... predigte und sprach: Es kommt einer nach mir, der ist stärker denn ich, dem ich nicht genugsam bin, daß ich mich vor ihm bücke und die Riemen seiner Schuhe auflöse. Ich taufe euch mit Wasser; aber er wird euch mit dem heiligen Geiste taufen. Und es begab sich zu der Zeit, daß Jesus aus Galiläa (S211) von Nazareth kam und ließ sich taufen von Johannes im Jordan. Und alsbald stieg er aus dem Wasser und sah, daß der Himmel sich auftag, und den Geist gleich wie eine Taube herabkommen auf ihn. Und da geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war allda in der Wüste vierzig Tage und ward versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm. Nachdem aber Johannes überantwortet war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium vom Reich Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllet, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium." Diese Sätze berichten in schlichter, aber lapidarer Weise von dem Ereignis, durch das im eigentlichsten Sinne die Fleischwerdung des Logos, die Inkarnation der gesamtmenschheitlichen Geistigkeit in einer einzelnen Persönlichkeit sich vollzogen hat. Als die Gestalt aber, die das Herabkommen des Logos ankündigt und ihm durch die Taufe am Jordan den Weg bereitet, tritt uns in ihnen Johannes entgegen. So weist die Bibel schon hier, durch die Komposition ihrer Darstellung, unmißverständlich auf den Zusammenhang zwischen Elias und Johannes dem Täufer hin. Aber das Evangelium begnügt sich nicht mit diesem formal-kompositionellen Hinweis; es läßt in der Folge diesem Zusammenhang auch inhaltlich eine Bestätigung von seiten der höchsten Instanz: aus dem Munde Christi selbst zuteil werden. In einem Zeitpunkt, da einige Jünger Jesu dem bereits im Gefängnis eingekerkerten Johannes auf eine Anfrage desselben hin Kunde bringen von den Taten ihres Meisters, spricht Jesus zu dem Volke über Johannes und sagt u.a. von ihm: "Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes. Und - so ihr's wollt annehmen - er ist Elia, der da soll zukünftig sein. Wer Ohren hat zu hören, der höre" (Matthäus 11,13ff). Aber auch damit noch nicht genug. Nach der Verklärung auf dem Berge, in der Christus inmitten der Gestalten von Moses und Elias den drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes erschienen war, fragen ihn diese (Matthäus 17,10ff, Parallelstelle Markus 9) "und sprachen: Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elias müsse zuvor kommen? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Elia soll ja zuvor kommen und alles zurechtbringen. Doch ich sage euch: Es ist Elia schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben an ihm getan, was sie wollten. Also wird auch der Menschensohn leiden müssen von ihnen. Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer zu ihnen gesprochen hatte". Die Statuierung dieses Reinkarnationszusammenhanges zwischen Elias und Johannes dem Täufer steht - nunmehr im Neuen Testament, in dem sonst die Reinkarnation im Allgemeinen nirgends gelehrt wird - völlig singulär da. Und es ist charakteristisch, daß auch diese konkrete Reinkarnationsbeziehung nicht von der betreffenden Individualität selbst behauptet, sondern von ihr lediglich und ausschließlich so dargelebt wird, daß sie dann durch die Darstellungsweise der (S212) Evangelisten auch sichtbar gemacht und schließlich von Christus selbst als solche ausgesprochen wird. Wie um diese Sachlage gleichsam noch zu unterstreichen, berichtet das Johannesevangelium im 1. Kapitel (19ff): "Und dies ist das Zeugnis des Johannes, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: Ich bin nicht Christus. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elias? Er sprach: Ich bin's nicht. - Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein! Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn?, daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste. Richtet den Weg des Herrn!, wie der Prophet Jesaja gesagt hat."

   Dennoch deutet auch das Lukas-Evangelium im 1. Kapitel schon bei der Erzählung von Johannes' Geburtsgeschichte, ebenfalls an die Prophezeiung Maleachis anknüpfend, auf den Reinkarnationszusammenhang mit Elias hin, indem es den Engel, der dem Priester Zacharias erscheint und ihm die Geburt eines Sohnes ankündigt, sagen läßt (16f): "Und er wird der Kinder Israel viele zu Gott, ihrem Herrn, bekehren. Und er wird vor ihm her gehen im Geist und Kraft Elias, zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungläubigen zu der Klugheit der Gerechten, zuzurichten dem Herrn ein bereitet Volk."

   Auch diese Ausdrucksweise wiederum beweist, daß es sich hier nicht um eine "Seelenwanderung" im Sinne der orientalischen Vorstellung handelt, aber auch nicht - wie sie üblicherweise interpretiert wird - um eine bloße "Geistesnachfolgerschaft", eine bloße Fortführung einer geistigen Mission, sondern um das Übergehen eines Geistigen von einer früheren Persönlichkeit auf eine spätere, das in einer singulär-paradigmatischen Weise an die Wiederkehr einer Individualität gebunden war.

   Was nun aber die einzigartige Beziehung derselben zu der Christuserscheinung betrifft, so tritt diese nicht erst in der Verkündigung des "Predigers in der Wüste" und in der Jordantaufe hervor, sondern schon in der Analogie der Geburtsgeschichten Johannes' und Jesus', wie sie das Lukas-Evangelium erzählt, und namentlich in dem Zug, der darin liegt, daß, als Maria in der Zeit ihrer Schwangerschaft das Haus des Zacharias und der Elisabeth, die mit Johannes schwanger ging, besuchte und "Elisabeth den Gruß Marias hörte, das Kind in ihrem Leibe hüpfte. Und Elisabeth ward des heiligen Geistes voll, und rief laut und sprach: Gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebenedeit die Frucht deines Leibes! Und woher kommt mir das, daß die Mutter meines Herrn zu mir komm? Siehe, da ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte mit Freuden das Kind in meinem Leibe." Damit deutet der Schreiber des Evangeliums an, daß die Beziehung zwischen der Individualität des Johannes und derjenigen des Jesus eine schon vor ihrer Geburt in der geistigen (S213) Welt geknüpfte war, und daß für die Wesenheit des Johannes ihre Geistbegegnung mit der ihrer Geburt entgegengehenden Wesenheit des Jesus einen letzten sie impulsierenden Anruf auf ihrem Wege zur Inkarnation bedeutete. Diese Beziehung setzte sich nach der Geburt fort, auch wenn die beiden räumlich getrennt - der eine in Galiläa, der andere in Judäa - aufwuchsen, und sie erlangte ihre Krönung schließlich in dem Akte der Taufe am Jordan, durch welchen Johannes zum "Geburtshelfer" bei der "Erscheinung Christi" (Epiphanie) in der Persönlichkeit des Jesus wurde.

   Dennoch muß angenommen werden, daß Johannes, wie hoch er auch schon vor diesem Ereignis von Jesus dachte, vor der Jordantaufe nicht wußte, daß gerade dieser zum Träger des Christusgeistes auserwählt sei. Er fühlte sich zu seinem Verkünderamt berufen aus dem Wissen um die Zeitenwende, in die er hineingestellt war, und um das - besonders von den Essäern, denen er nahestand, für die nächste Zukunft erwartete und geistig vorbereitete - Erscheinen des Messias, und er hoffe, daß durch die von ihm innerhalb des jüdischen Volkes hervorgerufene "Sinnesänderung" und die von ihm an vielen vollzogene "Taufe" der erwartete Erlöser irgendwie in Erscheinung treten werde. Als Jesus zum Jordan kam, um sich von ihm ebenfalls taufen zu lassen, muß er zwar von dessen Wesenheit aufs tiefste geeindruckt gewesen sein, was aus seinen, von Matthäus (3,14) überlieferten abwehrenden Worten hervorgeht: "Ich bedarf wohl, daß ich von dir getauft werden, und du kommst zu mir?" Gleichwohl bezeugt er (Joh.1,31ff): "Und ich kannte ihn nicht (nämlich denjenigen, dem er den Weg bereiten sollte), sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugte und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist's, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn."

   Während seiner Gefängnishaft kommen ihm jedoch noch einmal Zweifel daran, ob in Jesus der von ihm erwartete Heiland erschienen sei; diese werden ihm dann von einigen Jüngern desselben, indem sie ihm von dessen Taten berichten, beschwichtigt.

   Etwas von dem wie in Blitzschlag und Donnerrollen sich entladenden "Eifern für seinen Gott", das Pinehas und Elias kennzeichnete, wird man in der Bußpredigt Johannes' und in seinem "Wettern" gegen Pharisäer und Sadduzäer gleichsam nachhallen hören. Was jetzt aber seinem ganzen Wirken die Grundnote gibt, ist die Gesinnung und Haltung, die in seinem Worte (Joh.3,30) zum Ausdruck kommt: "Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen." Sie entspringt seinem Wissen von dem alles umwälzenden Umschwung, den das Erscheinen des Christus im Erdendasein bewirkt. Christus selbst bezeichnet (S214) diesen gerade mit Bezug auf Johannes mit den Worten (Matth.11,11): "Wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei denn Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer denn er." Der in Johannes zuletzt verkörpert war, ist der größte Repräsentant der der vorchristlichen Zeit entsprechenden Kollektivgeistigkeit, die noch von oben und von außen her den Einzelnen umhüllte und überschwebte und ihn naturhaft mit der geistigen Welt verband. Der nachchristlichen Zeit aber entspricht die individuell gewordene, ganz ins Innere eingezogene Geistigkeit, durch die der Einzelne selbst - wie es an derselben Stelle heißt - "das Himmelreich mit Gewalt an sich reißt". Diesem Neuen nicht nur den Weg zu bereiten, sondern Platz zu machen, gleichsam sich selbst aus dem Wege zu räumen, insoferne er noch das Alte repräsentierte, darin faßt sich das Verhalten Johannes' nach der Jordantaufe zusammen. In diesem Verhalten kehrt in gesteigerter Form wieder, was bei Elias die Sorge um seinen Nachfolger Elisa war, dem er mit seinem Mantel seine Mission und geistige Kraft übertrug; denn der "Nachfolger" ist jetzt nicht nur ein Mensch, sondern zugleich der Gott selbst, in dessen Dienste die eigene Mission stand. Mit all dem steht in einem eigentümlichen Zusammenhang die kurz nach der Jordantaufe stattfindende Einkerkerung und Enthauptung des Täufers. Die letztere erfolgt anläßlich eines Gastmahls des Herodes, auf den Wunsch der Salome, zu dem diese von ihrer Mutter angestiftet wird aus Haß gegen Johannes, weil dieser den Herodes wegen seiner Verbindung mit ihr getadelt hatte. Sie erscheint einerseits wie eine Wiederholung des Schicksals, das Elias-Naboth von seiten der Jesabel und des Ahab widerfahren war, andererseits zugleich wie ein schicksalsmäßiger Ausgleich der Tat des Pinehas, durch den eine alte Schuld abgetragen wird.

   Nun kommt aber - nach den geistesforscherischen Darstellungen Rudolf Steiners - die Mission Johannes' des Täufers in ihrem Zusammenhang mit der Christuserscheinung mit seiner Enthauptung noch nicht zum Abschluß. Sie setzt sich vielmehr - wie einstmals das Wirken der Eliaswesenheit über die Ermordung Naboths hinaus - nach seinem Tode in der Weise fort, daß seine Individualität - gerade wegen des kollektivgeistigen Charakters, der ihr das Gepräge verlieh - danach sich mit dem Kreise der Apostel in solcher Art verbindet, daß sie gleichsam zur "Gruppenseele" derselben wird. Dies kommt z.B. in der an die Brotvermehrung des Elias erinnernden Speisung der Fünftausend zum Ausdruck, die Jesus durch die Apostel unmittelbar nach der Enthauptung des Johannes innerhalb der Menschenschar vollzieht, die nach dem Hingange des Täufers "wie Schafe waren, die keinen Hirten haben". Und es wird auch von Herodes deutlich empfunden, wenn das Markusevangelium berichtet (6,14ff): "Und es <das Wirken Christi und seine Apostel> kam vor den König Herodes und er sprach: Johannes der Täufer ist von den Toten (S215) auferstanden; darum tut er solche Taten... Es ist Johannes, den ich enthauptet habe; der ist von den Toten auferstanden." In dieser Art der Wirksamkeit nimmt diese Individualität weiter teil an den Geschehnissen der drei Jahre des Erdenwandels des Christus und überschwebt zuletzt in besonderem Maße den anderen Johannes, den Lieblingsjünger Christi, der dann als einziger der Apostel mit der Mutter Jesu unter dem Kreuz auf Golgatha steht und von Christus in besonderer Weise mit Maria verbunden wird. So ist sie geistig also auch zugegen bei jenem "Geburtsereignis", durch welches der Eintritt des Christuswesens in das Erdendasein endgültig besiegelt wird.


V.

   Die Mitbeteiligung dieser Individualität an dem Ganzen des Christusgeschehens in der Art, wie dies im vorangehenden geschildert wurde, bildet den Höhe- und zugleich den Wendepunkt in dem Erdenschicksal, das sie in der Folge ihrer Inkarnationen durchlebt hat und noch durchleben wird. Sie hat diese Individualität bis in ihre innersten Wesenstiefen ergriffen und erfüllt und bis auf den Grund ihres Wesens verwandelt. Die Frage drängt sich auf, wie sich dies in ihren folgenden Erdenleben ausgewirkt hat. Die Antwort auf diese Frage wir - nach all dem bisher Ausgeführten - dahin lauten müssen, daß jener menschlich-übermenschliche, individuell-kollektive Doppelcharakter, der dieser Wesenheit in der vorchristlichen Ära eigen war, sich nun überwunden zeigt durch die innigste Durchdringung und Einswerdung des Menschlichen mit dem Übermenschlichen, des Individuellen mit dem Kollektivgeistigen. Das bedeutet aber, daß diese Wesenheit fortan zwar als in sich geschlossene Individualität erscheint, aber als eine solche, die sich nicht als bloße Individualität, als bloßer Einzelmenschen, sondern zugleich und wesentlich - und zwar wiederum in einzigartigem Maß - als universelle, unmittelbar dem Menschheitsleben angehörige geistige Macht darlebt. Mit dieser Charakteristik ist in der Tat das eigentümlichste Merkmal ihrer nun zu betrachtenden nachchristlichen Verkörperungen bezeichnet.

   Nach den Ergebnissen der Steinerschen Geistesforschung ist diese Individualität auf Erden zunächst wiedererschienen an einem der wichtigsten Wendepunkte der neueren Menschheitsentwicklung als eine der größten Künstlergestalten, welche die Geistesgeschichte kennt, - als eine Künstlergestalt außerdem, deren Schaffen eine einzige und unvergleichliche Verkündigung der Christuserscheinung und ihres Erdenwirkens am Beginne unserer Zeitrechnung darstellt, - nämlich als der Maler Raffael Santi. Was diese Individualität zur Zeit des Golgatha-Ereignisses aus den Tiefen einer machtvollen Willenskraft heraus als Taten vollbracht hatte, das stieg nun herauf ins Element (S216) des Gefühls und wurde zum Inspirationsquell ihres künstlerischen Gestaltens. Es kann keineswegs als Zufall, sondern muß als Ausdruck ihres tiefen Verbundenseins mit jenem Ereignis angesehen werden, daß Raffael sowohl an einem Karfreitag (1483) geboren worden als auch an einem Karfreitag (6.April 1520) gestorben ist.

   Die dramatische Spannung, die das Leben seiner früheren Verkörperungen erfüllt hatte, erscheint bei ihm wie gelöst. Er durchläuft eines der glücklichsten, glänzendsten Leben, die Menschen auf Erden beschieden sein können. Von Urbino über Perugia und Florenz nach Rom kommend, das als der Sitz des Papsttums damals noch immer den geistigen Mittelpunkt der christlich-abendländischen Welt bildet, steigt er am päpstlichen Hofe in kurzer Zeit zu den höchsten Ehren und Ämtern auf, die einem Künstler erreichbar sind, und erlangt schon bei Lebzeiten als Maler und Architekt den Ruhm eines der größten Künstler seiner Epoche. Die einstmalige Dramatik seines Lebens klingt nur noch nach in der Dramatik der Darstellung, die seine großen Bilderzyklen aus der christlichen Heils- und Kirchengeschichte kennzeichnet. Auch das fanatische "Eifern", das ihm in früheren Leben eigen war, ist überwunden. Lebensfreude, Duldsamkeit gegen andere und eine alle Herzen gewinnende Liebe zu seinen Mitmenschen zeichnen ihn aus, und nur in der restlosen Hingabe an seine Arbeit und in dem unermüdlichen Streben nach Vervollkommung seines künstlerischen Könnens lebt der Nachklang jenes "Eifers" in verwandelter Gestalt fort. "Er ward", so schildert ihn sein erster Biograph Vasar, "nicht müde, uns darin ein Vorbild zu sein, wie man mit Großen, Mittleren und Niederen zu verhandeln habe. Unter seinen besonderen Gaben finde ich eine von solcher Bedeutung, daß ich im stillen staune, wie der Himmel ihm die Kraft gab, als Künstler unter Künstlern eine unserem Naturell so entgegengesetzte Wirkung hervorzubringen, die nämlich, daß die Künstler - nicht nur die niedrigen, sondern auch die, welche hohe Ziele verfolgen (wie es deren unter uns unendlich viele gibt) -, wenn sie mit Raffael zusammenarbeiteten, ohne weiteres gleichen Sinnes und so einträchtig waren, daß jede böse Laune in seinem Anblicke davonflog und jeder gemeine und niedrige Gedanke ihnen aus der Seele fiel; eine Eintracht, die niemals sonst geherrscht hat. Die Ursache war, daß sie unter dem Banne seiner Freundlichkeit und seines Könnens standen, und mehr noch, unter der Herrschaft des Genius seiner guten Natur. Diese war so erfüllt von edler Liebenswürdigkeit, so überfließend von hilfreicher Liebe, daß man sogar die Tiere ihm Ehrfurcht bezeugen sah, geschweige denn die Menschen. Man erzählt, daß, wenn ein Maler, mit dem er bekannt war oder auch den er gar nicht kannte, ihn um eine Zeichnung anging, deren er bedurfte, Raffael seine Arbeit stehen ließ, um ihm behilflich zu sein. Und immer waren Unzählige bei ihm in Arbeit, die er mit einer Liebe unterstützte und unterwies, wie nicht Künstlern, (S217) sondern eigenen Söhnen gegenüber zukam. Deshalb sah man ihn niemals an den Hof gehen, ohne beim Verlassen des Hauses fünfzig Maler mit sich gehabt zu haben, alle tüchtig und gut, die ihm das Geleit gaben, um ihn zu ehren. Mit einem Worte, er lebte nicht wie ein Maler, sondern wie ein Fürst."

   Dennoch ist er als historische Gestalt schwer zu fassen; seine Persönlichkeit erscheint in ein seltsames Geheimnis gehüllt; er schreitet gleichsam wie ein bloßer Geist durch seine Zeit, kaum irgendwelche Spuren seines Lebens hinterlassend außer in seinen Werken. Und dies gibt ihm auch als Künstler sein Gepräge.

   Dieses läßt sich kaum besser charakterisieren als im Vergleich mit jenem anderen Künstler, mit dem zusammen er das leuchtendste Doppelgestirn seiner Epoche bildet, und den ihm das Schicksal in eigentümlicher Weise gleichsam als Antipoden gegenübergestellt hat: mit Michelangelo.

   Die Werke des letzteren sind in allem und jedem Ausdruck einer einzigartigen, scharf ausgeprägten, gigantischen Persönlichkeit. Er scheint nichts von anderen, alles nur durch sich selbst gelernt zu haben; jeder Versuch einer Nachahmung seines künstlerischen Stiles ist zur Aussichtslosigkeit verurteilt. Und so tritt er auch seinen Zeitgenossen im Leben entgegen: eigenwillig, schwer zu behandeln, in unzählige Kämpfe und Streitigkeiten verwickelt, welche ihm die Vollendung vieler seiner Werke mit verunmöglicht haben, von düsterer Gemütsstimmung, mit fortschreitendem Alter immer mehr vereinsamend. Das Riesenwerk des Sixtinischen Deckengemäldes führte er ganz allein ohne die Beihilfe eines einzigen Menschen aus.

   In Raffaels Kunst dagegen fließen die künstlerischen Errungenschaften seines ganzen Zeitalters zusammen. Offen und empfänglich für alle Einflüsse malt er zunächst ganz in der innigfrommen Weise seines Lehrers Perugino und führt diese über sich selbst hinaus, eignet sich dann in Florenz die Eleganz und Urbanität der toskanischen Schule an, nimmt in Rom sogar Elemente der ihm so ganz entgegengesetzten Kunst Michelangelos in sein Schaffen auf, erringt dort aber vor allem die durch die Wiederbelebung der Antike möglich gewordene Virtuosität der plastischen Körpergestaltung und erweitert den Umkreis seiner künstlerischen Darstellungen über die Welt der antiken Mythologie. Viele seiner römischen Werke haben seine zahlreichen Schüler fertiggemalt. Und was seinen Schöpfungen am meisten die Signatur gibt, das ist, daß wir vor ihnen immerfort ihren Schöpfer zu vergessen im Begriffe sind, weil sie ihre Gegenstände ohne eine persönliche Willkür oder eine bestimmte Manier der Darstellung in höchster Vollendung so zeigen, wie sie sich selbst ihrem inneren Wesen nach darstellen müssen, wenn dieses zur reinsten Offenbarung kommen soll.

  Hermann Grimm charakterisiert in seinem "Leben Raphaels" diesen (S218) Unterschied folgendermaßen: "Raphaels Werke bedürfen des Hinzutretens seiner Person nicht. Sie sind sofort verständlich. Er will nichts. Er schafft absichtslos wie die Natur. Eine Rose ist eine Rose: nichts mehr und nichts weniger; Nachtigallengesang ist Nachtigallengesang; keine Geheimnisse sind da noch weiter zu ergründen. So auch sind Raphaels Werke frei von persönlicher Zutat und ohne Anspruch auf Dank. Ein gewisser Glanz, der über ihnen liegt, läßt uns aussprechen: Raphael hat das gemalt!

   Niemals werden wir so unbefangen und aus voller Seele ein Werk Michelangelos genießen. Immer wird eine leise Stimme aus ihnen zu uns sagen: ich bin das Werk des Michelangelo, nur durch seine Person geht der Weg zum letzten Verständnisse. Niemand wird jemals die stille Mahnung an die Person des schaffenden Meisters vergessen, der in Michelangelos Pietà den toten Christus im Schoße der Mutter sieht. Aber nicht Christus und seine Mutter allein, sondern Michelangelo unsichtbar mit ihnen ist dargestellt. Sein Geist zugleich spricht zu uns aus diesem Marmor. Und sein Geist als der eines besonderen Menschen , der unter eigenen trüben, schweren Gedanken dies Abbild höchster Trauer mit Meißelschlägen dem Marmor entlockte.

   Bei Raphael fehlt auch den erschütterndsten Dingen alle persönliche Besonderheit, als seien eigene Erlebnisse des Künstlers hineingearbeitet worden. Seine Persönlichkeit drängt sich nirgends vor. Wie übermächtig steht Michelangelo in der florentinischen Geschichte da: Raphael scheint gar nicht zu denen zu gehören, die das Durchschnittliche des italienischen Nationalcharakters überragen, sondern er steht gerade wie eine Personifizierung dieses Durchschnittscharakters da. Er hat etwas entzückend Mittelmäßiges, Gewöhnliches. Als könne jeder so wein wie er. Er steht jedem nah, ist jedermanns Freund und Bruder: keiner fühlt sich geringer neben ihm."

   Hierin kommt wieder jenes Sigma des Kollektiv-Geistigen, aber nun eben in der verwandelten, ganz vermenschlichten Form, zum Vorschein, das dieser Individualität schon in ihren früheren Erdenleben den Stempel gab, - und dem nun dasjenige des Individuell-Seelischen in Michelangelo so markant gegenübersteht. Aber dieser Gegensatz geht noch tiefer. Wie im vorchristlichen Hebräertum als der Repräsentant dieses Individuell-Seelischen die gewaltige Gestalt des Moses dastand, dessen Blick in die Vergangenheit zurück auf Weltschöpfung, Menschenursprung und Sündenfall gerichtet war, die er in seiner Genesis beschrieb, so steht an der Wende zur neueren Zeit Michelangelo (ohne daß hiermit nun auch in bezug auf seine Individualität ein Reinkarnationszusammenhange behauptet werden soll) gleichsam als eine Mosesgestalt da, die in den Deckengemälden der Sixtina die Bilder der Genesis zu einer malerischen Verkörperung bringt, die an Größe und Eindruckskraft in der Geschichte der Kunst ihresgleichen nicht hat, und in seiner Mosesplastik das charakteristischeste Monument seiner eigenen titanenhaften Persönlichkeit (S219) schafft. Und wie damals der Mosesgestalt diejenige des Elias gegenübergestanden hat als Vertreter der hebräischen Volksgeistigkeit, dessen Blick ganz nach vorwärts auf das in der Christuserscheinung gipfelnde Ziel der hebräischen Volksmission gerichtet war, so steht jetzt Raffael als der Künstler da, durch dessen repräsentative Werke das Ganze des christlichen Heilsgeschehens seine umfassendste und gültigste bildnerische Verkündigung erfährt.

   Diese beginnen mit dem Sposalizio, der Verlobung Mariä und Josefs. Sie setzen sich fort in seinen zahlreichen Madonnenbildern, in denen die abendländisch-christliche Madonnendarstellung ihren Gipfelpunkt erreicht, und die selber wiederum kulminieren in der sixtinischen Madonna, in welcher die Herabkunft des Christusgeistes aus himmlischen Höhen zur Erde und damit die Inkarnation eines Geistigen, das in vorchristlicher Zeit noch ein übermenschlich-kollektivgeistiges war, in einer menschlichen Persönlichkeit in dem Kinde auf den Armen der Jungfrau, das sich gleichsam aus der den Himmelshintergrund bevölkernden Engelschar herausgelöst hat, ihre für alle Zeiten gültige Darstellung erfahren hat. Es folgen des weiteren die Fresken in den vatikanischen Stanzen: vorab die Disputa, die den Gesamtinhalt des christlichen Glaubens in einem einzigen Bilde zusammenfaßt, und die Schule von Athen, welche (nach der von Hermann Grimm begründeten Auffassung) die Verkündigung des Evangeliums an das Griechentum durch Paulus zur Darstellung bringt, des ferneren die Kartons zu den Gobelins, welche die wichtigsten Szenen der Apostelgeschichte wiedergeben, - und zuletzt die Verklärung mit der Erscheinung Christi inmitten der Gestalten des Moses und Elias, welche zu Häuptern von Raffaels Todeslager gestanden haben soll, und mit welcher sein Schaffen den krönenden und zugleich signifikantesten Abschluß findet. Von der Christusgestalt dieses Bildes sagt Hermann Grimm (a.a.O.): "Jener Christus, dessen Schöpfer Tizian mit seinen Venezianern war, ist nur noch der Christus der romanischen Nationen gewesen, wie sie nach der Scheidung der Kirchen seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts den Germanen gegenüberstanden: der Christus der Transfiguration Raphaels dagegen ist noch der Christus der vereinigten europäischer Völker, die alle zu Raphaels Zeiten, als Luther eben erst zu wirken begann, im großen Einklange ihrer Sehnsucht von einer 'Reform der Kirche' ihr gemeinsames Heil erwarteten: Raphaels letzte Arbeit."

   Damit ist auf ein noch Tieferes hingedeutet. Das Streben nach einer Kirchenreformation, das jene Zeitenwende erfüllte, zielte ja anfänglich und eigentlich auf die Wiederherstellung des Christentums in seiner ursprünglichen und echten Gestalt, - seine Wiederherstellung gegenüber den Verfälschungen und Abirrungen, denen es durch die Verweltlichung und die politischen Machtaspirationen der auf den Felsen Petri gegründeten römischen Kirche verfallen war. In dieser seiner wahren Gestalt hätte es nur erfaßt werden können, (S220) wenn das Verständnis desselben nicht auf den Grundlagen der Tradition und Sukzession, auf denen die römisch-petrinische Kirche ruhte, sondern über die Zeiten hinweg neu aus dem Geiste geschöpft worden wäre, wie es zum erstenmal gefunden worden war von Paulus, der nicht zu den Jüngern des auf Erden wandelnden Christus gehört hatte, durch seine Schau des lebendigen Auferstandenen bei Damaskus. Die Erneuerung des Christentums, die damals fällig geworden war, hätte eine solche im wahren Sinne nur werden können, wenn zugleich im Sinne einer Fortentwicklung desselben zu seiner petrinischen Gestalt die paulinische in dem soeben gekennzeichneten Sinne hinzugefügt worden wäre. "Die Darstellung des Paulus", so sagt Herman Grimm (a.a.O.), "ist eine der dauernden Lebensaufgaben Raphaels gewesen." Er hat mit dieser Aufgabe immer von neuem gerungen. Wir finden die Gestalt des Paulus auf dem Tafelgemälde der heiligen Cäcilie, in der Schule von Athen, dem neben der Disputa repräsentativsten Bilde der Camera della Segnatura, zuletzt in eindrucksvollster Darstellung seines verkündenden Wirkens auf dem Carton seiner "Predigt in Athen". Lag etwas von der geistigen Mission Raffaels auch in der Verkündigung eines paulinischen Christentums, d.h. eine aus dem Übersinnlichen geschöpften Christusverständnisses? Dann hätte sie doch in einem tiefen Zusammenhange gestanden mit dem, was als Sehnsucht nach einer religiösen Reformation durch die damalige Zeit ging. Und dann hätte Raffael innerhalb der Entwicklung des Christentums sich mit einem ähnlichen Auftrag in einer ähnlichen Situation befunden, wie innerhalb der althebräischen Entwicklung Elias zu den Zeiten Ahabs, der den Bund mit Jahwe gebrochen und sich fremden Göttern zugewandt hatte.

   Damit aber tritt noch ein Anderes hervor. Wenn Raffael am päpstlichen Hofe wirkte, der damals im höchsten Grade der Verweltlichung und dem rein politischen Machtstreben verfallen war, und an dem, im Rom der Renaissance, die Welt des griechischen Heidentums wiederauflebte, so entspann sich zwischen ihm und dessen Treiben zwar kein Kampf mehr, der ihm - wie einst Elias-Naboth und Johannes dem Täufer - das Leben kostete, aber es wirkte doch auch von daher eine Gegenmacht seinem Schaffen entgegen, die seine künstlerischen Absichten, gerade insofern sie darauf hinzielten, die Wirkenskraft der sich offenbarenden geistigen Welt zur Darstellung zu bringen, durchkreuzte und ihn zu Glorifizierung der päpstlichen Erdenmacht zwang. Von der Stanza d'Eliodoro schreibt Hermann Grimm (a.a.O.): "Dem allgemeinen Urteile nach hatte Raphael an den beiden großen Wänden des zweiten vatikanischen Zimmers als Maler nur geringen Anteil. Die Kompositionen der beiden Vertreibungen sind durch die nachträglichen Änderungen, zu denen der Wille Giulios II. und nach ihm Leos X. ihn nötigten, in solchem Maße aus dem Gleichgewicht gebracht worden, daß es natürlich erscheint, wenn Raphael die Ausführung seinen Mitarbeitern überließ. Bei dem ersten (S221) Entwurfe der Vertreibung des Heliodor erblicken wir vorn links die von dem Raube ihrer Habseligkeiten wie von der Erscheinung der rächenden Engel gleich erschütterte Masse der Witwen und Waisen; rechts den zu Boden stürzenden Heliodor; zwischen beiden Gruppen im Hintergrund den betenden Priester... Durch den in äußerst realer Auffassung gegebenen Einzug des Papstes vorn links wurde der ganzen Komposition Harmonie und Gleichgewicht genommen, und nur dem außerordentlichen Talente Raphaels konnte es gelingen, sie trotz allem als Ganzes zusammenzuhalten. Er erleichterte sich die Aufgabe, den Papst auf das Gemälde zu bringen, hier dadurch, daß er Giulio und seiner Umgebung den Anschein unbeteiligter Zuschauer gab. Auf der Vertreibung Attilas dagegen mußte Leo X. mit seinem Gefolge in die Aktion nachträglich als handelnde Person hineinverflochten werden. Der erste Entwurf besitzt die Figuren noch, die später fortgelassen wurden, um Platz für den Papst zu gewinnen. Dargestellt war, wie dem mit seinem Heere auf Rom losziehenden Attila die aus den Gewölken herunterstürmenden Apostel Paulus und Petrus Halt gebieten. Ihr Eingreifen wirkt donnerschlagmäßig auf die Armee wie die Erscheinung Christi bei Saulus auf dem Wege nach Damaskus. Von links sehen wir eine Anzahl Soldaten, die in Verwirrung dahin und dorthin gewandt, nach der Ursache des Schreckens suchen, der sie plötzlich überkommt, während die Pferde der Reiter sich in Karriere setzen. An Stelle dieser höchst gewegten Gruppe zeigt das Gemälde den mit erhobener Hand ruhig heranreitenden Leo X.; den sein Gefolge ebenso ruhig umgibt. Die Hauptsache ist damit fortgeschnitten und der Rest undeutlich geworden. Denn wenn der Papste den heranreitenden Attila zurückweist, so brauchen es die vom Himmel herabkommenden Apostel nun nicht zu tun, von denen allein anfangs aller Schrecken ausgehen sollte. Und so ist auch bei der späteren Fassung weniger begreiflich, warum das ganze Herr plötzlich von Furcht ergriffen wird. Die von Raphael zugesetzten Teile schädigten die Komposition da, wo ihr entscheidender Wert lag. Je mehr Raphael an Erfahrung gewann, umso mehr mußte er gewahren, daß historische Begebenheiten, um verständlich zu sein, nicht einfach genug vorgeführt werden können, und nun wurde ihm von Leo zugemutet, auf Darstellungen, in denen er bedeutende Effekte vorbereitet hatte, nicht nur Unentbehrliches fortzulassen, sondern sie mit Zusätzen zu gleichgültigen Repräsentationsstücken herabzudrücken." Und etwas später: "Ihm mußte, wenn der das Dauernde seiner Tätigkeit abwog, aufsteigen, wie seine Kunst im Dienste des Hofes zu gleichgültigen Dingen fort und fort verbraucht wurde und wie der Einspruch der Gewalten, um deren Gunst er... immer von neuem zu kämpfen hatte, ihm seine Werke in der Entstehung entstellte, da er zusetzen und fortlassen mußte, je nachdem die Laune der Herren sich wandte. Weder Lionardo noch Michelangelo würden da nachgegeben haben."

(S222)    Freilich lag hier bei Raffael noch etwas Besonderes vor. Indem diese Individualität in ihrem damaligen Leben die Erfahrungen und Taten ihres vormaligen Erdendaseins aus der Region des Willens in diejenige des Gefühls und damit der im Elemente der Schönheit webenden künstlerischen Gestaltung heraufhob, mußte sie unvermeidlich der Welt des Griechentums und der griechischen Kunst begegnen und sich mit dieser durchdringen. Und so ist für sie, die durch mehrere Inkarnationen ausschließlich mit dem Judentum verbunden gewesen war, das Raffael-Leben innerlich zum Prozesse ihre Verbindung mit dem griechischen Kultur- und Kunstimpuls geworden. Diese Verbindung konnte sie aber in der Art, wie sie ihrer bedurfte, nur dadurch erlangen, daß ihr Schicksal sie in die italienische Renaissancebewegung hineinstellte, in der die griechische Welt damals wiederauflebte. Wir können diesen Prozeß ihres stufenweisen Hineinwachsens in den Geist der griechischen Kunst verfolgen von seinen Anfängen in Florenz bis zu seinem Höhepunkt in der Zeit, da Raffael in Rom vom Papst zum obersten Aufseher über die Ausgrabungsarbeiten in der Ewigen Stadt ernannt wurde. Und so lag in seiner Verbindung mit dem päpstlichen Hof, durch dessen künstlerische Aufträge er in einem Maße, wie es sonst auf keine Weise möglich gewesen wäre, auf die antike Kunstwelt hingewiesen wurde, doch auch ein positives, seine Entwicklung weiterführendes Moment seines Schicksals.

   Was aber zuletzt das Element des "Lebensbaumes" betrifft, dessen paradigmatischer Repräsentant diese Individualität in ihren früheren Inkarnationen gewesen war, so erscheint es im Leben Raffaels in verwandelter Gestalt wieder in dem Umstand, daß dieser Künstler fast nur die erste, aufsteigende Hälfte des menschlichen Lebens auf Erden geweilt und in alle seine Werke in solchem Maße die Kräfte des sprießenden, sprossenden Lebens der Jugendlichkeit hineingegossen hat, daß dieses Leben als ein unverwelkliches sic jedem ihrer Betrachter auferbauend, harmonisierend, gesundend mitteilt. Charakteristisch ist auch, daß er vornehmlich gemalt hat, was mit der Inkarnation, Geburt und Kindheit Jesu zusammenhängt, während er die Passion Christi, an der er ja auch im früheren Leben nicht im Leibe teilgenommen hatte, niemals, die Kreuzigung nur ein einziges Mal in einem Bilde, das zu seinen schwächeren gehört, und einmal die Grablegung dargestellt hat. Und als bezeichnend für das über seinen Tod hinaus fortwirkende Leben, das von seinen Werken ausströmt, darf in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, daß der feinsinnige Herman Grimm, der für Imponderabilien eine so außerordentliche Sensibilität hatte, seinem "Leben Raphaels" als umfangreiches Schlußkapitel dasjenige über "Raphaels Ruhm in vier Jahrhunderten" eingefügt hat, in welchem er das Fortwirken Raffaels in der Geistesgeschichte der verschiedenen europäischen Völker und in allen Jahrhunderten bis zur (S223) Gegenwart darstellte, wie wenn dieses Fortwirken mit einen Bestandteil von Raffaels Leben selbst bildete.

   Und wie als eine letzte Bestätigung all des im Vorangehenden über Raffael Ausgeführten darf betrachtet werden - worauf Rudolf Steiner des öfteren hingewiesen hat -, daß Herman Grimm das "Leben Raphaels", das sein eigentliches Lebenswerk darstellt, dreimal in vollkommen verschiedener Fassung geschrieben hat und dennoch der Aufgabe, welche dieses Unternehmen stellt, nicht völlig glaubte Genüge getan zu haben, - im Gegensatz zu seinem "Leben Michelangelos", das er zu einem abgerundeten Meisterwerk biographischer Darstellung hatte gestalten können. Die erste Auflage seines "Raphael" bestand in einer bloßen Übersetzung und umfangreichen Kommentierung der Raffael-Biographie Vasaris, war jedoch nur als erster Teil des von ihm geplanten Gesamtwerkes über Raffael gedacht. Ein zweiter Teil erschien aber nicht. Die zweite Auflage war eine Wiederholung der ersten, aber nun als abgeschlossenes Werk. In der dritten Auflage gab Herman Grimm eine eigene Biographie Raffaels, aber lediglich in Gestalt einer Besprechung von dessen Hauptwerken. Nicht also die Lebensbeschreibung seiner irdischen Persönlichkeit, sondern gleichsam die Biographie des in seinen Werken sich offenbarenden überpersönlichen Geistes einschließlich seines Fortwirkens durch vier Jahrhunderte. Und in seinem höchsten Alter unternahm Herman Grimm noch einen vierten Versuch einer Lebensdarstellung Raffaels. Von ihr wurde aber nurmehr die Einleitung fertig, die dann unter dem Titel "Raphael als Weltmacht" erschienen ist. Herman Grimm war, obwohl der sonst nicht den Reinkarnationsgedanken vertrat, in solchem Maße von der Empfindung durchdrungen, daß der Geist, der in Raffael verkörpert war, in dessen Lebensarbeit sein Wirken nicht erschöpft habe, sondern durch die ganze Weltgeschichte fort- und weiterwirke, daß er in diesem Aufsatz Sätze wie die folgenden niederschrieb: "Der gewaltige Michelangelo, als er todalt sich niederlegte, hatte sein Lebenswerk voll hinter sich. Er würde keinen Raum finden, es zu wiederholen, und nach seiner Gruft zurückverlangen; Raphael aber wird eine endlose Jugend zur Begleiterin haben, solange seine Werke dauern... Michelangelo nimmt seine Stelle im Fortschritte der florentinisch-römischen Kunst zwischen Donatello und Bernini und Rubens, dem vaterlandslosen Hofmaler des Adels im 17. Jahrhundert, ein. Raphael dagegen gehört in kein besonderes Jahrhundert. Er hat weder Vorgänger noch Nachfolger gehabt. Raphael ist ein Bürger der Weltgeschichte. Wie einer von den vier Flüssen ist er, die dem Glauben der alten Welt nach aus dem Paradiese kamen..." Und an späterer Stelle: "Würde Michelangelo durch ein Wunder von den Toten fortgerufen, um unter uns wieder zu leben, und begegnete ich ihm, so würde ich ehrfurchtsvoll zur Seite treten, damit er vorüberginge; käme mir Raphael aber in den Weg, so würde ich hinter ihm hergehen, ob (S224) ich nicht Gelegenheit hätte, ein paar Worte aus seinen Lippen zu vernehmen. Bei Lionardo und Michelangelo kann man sich darauf beschränken, zu erzählen, was sie in ihren Tagen einst gewesen sind: bei Raphael muß von dem ausgegangen werden, was er uns heute ist. Über jene anderen hat sich ein leiser Schleier gelegt, über Raphael nicht. Er gehört zu denen, deren Wachstum noch lange nicht zu Ende ist. Es sind immer wieder zukünftig lebende Geschlechter von Menschen denkbar, denen Raphael neue Rätsel aufgeben wird..."


VI.

   Wo und wann hat diese Individualität ein neues Erdenleben betreten? In welcher Metamorphose hat sich ihr Wirken in einer neuen Verkörperung fortgesetzt? Mußte sie nach so tief eingreifenden Erlebnissen und gewaltigen Schaffensleistungen, wie sie ihre vorangehenden Lebensläufe ausgefüllt hatten, bei ihrem Wiedererscheinen auf Erden sich nicht wie überbeladen zeigen mit den Erbschaften einer so großen Vergangenheit? Und mußte sie, falls sie bereits wiederschienen ist, in ihrem neuen Leben nicht im besonderen von dem mächtigen Fortwirken von Raffaels Lebenswerk wie erdrückt oder wenigstens überschattet erscheinen?

   Wir finden sie - nach den Ergebnissen der Geisteswissenschaft - in der Tat bereits nach verhältnismäßig kurzer Zeit schon wiederverkörpert: in Deutschland, inmitten einer geistigen und geschichtlichen Umwelt, deren Bestrebungen allerdings eine Geistesatmosphäre bilden konnten, in welcher sich das, was sie als Geisteserbe und Wirkensauftrag in sich trug, weiter zu entfalten, und in deren Leistungen sich die ihrigen als in ein ihnen geistverwandtes umfassenderes Ganzes hineinzustellen vermochten. Es ist die Zeit der Hochblüte des klassischen deutschen Geisteslebens, - um sie nach ihrer geistigen Mittelpunktsgestalt zu nennen - : das Zeitalter Goethes. Als eine seiner wundersamsten Gestalten erscheint die hier in Rede stehende Individualität wieder in Friedrich von Hardenberg, der unter dem Dichternamen Novalis in die Geschichte der deutschen Dichtung eingegangen ist. Was mochte sie dazu bestimmen, in dieser geistigen Umgebung ihre neue Verkörperung zu suchen? Und inwiefern konnte sie in deren Vertretern eine Geistesverwandtschaft und Strebensgemeinschaft finden?

   In dieser Blütezeit des deutschen Geisteslebens - die ja auch als die Epoche des Neuhumanismus bezeichnet zu werden pflegt - erfahren die Geistesbestrebungen der italienischen Renaissance und des Humanismus der Reformationszeit ihre bedeutendste Fortsetzung und Weiterentwicklung. Das umfassendste Symbol dieses Zusammenhanges bildet die Tatsache, daß, und die (S225) Art und Weise, wie die die Impulse jener Zeitenwende zum Ausdruck bringende Faustsage in der größten Schöpfung des Zeitalters der deutschen Klassik: in Goethe Faustdichtung aufgegriffen, neugestaltet und fortgebildet worden ist. Diese Weiterführung erfolgt nicht nur in dem Sinne, daß die Verwirklichung echten, allseitigen und in sich harmonisierten Menschentums - wahrer Humanität - wiederum zum höchsten, bestimmenden Lebensideal wird. Sondern auch in der Weise, daß die Erreichung dieses Zieles abermals gesucht wird auf dem Wege einer Wiedergeburt des griechischen Geistes. Allerdings erfolgt die letztere hier in einer charakteristischen Verschiedenheit von derjenigen, die in der italienischen Renaissance stattfand. Während sie dort, im Herzgebiet des ehemaligen römischen Reiches, unter dem südlichen Himmel, in unmittelbarer Anknüpfung an die Vergangenheit zustandekommt, die in ihren erhaltenen Überresten teils noch fortlebt, teils mit den damals einsetzenden Ausgrabungen buchstäblich aus ihrem Grabe aufersteht, tritt sie in dem germanischen Deutschland über den Abgrund der Jahrtausendwende hinweg aus dem Innersten der menschlichen Individualitäten, die ihre Träger werden, gleichsam wie in einer Wiederverkörperung griechischen Wesens von neuem ans Licht. Wenn Schiller in seinem berühmten Geburtstagsbrief an Goethe vom Jahre 1794 schreibt, daß dieser als ein griechischer Geist in die nordische Schöpfung geworfen worden sei und keine andere Wahl gehabt habe, als von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenlqnd zu gebären, so ist damit das Grundmotiv dieser Wiedergeburt des Griechentums angeschlagen. Durch diese Art der "Reinkarnation" war es auch bedingt, daß in dieser seiner Wiedererscheinung das Griechentum den Schwerpunkt seines Schaffens nicht mehr wie einstmals - und auch noch in der italienischen Renaissance - im Gebiete der bildenden, sondern in demjenigen der redenden und der musikalischen Kunst hatte. Vor allem aber lag in diesem Umstand der Grund, warum im Kreise der Träger dieses also wiedererstandenen Griechentums von Anfang an der Gedanke der Metempsychose, der Reinkarnation wie mit Selbstverständlichkeit auftauchte. Schon bei Lessing, sodann bei Goethe, Schiller, Herder u.a. tritt er uns in verschiedenster Art: als Ahnung, Frage, Überzeugung entgegen.

   Diese Tatsache mit allerdings zugleich noch in einem anderen Umstand begründet. Gemäß dem Fortgang, den die Menschheitswentwicklung seit dem 15. Jahrhundert genommen hatte, erlangt der Begriff der menschlichen Individualität hier eine gegenüber dem einstigen Griechentum und auch der Renaissance wesentlich vertiefte und damit zugleich erhöhte Bedeutung. Diese erscheint nun als der eigentliche Repräsentant des Menschlichen schlechthin. In diesem Sinne tritt zu ihrem Indivualitätscharakter derjenige ihrer menschheitlichen Universalität, als gleichwesentlich jetzt ergänzend hinzu. Einen besonderen Ausdruck findet dieser Tatbestand auf philosophischem (S226) Gebiete in der Art, wie zunächst durch Fichte das menschliche Ich in der Selbsterfassung des Denkaktes, d.h. in der "intellektuellen Anschauung" als nicht bloßes Subjekt, sondern als Subjekt-Objekt, als das Absolute, sodann durch Schelling als die Identität des Realen und Idealen, als der Punkt der Indifferenz zwischen Natur und Geist, und schließlich durch Hegel als absoluter Geist, d.h. als die höchste Erscheinungsform des Geistes schlechthin erfaßt wird. Von diesem Durchbruch zum universellen Geiste her, der im Ich sich offenbart, wagt Schelling in seiner Naturphilosophie den Einbruck in das dem menschlichen Bewußtsein bisher verschlossene Innere der Natur und enthüllt dieses als unbewußt schaffenden Geist. In anderer Weise, nicht von der Philosophie herkommend, sondern vermöge einer einzigartigen Naturverbundenheit, die ihn den Kern der Natur im Herzen der Menschen wesend fühlen und ihre Erscheinungen mit "Geistesaugen" durchdringen läßt, enthüllt Goethe in ihrer wissenschaftlichen Erforschung (Metamorphosen- und Farbenlehre) die Gesetze ihres bildend-gestaltenden Lebens. Und Hegel endlich stellt von seiner Philosophie des Geistes her den Gang der Menschheitsgeschichte als den dialektisch verlaufenden Aufstieg vom unbewußten über den bewußten zum selbstbewußten Geiste und damit zum Bewußtsein der Freiheit dar.

   Durch all das wird dieses klassische deutsche Geistesleben zum mächtigsten Kämpfer gegen die materialistisch-mechanistische Welt-Auffassung und agnostische Wissenschaftsgesinnung, die sich von Westeuropa her seit dem 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der modernen Naturwissenschaft über die neuere Menschheit verbreitet hatte. In Goethes Auseinandersetzung mit Newton kommt dieser Kampf zu seiner urphänomenalen Erscheinung. In der englisch-französischen Aufklärung war diese materialistisch-mechanistische Weltauffassung vom Gebiete der Naturerforschung (und der beginnenden technischen Naturbeherrschung) auf das Feld des politisch-sozialen und des religiös-moralischen und geschichtlichen Lebens vorgedrungen. Sie hatte schon im aufgeklärten Absolutismus, vollends aber in der Französischen Revolution die alte, instinktiv gewachsene Ständeordnung zershlagen und an ihre Stelle den "Leviathan" des modernen Staates mit seiner alle Lebensgebiete in sich aufsaugenden bürokratischen Verwaltungsmaschinerie gesetzt. Und sie hatte auf dem Felde der Religion die geoffenbarte des Christentums durch die natürliche bzw. Vernunftreligion ersetzt, die sich schließlich in der Französischen Revolution in aller Form als Kultus der Vernunft etablierte. Und an die Stelle des durch Sündenfall und Erlösung hindurchschreitenden Ganges der Geschichte trat für ihre Auffassung der Aufstieg der Menschheit von tierhafter Primitivität zu immer höherer Perfektion ihrer Kultur.

   In Deutschland wurde zum einflußreichsten Vertreter dieser materialistisch-naturwissenschaftlichen und religiös-politisch-aufklärerischen Strömung in (S227) der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Immanuel Kant. An der Auseinandersetzung mit ihm, im Streben nach Überwindung seiner Lehren entzündeten sich zum großen Teil die Bestrebungen des klassischen deutschen Geisteslebens. Seine agnostische Erkenntnislehre suchte Hegel zu überwinden, indem er der transzendentalen Dialektik Kants seine dialektische Logik entgegensetzte. Seiner mechanistischen Naturauffassung stellte Schelling die organische seiner Naturphilosophie entgegen, Goethe unternahm in der Darstellung der "Urpflanze" als des Archetypus der Pflanzenbildung, was Kant als ein "Abenteuer der Vernunft" perhorresziert hatte. Auf dem Gebiete des Moralischen strebten ihn Fichte und Schiller zu überwinden, - Fichte, indem er an Stelle des kantischen "Du sollst" der Pflicht das "Ich will" des in Liebe zum Guten erglühenden Ichs setzte, - Schiller, indem er entgegen dem von Kant behaupteten unauflöslichen Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung die mögliche Harmonisierung derselben in dem zur schönen Seele sich bildenden Menschen lehrte. Damit überwand Schiller zugleich Kants bloß negative Bestimmung des Schönen durch die positive der Verschmelzung des Geistigen und des Sinnlichen, der Idee und der Erscheinung, die wir in der Betätigung des künstlerischen Spieltriebs vollbringen. Und indem er in dieser Verschmelzung das wahre Wesen der Freiheit aufwies, konnte er das Schöne nicht nur als das Morgentor kennzeichnen, durch das in das Land der Erkenntnis eingedrungen, sondern auch als die Eingangspforte, durch die allein die Welt des Guten betreten werden kann.

   Die tiefere Wurzel aller dieser Bestrebungen nach der Überwindung Kants lag aber darin, daß alle diese Persönlichkeiten der menschlichen Individualität den Charakter des Geistigen bzw. dem Geiste die Möglichkeit der Individualisierung, der Menschwerdung zusprachen in einer Weise, wie Kant dies nicht vermochte. Wohl erkannte auch dieser dem Menschen neben seinem empirischen ein intelligibles Ich zu. Aber das letztere hatte für ihn doch nicht den Charakter eines wirklich Individuellen, sondern noch den eines Kollektiv-Allgmeinen. Es schwebt unverschmelzbar mit dem empirischen Ich über diesem, nur sich ihm kundgebend in der Stimme des Gewissens, in dem kategorischen Imperativ, der ein Handeln vorschreibt, dessen Maxime zum Inhalt einer allgemeingültigen Gesetzgebung erhoben werden kann. Diesem Imperativ setzt sich aber immer wieder entgegen, was im emprischen Menschen als das "radikal Böse", als die Erbschaft des Sündenfalls wirkt, - und nur im Glauben an eine ihm irgendwie zukommende göttliche Hilfe vermag der Mensch in diesem Widerstreit auszuharren.

   So erscheint Kant mit seiner rigorosen Pflichtmoral innerhalb der neueren Zeit wie ein Erneuerer der alttestamentlichen Gesetzesethik, - gleichsam als eine moderne Mosesgestalt. Und ihm stehen die Vertreter der poetischen und philosophischen Klassik gegenüber wie die Neuverkünder dessen, was durch (S228) die Menschwerdung des Göttlichen in Christus der Menschheit möglich geworden ist als die Versinnlichung des Geistigen, d.h. als die Überwindung des Gesetzes durch die Liebe, und zugleich als die Vergeistigung des Sinnlichen, d.h. als die Erhebung vom Fall in die Sündhaftigkeit, in das Untermenschliche, - mit anderen Worten als die Wiederherstellung der durch jenen Fall zerspaltenen Menschenwesenheit in ihre Einheit, in jene Harmonie zwischen ihren Polen des Geistigen und des Sinnlichen, welche die Freiheit und zugleich die Schönheit der Seele bedeutet. So empfand es wenigstens Schiller, wenn er am 17. August 1795 an Goethe schrieb: "Hält man sich an den eigentlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion." Und Goethe bestätigte das tief Christliche des mit diesen Worten charakterisierten Strebens, mit denen Schiller zugleich den innersten Nerv seines eigenen bezeichnet hatte, in einem Brief an Zelter (1831) mit den Worten: "Eben diese Christustendenz war Schiller eingeboren; er berührte nichts Gemeines, ohne es zu veredeln."

   So vollzieht sich also im Medium des modernen Bewußtseins in der Überwindung Kants durch Schiller, Fichte, Goethe u.a. noch einmal in gewissem Sinne der Übergang vom Alten zum Neuen Testament. Und hierin liegt es begründet, daß innerhalb der Geschichtsbilder aller der Vertreter des deutschen philosophischen und dichterischen Idealimus dem Christusereignis als der Fleischwerdung des Wortes wieder seine alles umwandelnde Mittelpunktsstellung angewiesen wird - im Gegensatz zu den bloß kulturentwicklungsgeschichtlichen Theorien der französischen Aufklärer (Voltaire u.a.). Freilich geschieht dies hier nicht in der Weise, daß damit ein religiöses Glaubensdogma propagiert wird, sondern so, daß, was in früheren Zeiten bloßer Glaubensinhalt war, jetzt für die Erkenntnis zu erobern versucht wird.

   Und damit ist auch schon auf die andere Analogie hingewiesen, in der dieses Geschehen drinnensteht. War doch Kant zugleich auch der eigentliche Philosoph des Protestantismus, gerade insoferne nämlich, als diese, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Aufklärung, in die alttestamentliche Jahwe-Relikion, d.h. in eine bloße Gottvater-Verehrung zurückgesunken war. Indem sich der Protestantismus gegen die Glaubensautorität des auf die petrinische Sukzession begründeten und sich berufenden Papsttums auflehnte und ihr gegenüber die Glaubens- und Gewissensfreiheit postulierte, hätte er - wie weiter oben schon bemerkt - seine eigentlichen Ziele nur erreichen können, wenn er zu dem petrinischen ein wahrhaft paulinisches Christentum hinzugefügt hätte in dem Sinne, daß zu den Prinzipien der äußeren Tradition und Sukzession (S229) dasjenige des aus innerer Erleuchtung, aus geistiger Schau geschöpften Christusverständnisses hinzuerrungen worden wäre. Weil er dagegen - sofern er nicht bloßen Glauben predigte, sondern Erkenntnis und Verständnis suchte - im Elemente bloßer Intellektualität steckengeblieben war, darum mündete gerade der Protestantismus in die bloße, im Grunde vorchristliche Vernunftreligion aus. Eine zweite Reformation war jetzt fällig geworden, die, wie die erste gegen die in Erstarrung geratene petrinische Form des Christentums sich erhoben hatte, nun ebenso gegen die im Protestantismus depravierte paulinische Gestalt desselben aufstand und als die dritte die johanneische inaugurierte. Diese konnte aber keine andere sein als eine in fernste Zukunft weisende, prophetisch-apokalyptische, - und in ihr mußte nicht nur der Gegensatz zwischen der pretrinisch-katholischen und der paulinisch-protestantischen Konfession überwunden, sondern darüber hinaus auch der Gegensatz zwischen einer kirchlichen und einer weltlichen Sphäre, und das heißt zugleich zwischen Glauben und Wissen aufgehoben sein in einem Menschentum, das in seine wahre Mitte, in das Gleichgewicht seiner Wesenspole zurückgekehrt ist, bzw. in einer Erkenntnis, die vom Feuer religiösen Erlebens durchglüht ist, und einem Glauben, der sich mit dem Lichte des Erkennens durchklärt hat. So hat Schelling dieses johanneische Christentum in seiner "Philosophie der Offenbarung", die ihm mit zur Geburt verhelfen sollte, am Schlusse gekennzeichnet als "das Christentum, das Gegenstand allgemeiner Erkenntnis geworden, wo es nicht mehr das enge, verschrobene, verkümmerte, verdürftigte der bisherigen dogmatischen Schulen, noch weniger das in armselige, das Licht scheuende Formeln notdürftig eingeschlossene, ebensowenig das zu einem Privatchristentum zugeschnitzelte sein wird, sondern erst wahrhaft öffentlich Religion - nicht als Staatsreligion, nicht als Hochkirche, sondern als Religion des Menschengeschlechts, das in ihm zugleich die höchste Wissenschaft besitzt." So hatte aber schon Fichte in seiner späteren Zeit seine Religionsphilosophie in Anknüpfung an das Johannesevangelium als johanneisches Christentum zur Darstellung gebracht und verstanden wissen wollen. Und in der Tat hatte die deutsche Klassik im Ganzen den Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus völlig überwunden und ein Christentum zu verwirklichen begonnen, das auch keinen Unterschied zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre mehr kannte.

   Es liegt auf der Hand, daß all das, was so als Grundmotive des Geistesstrebens der Goethezeit angedeutet worden ist, eine Welt darstellte, in welcher sich die von uns betrachtete Individualität, indem sie in diese eintauchte, mit der ihr eigenen geschichtlichen Mission wie in die ihr entsprechende Umgebung eingebettet empfinden konnte, - und daß die geschichtliche Lage, in der sich diese Geistesströmung befand, mancherlei Analogien aufwies zu geschichtlichen Situationen, in denen sie in früheren Verkörperungen tätig drinnengestanden (S230) hatte. Allerdings bringt sie in diese ihre neue Umwelt doch Voraussetzungen ganz singulärer Art mit (Siehe zur nachfolgenden Darstellung auch die Schrift "Novalis in anthroposophischer Betrachtung" von Monica v. Miltitz - Stuttgart 1954).

   Wir sehen zwar zunächst, wie - gemäß dem Fortgang der menschlichen Bewußtseinsentwicklung und im Einklang damit, daß der Schwerpunkt des deutschen Geisteslebens, in das sie eintritt, auf den Gebieten der Poesie, der Philoslphie und der Naturforschung liegt - die Frucht der Erlebnisse und Taten ihrer alten, großen Vergangenheit innerhalb der Schichtenfolge ihres Seelenlebens beim Übergang zu ihrer neuen Verkörperung abermals um eine Stufe weiter in der Richtung nach der Bewußtheit zu heraufsteigt: aus dem Elemente des malerisch-bildnerischen in dasjenige des dichterisch-worthaften Gestaltens und der philosophisch-wissenschaftlichen Gedankenbildung. Hierbei gibt das in ihren innersten Wesenstiefen wurzelnde Propheten- und Heroldtum in seiner jetzigen Metamorphose ihrer philosophischen Gedankenbildung das Gepräge der Verkündigung eine höheren, geistig-übersinnlichen Schau, ihrem dichterischen Schaffen den Charakter des Sehertums und ihrer Handhabung des Wortes im besonderen die Magie einer wundersamen Musikalität; und zugleich lebt das Malertum der Raffael-Inkarnation in ihrer dichterischen Gestaltungsweise verwandelt fort in dem Momente des Malerisch-Imaginativen, das sie zum in Worten malenden Erzähler von Märchen, Mythen und Gesichten werden läßt. Sie zeigt sich also begabt mit einem Übereichtum an Fähigkeiten, die sie als Erbschaft aus ihren früheren Lebensläufen mitbringt.

   Auf der anderen Seite aber bedingt gerade das höhere Maß von Bewußtsein, in welches dieses ganze Erbe jetzt heraufgehoben erscheint, doch zugleich ein zunächst stärkeres Gebundensein ihrer Seele an die Leiblichkeit, und daraus resultiert die Notwendigkeit einer intensiveren Auseinandersetzung mit dieser, um ihr jene inner Selbständigkeit ihr gegenüber abzuringen, welche den Durchbruch aller dieser Gaben allererst möglich macht. Daher zeigt diese Inkarnation nicht jene elementarische, gleichsam selbstverständliche und kampflose, von Stufe zu Stufe erblühende Entfaltung ihres Genius bis zur reichsten und vollkommensten Auswirkung desselben wie in der Raffael-Inkarnation, sondern ein langsames, durch Krankheiten, Entwicklungskrisen und tief eingreifende Schicksalserlebnisse erst ausgelöstes Durchbrechen ihre innersten Wesens, das - wie Friedrich Hiebel in seinem hervorragenden Buche "Novalis, der Dichter der blauen Blume" (Bern 1951) es charakterisiert - seiner Gesamtentwicklung das Merkmal einerseits einer "eigentümlichen Spätreife", andererseits einer plötzlichen, einzigartigen "Frühvollendung" aufdrückt. Während bis in sein 23. Lebensjahr "in Hardenberg nichts den (S231) Stempel des Genies verriet", bricht um sein 26. herum seine geistige Persönlichkeit mit so gewaltiger Macht und in solcher Fülle der Ideen und dichterischen Inspirationen hervor, daß sein Gesamtwerk in der kurzen Zeit seiner drei letzten Lebensjahre - in seinem 29. verließ er die Erde bereits wieder - entstanden ist. Trotzdem ist es aber im Ganzen gesehen durchaus Fragment geblieben, bei seinen Lebzeiten nur zum allergeringsten Teile durch Veröffentlichung bekannt geworden, und hat erst nach seinem Tode, und zwar erst im Verlauf von mehr als einem Jahrhundert, als eine Geistessaat allerdings von ungeheurer Samenkraft im Bewußtsein der modernen Menschheit aufzugehen begonnen.

   Zum ersten Weckruf wurde für seinen Geist die mächtige Wirkung, welche die Persönlichkeit Schillers auf ihn ausübte, den er bei seinem Studium in Jena - als damaligen Professor der Geschichte - zu seinem Lehrer gewählt hatte und später zu seinem älteren Freunde gewann. Der flammende Enthusiasmus für die höchsten menschlichen Ideale, der Schillers Wirken als Geschichtsdarsteller und Dichter durchglühte, übertrug sich in solchem Maße auf Novalis, daß dieser einen Brief, den er nach der Lektüre des "Don Carlos" an Schiller schrieb, und in dem er diesem unverbrüchliche Treue gelobte, mit den Worten schloß: "Ein Fehler ganzer Generationen, auf Unkosten des gemeinen, reinen Menschensinns, der die Entweihung unserer Lieblinge angeht, könnte einen zu dem Feuereifer eines Elias berechtigen, der die Baalspfaffen auf gut jüdisch am Bache Kidron schlachten ließ."

   Die entscheidende Bedeutung aber erlangte für die Form, in der sich die durch diese Individualität repräsentierte Geistigkeit in ihrem nunmehrigen Leben ausprägen mußte, ihr Bekanntwerden mit der Ich-Philosophie Fichtes. Hatte doch in der Art, wie diese den Ich-Begriff entwickelte, der Individualitäts- oder Ich-Charakter des schöpferischen Geistes bzw. die universell-schöpferische Geistwesenheit des Ich den in der neueren Geistesgeschichte wuchtigsten philosophischen Ausdruck gefunden. Es muß einleuchten, daß gerade diejenige Individualität, die in früheren Lebensläufen der paradigmatische Repräsentant der einstmaligen Kollektivgeistigkeit gewesen war, die dann in einem späteren das notwendige "Abnehmen" derselben und das mit der Christuserscheinung beginnende "Wachsen" des individuell gewordenen Geistes erkannt und bejaht hatte, nun, da die Epoche herangekommen war, da in der menschlichen Ichheit das universelle Wesen dieses individuellen Geistes in neuer Form offenbar werden sollte, im Innersten von dieser Aufgabe ergriffen und durchdrungen wurde. Und so schlug denn der Fichtesche Ich-Begriff wie ein Blitz in Novalis' Seele ein. Kurz hernach schon formuliert er den Satz, der sich innerhalb der damals für das Athenäum zusammengestellten Aphorismen "Blütenstaub" findet: "Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein." (S232) Und seine nachgelassenen Fragmente bezeugen, wie gründlich er sich auch in der Folge nach allen Richtungen hin mit der Fichteschen Philosophie auseinandergesetzt hat.

   Jene "höchste Aufgabe" hatte allerdings für Novalis, seiner Wesenheit und ihren schicksalsmäßigen Antezedentien gemäß, noch eine ganz andere, konkretere Bedeutung als für Fichte, der sie als bloßer Philosoph nur im Gedankenelemente ergriff. Und darum mußte in seiner Seele dem Zünden jenes Blitzes die Wolkenballung vorangehen, welche sich durch den schwersten Schicksalsschlag seines Lebens zusammenbraute und sein Dasein zunächst in das schwärzeste Dunkel der Verzweiflung hüllte. Es war der plötzliche Tod der 15jährigen Sophie von Kühn, mit der sich der zehn Jahre ältere Dichter kurz vorher verlobt hatte. Die rätselhafte, sein ganzes Wesen verwandelnde Liebe zu diesem Kinde, von der Novalis bei dessen erstem Anblick ergriffen worden war, mag eine Erklärung finden in einer Bemerkung, die er kurz nach ihrem Tode in einem Briefe äußerte, daß "ein Bild von Raffael die treffendste Ähnlichkeit mit ihr habe". Nicht eine Lehre von der Reinkarnation, sondern die Tatsache derselben, die durch die besondere Wesenheit seines Geistes in einzigartiger Weise darzuleben zu seiner Mission gehörte, brachte es mit sich, daß zu diesem Darleben derselben nun, im Zeitalter der "Bewußtseinsseele", das Heraufdringen dieser Tatsache, soweit sie ihn selbst betraf, in sein eigenes Bewußtsein gehörte und zum entscheidenden Geschehen seines Lebensschicksales sowie zum bestimmenden Grundzug des aus diesem Schicksal fließenden geistigen Schaffens wurde. Es war, als ob im Anblick jenes Mädchens wie durch ein von außen ihm entgegentretendes Spiegelbild aus den Tiefen seiner Seele ein Bild hervorgelockt worden wäre, in welchem, zunächst wie in einem Traumbilde, eine Ahnung seiner eigenen höheren Wesenheit, eine noch unbewußte Erinnerung an deren früheres Dasein aufkeimte. "Wir sind dem Aufwachen nahe, wenn wir träumen, daß wir träumen", heißt es in einem Paralipomenon zu den erwähnten Aphorismen. Und als ihm dieser Anblick, den er deshalb als den teuersten Besitz seines Lebens empfinden mußte, durch den Tod geraubt wurde, da mußte die brennende Entbehrung desselben, der verzehrende Schmerz um seinen Verlust, wie ein Durchgang durch die Unterwlet, ein Erwachen zu einem höheren Bewußtsein in ihm bewirken, das zugleich zum Eintritt desselben in das über Geburt und Tod erhabene Geisterreich wurde und seine ewige, unvergängliche Entelechie zum vollen Durchbruch kommen ließ. So heißt es in der dritten seiner "Hymnen an die Nacht", die, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, wiedergibt, was ihm am Grabe Sophiens kurz nach ihrem Hingange tatsächlich widerfahren war: "Einst, da ich bittere Tränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engem, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg - einsam, wie noch kein (S233) Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben - kraftlos, nur ein Gedanke des Elends noch, - wie ich da nach Hilfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht und am fliehenden, verlöschten Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: - da kam aus blauen Fernen - von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer - und mit einem Male riß das Band der Geburt, des Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr - zusammen floß die Wehmut in eine neue, unergründliche Welt - du, Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels, kamst über mich - die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte mein entbundener, neugeborener Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel - durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In ihren Augen ruhte die Ewigkeit - ich faßte ihre Hände, und die Tränen wurden ein funkelndes, unzerreißbares Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An ihrem Halse weint ich dem neuen Leben entzückende Tränen. - Es war der erste, einzige Traum - und erst seitdem fühl ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte."

   Was durch dieses höhere Erwachen in sein Bewußtsein heraufgedrungen war blieb seitdem gleichsam wie ein leuchtender Stern über dem Himmel desselben stehen, dessen Glänzen all sein weiteres Schaffen in immer wieder neuer Gestalt durchschimmerte. Weil dieses Erwachen einem Todes- und Auferstehungserlebnis entrungen war, durch welches ein bisher im Innern Verborgenes sich zu enthüllen begonnen hatte, darum gestaltete sich für Novalis der Weg zum Erlebnis des Ewigen im Menschen, der Weg zur vollen Menschwerdung, wesentlich zum "geheimnisreichen Weg nach Innen". Und dadurch wurde Novalis zum eigentlichen Inaugurator der Romantik, - nicht im Sinne jener träumerischen Mondscheinschwärmerei, in welchem diese später zumeist verstanden wurde, sondern in jener höchsten Bedeutung, in welcher sie den einen der beiden Wege zum letzten menschlichen Daseinsziele bildet, als deren anderer die Klassik betrachtet werden kann, die damals ihren reinsten Repräsentanten in Goethe hatte. "Romantisieren", so heißt es in einem der Fragmente, "ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt..." Und in einem anderen Fragment bezeichnet Novalis als das eigentliche Wesen des Romantisierens im Hinblick auf Goethes Wilhelm Meister eine "Absolutierung - Universalisierung des individuellen Moments". Die Gemeinsamkeit des Zieles verband die klassische und die romantische Strömung, sie verband Goethe und Novalis. Aber Goethes Weg war der Weg nach außen, in die Welt des Tages, des Lichtes, der plastischen Gestalten. Novalis verehrte in ihm den größten Physiker des Zeitalters, ja den "Liturgen (S234) der neuen Physik, der vollkommen den Dienst im Tempel (wahrer Naturerkenntnis) versteht". Auch er selbst unterzog sich einem umfassenden Studium der Naturwissenschaften: in Physik und Chemie, Geologie und Mineralogie, Physiologie und Medizin eignete es sich die gründlichsten Kenntnisse an. Sein eigentlicher Erkenntnisweg war aber doch auch hierbei der Weg nach innen, in die Welt der Nacht, der Bewegungen des Klanges in Laut und Ton, in Sprache und Musik. Viel tiefer schien ihm dieser Weg auch ins Innere der Natur hineinzuführen, - bis dahin nämlich, wo nicht nur deren Leben, sondern deren Seele sich enthüllt und als ein Moralisches sich offenbart, dam mit dem Innern des Menschen in Eins verschmilzt und in den äußeren sinnlichen Erscheinungen und Gestalten nur seine "Chiffern" hat, die dann lesbar werden. In diesem Sinne stellte Novalis der Goetheschen Naturerkenntnis die seinige gegenüber in dem Fragment "Die Lehrlinge zu Sais". Im Mittelpunkte desselben steht das Märchen von Hyazinth und Rosenblüt, das von dem Jüngling erzählt, der seine Heimat und seine Braut verläßt, in die Fremde hinauszieht, dahin, wo die Seele der Natur, die Mutter der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau. Endlich gelangt er an den geheiligten Wohnsitz der Isis. Beim Betreten ihres Heiligtums entschlummert er, weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen darf. Wie er zuletzt vor der himmlischen Jungfrau steht und ihren leichten, glänzenden Schleier hebt, sinkt - Rosenblütchen in seine Arme. In den Notizen zur Fortsetzung des Fragments steht aber auch: "Einem gelang es - er hob den Schleier der Göttin zu Sais. Aber was sah er? - Wunder des Wunders, sich selbst." Und was das Heben dieses Schleiers bedeutet, kennzeichnen die Schlußworte des Eingangskapitels: "Wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden versuchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais."

   Für die auf diesem Wege gewonnene Erkenntnis der Seele der Natur gerät das in die ewige Wiederkehr des Gleichen erstarrte Leben derselben in Bewegung und verwandelt sich in ihre Geschichte, die zugleich die Geschichte des Menschen ist. Ihr enthüllt sich, daß die Eintracht, ja die Einheit zwischen Mensch und Natur, die heute zum tiefverborgenen Geheimnis sich verhüllt hat, in einer goldenen Urzeit einmal offenbar gewesen. In der Schilderung der letzteren entwirft Novalis ein wunderbares dichterisches Gemälde - wie aus uralter Erinnerung des Geistes es heraufholend - jener Zeit, die wir selbst im ersten Bande dieses Werkes als die atlantische "Vorgeschichte" charakterisiert haben, in welcher die Seele des Menschen gleichsam noch in die Seele der Natur, in die "Weltseele" eingesenkt war und ihr aus diesem Eingesenktsein die Ursprache erwuchs, von der ein Nachklang heute nurmehr in der echten Dichtung fortlebt; in welcher aus dem noch einheitlichen sinnlich-geistigen (S235) moralisch-natürlichen Erleben der Natur auch der Mythus erblühte, von dem in Märchen und Sagen sich heute nurmehr letzte Reste erhalten haben; in welcher der Mensch noch nicht die bloß sinnlichen, gleichsam "festen" Konturen der Dinge erblickte, sondern diese für sein Erleben noch von dem "fließend-flüssigen" Elemente ihrer ätherischen Bildekräfte umspielt waren. Dieses geschichtliche Bild der Natur, dieser Blick in die paradiesisch-goldene Urzeit entlockt der Seele dessen, der es erschaut, zugleich aber auch als Gegenbild den prophetischen Vorblick auf die künftige Endzeit. Er sollte in der Fortsetzung des Fragmentes entrollt werden, worauf die nachgelassenen Notizen hindeuten: "Das Kind und sein Johannes. Der Messias der Natur. Neues Testament und neue Natur als neues Jerusalem." Es ist der Gegensatz zwischen der heidnisch-griechischen Weltauffassung, die, wenn sie auch den Menschen als die Gipfelerscheinung der Natur hinstellte, doch im Ganzen (siehe das vorangehende Kapitel 7. Wiederholung + Einmaligkeit) ein bloßes Naturbild war, und der hebräisch-geschichtlichen Auffassung, der hier, in der Gegenüberstellung der Goetheschen und der Novalis'schen Weltschau, in verwandelter Gestalt wiederauflebt; nur daß die letztere nun durch den christlichen Blickpunkt des "Kindes und seines Johannes" das Wissen nicht nur vom Fall in sich schließt, sondern auch von der bereits erfolgten Erlösung, die nicht nur der Messias der Menschheit gebracht hat, sondern durch die auch der Mensch selbst zum dereinstigen Messias der Natur werden soll, der sie in der Auferstehung in das neue Jerusalem verwandelt.

   Diese Thematik setzt sich fort in den "Hymnen an die Nacht", die neben den "Geistlichen Liedern" das einzige abgeschlossene dichterische Werk darstellen, und die Novalis für seine bedeutendste poetische Schöpfung hielt. Die Welt der Nacht, sie erscheint in ihnen, im Gegensatz zu der des Tages, als der Mutterschoß des allgebärenden, alldurchdringenden und allerhaltenden Lebens, - als die Wirkenssphäre des Lebensbaumes, im Gegensatz zu dem in unserem Tagesbewußtsein sich entfaltenden Erkenntnisbaum. Nirgends sonst in der Geschichte der Poesie hat diese Welt eine so gewaltig-großartige und zugleich so zauberhaft-liebliche und innig-zarte Verkörperung erfahren wie in dieser Dichtung: nirgends sonst auch im Werke Novalis' selbst hat seine Individualität in so ausgeprägtem Maße sich als der Vertreter dieses Weltprinzips dokumentiert wie in diesen Hymnen. Der nächtliche Schlaf stellt immer wieder her, was das Tagesbewußtsein an Lebenskräften in unserem Leibe abgelähmt hat. Aber er ist nur Hülle. Und wer in sein eigentliches Geheimnis hinein erwacht - wie es Novalis am Grabe Sophiens beschieden war -, der erwacht in einen Urquell des Lebens hinein, der auch den Tod überwindet. So weitet sich die Betrachtung anschließend unmittelbar aus in die Darstellung der Menschheitsgeschichte als des Ganges der Menschheit vom ursprünglichen Leben durch den Tod zur Auferstehung: Auf die goldene Zeit des (S236) paradiesischen Ursprungs folgte der Fall in die Sünde und den Tod, der immer tiefer das Menschengeschlecht unter seine Herrschaft beugte, bis im Tod auf Golgatha das neue Leben kund ward. Die letzten Abschnitte der Dichtung weben ganz und gar im Elemente der Auferstehung und des wiedergeborenen Lebens. Und hier vollzieht sich in der Darstellung nun auch die Verslöhnung der hebräisch-christlichen mit der griechischen Welt in der (in der fünften Hymne enthaltenen) Erzählung von dem Sänger, der unter Hellas' heiterem Himmel geboren, nach Palästina kommt und sein ganzes Herz dem Wunderkinde ergibt, indem er in ihm "den Jüngling" erkennt, "der seit langer Zeit

Auf unsern Gräbern steht in tiefem Sinnen;

Ein tröstlich Zeichen in der Dunkelheit -

Der höhern Menschheit freudiges Beginnen.


Was uns gesenkt in tiefe Traurigkeit,

Zieht uns mit süßer Sehnsucht nun von hinnen.

Im Tode ward das ewge Leben kund,

Du bist der Tod und machst uns erst gesund."

   Mit Recht sagt Hiebel von dem Ganzen der Hymnen (a.a.O.S201f): "Bescheiden und anspruchslos steht diese liebende Verkündigung da als etwas völlig Neues innerhalb der Geschichte des neuzeitlichen Geisteslebens. Diese 'Verkündigung' ist nicht die lehrhafte Spruchdichtung eines Angelus Silesius, die Abgrundtiefe der Traktate eines Jakob Böhme, die verwirrend barocke und geheimnisvoll versteckte 'Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz' von dem unkünstlerischen Johann Valentin Andreae, sie ist völlig unorthodox und überkonfessionell, weder lutherisch noch katholisch, weder pietistisch moralisierend noch sentimental in falscher Empfindsamkeit. Ihm schwebte weder die Gründung einer neuen Kirche noch die Stiftung einer Sekte vor, sondern ein 'poetisches Christentum'. Novalis lebte nicht in mönchischer Abgeschlossenheit. Er war kein Eremit, kein Bußprediger und Kreuzfahrer, er war durchaus kein Heiliger im Sinne des Mittelalters. Weltlich war seine sinnenfreudige Natur nach Geselligkeit, Beruf und Hausstand gerichtet, weltlich war wein Streben nach einer universellen Bildung seiner Zeit. Gerade wegen dieser Weltlichkeit wurde er ein großer Dichter. Seine Welt aber war nicht nur breit, sondern tief, sie schloß den Tag und die Nacht ein, die Lebenden und die Toten.

   Die Hymnen an die Nacht sind das Dokument eines freien Christen, dessen Schrift den Schreiber selbst verwandelte. Sie sind in Form einer Dichtung, was frühere Maler in Bildern eines 'Kreuzweges' gemalt und in die Kathedralen des Mittelalters gestellt haben. Die vierte Hymne erscheint ja ganz (S237) deutlich bis auf die einzelnen Wortlaute hin als eine 'Kreuztragung', als eine Wallfahrt zum heiligen Grab. Das Schlußgedicht der vierten Hymne empfindet den Tod auf Golgatha in individuellster Wortform. Die Bilder der fünften Hymne empfinden ihrem Charakter nach eine Himmelfahrtsszene, denn das Grundmotiv ist nicht 'Sehnsucht nach dem Tode', wie es irreführend heißt, sondern 'Rückkehr zum Vater'... So gelangen wir auf einen Kreuzweg mit sieben Stufen, die sich wieder im Aufbau der Dichtung entdecken lassen. Das Ende kehrt zum Anfang zurück. Der Anfang aber erhöht sich im Ende. Das Licht kehrt wieder, aber dessen Wiederkunft eröffnet ein Reich der Gnade, das nie vorher bestanden. Die Unio mystica ist vollzogen."

   Unmittelbar an die "Hymnen" schließen sich die "Geistlichen Lieder" an mit den sie bekrönenden Mariengedichten. Noch inniger, schlichter, unmittelbarer und persönlicher wird in ihnen der Ton, in dem sich die Hingabe der Seele an Christus, den Bringer des neuen Lebens, ausspricht. Ihre Sprache ist wie diejenige eines, der der unmittelbaren Jüngerschar, ja dem engsten Familienumkreise des Heilands angehört. Hier ist es, wo die Identität der Wesenheit, die in Johannes, Raffael, Novalis lebte, schließlich völlig an die Oberfläche tritt. Aber auch hier erscheint sie nicht in Form einer theoretischen Behauptung, sondern sie lebt sich unmittelbar dar in dichterischen Gestaltungen, die eine den Dichter beseligende, gleichsam bewußt-unbewußte Erinnerung zum Ausdruck bringen, in welcher Bilder eines einstigen Lebens auftauchen, in welchem diese Individualität von Geburt und Kindheit an mit dem Jesuskinde verbunden war, in welchem sie später am Jordan aus dem sich öffnenden Himmel den Geist in Gestalt einer Taube auf den Erwählten herabkommen sah, danach im Geiste mit der Auferweckung des Lazarus gleichsam selbst mit aus dem Grabe auferstand und zuletzt mit dem Lieblingsjünger und Maria unter dem Kreuze stand; Bilder, die sich in eins verweben und verschmelzen mit jenen anderen, in denen diese Individualität in einem späteren Leben jene Erinnerungen in künstlerischer Verklärung als Maler auf die Leinwand hinzauberte, - so, wenn es da heißt:

"Ein alter,schwerer Wahn von Sünde

War fest an unser Herz gebannt;

Wir irrten in der Nacht wie Blinde,

Von Reu und Lust zugleich entbrannt.

Ein jedes Werk schien uns Verbrechen,

Der Mensch ein Götterfeind zu sein,

Und schien der Himmel mit uns zu sprechen,

So sprach er nur von Tod und Pein.

..........................................

(S238)

Da kam ein Heiland, ein Befreier,

Ein Menschensohn, voll Lieb und Macht,

Und hat ein allbelebend Feuer

In unserm Innern angefacht.

Nun sahn wir erst den Himmel offen

Als unser altes Vaterland,

Wir konnten glauben nun und hoffen,

Und fühlten uns mit Gott verwandt.


Seitdem verschwand bei uns die Sünde,

Und fröhlich wurde jeder Schritt;

Man gab zum schönsten Angebinde

Den Kindern diesen Glauben mit;

Durch ihn geheiligt, zog das Leben

Vorüber wie ein selger Traum,

Und ewger Lust und Lieb ergeben

Bemerkte man den Abschied kaum."

Oder an anderer Stelle:

"Da ich so im stillen krankte,

Ewig weint und wegverlangte,

Und nur blieb vor Angst und Wahn:

Ward mir plötzlich wie von oben

Weg des Grabes Stein gehoben

Und mein Inneres aufgetan.


Wen ich sah und wen an seiner

Hand erblickte, frage keiner,

Ewig werd ich dies nur sehn;

Und von allen Lebensstunden

Wird nur die, wie meine Wunden

Ewig heiter offen stehn."

Schließlich in den Marienliedern:

"Oft, wenn ich träumte, sah ich dich,

So schön, so herzinniglich.

Der kleine Gott auf deinen Armen 

(S239)

Wollt des Gespielen sich erbarmen:

Du aber hobst den hehren Blick

Und gingst in tiefe Wolkenpracht zurück.

..............................................................

Du weißt, geliebte Königin,

Wie ich so ganz dein eigen bin.

Hab ich nicht schon seit langen Jahren

Im stillen deine Huld erfahren?

Als ich kaum meiner noch bewußt,

Sog ich schon Milch aus deiner selgen Brust.


Unzähligmal standst du bei mir,

Mit Kindeslust sah ich nach dir,

Dein Kindlein gab mir seine Hände,

Daß es dereinst mich wiederfände;

Du lächeltest voll Zärtlichkeit

Und küßtest mich, o himmelsüße Zeit!


Fern steht nun diese selge Welt,

Gram hat sich längst zu mir gesellt,

Betrübt bin ich umhergegangen,

Hab ich mich denn so schwer vergangen?

Kindlich berühr ich deinen Saum,

Erwecke mich aus diesem schweren Traum..."

Und zuletzt:

"Ich sehe dich in tausend Bildern,

Maria, lieblich ausgedrückt,

Doch keins von allen kann dich schildern,

Wie meine Seele dich erblickt.


Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel

Seitdem mir wie ein Traum verweht

Und ein unnennbar süßer Himmel

Mir ewig im Gemüte steht."


   Wer einwenden wollte, daß der dargestellte Reinkarnationszusammenhang auf Grund eben solcher Verse nur erschlossen und behauptet wäre, dem obläge die Aufgabe, zu erklären, woher diese Sprache, diese Glut der Liebe, diese innigste, persönlichste Beziehung zu den heiligen Gestalten, diese einzige Vereinigung von Mystik, Poesie und religiöser Verkündigung stammte - bei (S240) einem Menschen, der kein Geistlicher, nicht einmal ein Kirchenchrist, sondern ein in der umfassendsten Bildungswelt seiner Zeit drinnenstehender Denker, Dichter und Weltmensch gewesen ist, der, im Beginne einer aussichtsreichen Berufslaufbahn im Bergwerkfache stehend, noch in der Blüte seiner Jugendjahre sich befand, von niemand zu einer irgendwie gearteten Frömmelei bekehrt. Daß dies alles in nichts anderem seine Quelle hatte als in seiner Individualität selbst, die es wie aus einer unbewußt-bewußten Rückschau auf eine von ihr durchlebte ferne, große Vergangenheit heraufholte, und deren eigentliches Lebenselement, in dem sie beheimatet war und aus dem heraus sie wirkte, eine höhere Sphäre des Welten- und Menschendaseins bildete, das bezeugt sich auch durch die Art, wie er als menschliche Gestalt seinen Zeitgenossen sich darstellte und als Persönlichkeit erlebt wurde. Zeugnis hiervon legen folgende Worte Henrik Steffens', des norwegischen Naturforschers, ab: "In Jena lernte ich nun auch Novalis kennen. Ich hatte viel von ihm sprechen hören. Es war kaum ein Mensch, nach dessen Bekanntschaft ich mich wärmer sehnte. Ich traf ihn zuerst bei Friedrich Schlegel, in dessen Armen er ein paar Jahre darnach verschied. Sein Äußeres erinnerte dem ersten Eindruck nach an jene frommen Christen, die sich auf eine schichte Weise darstellen. Sein Anzug selbst scheint diesen ersten Eindruck zu unterstützen, denn dieser war höchst einfach und ließ keine Vermutung seiner adligen Herkunft aufkommen. Er war lang, schlank, und eine hektische Konstitution sprach sich nur zu deutlich aus. Sein Gesicht schwebte mir vor als dunkel gefärbt und brünett. Seine feinen Lippen, zuweilen ironisch lächelnd, für gewöhnlich ernst, zeigten die größte Milde und Freundlichkeit. Aber vor allem lag in seinen tiefen Augen eine ätherische Glut. Er war ganz Dichter. Das ganze Dasein löste sich für ihn in eine tiefe Mythe auf. Gestalten waren ihm beweglich wie die Worte, und die sinnliche Wirklichkeit blickte aus der mythischen Welt, in welcher erlebte, bald dunkler, bald klarer hervor. Man kann ihn nicht einen Mystiker im gewöhnlichen sinne nennen, denn diese suchen hinter der Sinnlichkeit, von welcher sie sich gefangen fühlen, ein tieferes Geheimnis, in welchem ihre Freiheit und geistige Wirklichkeit verborgen liegt. Ihm war diese geheime Stätte die ursprünglich klare Heimat; von dieser aus blickte er in die sinnliche Welt und ihre Verhältnisse hinein. Die ursprüngliche Mythe, die zu seinem Wesen gehörte, schloß ihm selbst das Verständnis der Philosophie, aller Wissenschaften, der Künste und der bedeutendsten geistigen Persönlichkeiten auf. Daher war die wunderbare Anmut seiner Sprache, die Melodie seines Stils nichts Erlerntes, sondern ihm eben das Natürlichste; daher bewegte er sich mit gleicher Leichtigkeit in der Wissenschaft, wie in der Poesie, und die tiefsten, ja schärfsten Gedanken konnten ihre Verwandtschaft mit dem Märchen eben so wenig verleugnen, wie das bunteste, scheinbar willkürlichste Märchen seine, wenn auch verborgene, (S241) spekulative Absichtlichkeit... Alte Männer, die ein bedeutendes Leben geführt haben, in welchem sie vielfältig einwirkten, wenn die Epoche ihrer Tätigkeit verschwunden ist, und was sie getan und erlebt haben, als eine halbervschollene Vergangenheit der in anderen Richtungen bewegten Gegenwart erscheint, lieben es, über die frühere Zeit, die eigene Tat, ausführlich zu reden, und ist der Erzähler ein geistig Bedeutender, so höhren wir ihm gerne zu. Die Vergangenheit scheint, wieder erlebt, ihre eigenste Bedeutung zu enthüllen, ja die lebendige Gegenwart selbst durch sie ein tieferes Verständnis zu erhalten. So aus einer tiefen Vergangenheit des Geistes, aus einer ursprünglichen, welche sich in der tätigen Gegenwart nur unklar zu äußern vermag, schien Novalis zu sprechen wie zu schreiben... Wenige Menschen hinterließen mir für mein ganzes Leben einen so tiefen Eindruck... Ich habe später Menschen kennen gelernt, die ganz von ihm beherrscht wurden: Männer, die sich durchaus einem praktischen Leben weihten, empirische Naturforscher aller Art, die das geistige Geheimnis des Daseins hoch hielten, und den verborgenen Schatz in seinen Schriften aufgehoben glaubten. Wie wundersame, vielversprechende Orakelsprüche klangen ihnen die dichterisch religiösen Gedanken von Novalis, und sie fanen in seinen Äußerungen eine Stärkung, fast wie der fromme Christ in der Bibel. In der Tat war Novalis im tiefsten Sinne Christ und religiös... Mir war er in religiöser Hinsicht wichtig wie keiner." Und Ludwig Tieck schildert seine Erscheinung wie folgt: "Novalis war groß, schlank und von edlen Verhältnissen. Er trug sein lichtbraunes Haar in herabfallenden Locken, welches damals weniger auffiel, als es jetzt geschehen würde; sein braunes Auge war hell und glänzend, und die Farbe seines Gesichtes, besonders der geistreichen Stirn, fas durchsichtig... Seine Miene war stets heiter und wohlwollend... Der Umriß und der Ausdruck seines Gesichts kam sehr dem Evangelisten Johannes nahe, wie wir ihn auf der herrlichen großen Tafel von A.Dürer sehen, die Nürnberg und München aufbewahrt." Und er schließt seinen Nachbericht über die von Novalis hinterlassenen Notizen zur Fortsetzung seine "Heinrich von Ofterdingen" mit dem Satze: "Vielleicht rührt manchen Leser das Fragmentarische dieser Verse und Wort so wie mich, der nicht mit einer andächtigeren Wehmut ein Stückchen von einem zertrümmerten Bilde des Raffael oder Correggio betrachten würde."

   Noch ein letztesmal das Propheten- und Heroldtum dieser Individualität gegenüber dem Christentum in machtvoller Dokumentation durch in dem geschichtsphilosophischen Aufsatz "Die Christenheit oder Europa", den Novalis anderthalb Jahre vor seinem Tode schrieb, und mit dem er allerdings durch die darin eingenommenen Urteilsgesichtspunkte bei seinen Freunden mehrheitlich auf Unverständnis stieß und Bedenken erregte. Indem er darin einen Überblick über die Entwicklung des Christentums in Europa und über (S242) dessen Lage in der damaligen Gegenwart entwirft, macht er mit dem "Zauberstab" einer "analogisierenden" Betrachtung die oben schon erwähnten Parallelen geschichtlicher Situationen sichtbar, die nicht nur äußerliche, sondern im inneren Gang des geschichtlichen Werdens tief begründete sind. Er schildert die "glänzenden Zeiten" des christlichen Mittelalters, in dessen noch unzerspaltener kirchlicher Einheit eine "erste Liebe" zu Christus erblühte, für dessen "herrliches Reich" die damalige Menschheit sich auf die Dauer doch noch nicht "reif", nicht "gebildet" genug erwies. So kam die Reformationszeit mit ihren Glaubensstreitigkeiten und Kirchentrennungen herauf; sie mündete schließlich aus in den "modernen Unglauben" der materialistischen Naturwissenschaft und politisch-religiösen Aufklärung, die in Westeuropa zur Herrschaft gelangte. Eine zweite Reformation ist ihr gegenüber zur Forderung geworden, die nichts Geringeres als eine Neugeburt des Christentums zu bringen die Aufgabe hat, aber in einer Gestalt, die vom Geiste der johanneischen Apokalypse erfüllt ist. Wie einstmals in den Tagen der Jordantaufe, so soll in unserer Zeit der Christus von neuem sich offenbaren, aber nun in den Herzen der Menschen, im Bewußtsein der Menschheit, in einer Kulturgestaltung, die gewissermaßen Leib und Blut, Brot und Wein bildet, in denen er geistig lebt. "Höchst merkwürdig ist diese Geschichte des modernen Unglaubens und der Schlüssel zu allen ungeheuren Phänomenen der neueren Zeit. Erst in diesem Jahrhundert und besonders in seiner letzten Hälfte beginnt sie und wächst in kurzer Zeit zu einer unübersehbaren Größe und Mannigfaltigkeit; eine zweite Reformation, eine umfassendere und eigentümlichere, war unvermeidlich... Daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, und gerade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein scheinen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden sind, dieses kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch in den Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet, die höheren Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichförmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte als der Urkern der irdischen Gestaltung zuerst heraus. Der Geist Gottes schwebt über den Wassern, und ein himmlisches Eiland wird als Wohnstätte der neuen Menschen, als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerst sichtbar über den zurückströmenden Wogen...

   Soll die Revolution die französische bleiben, wie die Reformation die lutherische war? Soll der Protestantismus abermals widernatürlicherweise als revolutionäre Regierung fixiert werden? Sollen Buchstaben Buchstaben Platz machen? Sucht ihr den Keim des Verderbens auch in der alten Einrichtung, dem alten Geiste? und glaubt euch auf eine bessere Einrichtung, einen besseren (S243) Geist zu verstehen? O, daß der Geist der Geister euch erfüllte, und ihr abließet von diesem törichten Bestreben, die Geschichte und die Menschheit zu modeln und eure Richtung ihr zu geben! Ist sie nicht selbständig, nicht eigenmächtig, so gut wie unendlich liebenswert und weissagend?"

   Im deutschen Geistesleben, wie es in seinen damaligen philosophischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Bestrebungen ihn umgab, sah Novalis den Keim eines neuen Menschheitslebens sich ans Licht ringen. "In Deutschland kann man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen... In Wissenschaften und Künsten wird man eine gewaltige Gärung gewahr. Unendlich viel Geist wird entwickelt. Aus neuen, frischen Fundgruben wird gefördert. Nie waren die Wissenschaften in besseren Händen und erregten wenigstens größere Erwartungen; die verschiedensten Seiten der Gegenstände werden ausgespürt, nichts wird ungerüttelt, unbeurteilt, undurchsucht gelassen... Eine gewaltige Ahndung der schöpferischen Willkür, der Grenzenlosigkeit, der unendlichen Mannigfaltigkeit, der heiligen Eigentümlichkeit und der Allfähigkeit der inneren Menschheit scheint überall rege zu werden. Aus dem Morgentraum der unbehilflichen Kindheit erwacht, übt ein Teil des Geschlechts seine ersten Kräfte an Schlangen, die seine Wiege umschlingen und den Gebrauch seiner Gliedmaßen ihm benehmen wollen. Noch sind alles nur Andeutungen, unzusammenhängend und roh, aber sie verraten dem historischen Auge eine universelle Individualität, eine neue Geschichte, eine neue Menschheit, die süßeste Umarmung einer jungen überraschten Kirche und eines liebenden Gotte und das innige Empfängnis eines neuen Messias in ihren tausend Gliedern zugleich. Wer fühlt nicht mit süßer Scham guter Hoffnung? Das Neugeborene wird Abbild seines Vaters, eine neue goldene Zeit mit dunkeln unendlichen Augen, eine prophetische, wundertätige und wundenheilende tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit sein - eine große Versöhnungszeit, ein Heiland, der wie ein echter Genius unter den Menschen einheimisch, nur geglaubt, nicht gesehen werden, und unter zahllosen Gestalten den Gläubigen sichtbar, als Brot und Wein verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geatmet, als Wort und Gesang vernommen und mit himmlischer Wollust als Tod unter den höchsten Schmerzen der Liebe in das Innere des verbrausenden Leibes aufgenommen wird."

   Mit solchen Empfindungen stand Novalis in den ihn umgebenden Geistesbestrebungen seiner Zeit drinnen; in solcher Art empfand er die tiefste Bedeutung und Sendung der damaligen deutschen Geistesepoche. Und wenn er schon sieben Jahre früher als in seinem letztvergangenen Erdenleben die Schwelle des Todes wieder überschreiten und deshalb sein Lebenswerk, trotz der üppig aufblühenden Entfaltung, in der es in den drei letzten Jahren seines Erdendaseins begriffen war, Fragment bleiben mußte, so besiegelt dieses sein Lebens- und Schaffensschicksal vielleicht nur am allerdeutlichsten die (S244) Tatsache, daß das ganze deutsche Geistesleben jener Zeit, trotz der unvergänglichen Blüten, die es gezeitigt hat, seiner eigentlichsten, innersten Tendenz nach nur Keim, nur Same einer fernen Menschheitszukunft war, der selbst noch einmal durch den Tod hindurchgehen mußte, um dereinst zur Frucht reifen zu können. Und vielleicht ist im Lebenswerk keines anderen seiner Vertreter so viel zukunftsträchtige Samenkraft enthalten wie in dem seinigen. Keines ist jedenfalls in solchem Maße fast nur keimkräftiger, zukunftsverheißender Same geblieben wie das seine. Hierin aber wiederum kommt zum Ausdruck, daß mehr als in Raffael, dessen Werk die vollendetste künstlerische Verkündigung und Verklärung der christlichen Heilsgeschehnisse vom Beginn unserer Zeitrechnung war, in Novalis wieder die prophetische Mission der in ihm verkörperten Individualität in den Vordergrund getreten ist. Das bedeutet aber, daß diese Individualität weiterhin mit der Entwicklung der Menschheit, auf deren künftige Phasen ihr prophetischer Vorblick gerichtet war, verbunden ist, und daß darum von ihr in Fortführung ihrer Mission in späteren Wiederverkörperungen ein erneutes tätiges Eingreifen in diese erwartet werden darf.

   So bildet - nicht in Form einer Lehre, einer Interpretation oder dergleichen - sondern eine Menschenerscheinung und eines Menschenschicksals Gestalt und Wirken der hier geschilderten Inividualität und speziell ihrer Novalis-Verkörperung den sprechendsten, vollständigsten Kommentar zu all dem, was in diesem Buche über den inneren Gang der Geschichte, über die Wiederverkörperung als deren Lebensgesetz und über die in unserer Zeit notwendig gewordene Bewußtmachung desselben ausgeführt worden ist. Sie erweisen im besonderen, daß eine vom Lichte der Reinkarnationserkenntnis geleitete Geschichtsbetrachtung das Einmalige und Unwiederholbare einzelner, in ganz bestimmten geschichtlichen Zusammenhängen stehender Lebensläufe keineswegs verwischt, sondern ihm voll gerecht werden kann, ja es gerade dadurch, daß sie diese mit einer ganz Folge von Inkarnationen zusammenschaut, in einem noch viel bestimmteren Sinne und einer noch viel tieferen Bedeutung zu erfassen vermag. Sie zeigen des weiteren an einem Musterbeispiel, wie sich dadurch die Erkenntnis der menschlichen Individualität vertieft, - und zuletzt, was mit der weltgeschichtlichen Mission gemeint ist, die eine jede zu erfüllen hat, und in welchen Verwandlungsformen diese durch eine Folge von Erdenleben hindurch verwirklicht wird.

   Über all dies Spezielle hinaus konnte aber aus dieser Betrachtung auch erhellen, daß die Geschichte und ihre Gestalten, indem wir sie im Lichte des Reinkarnationsgedankens betrachten, nicht bloße Vergangenheit bleiben, sondern die lebendige, wesenhafte Gegenwart werden, als die wir sie schon im ersten Bande gekennzeichnet haben (III.1 Zeit und Geschichte,S157, und  III.3 Struktur der Zeit, Abschnitt 3,S197) . Denn die menschlichen Individualitäten, auf die wir durch eine solche Betrachtung gewiesen werden, sind alle (S245), sei es im Leibe, sei es im Geiste, auch in der jeweiligen Gegenwart da und wirksam; und sie gehen mit uns, strebend, planend und sich weiterentwickelnd, der Menschheitszukunft entgegen. Und dadurch ermöglicht eine solche Betrachtungsweise, wenn sie aufgenommen wird, jene Krisis im Verhältnis zur Geschichte zu überwinden, in der sich die Menschheit heute befindet, und von deren Feststellung die Betrachtungen dieses Buches ihren Ausgang genommen haben.

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