2. Wiederverkörperung und geschichtlicher Fortschritt
Kollektive und individuelle Geistigkeit,
Vererbung und Erziehung
I.
(S59) Wenn im Folgenden die geschichtliche Phase des Menschheitswerdens im Lichte der Wiederverkörperungsidee dargestellt werden soll, wie sie durch die Anthroposophie errungen worden ist, so ist vorauszuschicken, daß damit die Geschichte wiederum (wie auch schon in den verschiedenen Kapiteln des ersten Bandes) nur von einem Aspekt her gezeichnet wird, nämlich von demjenigen der Stellung des Einzelnen innerhalb des geschichtlichen Prozesses. Das heißt umgekehrt zugleich, daß die Tatsache der Wiederverkörperung hier nur von einem Gesichtspunkt aus behandelt wird, - eben von demjenigen ihrer Bedeutung für das geschichtliche Werden. Hierfür ist nun zunächst auf die Frage einzugehen, ob von einem "Fortschritt" in der Geschichte überhaupt gesprochen werden kann, und wenn ja, worin dieser eigentlich besteht.
Hier darf nun daran erinnert werden, daß wir im ersten Bande ausführlich und von den verschiedensten Seiten her gezeigt haben nicht nur, daß, sondern auch in welchem Sinne ein Fortschritt tatsächlich stattfindet. Wir schilderten dort, daß das "Grundthema der Geschichte" die Entwicklung des Denkens (als des Vermögens, von den Sinneserscheinungen abgezogene Allgemeinbegriffe zu bilden) und die durch sie bedingte geistige Verselbständigung der Einzelpersönlichkeit ausmache, - anders ausgedrückt: die Entwicklung des Bewußtseins in dem spezifischen Sinne des Wachseins gegenüber den halb- bzw. unbewußten Zuständen des Träumens und Schlafens. Denn das Denken bildet einerseits das Kerngebiet unseres Wachbewußtseins und kommt andererseits nur durch die Betätigung des Einzelnen als solchen zustande. Ihren Gipfelpunkt aber erreicht seine Entwicklung in der denkenden Selbsterfassung des Menschen, was soviel bedeutet wie seine volle Ich-Werdung. Wir haben auch die einzelnen Etappen, welche diese Entwicklung in der Folge der geschichtlichen Epochen durchschreitet, in ihrem Charakter so scharf wie möglich herauszuarbeiten versucht. Und wir kennzeichneten schließlich den tieferen Sinn dieser Entwicklung wiederholt dahin, daß die menschliche (S60) Einzelpersönlichkeit durch sie allmählich zum Repräsentanten der Gesamtmenschheit aufsteigt.
Im Sinne der Reinkarnationserkenntnis hat man sich nun vorzustellen, daß an diesem Prozeß alle menschlichen Individualitäten im Gang durch ihre wiederholten Erdenleben auf irgendeine Weise teilhaben. Und hierin besteht im eigentlichen Sinn die Entwicklung, die sie in der Folge ihrer Inkarnationen durchmachen. Sie werden also nicht nur, wie Lessing es vom Standpunkt der Aufklärungstheologie aus dargestellt hat, aller Offenbarungen teilhaftig, die der Reihe nach der Menschheit zukommen und - nach Lessings Auffassung - letztlich nur dem Zwecke dienen, die Entwicklung ihrer Erkenntniskräfte zu immer höheren Stufen hinaufzuführen, - sondern es erfährt im Laufe dieses Prozesses auch ihr Individualitätscharakter in dem Sinne eine fortschreitende Erhöhung, daß sie, indem sie sich die Errungenschaften aller geschichtlichen Epochen aneignen, in der Gesamtheit ihrer individuellen Fähigkeiten - durchschnittlich - diejenigen der Menschheit in einer je gegebenen Epoche repräsentieren. Das bedeutet auch umgekehrt, daß der soeben gekennzeichnete Fortschritt in der Geschichte nur dadurch zustandekommt, daß das Substantielle, auf das er sich bezieht, und an welchem er sich vollzieht: die menschlichen Individualitäten, als dieselben durch alle Stufen der geschichtlichen Entwicklung hindurchgehen. Es handelt sich bei diesem Prozeß also nicht nur um eine, etwa gar mechanisch durch Umwelt und Anpassung, Daseinskampf und Selektion vorwärtsgetriebene Höherentwicklung der menschlichen Gattung, sondern um eine durch deren eigenes Bemühen zustandekommende Entwicklung der einzelnen menschlichen Individualitäten, - nur eben durch eine Mehrzahl von Erdenleben hindurch. Wir können insofern zwar der im vorigen Kapitel erwähnten Ansicht Herbert Butterfields zustimmen, daß der Sinn der Geschichte sich im je einzelnen Menschen erfülle; nur enthält eben das "Leben" des "einzelnen Menschen", wenn dieser so als ein sich reinkarnierender gefaßt wird, die ganze geschichtliche Entwicklung und die Epochengliederung ihrer Stufenschritte in sich.
II.
Es ist nun zu zeigen, wie die fortschreitende geistige Verselbständigung der einzelnen Individualitäten sich im Genaueren vollzieht. Man hat sich vorzustellen, daß der Kreislauf der Reinkarnationen schon seinen Anfang nimmt im Übergang zwischen jenen Epochen, die wir im ersten Band als Urzeit und Vorgeschichte gekennzeichnet haben, - in anthroposophischer Terminologie -: im Übergang von der lemurischen zur atlantischen Epoche. Es ist die Zeit, in welcher die Bildung der menschlichen Leibesgestalt zum Abschluß (S61) gekommen ist. Innerhalb der menschheitlichen Geistigkeit, welche bis dahin noch im Bereiche der "universalia ante res", der den physischen Erscheinungen vorangehenden schöpferischen Gottesgedanken, geweilt und von da aus die menschliche Leibesgestalt stufenweise ausgebildet hat, findet nun eine Differenzierung statt. Ein Teil derselben zieht jetzt in der Weise in die menschliche Leibeshülle ein, daß er sich in einzelne Individualitäten zerteilt, die von nun an den Kreislauf der Wiederverkörperungen durchmachen. Wir wollen dieses Element im weiteren als menschliche Seelen bezeichnen, - durch welchen Ausdruck eben das Individualisierte dieses Teiles gekennzeichnet sein soll. In diesen Seelen entwickelt sich jeweils in den Zeiten zwischen Geburt und Tod, da sie auf Erden einen menschlichen Leib bewohnen, ein Selbstgefühl. In den anderen Zeiten jedoch: zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, da sie nicht von einem Leibe umschlossen sind, sondern in der geistigen Welt verweilen, erlischt dieses Selbstgefühl wieder.
Der andere Teil der ursprünglichen Geistigkeit der Menschheit verbindet sich mit der menschlichen Leiblichkeit in einer Weise, die verglichen werden kann mit der Art, in der - im Sinne der Ausführungen des ersten Bandes - auch in der außermenschlichen Natur die "universalia ante res" mit dem Entstehen der physischen Schöpfung sich verwandeln in die "universalia in rebus", das heißt in die in den Dingen enthaltenen und wirkenden gestaltgebenden Kräfte. Es durchdringt dieser Teil die menschliche Leiblichkeit nämlich als unindividualisierte einheitlich-menschheitliche Kollektivgeistigkeit, die durchaus im Sinne des von C.G.Jung geltend gemachten kollektiven Unbewußten mit seinen Archetypen verstanden werden kann. Diese Kollektivgeistigkeit stellt für die Vorgeschichte das spezifisch Geistige, Schöpferische im Menschen dar. Und umgekehrt, das spezifisch Geistige, Schöpferische im Menschen hat in der Vorgeschichte noch den Charakter der Kollektivgeistigkeit. Diese schafft jetzt zwar nicht mehr am und im rein Leiblichen wie in der Urzeit, sondern ist nur noch im Leibich-Seelischen tätig, - verliert also etwas von ihrer einstmaligen, bis ins Physische hineingehenden schöpferischen Kraft. Sie ist es, der wir in den Darstellungen des ersten Bandes die in der Vorgeschichte erfolgende Schöpfung der Sprache und des Mythus zugeschrieben haben. Diese Fähigkeiten erscheinen zwar im Elemente des Seelischen, das heißt, als solche der individuellen menschlichen Seelen, aber sie entstehen nicht aus deren eigenen Kräften, sondern aus der allmenschlichen Kollektivgeistigkeit heraus, in welche jene noch gleichsam eingehüllt sind, - daher denn auch die "Einheitlichkeit" der Ursprache, das Überpersönliche der mythischen Bilder. Und sie entstehen andererseits dadurch, daß diese menschliche Kollektivgeistigkeit - wie wir im ersten Bande ausgeführt haben - auch noch die erlebnismäßige Verbindung für diese Seelen herstellt mit den "universalia in rebus", den in den äußeren Naturerscheinungen und -vorgängen enthaltenen formgebenden (S62) Kräften. Denn die Sprache wird ja aus dem Erleben derselben herausgeschöpft.
Bis zu einem gewissen Grade wirkt diese menschheitliche Kollektivgeistigkeit allerdings auch noch leibgestaltend, - indem sie nämlich die allgemeine menschliche Leibesgestalt im Zusammenhange mit den damaligen tellurischen und kosmischen Umweltseinflüssen differenziert (Im vorletzten Jahrhundert hat man diese Differenzierung noch mit dem Begriff der "Rassen" gefaßt!). Denn auch diese Bildung gehört, wie im ersten Bande ausgeführt, der Vorgeschichte an. Sie bedeutet allerdings keine Weiterbildung oder Umgestaltung der menschlichen Leibesgestalt mehr, sondern lediglich deren Differenzierung in bezug auf die Wirksamkeit ihrer verschiedenen physiologischen Funktionen. Zum Ausdrucke kommt diese Differenzierung im Unterschied der Proportionen zwischen den den verschiedenen Teilen und Organen des Körpers, der Haut- ubnd der Haarfarbe usw., ferner der geistigen Begabung. Da nun das bestimmende Wesensmerkmal des Menschen überhaupt in seiner Geist-Wesenheit liegt, so ist es für die Vorgeschichte diese in der Schöpfung von Sprache und Mythus, in der physiologischen Differenzierung wirkende Kollektivgeistigkeit, welche den gesamten Lebensverhältnissen vornehmlich das Gepräge gibt. In das Wirken dieser Kollektivgeistigkeit erscheinen die einzelnen Seelen während ihres irdischen Lebens in jener Zeit noch ganz und gar eingebettet. Was mit dem Kreislauf ihrer Reinkarnationen für sie an Erlebnissen und Wirkungen verbunden ist, hat für den Fortschritt der Menschheit, für die Gestaltung von deren Lebensverhältnissen noch keine Bedeutung. Diese werden ausschließlich durch die erwähnten Wirkungen der Kollektivgeistigkeit bestimmt, die ihre äußerlich sichtbaren Werkzeuge und Repräsentanten in den Orakelstätten und den im Zusammenhange mit diesen wirkenden Heroengestalten jener Zeit haben. (Wie sich diese Verhältnisse im damaligen Bewußtsein bzw. in den damaligen Reinkarnationsvorstellungen spiegelten, wird in einem späteren Kapitel zur Darstellung kommen.) Zu diesen Wirkungen der Kollektivgeistigkeit gehört u.a. auch jenes mit dem Blute durch die Folge der Generationen fließende Kollektivgedächtnis, das wir im ersten Bande für die Vorgeschichte geltend gemacht haben, - jenes Kollektivgedächtnis, das in den Bildern des Mythus (Schöpfungsmythen, Götter- und Heldensagen) zum Ausdrucke kommt, und dessen Träger die physiologische differenzierten Kollektivgeistigkeiten sind (s.o.). Dieses Kollektivgedächtnis überleuchtet in jener Zeit das individuelle Gedächtnis, das in den einzelnen Seelen sich entwickelt, so stark, daß das letztere gegenüber dem ersteren noch kaum zur Geltung kommt, - wie ja auch die Einzelpersönlichkeit überhaupt gegenüber der Kollektivgeistigkeit, von der sie durchpulst ist, noch gar keine Rolle spielt. Im Hinblick auf ihre Gebundenheit an das Gattungsmäßige, sich Vererbende im Menschen können wir die Kollektivgeistigkeit jener Zeit auch als naturhaft-instinktiv wirkende bezeichnen, - und in diesem Sinne haben wir auch die (S63) Bildung von Ursprache und Mythus, welche ihre hauptsächlichste Leistung darstellt, im ersten Bande als eine instinktive geistige Schöpfung charakterisiert.
III.
Im Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte findet nun ein weiterer Schritt in der Differenzierung dieser Kollektivgeistigkeit statt: derjenige von den übergreifenden Kontinentengliederungen zu den Völkern. Die Völkertafel im 10. Kapitel von Mose 1, in welcher die von den Söhnen Noahs abstmmenden Völker aufgezählt werden, deutet auf diesen Prozeß hin. (Denn die Sintflut und die von Noah in seiner Arche über diese hinweggerettete Stammgruppe, aus der sich die spätere Menschheit verzweigte, versinnbildlichen ja den Übergang von der atlantischen zur nachatlantisch-geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens.) Durch diese Differenzierung macht die Kollektivgeistigkeit nicht nur quantitative, das heiß nach der Zahl der von ihren verschiedenen Typen umfaßten Seelen, sondern auch qualitativ, das heißt hinsichtlich der Art ihres Wirkens einen weiteren Schritt auf dem Wege ihrer allmählichen Umwandlung in individuelle Geistigkeit. Hatte sie auf der vorgeschichtlichen Wirkensstufe einerseits in der Schöpfung der Sprache, andererseits in der Rassengliederung noch bis ins Leiblich-Physiologische hinein eine bildende Kraft entfaltet, so reduziert sich ihre Wirksamkeit als volkhafte Kollektivgeschichte auf die bloße Umbildung bzw. Differenzierung der Sprache und auf die Hervorbringung äußerer Kulturwerke, also auf geistiges Schaffen im engeren Sinne der geschichtlich-kulturellen Produktivität. Denn die Völker sind es, die zunächst zu den hauptsächlichsten Trägern der geschichtlichen Entwicklung werden, - daher wir die einzelnen Epochen der letzteren auch nach den sie vornehmlichst repräsentierenden Völkern als die urindische, urpersische, ägyptisch-babylonische, griechisch-römische usw. bezeichnen.
Wir haben aber schon im ersten Bande gezeigt, wie jene Umbildung und Differenzierung der Sprache, die im Übergang zur Geschichte stattfindet, einen Verfall dessen bedeutet, was die vorgeschichtliche Sprache gewesen war. In diesem Verfall kommt der Niedergang derjenigen Wirksamkeit der Kollektivgeistigkeit zum Ausdruck, welche eben die der Vorgeschichte entsprechende war und auch in der Bildung bzw. Differenzierung der kontinentalen Gliederungen mit ihren Hautfarben sich betätigte. Auch diese Kräfte verfallen während der geschichtlichen Phase diesem Niedergang. Dies zeigt sich einerseits darin, daß von den während der Vorgeschichte entstandenen Gliederung in Hautfarben überhaupt nur der kleinere Teil in vollem Maße in die geschichtliche Entwicklung einzutreten vermag, der größere Teil dagegen als halb oder ganz Primitive auf früh- oder vorgeschichtlicher Stufe stehenbleibt, im Verlauf der Geschichte von den Vollkulturvölkern immer (S64) mehr in die Randgebiete der Kulturentfaltung zurückgedrängt und schließlich in unserer Zeit, da die geschichtliche Phase ihren Höhepunkt erreicht, teils mit Gewalt ausgerottet wurde, teils - gerade durch die Berührung mit der modernen Kultur - der Zersetzung und dem Aussterben erliegt. Und es zeigt sich andrerseits darin, daß die nun entstehenden Völker nicht nur aus den früheren farblichen Gliederungen sich herausdifferenzieren, sondern zufolge der Überschichtungsprozesse, auf deren Grundlage die nun aufblühenden Volkskulturen erwachsen, wesentlich aus der Mischung verschiedener Hautfarben hervorgehen. Es kommt eben im Volksprinzip eine neue, gegenüber den im alten Prinzip wirksam gewesenen, ganz andersartige Kollektivgeistigkeit zum Durchbruch, für welche die älteren Bildungen, indem sie zur Mischung gebracht werden, nur als Unterlage dienen.
Daß man es aber auch bei den sich nun herausbildenden Volkstümern mit Organen einer Kollektivgeistigkeit zu tun hat, spiegelt sich darin wider, waß einen Teil der von ihnen geschaffenen Kulturgestaltungen die Volksreligionen ausmachen, durch welche die "Volksgeister" als Nationalgötter verehrt werden. Andere Teile derselben bilden die "nationalen" Kunststile und Gesellschaftssysteme mit ihren scharf ausgeprägten Charakteren. Auch all dies darf bis zu einem gewissen Grade noch als naturhaft-instinktive Schöpfung bezeichnet werden. Bis in die griechische Kultur hinein ist auch in geschichtliche Zeit der Einzelne noch in eine, aber jetzt volkhafte, Kollektivgeistigkeit eingebettet, aus der er sich allerdings gerade in der griechischen Kultur immer mehr zur Individualgeistigkeit, das heißt zu individuell geprägtem geistigem Schöpfertum herausringt.
Warum konnte die Wirksamkeit dieser instinktiv schöpferischen Volksgeistigkeiten - wenn wir nun die im ersten Bande auch schon dargestellte genauere Gliederung der geschichtlichen Phase in eine Siebenheit von Epochen zugrundelegen - durch eine so lange Zeit hindurch, bis in die vierte, mittlere Epoche der Geschichte hinein andauern? Dies war einerseits deshalb der Fall, weil die einzelnen Völker durch lange Zeiten hindurch in verhältnismäßig strenger kultureller und blutsmäßiger Abgeschlossenheit gegeneinander lebten. Das heißt nicht, daß in jenen Zeiten überhaupt keine Blutsmischungen zwischen den Völkern stattgefunden hätten. Diese erfolgten aber weniger, wie dies heute zumeist geschieht, von Individuum zu Individuum, sondern mehr im Ganzen von Volk zu Volk. Und zwar eben durch jenen Prozeß der Überlagerung seßhaften durch nomadische Bevölkerungen, der überall erst die Voraussetzungen für die Entfaltung der geschichtlichen Hochkulturen geschaffen hat. Ja, wir schilderten an der erwähnten Stelle, daß auch schon das diesen Hochkulturen vorangegangene "Präludium" der geschichtlichen Entwicklung nur dadurch einsetzen konnte, daß von dem ursprünglichen, in Innerasien gelegenen Inaugurationszentrum der Geschichte aus (S65) "Mysterienkolonisationen" nach den verschiedensten Bevölkerungen hin erfolgt sind, - Kolonisationen, deren Träger nicht nur einzelne "Missionare", sondern ganze Völkerstämme waren, welche jenen Bevölkerungen sozusagen aufgepfropft wurden. Damit ist aber auch schon auf das eine wesentliche Moment dieser Völkermischungen hingewiesen: Sie waren von der durch das damalige Mysterienwesen repräsentierten geistigen Impulsierung und Führung des geschichtlichen Werdens aus planmäßig geleitete. Und das andere dieser Momente liegt darin, daß, wenn solche Mischungen einmal zustandegekommen waren, die aus ihnen hervorgegangenen Volksgebilde dann verhältnismäßig lange Zeit hindurch kulturell gegenüber anderen abgeschlossen blieben und sich auch blutsmäßig rein erhielten. Man denke in dieser Beziehung etwa an die Ägypter, die schon durch die Abgeschlossenheit des Niltales gegenüber der Umwelt weitgehend isoliert waren, außerdem aber alles Fremde haßten, ja schon die Berührung mit Fremden als Verunreinigung empfanden, - oder an die Inder und die Chinesen, deren Siedlungsgebiete, obzwar weit ausgedehnt, doch ebenfalls durch die geographischen Verhältnisse zu eigenen, in sich abgeschlossenen Welten gestaltet wurden. Die Israeliten wurden vor allem durch die mosaische Gesetzgebung aufs strengste zur Bewahrung der Blutsreinheit und zur Abschließung gegenüber fremder Volksgeistigkeit angehalten (2.Mose34,11-17). Auch der Handelsverkehr zwischen den Ländern und Völkern war bei den primitiven Transport- und Verkehrsmittel n jener Zeit, verglichen mit den heutigen Verhältnissen, von verschwindender Geringfügigkeit. Durch dieses gegenseitige Abgeschlossensein konnte die im Blute wirkende Geistigkeit jener Völker ihre scharfprofilierten verschiedenen Charaktere ausprägen und durch Jahrtausende wirksam erhalten.
Neben diesem Element geht nun aber im Grunde schon seit dem Beginn der geschichtlichen Phase ein anderes einher und kommt von den ersten geschichtlichen Hochkulturen, also von der dritten ihrer Epochen an, immer deutlicher zum Vorschein. Es ist dasjenige, das auf die geistige Verselbständigung der einzelnen Persönlichkeit hinzielt. Was in dieser Verselbständigung sich abspielt, ist dieses, daß auch jener Teil der ursprünglichen menschheitlichen Geistigkeit, der bisher noch als Kollektivgeistigkeit gewirkt, aber als solche bereits sich in Hautfarben und dann volklich differenziert hatte, sich nun im vollen Maße zu individualisieren, das heißt von den einzelnen Seelen als solchen gewissermaßen aufgesogen und angeeignet zu werden beginnt. Das Schöpfertum, das den Geist kennzeichnet, geht dadurch nun auf den Menschen als Seele, als Individualität über, und dieser beginnt dadurch zu geschichtlicher Bedeutung aufzusteigen und eine Rolle für die Gestaltung der allgemeinen Lebens- und Kulturverhältnisse zu spielen. Wie einstmals für jenen Teil der ursprünglich-menschheitlichen Geistigkeit, der sich schon in vorgeschichtlicher Zeit zu einzelnen Seelen individualisiert hatte, der Leib das Gefäß geworden war, so (S66) wird für diesen sich nun voll individualisierenden Teil jener Geistigkeit die Seele zum Gefäß. Sie wird dadurch erst zur Geist-Seele oder zur "Persönlichkeit" im vollen Sinne. "Persona" bedeutet im Lateinischen bekanntlich die Maske des Schauspielers, durch welche dessen Stimme "hindurchtönte". So wird jetzt die Seele die "Persona", durch welche der schöpferische Geist als individueller sich offenbart. Andererseits: so wie die Seele durch ihre Verbindung mit dem Geist zur "Geist-Seele" wird wo wird der Geist durch seine Individualisierung zum "Seelen-Geist". Er ist jetzt nicht mehr im früheren Sinne "leib-gebunden", sondern "seele-gebunden", das heißt er wird nicht mehr aus dem Vererbungsstrom empfangen und an diesen weitergegeben, sondern geht mit der Seele durch die Folge ihrer Wiederverkörperungen hindurch. Allerdings, weil er nun zunächst seele-gebunden wird, das heißt in die Seele einzieht und mit ihr in gewisser Weise verschmilzt, erzeugt er vorerst in ihr nur das Empfinden und damit die Überzeugung von ihrer Unvergänglichkeit überhaupt, vermag aber noch nicht das Bewußtsein von der Art und Weise in ihr zu erwecken, in welcher ihre Unvergänglichkeit sich darlebt. (Genaueres hierüber wird an späterer Stelle dargelegt werden.)
Geschichtlich kommt all dies zum Ausdruck in der Entwicklung des Gedankenlebens. Denn dieses kann sich seiner Natur nach nur durch die Betätigung des einzelnen Menschen als solchen entfalten, ist aber seinem Inhalte nach von überpersönlicher Bedeutung. Wir haben im ersten Bande ausgeführt, wie das in Vorstellungen verlaufende persönliche Gedächtnis eine Begleit- oder Folge-Erscheinung der Gedankenbildung ist. Und so konnten wir denn auch zeigen, wie der Übergang von der ehemaligen Kollektivgeistigkeit zur Individualgeistigkeit in dem stufenweisen Sichherausringen des persönlich-vorstellungsmäßigen aus dem früheren mythischen Kollektivgedächtnis zum Ausdrucke kommt. Nur ist dies eben ein Prozeß, der viele Jahrausende in Anspruch nimmt. Wir kennzeichneten die einzelnen Stufen desselben als diejenigen der lokalisierten, der rhythmisierten und der seelisch-vorstellungsmäßigen Erinnerung, und wir schilderten, wie mit diesen Stufenschritten die verschiedenen Formen der geschichtlichen Überlieferung sich entfalten bis zur eigentlichen Geschichtsschreibung hin. Denn im Zusammenhang mit ihnen kommt ja auch die stufenweise Ausbildung der Schrift zustande.
Mit alledem ist dem Wesen nach das Element der Erziehung verknüpft. Denn indem die ehemals kollektive in indiviuelle Geistigkeit sich verwandelt, das heißt vom Leiblich-Gattungsmäßigen ins Seelisch-Persönliche übergeht, verliert ihre Betätigung den instinktiven Charakter und wird Sache des Lernens. Überall aber, wo wir es mit Übung, Erfahrung, Überlieferung zu tun haben, ist auch Erziehung vorhanden. Andererseits bewegt sich alle Erziehung - im Gegensatz zur Dressur der Tiere - im Elemente von an Verständnis appellierenden geistigen Gehalten. Insofern es aber in der Geschichte überhaupt um (S67) die durch Übung und Überlieferung erfolgende Ausbildung der geistig selbständigen und selbsttätigen Individualität geht, begleitet das Element der Erziehung die ganze Geschichte, - ja, ist der eigentlich geschichtliche Prozeß ein solcher der Erziehung. In diesem Sinne verstanden darf die Geschichte in der Tat - mit Lessing - als "die Erziehung des Menschengeschlechts" aufgefaßt werden. Wir finden denn auch, welche unter den geschichtlichen Hochkulturen immer wir ins Auge fassen mögen, allüberall ein Erziehungssystem in irgendeiner Form vor. Allerdings gehen die Prinzipien und Methoden des Erziehens in der Folge der geschichtlichen Epochen durch mancherlei Metamorphosen hindurch, welche den Stufenschritten der Individualentwicklung entsprechen. In den ältesten Zeiten, da der Einzelne geistig noch fast ganz in die Volksgeistigkeit eingebettet ist, bedeutet Erziehung im wesentlichen noch "Nationalerziehung", - Erziehung der Völker durch Eingeweihte und Gesetzgeber (Manu, Zarathustra, Moses, Konfuzius u.a.). Daneben setzt zwar auch schon die Individualerziehung ein. Doch sind beide noch innig ineinander verschlungen. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß der weitaus überwiegende Teil aller auf den Einzelnen bezüglichen Erziehungsmaßnahmen darin besteht, ihm die geistig-religiösen und sittlich-gesellschaftlichen Überlieferungen seines Volkstums zu übermitteln und ihn in das System derselben einzugliedern.
Von den ersten Hochkulturen an werden auch die Erziehungsprinzipien und -institutionen geschichtlich faßbar. Wir erwähnten schon im ersten Bande, daß zum Beispiel in Indien in alten Zeiten, aber selbst noch bis in die neueren Jahrhunderte hinein das Hauptgewicht in der Erziehung auf die Ausbildung des Gedächtnisses gelegt worden ist. Obwohl die religiösen Überlieferungen schon lange vor dem Beginn unserer Zeitrechnung schriftlich fixiert worden waren, wurde dennoch ihr Inhalt auch weiterhin fas ausschließlich mündlich tradiert, und zwar in solchem Umfang und mit solcher Treue, daß es noch in unserem Jahrhundert eine große Zahl von Brahmanen gegeben hat, welche die über 10 000 Verse des Rigveda auswendig wußten. Das indische Erziehungssystem blieb in gewisser Beziehung auf der Stufe der rhythmisierten Erinnerung bestehen. Zu seinen wesentlichsten Elementen gehörte das Prinzip der stets in gleicher Form erfolgenden Wiederholung der Erinnerungsinhalte und Erkenntniswahrheiten, die es übermittelte. Besondere Sorgfalt wurde aber auch immer der Pflege der heiligen Sprache des Sanskrit durch lautkundliche und grammatische Übungen gewidmet. Ein anderes ihrer Elemente bildete die unbedingte Unterstellung des Schülers unter die Autorität des Lehrers, des Guru: das Verhältnis zwischen beiden war dasjenige von Vorbild und Nachahmung. Von geistiger Selbständigkeit des Einzelnen konnte im allgemeinen noch nicht gesprochen werden. Hiermit hängt das Weitere zusammen, daß die Angehörigen der Brahmanenkasten fast das einzige "Objekt", (S68) jedenfalls aber, als "Lehrstand", das ausschließliche "Subjekt" der Erziehertätigkeit waren.
Die durchgebildetsten Erziehungs- und Unterrichtsinstitutionen bestanden im alten China und Ägypten. Von der Organisation des altchinesischen staatlichen Schulwesens sagt K.A.Schmid in seiner "Geschichte der Erziehung" (Bd.I,1884), daß sie durchgebildeter gewesen sei als diejenige Deutschlands bis zum 18. Jahrhundert. Elementare, mittlere und höhere Schulen, mit entsprechend abgestuftem Prüfungswesen, einem Heere von Inspektoren und Examinatoren waren vorhanden. Ja, man koann das altchinsesische Staatswesen im Ganzen geradezu als eine umfassende nationalpädagogische Institution bezeichnen. Die Staatsbürger waren gewissermaßen alle die gleichberechtigten Kinder jener großen Familie, deren väterliches Oberhaupt der Kaiser bildete. Man hat das alte China daher auch schon als eine große "Kinderstube" bezeichnet. Zum Lesen und Schreiben als den Hauptgegenständen der unteren Schulstufen, die zum Studium der heiligen Schriften vorbereiteten und hinführten, gesellten sich auf den höheren Stufen moralische, religiöse, geographische, naturkundliche Unterweisungen. Der Grundcharakter dieses ganzen Bildungswesens war aber dennoch dadurch gekennzeichnet, daß es noch nicht die geistige Selbständigkeit und freie Produktivität seiner Zöglinge zum Ziel hatte, sondern ausschließlich die Aneignung des Überlieferten und die Einfügung der heranwachsenden Generation in die Tradition, in die bestehenden Verhältnisse. Jede einzelne Erziehungsmaßnahme war durch starre Normen bestimmt, - das ganze System gleichsam in eherne Formen gegossen. Neben dieser Ausrichtung desselben auf die Aneignung des Überlieferten und die Eingliederung in das Bestehende galt nur der Nutzen für die spätere berufliche Laufbahn und für die Bewältigung praktischer Aufgaben. In all dem kommt der noch halb instinktive Charakter zum Ausdruck, den die in dieser ganzen Bildung sich betätigende Intellektualität trug.
Ein Ähnliches gilt vom Erziehungswesen der alten Ägypter, vielleicht des "gelehrtesten" unter allen älteren Völkern. Trotz der bei ihnen, allerdings in schwächerer Ausprägung als in Indien, herrschenden Kastenordnung waren ihre (von Priestern geleiteten) Unterrichtsanstalten Kindern aus allen Ständen zugänglich; ja selbst die Mädchen lernten lesen und schreiben. Nicht weniger als die Wissenschaften wurden außerdem bei ihnen auch die verschiedenen Künste an besonderen Lehranstalten gepflegt. Aber auch hier bildeten die beiden Grundmerkmale aller Erziehung einerseits die ausschließliche Ausrichtung derselben auf praktische Zwecke, andererseits die ausschließliche Gebundenheit an heilig gehaltene Überlieferungen, welche eine freie Bewegung und Entwicklung des Individuums verunmöglichte und je länger, desto mehr in völlige geistige Erstarrung einmündete.
IV.
(S69) Eine gegenüber allem Früheren radikale Umgestaltung erfuhr das Erziehungswesen erst durch das Griechentum (Siehe hierzu Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3Bde.) Dieses erst hat zum Ziele desselben die Bildung des Menschen zum Menschen schlechthin proklamiert. Er soll nach griechischer Auffassung nicht nur in ein aus der Vergangenheit Überkommenes hineinwachsen oder für eine künftige praktische Berufsarbeit tauglich gemacht werden, sondern um dessentwillen, was er ist: um seines Menschtums willen gebildet werden. So wird die Verwirklichung seines eigenen Wesens jetzt zum Zweck der Erziehung. Freilich war für das Bewußtsein der Griechen wenigstens in älterer Zeit das Rein-Menschliche noch nicht durch die menschliche Individualität als solche vertreten, sondern durch das, was ihnen als das Typisch-Menschliche erschien. Dieses aber sahen sie vor allem durch zwei Momente gekennzeichnet. Fürs erste durch jene Harmonie zwischen Körper und Geist, die ihr Ideal der Kalokagathie, - und die später das Römertum durch dasjenige des "mens sana in corpore sano" zum Ausdruck brachte. Demgemäß bestand die griechische Erziehung nicht bloß in einer Ausbildung der geistigen, sondern zugleich in einer ebensolchen der körperlichen Fähigkeiten und Kräfte. Der letzteren diente bekanntlich die Gymnastik mit ihren fünf Hauptübungen: Laufen, Springen, Ringen, Diskus- und Speerwerfend, die im Wagenrennen als der sechsten gipfelten. Die erstere dagegen erfolgte durch die sprachlich-musische und die denkerisch-philosophische Schulung. Auch insofern strebe das Griechentum nach einer harmonischen Ausbildung aller menschlichen Wesenskräfte, als nicht nur die auf die Weisheit und Wahrheit gerichteten Fähigkeiten des Denkens und Erkennens, sondern auch die auf das Gute und Gerechte veranlagten des Begehrens und Wollens durch entsprechende Gewöhnung gebildet werden sollten. Und diese auf das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist, zwischen Wahrheit und Güte zielende Bildung erhielt ihre höchste Besiegelung dadurch, daß sie in ihrer Gesamtheit von dem im Elemente der Schönheit webenden Atem des Künstlerischen durchhaucht war.
Das andere Hauptmoment des Typisch-Menschlichen erblickte der Grieche darin, daß der Mensch ein Zoon politikon, - ein in staatlicher Gemeinschaft lebendes Wesen sei. Insofern fiel für ihn der "Mensch" mit dem Staatsbürger zusammen. Der Mensch ist nach griechischer Auffassung nur insoweit voller Mensch, als er am Leben des Staates als Mitwirkender in dessen verschiedenen Funktionen der Gesetzgebung, Regierung, Rechtsprechung, Kriegführung teilnimmt. Bis zu welch extremen Konsequenzen diese Auffassung in Sparta (S70) führte, ist bekannt und wurde im vorigen Kapitel bereits angedeutet. In welchem Sinn und Umfang sie selbst noch für Plato galt, haben wir im ersten Bande geschildert und dabei auch schon darauf hingewiesen, wie Plato deshalb gerade im Zusammenhang mit der Darstellung seines Staatsideals die von ihm vertretenen Prinzipien der Erziehung entwickelt. Dasselbe gilt zwar auch für Aristoteles und seine "Politeia"; doch geht dieser in der Darstellung seiner pädagogischen Maximen schon mehr vom einzelnen Menschen und dessen verschiedenen Entwicklungs- und Altersstufen aus, - wie denn auch in seinem Staatsideal der Einzelne nicht mehr nur als Glied eines Standes (das heißt eines Teiles des Staates wie bei Plato), sondern unmittelbar als Teil des Staates selbst erscheint; setzt sich dieser doch in seiner reifsten, von Aristoteles vertretenen Form: der "Politie" bzw. Demokratie aus den einzelnen einander gleichberechtigten Bürgern zusammen.
Mit dieser politischen Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig vom Stand ihrer Geburt, - einer Gleichberechtigung, die auch in Rom in der späteren Zeit der Republik im Laufe vieler Kämpfe errungen, und zuletzt durch die Verleihung des Bürgerrechts auch an Angehörige einstmals besiegter und unterworfener Völker, auch Fremdblütigen zugute kam, erlangte der Einzelne schon in der vorchristlichen griechisch-römischen Antike in rechtlicher Beziehung die Unabhängigkeit gegenüber den Blutszusammenhängen, aus denen er hervorgegangen war. Auf diese Verselbständigung der Einzelpersönlichkeit zielte aber im Grunde genommen die griechisch-römische Kultur von ihren Anfängen an durch ihren Gesamtverlauf hindurch als auf ihr letztes Ergebnis hin. Erscheint es doch wie ein prophetischer Hinweis auf diesen in ihr wirkenden Grundimpuls, daß schon die mythischen Heroengestalten ihrer Frühzeit, die in der einen oder anderen Ar als die Inauguratoren oder Vorbilder ihrer Lebensideale angesehen und verehrt wurden, fast durchweg - wie im Falle des Herkules, Theseus, Oedipus, Jason, Aeneas, Romulus uw. - durch das Schicksal in Kindheit oder Jugend aus ihren Blutszusammenhängen herausgerissen, von Fremden aufgezogen, in fremde Umgebungen verschlagen usw. wurden. Aber noch ein anderes, namentlich für die griechische Kultur auf allen Gebieten grundcharakteristisches Moment ist hier zu nennen, das zur freien Entfaltung der Einzelpersönlichkeit außerordentlich stark beigetragen hat: das Prinzip des Agon, des Wettkampfes. Wir finden es gleichermaßen in den gymnastischen Wettspielen wie in den Wettkämpfen der Dichter und Sänger, in den dialektischen Wortgefechten der Philosophen wie im Wettstreit der Politiker um Führung und Herrschaft. Schließlich ist in diesem Zusammenhang der gewaltige geistig-pädagogische Impuls zu nennen, der von der Wirksamkeit des Sokrates ausgegangen ist. Dieser rühmte sich nicht nur, sein eigenes Wissen nicht aus der Einweihung in die Mysterien empfangen zu haben, sondern bemühte sich auch, in seinen Gesprächen mit den Jünglingen und (S71) Männern Athens auf den Straßen und Plätzen der Stadt durch seine geistige Hebammenkunst seinen Gesprächspartnern bei der Geburt der Wahrheitserkenntnis aus ihrer eigenen Seele heraus Hilfe zu leisten. So wurde durch ihn zum erstenmal in eindringlicher Art der Einzelne zur selbständigen geistigen Produktivität angeleitet und auf die Erkenntnis des eigenen Selbst als auf das höchste Ziel alles Erkennens gewiesen. Auf diese Erweckung geistiger Selbsttätigkeit hin aber war im Grunde die ganze griechische Erziehung veranlagt. Und so sehen wir denn auch, wie gegenüber den ananym-kollektiven mythischen Weltbildern der orientalischen Kulturen in Griechenland in großer Zahl und Mannigfaltigkeit die ersten persönlich errungenen und geprägten philosophischen Weltdeutungen hervortreten. Die Erziehung des Menschen zur geistigen Selbständigkeit durch das Denken, das sich in der Aristotelischen Logik bis zur Erfassung seiner eigenen Gesetze erhob, hatte in Griechenland eine erste Reifestufe erreicht. Nicht weniger aber tritt uns diese persönliche Originalität auch auf künstlerischem Gebiet entgegen in dem individuell gearteten Stil, den sowohl die großen lyrischen und dramatischen Dichter wie auch die großen Vertreter der bildenden Künste entwickeln.
Die letzte Reife erlangte dieser Prozeß in der Zeit des Hellenismus, als die griechische Kultur durch die Alexanderzüger nach Osten und die Ausbreitung des römischen Imperiums nach Westen hin zur "Weltkultur" sich ausweitete, und mit der Gründung dieser beiden Weltreiche eine Verschmelzung der verschiedenen Kulturen wie auch eine blutsmäßige Vermischung zwischen den verschiedenen Völkern eintrat, welche bis dahin mehr oder weniger abgeschlossen voneinander geblieben waren. Damit stand der Einzelne nun einer - wenn auch noch räumlich begrenzten - Weltkultur gegenüber, innerhalb welcher er seinen individuellen Standort zu erringen hatte.
Die vollständigste und prinzipielle Emanzipation der Einzelpersönlichkeit aus der Kollektivgeistigkeit der Blutsverbände begann aber doch erst mit dem Christentum, nach dessen Lehre in seinem Begründer der "Logos" in seiner ganzen Fülle beispielhaft in einmaliger Weise in einem einzelnen Menschen in Erscheinung getreten ist. Nach der einen Seite hin liegt nämlich die Bedeutung des Christentums nicht nur - wie es oftmals dargestellt wird - darin, daß es den Polytheismus der heidnischen Religionen durch einen höheren Monotheismus ersetzt, sondern darin, daß es an Stelle bloßer Nationalgötter die Verehrung eines der ganzen Menschheit gemeinsamen Göttlichen gesetzt hat. Es ist dies kein anderes als das weltschöpferische "Wort", das nach dem Evangelisten Johannes "im Anfange" war, durch das alle Dinge erschaffen worden sind, und das in Jesus Mensch geworden ist. Darum trat ja das Christentum von Anfang an als an alle Völker sich wendende Weltreligion auf und zwar die von ihm begründete Kirche als eine allmenschliche gedacht. Mit der Überwindung der früheren Nationalreligionen, mit denen ja die vorchristlichen (S72) Staatsbildungen eine untrennbare Einheit gebildet hatten, hängt es zusammen, daß das Christentum eine prinzipielle Scheidung des religiösen und des politischen Lebens herbeigeführt (Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist!), oder anders ausgedrückt: das Nationale seiner früheren religiösen Bedeutung entkleidet hat. Dieses erscheint fortan als eine Gegebenheit des irdisch-weltlich-geschichtlichen Daseins; die Beziehung zum Göttlichen dagegen ist eine Sache, die den Einzelnen als solchen angeht, unabhängig von seiner nationalen Zugehörigkeit.
Damit ist auf die andere Seite gewiesen, nach welcher das Christentum sich von den vorchristlichen Religionen unterscheidet. Während in diesen die Einzelnen als Angehörige ihres Volkstums, das heißt eines Blutsverbandes drinnenstanden, spricht jenes sie als Einzelne an, und zwar jeden Einzelnen, der menschliches Antlitz trägt, welcher Abstammung er auch immer sein mag. Das bedeutet aber, daß es ihn unmittelbar als Seele anspricht. Diese Seele wird aber innerhalb des Christentums von Anfang an als die Geist-Seele verstanden, zu welher sie durch die vorangehende Entwicklung geworden war. Hatte doch schon Aristoteles jedem einzelnen Menschen einen individuellen Geist (Nus) zugesprochen, der sich bei der Geburt mit dessen Seele verbinde, und diesem eine Fortdauer über den Tod hinaus zuerkannt. Allerdings ermangelte die Charakteristik der Verbindung von Seele und Geist im Menschen bei Aristoteles noch eindeutiger Bestimmtheit. Daß das Christentum die menschliche Seele als Geist-Seele verstand, geht vor allem daraus hervor, daß es mit einer Entschiedenheit, wie dies durch keine frühere Religion geschehen war, ihre Unsterblichkeit gelehrt und als ihre letzte Bestimmung, die zu erreichen ihr freilich erst durch die Erlösungstat auf Golgatha ermöglicht worden sei, ein "ewiges Leben" in der göttlich-geistigen, himmlischen Welt bezeichnet hat. Dieser ihr Geist-Charakter, der ihr als Einzelseele zukommt und sie über alle ihre blutsmäßig-volkhafte Spezialisiertheit hinaus zum Repräsentanten des Gesamtmenschlichen macht, wird - wie schon im ersten Bande erwähnt - bildhaft versinnlicht in dem die Begründung der christlichen Kirche darstellenden Pfingstgeschehen: in der Herabkunft der feurigen Zungen des "Heiligen Geistes" auf jeden einzelnen der Apostel und der damit erfolgenden Be-Gabung derselben mit der Fähigkeit, die christliche Heilsbotschaft in Worten zu verkündigen, welche Angehörige verschiedenster Sprachen und Völker verstehen konnten. Daß diese individuelle "Begeisterung" der menschlichen Seelen mit deren Fähigkeit des selbständig-selbsttätigen Denkens und der ihnen dadurch zukommenden Unvergänglichkeit als untrennbar zusammengehörig gedacht werden muß, kam auf der Höhe der mittelalterlichen Geistesgeschichte noch zu einem bedeutsamen Ausdruck in dem Kampfe Thomas' von Aquin gegen die arabischen Vertreter des Aristotelismus. Während diese - orientalischer Denkweise gemäß - den intellectus agens, den tätigen Verstand, den (S73) Aristoteles dem Menschen zugesprochen hatte, als einen einheitlich-übermenschlichen, gewissermaßen kollektiven auffaßten, der in die einzelnen menschlichen Seelen während ihres Erdenlebens nur hereinleuchtet, und demgemäß diesen Seelen als solchen keine Unsterblichkeit zugestanden, begründete Thomas deren Unvergänglichkeit gerade damit, daß er im Sinne des recht verstandenen Aristoteles den tätigen Verstand als ihnen selbst zukommendes Vermögen aufwies.
V.
Dieses individuelle, in der Erzeugung der "universalia post res" schöpferische Denken erhob sich allerdings - wie im ersten Bande schon wiederholt geschildert - zur höchsten Stufe seiner Reife erst im Beginne der neueren Zeit. Zeugnis hierfür legt die moderne Wissenschaft ab, die jetzt als von jeder religiösen Dogmatik unabhängige, freie Forschung entsteht und sich ausschließlich auf die (immer an die je einzelne Persönlichkeit gebundene) Erfahrung und das im Denken sich betätigende Urteilsvermögen und Wahrheitsgewissen begründet. Schon einer ihrer Inauguratoren, Francis Bacon lehnt daher die Herrschaft aller von wo immer übernommenen begrifflichen "Idole" in der Wissenschaft ab und postuliert als einzig berechtigte Methode derselben die immer wieder neue, ursprüngliche Bildung der Begriffe auf Grundlage der Erfahrung. Aus derselben Gesinnung heraus begründet sein etwas jüngerer Zeitgenosse Amos Comenius eine abermals völlig neue, eben die eigentlich moderne Erziehungs- und Unterrichtsmethode, indem er zum Fundament aller Schulbildung die Anschauung der Gegenstände und Naturtatsachen macht, auf welches die Begriffsbildung aufgebaut werden soll. Alle unterrichtliche Bildung soll also die selbsttätige, schöpferische, auf der eigenen Erfahrung fußende Gedankenproduktion anregen. Ungefähr zur selben Zeit zieht Descartes, der Vater der modernen Philosophie, alle bloß auf Überlieferung beruhenden wissenschaftlichen Lehrmeinungen in Zweifel und findet den Grundstein aller künftigen Erkenntnisbildung allein in der Besinnung auf die im tätigen Denken als Gewißheit erfahrene Wirklichkeit des eigenen Ichs.
Demselben Tatbestand verdanken im tieferen Grunde auch die religiösen Reformationsbewegungen dieser Jahrhunderte ihre Entstehung; denn worum es in diesen letzten Endes geht, das ist die Selbstbestimmung der menschlichen Persönlichkeit auch auf dem Gebiete des religiösen Lebens, die u.a. in dem Recht zur eigenen, selbständigen Interpretation der religiösen Urkunden des Christentums (Glaubensfreiheit) und der daraus folgenden selbständigen Auffassung und Formulierung der religiös-sittlichen Lebensideale (Gewissensfreiheit) ihren Ausdruck findet. Und abermals dieselbe Tatsache liegt der aus dem Naturrecht sich herausbildenden modernen Staatsauffassung zugrunde, welche (S74) das staatliche Leben aus Verträgen zur Sicherung der den einzelnen Menschen "von Natur aus" zukommenden Rechte (auf Leben, Freiheit, Eigentum usw.) herleitet und so zum Begriffe der Volkssouveränität gelangt. Sie führt in der Französischen Revolution dazu, daß die Ständeordnung überwunden und das Prinzip der politischen Gleichberechtigung aller Bürger im Sinne der modernen Demokratie als unabdingbare Grundlage moderner Staatsbildung anerkannt wird. So wird das moderne Leben auf allen seinen Gebieten immer entschiedener auf das Fundament der freien Selbstbestimmung des Einzelnen gebaut. Man darf daher behaupten, daß im Grunde die ganze neuere Geschichte - wenigstens der westlichen Welt - einen einzigen großen Kampf darstellt, in dessen zwischen Fortschritten und Rückschlägen wechselndem Verlauf diese Selbstbestimmung dennoch für die verschiedenen Gebiete des Lebens der Reihe nach errungen wird. Die wesentlichsten Etappen dieses Kampfes bilden die Erringung dieser Freiheit für das geistige (religiöse und wissenschaftliche) Leben im 16. und 17. Jahrhundert, ihre Erlangung für das staatlich-politische Leben im 18. und 19. Jahrhundert und zuletzt ihre Eroberung auch für das wirtschaftliche Leben im 19. und im Beginne des 20. Jahrhunderts. Nur hingedeutet sei schließlich darauf, wie mit all diesen Errungenschaften zusammenhängt u.a. die seit dem 19. Jahrhundert eingetretene auch blutsmäßige Vermischung der ehemals gegeneinander abgeschlossenen Stände wie überhaupt die immer mehr in die freie Entscheidung des Einzelnen übergehende Wahl des Ehepartners, ferner die freie Wahl des Berufs nach den individuellen Neigungen und Begabungen, und endlich seit der Wende zum 20. Jahrhundert die volle Gleichstellung der Geschlechter in bezug auf politische Rechte und berufliche Betätigung.
Läge nichts anderes vor als die Tatsachen, die, weil sie ja allbekannt sind, im Vorangehenden nur in flüchtigster Skizze angedeutet wurden, so hätte im Verlauf der neueren Zeit bereits der Tatbestand im menschlichen Bewußtsein sich geltend machen müssen, dßa man es bei den menschlichen Individualitäten, wie sie seither im Erdendasein im allgemeinen zur Erscheinung kommen, mit ganz anderen Realitäten zu tun hat, als dies in der Antike oder selbst noch im Mittelalter der Fall war. Im Genie-Kultus des 18. Jahrhunderts hat sich eine Empfindung hiervon an die Oberfläche gerungen. Aus dieser Empfindung heraus stellte zum Beispiel Klopstock dem Anruf an die Muse, mit dem noch Homer seine Epen begonnen, den Anruf an die unsterbliche Seele des Menschen im Eingang seiner Messiade gegenüber: "Sing unsterbliche Seele des Menschen Erlösung..." Man erblickte damals im geistigen Schöpfertum der menschlichen Persönlichkeit, das im Genius nur in gesteigertem Maß in Erscheinung tritt, etwas, durch das diese sich wesensverwandt geworden zeigt einem Göttlichen, das in älteren Zeiten noch über der einzelnen menschlichen Persönlichkeit gestanden hatte. In der Weltbedeutung, welche die (S75) deutsche idealistische Philosophie dem menschlichen "Ich" zuschrieb, klang diese Empfindung abermals mächtig auf. Es ist in der Tat im Grunde unmöglich, den Drang nach Selbstbestimmung, wie er den modernen westlichen Menschen kennzeichnet, nur aus den äußeren zivilisatorischen Verhältnissen und Gegebenheiten zu erklären, in die er hineingeboren wird. Außerdem bliebe dann wieder unerklärt, aus welchen Triebkräften heraus dieser neueren Zivilisation auf allen Gebieten eine solche Gestaltung erkämpft worden ist, welche der einzelnen Persönlichkeit einen so weiten Spielraum freier Selbstbestimmung gewährt. Man kann selbstverständlich im Einzelnen allerlei Ursachen und Zusammenhänge anführen, welche die Herausbildung dieser Verhältnisse "erklären", - und doch bleibt sie im tieferen Sinne dadurch unerklärt. Daß man dies heute im allgemeinen nicht sieht - und es handelt sich hierbei in der Tat nicht um etwas, das durch Argumente bewiesen oder durch Gegenargumente widerlegt werden kann, sondern um etwas, das "gesehen" oder nicht gesehen wird -, hat seinen Grund in einem anderen Tatbestand, der mit den vorangehend geschilderten allerdings untrennbar zusammenhängt. Er braucht hier, weil er an sich ja auch wohlbekannt ist, ebenfalls nur angedeutet zu werden.
Das Selbstschöpferischwerden der menschlichen Persönlichkeit im Denken hatte ja zunächst zur Folge, daß - wie es bereits im Nominalismus des Spätmittelalters zum Ausdrucke kam - das Begrifflich-Ideelle mehr und mehr als etwas empfunden wurde, das nur in der menschlichen Seele eine, allerdings sehr scheinhaft-flüchtige "Realität" besitzt. Die Kehrseite der Sache war diese, daß die Außenwelt immer mehr als eine rein materielle erschien. Die materialistische Weltauffassung der modernen Naturwissenschaft ist als die unvermeidliche Folge hiervon entstanden. Hinzu kam - wie auch schon im ersten Bande erwähnt -, daß durch die fortschreitend sich steigernde Abstraktionsfähigkeit des Denkens erst seit dem Beginne der neueren Zeit jene ganz allgemeinen, in mathematischen Gleichungen formulierbaren Naturgesetze erfaßt werden konnten, welche die Vorgänge der anorganisch-mineralischen Welt beherrschen. Dadurch wurde ja erstmals für die neuere Menschheit die anorganisch-physikalische Welt überhaupt erkenntnismäßig durchdringbar, die früheren Epochen noch verschlossen geblieben war. Ja, sie wurde - wegen dieser Gestaltung des menschlichen Denkens - jetzt sogar die einzig erfaßbare. Die Folge davon war, daß die mechanistische Erklärungsweise auch auf die Bereiche des Belebten und Beseelten ausgedehnt oder mit anderen Worten die ganze Welt mechanistisch vorgestellt wurde - einschließliche des Menschen (De la Mettrie's "L'homme machine"). Dadurch aber bildete sich allmählich jener Widerspruch heraus, der als Ur- und Grundwiderspruch der ganzen modernen Weltanschauung und Lebensauffassung, sofern sie sich auf den Menschen bezieht, innewohnt. Auf der einen Seite nämlich betrachtet der moderne (S76) Mensch - insofern er ein moralisch wollender und handelnder ist - als sein höchstes, heiligstes Lebensideal die freie Selbstbestimmung seiner Persönlichkeit auf allen Lebensgebieten. Auf der anderen Seite hält er, weil er mit seinem Denken nur das Materielle, nach mechanischer Gesetzmäßigkeit sich Vollziehende erfassen kann, - insofern er ein wissenschaftlich erkennender ist - sich selbst für ein bloß materielles Wesen, das in seinem Sein und Verhalten lückenlos geltenden Naturgesetzen unterworfen ist. Erkenntnismäßig muß er die Freiheit verneinen, die er willensmäßig erstrebt. Oder anders ausgedrückt: Erkenntnismäßig vermag er sich als die geistige Individualität nicht zu erfassen, der er seinsmäßig als moderner Mensch geworden ist.
Was alldem eigentlich zugrundeliegt, hatte sich in der Geistesentwicklung seit langem vorbereitet. Wir wiesen oben darauf hin, daß in ihrem Verlaufe die ehemals kollektive Geistigkeit sich individualisiert, das heißt mit den menschlichen Einzelseelen verbunden hatte. Wir schilderten, wie dadurch die Seele zwar zur "Geist-Seele", der Geist aber zum "Seelen-Geist" geworden war. Dennoch unterschied das frühe Christentum (Paulus!) im Menschen noch das Seelische (Psychische) vom Geistigen (Pneumatisches). Durch seine "Verseelischung" verdunkelte sich in der Folge aber immer mehr die Eigenwesenheit des Geistes. Er erschien wie einer zweite, höhere Seele im Menschen. Um die Einheit des menschlichen Wesens zu retten, erhob daher das achte ökumenische Konzil zu Konstantinopel vom Jahr 869 die Lehre zum Dogma, daß dem Menschen nicht zwei Seelen (eine "seelische" und eine "geistige"), sondern nur eine einzige zukomme, die aber "einige geistige Eigenschaften" besitze. So begreiflich dieser Konzilbeschluß war, so verhängnisvoll wirkte er sich - worauf Rudolf Steiner vielfach hingewiesen hat - in der Folge doch aus. Das Bewußtsein von der Eigenwesenheit des Geistigen gegenüber dem Seelischen schwand im späteren Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit immer mehr dahin. Der Geist tauchte in einem Maße in das Seelische unter, das sich zuletzt zum Übermaß steigerte. Dadurch entstand im modernen Menschen einerseits zwar der grenzenlose Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung seiner Persönlichkeit. Andererseits aber verhüllte sich dadurch zugleich für sein Bewußtsein immer tiefer, was die Eigenart des Geistigen selbst ausmacht. Solange der Geist noch als kollektiver in Hautfarbe, Volk, Stand fühlbar gewirkt hatte, wurde sein überpersönliches, universelles "numinoses" (C.G.Jung) Wesen deutlich empfunden. In der Hingabe an ihn fühlte sich die Seele in einer gewissen Mittelstellung zwischen dem rein Leiblichen einerseits und dem Göttlich-Geistigen andererseits, und dadurch auch gestützt in ihrer relativen Selbständigkeit gegenüber dem Leibe. Mit der Verfinsterung, die das Eigenwesen des Geistigen durch seine extreme "Verseelischung" erlitten, blieb für das Bewußtsein nicht bloß als außerseelische Welt allein die leiblich-materielle Welt übrig, sondern verlor auch das Seelische selbst immer mehr seine (S77) Selbständigkeit gegenüber der letzteren. Er mußte zuletzt sich selbst für ein bloßes Produkt oder "Epiphänomen" materieller Prozesse halten - wie es die "Psychologie ohne Seele" schließlich formuliert hat.
IV.
Ihren signifikanten Ausdruck hat diese Tatsache darin gefunden, daß seit dem 19. Jahrhundert, welches auf breiter Front die Anwendung der naturwissenschaftlich-materialistischen Denkweise auf den Menschen selbst gebracht hat, Vererbung und Milieu als die beiden Faktoren betrachtet wurden, durch welche der einzelne Mensch in seiner intellektuell-gemütlich-charakterlichen Prägung, kurz: in allem, was seine Persönlichkeit ausmacht, ausschließlich bestimmt sei. Hierbei wird die Vererbung mehr von der biologisch-anthropologischen, das Milieu mehr von der psychologisch-soziologischen Betrachtung aus betont.
Nun kann die Tatsache selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden, daß Vererbung und Umwelt auch für den heutigen Menschen wichtige Lebensfaktoren bedeuten. Worum es sich jedoch handelt, ist dies, daß diesen Faktoren durch die heute gemeinhin herrschende Auffassung eine Funktion zugeschrieben wird, in deren Zuerkennung nur die angedeutete Blindheit gegenüber der menschlichen Individualität zum Ausdruck kommt.
Wird heute die Biographie einer bedeutenden Persönlichkeit geschrieben, so wird hierbei fast durchgehend das, was als geniale Begabung nach einer bestimmten Richtung hin oder als Charaktereigenschaften bei der betreffenden Persönlichkeit in Erscheinung getreten ist, in der Reihe ihrer Vorfahren gesucht und teils bei dem einen, teils bei dem andern derselben auch - gefunden. Die in Frage stehende Persönlichkeit erscheint dann als das Produkt ihrer Vererbung. Dies ist aber doch nur ein Schein. Denn aus derselben Erbströmung hätten auch ganz andersgeartete und - begabte Persönlichkeiten hervorgehen können, - wie sich in all den Fällen erweist, wo eine solche Persönlichkeit Geschwister hat. Die Herleitung aus der Vererbung hat also für die Erklärung einer bestimmten Artung und Begabung einer Persönlichkeit nichts Zwingendes an sich. Offen bleibt immer die Frage, warum und wodurch aus einer Summe vorhandener Erbfaktoren in einem bestimmten Fall eine bestimmte Kombination ausgewählt wird. Die Beziehung zwischen Vererbung und Individualität muß also von anderer Art sein. Hierzu ist außerdem grundsätzlich das Folgende zu bemerken:
Vererbung ist allem Lebendigen eigentümlich. Die Fortpflanzung, durch welche die Gestalt des Vorfahren im Nachkommen sich wiederholt, ist in gewisser Hinsicht nichts anderes als Vererbung. Was sich von einer Generation (S78) auf die andere vererbt, ist der Gattungstypus, - ein Ganzes, das in der Gestalt, aber auch in vielen anderen Merkmalen, welche jenen kennzeichnen, sich manifestiert. Beim geschichtlichen Menschen kann nun als Gattungsmäßig-Typisches nicht bloß das Menschliche schlechthin und die Blutszugehörigkeit der Farbe, sondern muß auch Volk, Stand, Familie, kurz: alles dajenige gelten, worin während der geschichtlichen Phase als in ihren - oben schon genannten - verschiedenen Abstufungen die Kollektivgeistigkeit wirksam war und bis zu einem gewissen Grade auch heute noch ist. Damit ist zweierlei gesagt: erstens, daß es sich hierbei nicht um bloß Leibliches handelt, sondern auch um seelisch-geistige Eigenschaften und Kräfte, die eben mit den erwähnten blutsmäßigen Gruppenbildungen verbunden sind. Zum Zweiten, daß wir es dabei aber nicht mit individuellen seelisch-geistigen Merkmalen und Fähigkeiten zu tun haben, sondern mit gattungsmäßigen. In seinen bekannten Worten:
Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust, zu fabulieren.
hat Goethe in exakter Weise bezeichnet, was er an solchen gattungsmäßigen Merkmalen der Körpergestalt, des Temperaments und Charakters von seinen Eltern geerbt hat, - wobei diese Merkmale selbstverständlich auch in den letzteren nicht als solche ihrer Individualitäten, sondern eben als typische Eigenschaften vorhanden waren. Seine Persönlichkeit mit ihrer individuellen schöpferischen Geistigkeit ist durch all das aber in keiner Weise getroffen.
Zu berücksichtigen ist ferner, daß all dies Kollektivgeistige - wie schon erwähnt - im Lauf der Geschichte durch die Entwicklung der Individualgeistigkeit sich immer mehr abgeschwächt hat. Und zuletzt hat die vielfältige Blutsmischung, welche durch die von keinerlei standesmäßigen Typen immer mehr verwischt, so daß der Einzelne heute im allgemeinen die aus den mannigfaltigsten Gattungstypen herstammenden Merkmale in seiner Erbmasse vereinigt.
Wie nun einstmals in den frühgeschichtlichen Zeiten die Mischungen der Hautfarbe die Grundlage abgaben, auf welcher sich die vielfältigen Volksgeistigkeiten entfalten konnten, so sind in den Anfängen bereits seit der griechisch-römischen Antike, insbesondere aber in unserer Epoche die Mischungen der geschichtlichen Gebilde der Völker, Stämme, Stände usw. zur Unterlage geworden, auf welcher sich die Individualgeistigkeiten entfalten. Was ehemals herrschend und bestimmend gewesen, ist zu einer dienenden Rolle herabgesunken. Die (S79) Individualgeistigkeit als solche aber entwickelt sich auf dem Wege durch wiederholte Erdenleben, indem sie die Früchte der Erziehung, wie diese oben für die verschiedenen Epochen charakterisiert wurde, von dem einen in das andere hinüberträgt. Je nachdem, was sie so in ein je neues Erdenleben mitbringt, sucht sie bei der Wiedergeburt einen geeigneten Vererbungsstrom auf, der ihr vermöge der in ihm vorhandenen gattungsmäßigen Merkmale und Fähigkeiten als Grundlage dienen kann. Da ein solcher Familienzusammenhang in der Regel eine Vielzahl verschiedenster Eigenschaften umfaßt,kann er freilich als blutsmäßige Basis für das Sichauswirken einer Mehrzahl von Individualgeistigkeiten dienen. Die eine verwertet dabei diese, die andere jene Kombination dieser Eigenschaften. Daher kommt es, daß in Kindern derselben Eltern mit ihren verschiedenen Erbmerkmalen ganz verschiedene individuelle Geistigkeiten in Erscheinung treten. Es ist also die individuelle Geistigkeit selbst, welche innerhalb einer Erbmasse die für sie passende Kombination der Erbfaktoren wählt.
Um hierfür einen Blick zu bekommen, ist allerdings eines nötig, mit dessen Bezeichnung aber nur genannt wird, was für den weiteren Fortgang der geschichtlichen Entwicklung von unserem Jahrhundert an überhaupt zur Forderung geworden ist. Auf der einen Seite kann der oben gekennzeichnete Grundwiderspruch, der das moderne Kulturleben durchzieht, auf die Dauer nicht unaufgelöst bleiben, wenn es an ihm nicht zugrundegehen will. Nun ist ja aber in unserem Jahrhundert die universell-mechanistische Weltdeutung, welche diesen Widerspruch verursacht hat, schon weitgehend als unhaltbar erkannt worden. Die Eigenständigkeit der höheren Wesensreiche gegenüber dem Anorganisch-Mineralischen drängt sich dem Bewußtsein wieder immer entschiedener auf. Auf der anderen Seite wachsen die Menschen durch die Zivilisationsverhältnisse, wie sie sich in unserem Jahrhundert gestaltet haben, aus ihren national und blutsmäßig bedingten und begrenzten Geisteswelten immer mehr heraus. Das Aufflammen und Aufpeitschen nationaler uns rassischer Chauvinismen, das die erste Hälfte unseres Jahrhundert mit sich gebracht hat, ist nur das letzte Aufflackern und Sichaufbäumens von Kräften, deren Wirkungszeiten ihrem Ende entgegengehen. Notwendig ist heute, daß durch eine Erweiterung der geistigen Interessen das Geistige im Menschen sich gegenüber dem Seelisch-Persönlichen, mit dem es sich in den vergangenen Geschichtsepochen so innig verbunden hatte, wiederum mehr und mehr verselbständige. Im "Durchgang" durch das Seelische hat es den Charakter des Individuellen angenommen. Nachdem es diesen erworben hat, vermag es ihn auch zu bewahren, wenn es sich gegenüber dem Seelischen emanzipiert. Aber es tritt dann zugleich wieder sein überpersönlich-universelles Wesen hervor, das sich in der vergangenen Entwicklungsetappe immer mehr verdunkelt hatte. Nur tritt es dann in neuer Art hervor: nämlich so, daß der Geist sich dann (S80) gleichzeitig als individuell und universell, als einzelner und als menschheitlicher offenbart. Dieser Forderung, die mehr nach der moralischen Seite hin liegt, entspricht die andere, die sich in erkenntnismäßiger Hinsicht stellt. Sie geht dahin, daß auch begrifflich das Seelische und das Geistige im Menschen unterschieden werden. Das wird zur Folge haben, daß das Seelische auch in seiner Eigenwesenheit gegenüber dem Leiblichen wieder faßbar wird. Der Leib erscheint dann, kurz und grob gesagt, als das Äußere, Gattungsmäßige am Menschen, die Seele als das Innere, nur Persönliche, der Geist aber als dasjenige, was über diesen Gegensatz erhaben ist.
Ein Symptom für diese Forderung, die in den Notwendigkeiten unserer Zeit liegt, darf darin gesehen werden, daß in der Philosophie unseres Jahrhundert, insbesondere in den Bemühungen um eine philosophische Anthropologie als das Kern-Element des Menschen seine Geist-Wesenheit geltend gemacht wird, durch welche er in einer alle Erscheinungswelt transzendierenden Kommunikation und Wesensverwandtschaft mit dem Weltgrunde steht. Ein anderes, nicht minder bedeutsames Symptom liegt darin, daß von der Tiefenpsychologie eine unbewußte Sphäre im menschlichen Seelenleben entdeckt und deren tiefere Schichte von C.G.Jung als ein überpersönlich-kollektives Unbewußtes aufgewiesen worden ist, in welchem der einzelne Mensch nicht nur mit allen Mitmenschen, sondern auch in gewisser Weise mit dem Weltgrunde kommuniziert, und das gemäß den archetypischen Anlagen seines Erlebens und Verhaltens als das eigentlich Produktive in der Hervorbringung der religiösen und mythologischen Weltbilder, der künstlerischen Schöpfungen, ja selbst der philosophischen Systeme tätig ist. In bemerkenswerter Weise bahnt sich in dieser Unterscheidung eines persönlichen und eines überpersönlichen Elements innerhalb der menschlichten Seele diejenige zwischen Seelischem und Geistigem an; denn das kollektive Unbewußte ist nichts anderes als das im modernen Menschen in die völlige bewußtseinsmäßige Verdunkelung versunkene Geistige. Allerdings erfaßt die Jungsche Psychologie als bloße Psychologie, die sie sein will, das Geistige im Menschen nicht in dessen ureigenem Elemente, sondern bloß in seiner seelischen Projektion. Sie beschäftigt sich nur mit dem, was in der Seele durch die Einwohnung des Geistigen in ihr an Tendenzen, Fähigkeiten, Bedürfnissen usw. entsteht. Wie es sich mit dem Geistigen an sich selbst verhält, verbleibt außerhalb ihres Interesses. Außerdem faßt sie dieses Geistige, da sie es als an die leibliche Vererbung geknüpft betrachtet, nur als jene Kollektivgeistigkeit, als welche es vor allem in früheren Zeiten gewirkt hat. Daher schreibt sich die besondere Hinneigung des Interesses zu den archaischen Kulturen, welche die Jungsche Psychologie und ihre Vertreter charakterisiert. Man könnte die Jungsche Psychologie in gewissem Sinn als einen Averroismus in modernem Zeitgewande bezeichnen: Denn so wie einstmals Averroes den schöpferischen Verstand (nus poietikos) als ein Unindividuell-Übermenschliches (S 81) charakterisierte, das in die einzelnen Seelen während ihres Erdenlebens nur hereinleuchte, so hebt auch Jung das Überpersönliche, "Numinose" hervor, das dem kollektiven Unbewußten eigentümlich sei. Zwar betont er andererseits, daß der Entwicklungsprozeß der menschlichen Seele ein solcher der Individuation sei, der zunächst zu einer Differenzierung in einen Pol des Bewußtseins mit seinem Ich-Zentrum und in einen Pol des Unbewußten führe, sodann aber, auf seinen höheren Stufen, zu einem Wieder-Ganz-Werden der Seele hinstrebe durch Integration des Unbewußten vom Bewußten her. Aber dieser Individuationsprozeß bleibt nach Jung immer nur ein relativer, begrenzter, da das Unbewußte in seinen letzten Tiefen vom Bewußtsein niemals erreicht und erobert werden könne.
So wie aber im Mittelalter dem Averroismus gegenüber Thomas von Aquin die geistige Tätigkeit des Denkens für die menschliche Seele als die ihr ureigene in Anspruch nahm und darauf ihre Unvergänglichkeit im Sinne der damaligen Unsterblichkeitsvorstellung begründete, so hat in unserem Jahrhundert Rudolf Steiner der Tiefenpsychologlie gegenüber die Möglichkeit geltend gemachen, vom Seelischen her das Geistige selbst, obzwar stuenweise, so doch voll zu erobern, durch Erhebung von einem bloß seelischen zu einem rein geistigen Erleben, - eine Erhebung, die eine solche vom "bloßen" Denken (als der verseelischten Formd er Geistbetätigung) zu jenen höheren, rein geistigen Erkenntisarten der Imagination, der Inspiratiion und der Intuition ist, welche er als diejenigen der "Geistesforschung" betätigt und beschrieben hat, und durch welche das Geistige im Menschen als ein zugleich Individuelles und Universelles erkannt wird. Daraus ergab sich aber dann diejenige Unsterblichkeitsvorstellung, die der heutigen Entwicklungsstufe des menschlichen Bewußtseins entspricht, - eine Unsterblichkeitsvorstellung, die nicht mehr auf die Seele, sondern auf den individuellen Geist bzw. die geistige Individualität des Menschen bezogen wird, und derzufolge diese ihre Unsterblichkeit in der Wanderung durch wiederholte Verkörperungen darlebt. Durch diese Unsterblichkeitsvorstellung erweist sich zugleich der Mensch als geistige Individualität in solcher Weise mit der Geschichte verbunden, wie es zu erkennen für den heutigen Menschen eine Notwendigkeit geworden ist, - nämlich so, daß dadurch gleichzeitig die eine der Hauptfragen sich beantwortet, die er in bezug auf die Geschichte zu stellen sich gedrängt fühlt: die Frage, wie das einzelne Menschenwesen und Menschenleben im Gesamtprozeß der Geschichte drinnensteht. Die Entwicklung des individuell gewordenen Geistes im Menschen hat eben heute jene Reifestufe erreicht, die es ihm möglich macht, im Erringen der Reinkarnationserkenntnis seinen Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung sich ins Bewußtsein zu heben.
Die individuelle Geistgestalt eines Menschen offenbart sich denn auch dem auf sie sich richtenden Blicke vor allem in dem, was dieser in einem bestimmten (S82) geschichtlichen Zusammenhang als geistige Schöpfung, als Lebenswerk oder Lebensarbeit vollbringt. Es tritt dies in besonders markanter Form da in Erscheinung, wo wir es mit bedeutenden, genialen Individualitäten zu tun haben, so daß wir im Hinblick auf deren Leistung von einer bestimmten geistigen oder geschichtlichen Sendung zu sprechen pflegen, welche die betreffende Individualität zu erfüllen gehabt habe. In mehr oder weiniger deutlicher Ausprägung ist dies aber in jedem Menschenleben zu finden. Allerdings bedarf diese Geistgestalt, um sich auf Erden auswirken zu können, als Grundlage hierfür entsprechender Fähigkeiten, die sie aus der Vererbungsströmung empfängt, in welcher sie sich verkörpert.
Was ihre Beziehung zu dieser Vererbungsströmung betrifft, so hat sich für die geistige Forschung Rudolf Steiners herausgestellt, daß die menschliche Geistwesenheit nicht nur bei ihrer Verkörperung in einem bestimmten Erbstrom aus den in diesem enthaltenen Erbfaktoren eine bestimmte Kombination als Grundlage für ihr Wirken auswählt, sondern daß namentlich bedeutende Individualitäten sogar schon Jahrhunderte vor einer neuen Verkörperung von der geistigen Welt aus in die Erbfolge leitend hineinwirken, um sich eine Leiblichkeit vorzubereiten, welche eine für ihre Fähigkeiten und Aufgaben geeignete Vererbungsgrundlage abgeben kann. Damit hängt - so schreibt H.Poppelbaum (Sternenall, Schicksalsrätsel und Erdenwürde 1949,S108f.) - die Tatsache zusammen,
"daß viele der großen Genies der Menschheit eine lange Reihe oft begabter Vorfahren gehabt, aber selber keine genialen Nachkommen, ja manchmal überhaupt keine Nachkommen hinterlassen haben. In solchen Fällen erwiest sich eben noch deutlicher als bei Durchschnittsmenschen, daß eine lange, durch viele Generationen gehende Vorbereitungsperiode endlich zu der Bereitschaft eines Leibes führt, wie der der ins Erdendasein strebenden Individualität angemessen ist. Ein besonders sorgfältiges und oft entgegengesetzte Ströme miteinander mischendes Zusammenwirken ist erforderlich, um die gleichsam prekäre Aufgabe der Leibbereitung für das Genie zu lösen. Schon bevor das Genie selber erscheint, kündigt eine Anzahl begabter Ahnen die Richtung an, in der die Leibbereitung vorschreitet, und den Grad, bis zu dem sie gediehen ist. Diese Ahnen, als selbständige Individualitäten, machen sich gleichsam die vorbereitende Arbeit zunutze, umeinen ihnen selbst gemäßen Leib zu finden. Daher die große Anzahl von Musikern in J.S.Bachs Familie... Es wetterleuchtet gewissermaßen um das Genie herum von kleineren Begabungen, die ihm vorangehen und auch folgen. Wenn aber das Genie selber sich verleiblicht hat, lassen die Lebenskräfte des Leibesstammes nach, als hätten sie nun keine würdige Aufgabe mehr. (So sterben sowohl bei Shakespeare wie bei Goethe die direkten Nachkommen schon im zweiten Glieder aus). Gerade in dem Augenblicke, wo die angehäuften Fähigkeiten so zahlreich werden, daß sich deren Vererbung (S83) wie nie zuvor 'lohnen würde', setzt die Weitergabe aus. Diese zeigt, daß der Prozeß der Ahnenverflechtung (der beim Genie oft weit-hergeholte Seitenlinien heranzieht) sein Ziel und damit sein Ende erreicht hat."
Diese Tatsachen erweisen, daß die Individualität nicht nur nicht das Produkt der Vererbungsverläufe ist, sondern - in der soeben geschilderten Bedeutung - sogar deren Verursacherin sein kann. Poppelbaum zitiert in dem angeführten Zusammenhang ein Wort Steiners aus dessen "Geheimwissenschaft", welches bezüglich dieses wahren Verhältnisses von Persönlichkeit (Individualität) und Vererbung ein wichtiges Apercu enthält:
"Wenn der bedeutendste Name am Ende einer Blutsgenossenschaft steht, so beweist dies gar nichts für die Vererbung des Persönlichen selbst; ja, es beweist für eine gesunde Logik das gerade Gegenteil. Wenn sich nämlich die persönlichen (individuellen) Gaben sich vererbten, so müßten sie am Anfang einer Blutsgenossenschaft stehen und sich dann von hier ausgehend auf die Nachkommen vererben. Da sie aber am Ende stehen, so ist das gerade ein Zeugnis dafür, daß sie sich nicht vererben."
Als ein Gegenbild der heute geltenden Verhältnisse, das ex contrario die Wahrheit des von Steiner Ausgesprochenen erhärtet, kann ihnen nämlich dasjenige der Verhältnisse gegenübergestellt werden, die in jenen Zeiten bestanden, da die Individualentwicklung erst begonnen hatte und die Menschen in bezug auf kulturelle Produktivität in der Hauptsache noch aus der Kollektivgeistigkeit ihrer farbigen und völkischen Blutsverbände heraus lebten. Da war das durch die Generationen sich vererbende Typische noch nicht das Dienende, sondern noch das Herrschende, - und da stand der "bedeutendste Name" in der Tat am Anfang einer "Blutsgenossenschaft" - als ihr Stammvater. Daß er in der Regel als Halbgott oder Heros Gegenstand des Ahnenkultes war, deutet aber darauf hin, daß er nicht eine Einzelpersönlichkeit war, sondern entweder eine mythische "Kollektivpersönlichkeit" - wie etwa Adam, Kain und Abel, die Erzväter vor der Sintflut, oder selbst noch Noah und seine Söhne Sem, Ham und Japhet - oder aber ein Eingeweihter der Mysterien, der nicht aus seiner persönlichen, sondern aus der Geistigkeit seines Blutsverbandes heraus gewirkt hatte, zu deren besonderem Gefäß er durch seine Einweihung geworden war. Und zum anderen war es für jene "Blutsgenossenschaften" charakteristisch, daß sie nicht, wie die von Steiner gemeinten heutigen, mit einem Strome hätten verglichen werden können, der durch die Vereinigung vieler, von verschiedensten Seiten kommender, Zuflüsse entsteht, sondern mit einem Baume, der sich aus einem einzigen Stamme in verschiedene Äste verzweigt.
Was den einzelnen Menschen unserer Zeit entscheidend kennzeichnet, ist also nicht die durch seine leibliche Vererbung bedingte Veranlagung, sondern die aus früheren Verkörperungen herüberkommende Individualität, welche diese (S84) erbbedingte Veranlagung nur wie ein Kleid "anzieht". Es ist, genauer gesagt, die Art und Weise, wie seine Individualität im Laufe des Lebens diese Erbschaft sich zu eigen macht, durchdringt, beherrscht, nützt, verwandelt. Diese Aneignen und Nützen ist nicht ein bloßes Gebrauchen, sondern oft genug auch ein Kampf mit ihr und ein Überwinden derselben. Denn diese Anlagen sind nicht immer positive; es muß vielmehr um des Positiven willen,das in ihm liegt und benötigt wird, auch Negatives mit in Kauf genommen werden, das ebenfalls in ihnen enthalten ist, - ganz abgesehen davon, daß zu jeder Lichtseite an sich schon eine Schattenseite hinzugehört. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Erforschung der Erbvorgänge verhält es sich sogar so, daß in einigermaßen greifbarer Deutlichkeit heute überhaupt nur die negativen, ins Pathologisch-Defektive gehenden Elemente der Erbmasse feststellbar sind. "Wenn wir" - so schreibt A.Portmann in seinen "Fragmenten zu einer Lehre vom Menschen" (S128)
"von einigen wenigen und sehr belanglosen somatischen Eigenheiten absehen, so kennen wir den Erbgang nur von relativ beträchtlichen psychischen Störungen, die sich eben besser wissenschaftlich verfolgen lassen, nicht aber von normalen Eigenschaften der der einzelnen oder von Menschengruppen."
Es bildet daher ein wesentliches Charakteristikum des modernen Menschen gerade die stetige Auseinandersetzung seiner Individualität mit seiner Erbmasse. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung zeigt sich besonders in der zweiten Lebenshälfte. Denn die geistige Produktivität der ersten erfließt - im allgemeinen - noch überwiegend aus den leiblich ererbten Anlangen. Es gibt bekanntlich sogar eine spezifische Jugendgenialität. Setzt sich aber gegenüber diesen Erbanlagen die Individualität nicht genügend durch, so erlischt die geistige Schöpferkraft im weiteren Verlauf des Lebens entweder völlig oder sie erstarrt in einer Manier. Das im tiefsten Sinne Individuelle, das ein Mensch der Welt zu geben hat, tritt im allgemeinen erst im höheren Alter in Erscheinung, wenn die Kräfte des Leiblichen überhaupt zurückweichen. Wir können hier auf das verweisen, was im ersten Bande über die zu immer höheren Entwicklungsgestalten des menschlichen "Ich" führende seelisch-geistige Entwicklung ausgeführt wurde, die den geisteswissenschaftlichen Erkenntnisformen zugrundeliegt, und die wir zugleich als eine spezifische Altersentwicklung gekennzeichnet haben. Wir werden im nächsten Kapitel auf diese Problematik noch von einer anderen Seite her zurückkommen. Die geistigen Lebensbedingungen des heutigen Menschen zeigen so noch von einem anderen Aspekt her das für ihn geltende Verhältnis zwischen geistiger Individualität und vererbten Anlagen. Und in besonderer Weise wird dieses noch durch das Folgende beleuchtet:
Es liegt auf der Hand, daß eine Anschauung, die, für das wahrhaft Individuelle im Menschen blind, ihn ausschließlich als das Produkt seiner Vererbung betrachtet - wobei wir jetzt von dem Faktor des Milieus absehen -, ihm auch (S85) keinen Antrieb zu geben oder Hilfe zu leisten imstande ist für eine innere Eroberung und Verwandlung seiner Erbmasse durch seine Individualität. Und da diese Anschauung heute ja noch eine weithin herrschende ist, so ist damit auf eine wesentliche Ursache für den Tatbestand hingewiesen, der allerdings auch ein für unsere Zeit bezeichnendes Phänomen bildet: daß nämlich viele Menschen in ihrer seelisch-geistigen Entwicklung frühzeitig zum Stillstand kommen und einer immer weitergehenden Veräußerlichung verfallen. Dann empfindet sich der Mensch auch tatsächlich als ein bloßes Produkt der Vererbung. Denn gerade für den modernen Menschen - weil seine denkerische Bewußtheit zu seinem bestimmenden Merkmal geworden ist - gilt der (von Sartre betonte) Satz, daß er das wird, als was er sich denkt. Wenn er aber von seiner Individualität her die positiven Anlagen seiner Erbmasse nicht nützt, so treten im Laufe seines Lebens immer mehr ihre negativen hervor. Und er empfindet dann seine Vererbung mehr und mehr als erbliche Belastung. Er fühlt sich nicht nur unter dem Zwange einer naturgesetzlichen Determiniertheit stehen, der er nicht entrinnen kann, sondern er muß diese Determiniertheit zudem als eine ausgesprochen negative empfinden. Und eine Stimmung der Resignation allen Idealen gegenüber, eine pessimistische Lebensauffassung muß sich seiner bemächtigen.
Wieder können dem als Gegenbild die Verhältnisse früherer Zeiten gegenübergestellt werden, in denen die Menschen noch wesentlich durch die in ihrer Blutszugehörigkeit liegenden typischen Anlagen bestimmt waren. Durch die noch größere blutsmäßige Abgeschlossenheit der Völker und Stände voneinander waren die positiven und negativen, die edleren und unedleren Elemente blutsmäßig noch stärker voneinander geschieden, d.h. auf verschiedene Blutsverbände verteilt. Je nachdem, ob man hochwohlgeboren (eugenes) war oder nicht, gehörte man einer herrschenden oder dienenden Klasse an. Noch Aristoteles vertrat die Auffassung, daß es Menschenarten bzw. Völker gebe, die von Natur aus zur Sklaverei bestimmt seien. Trug man edleres Blut in sich, so genügte es, wenn man aus dessen Gaben heraus lebte und sich betätigte. Nicht so sehr ihr Streben, ihre innere Entwicklung verlieh den Menschen ihren Wert, sondern ihr Sein. Dadurch gerieten sie aber um die Lebensmitte noch keineswegs in eine innere Erstarrung - wie heute. Vielmehr hatten die blutsmäßigen Anlagen, weil ihnen noch eine gewisse jugendliche Frische und größere Vitalität eignete - Genaueres hierüber wird im nächsten Kapitel noch ausgeführt werden -. in sich selber die Möglichkeit, bis ins höchste Alter der Menschen hinauf geistig produktiv zu bleiben und auch erkenntnismäßig ihnen immer Neues zuwachsen zu lassen.
Heute lassen sich die Menschen nach ihrer Blutszugehörigkeit nicht mehr in herrschende und dienende Klassen, in Imperial- und Kolonialvölker einteilen, sondern fordern im Namen ihres Menschentums alle die gleichen Rechte. (S86) Dieses ihr Menschentum - wenn dies unter dem Einfluß materialistischer Anschauungen auch nicht immer in vollbewßter Erkenntnis erfaßt wird - liegt in Wahrheit aber doch in ihrem Individualitätscharakter, der ihnen allen, in welchem Blutszusammenhang sie auch geboren sein mögen, in gleicher Art zukommt. Und so erweisen die Tatsachen des gegenwärtigen Menschheitslebens selber, daß als der Repräsentant des Menschlichen schlechthin die Individualität empfunden wird. Und diese seine Individualität allein ist es auch, die dem Menschen, welche Erbmasse immer er überkommen haben mag, die Möglichkeit des Aufstiegs zu menschheitlicher Wirksamkeit und Bedeutung verleiht.
Damit ist schon darauf hingedeutet, daß grundsätzlich dasselbe Verhältnis wie zwischen Individualität und Erbmasse auch zwischen jener und dem Milieu besteht. Unleugbar bedeutet auch das geschichtlich-soziale Milieu, in welchem ein Mensch aufwächst, einen wichtigen Faktor seiner Lebensgestaltung. Aber auch es ist in Wahrheit nur irdische Grundlage und Material, das für sie benötigt wird, und - in durch die menschliche Individualität selbst bestimmter Auswahl - benützt wird. Wie ein bestimmter Vererbungsstrom, so wird auch eine bestimmte geschichtliche Umwelt von der sich wiederverkörpernden Individualität aufgesucht und nach Maßgabe dessen, was sie als "Lebensaufgabe" in das neue Erdendasein mitbringt. Von da aus eröffnet sich ein anderer Aspekt ihrer Geistgestalt, der sie in ihrer Biographie anschaubar werden läßt. Wäre der Mensch in seinem Kerne nicht Individualität, so wäre sein Hineingestelltsein in eine bestimmte Umgebung eine bloße Naturtatsache. Die Beziehung zwischen dieser Umgebung und seiner Individualität macht dieses Hineingestelltsein zu deren Schicksal. Die Biographie aber erwächst aus der Auseinandersetzung mit dem Schicksal, sei es im Sinne der Nutzung und Fruchtbarmachung seiner Gegebenheiten oder im Sinne ihrer Überwindung. Gerade für den modernen Menschen ist es erst möglich, aber auch notwendig, für den Begriff des Schicksals wieder einen substantiellen Inhalt zu gewinnen dadurch, daß er sich die Beziehung zwischen Individualität und Milieu in ihrem wahren Wesen zum Bewußtsein bringt. Er kann es dann allerdings nicht mehr als bloßes Fatum, Kismet oder Karma auffassen, dem er nicht zu entrinnen vermag, sondern nur als "Material", das ihm zu nutzen, zu gestalten, zu überwinden aufgegeben ist. Freilich ist hierfür die Überwindung der naturwissenschaftlich-materialistischen Denkweise notwendig, die nur den Begriff der naturgesetzlichen Determiniertheit kennt. Denn mit ihr läßt sich dieser Schicksalsbegriff nicht gewinnen oder nur immer wieder verlieren, indem sich an dessen Stelle derjenige des unüberwindlichen Bestimmtseins durch die Umwelt setzt. Das bedeutet aber praktisch, daß das Leben den Charakter einer echten Biographie einbüßt und denjenigen jenes bloßen Durchschnittsmenschentums annimmt, das in der Gegenwart allerdings auch immer mehr sich (S87) verbreitet. Denn auch in dieser Beziehung gilt, daß gerade der moderne Mensch das wird, wofür er sich hält.
Dieser Gefahr gegenüber, die als eine Lebenswirkung des naturwissenschaftlichen Materialismus heute in stets zunehmendem Umfange sich bemerkbar macht, darf aber darauf hingewiesen werden, daß gerade in den letzten vier Jahrhunderten dem Leben der Menschheit - wenigstens in der westlichen Welt - nichts so sehr das Gepräge gegeben hat wie die dauernde Überwindung und Umgestaltung der geschichtlichen Umwelt durch die in sie hineingeborenen Menschen. Es ist dies jener Kampf um die freie Selbstbestimmung der menschlichen Persönlichkeit auf allen Gebieten des Lebens, den wir weiter oben als den Grundzug der neueren Geschichte bezeichnet haben. Er kam zum Ausdruck in der dauernden Revolutionierung der Lebensverhältnisse - erst auf religiösem und wissenschaftlichem, sodann auf politisch-rechtlichem und schließlich auf wirtschaftlichem Felde. Diese Folge von Umwältzungen, welche die neuere Geschichte kennzeichnet, ist die eklatanteste Widerlegung der Behauptung von der Bestimmtheit der Menschen durch ihr geschichtlich-soziales Milieu, - mindestens hinsichtlich des modernen Menschen. Wäre diese Behauptung richtig, dann wären diese Umwälzungen niemals zustandegekommen.
Damit wird allerdings der Blick auch von diesem Gesichtspunkte aus zugleich wieder zurückgelenkt auf das Gegenbild dieser Verhältnisse, das ältere Zeiten darbieten. Für diese darf in gewisser Beziehung durchaus behauptet werden, daß der einzelne Mensch das Produkt seines geschichtlich-sozialen Milieus war, - hatte doch auch die damalige Erziehung, wie wir gesehen haben, das einzige Ziel im Auge, ihn in die als unantastbar geltenden überlieferten Verhältnisse und Anschauungen einzufügen. Daher der ungeheure Konservativismus in kultureller und sozialer Beziehung, der besonders den altorientalischen Kulturen eigen war. Denn damals stand die Entwicklung des Menschen zur selbständigen geistigen Individualität erst an ihrem Beginne. Darum hatte auch der Schicksalsbegriff, wie er uns in jenen Zeiten entgegentritt (als Karma, Tyche, Fatum, Kismet), noch den Charakter einer unausweichlichen Vorherbestimmung des Lebens.
VII.
Was durch alle diese Ausführungen aufgewiesen werden sollte, das ist, daß die charakteristischen Grundzüge des modernen Lebens selbst - für eine unvoreingenommene Betrachtung - erweisen, daß die menschlichen Individualitäten, wie sie in unserer Zeit im Erdenleben in Erscheinung treten, in sich selbst etwas anderes geworden sind, als was sie in alten Zeiten der Menschheitsgeschichte einstmals waren. Sie vermögen nur deshalb die Möglichkeiten (S88) des Wirkens, die ihnen das moderne Leben gewährt, innerlich auszufüllen, ja diese Möglichkeiten selbst immerfort zu erweitern, weil sie die Früchte jener Erziehung, welche die Geschichte darstellt und welche schon in früheren Epochen stufenweise erfolgt ist, in sich selbst aus vergangenen Erdenleben in das je gegenwärtige mitbringen. Wir deuteten bereits an, daß der Blick für eine so unbefangene Betrachtung, welche diesen Tatbestand wahrzunehmen vermag, sich allerdings nur dadurch erschließt, daß eine solche Erweiterung des Menschen-Begriffs errungen wird, welche Leibliches, Seelisches und Geistiges als drei relativ selbständige Elemente innerhalb des Menschenwesens unterscheiden. Ein so erweiterte Bild des Menschen, zu dem der Erkenntnisweg der Geistesforschung heute führt und zu dessen wesentlichen Elementen eben die Erkenntnis von der Wiederverkörperung des menschlichen Geistes gehört, war im Beginne der neueren Zeit noch nicht nötig und möglich. Es ist erst in unserem Jahrhundert notwendig geworden; denn durch die Lebenswirkungen, die von der seither entwickelten naturwissenschaftlichen Denkweise ausgehen, droht heute die Gefahr, daß der Mensch, indem er sich als das, was er seit der neueren Zeit in vollem Maße geworden ist: die geistig auf sich selbst gestellte Individualität, erkenntnismäßig nicht erfassen kann, auch lebensmäßig sich als solche nicht mehr zu behaupten imstande ist. Die geistige Nivellierung und Uniformierung, die politische Entrechtung der Menschen in den Diktaturstaaten, die in unserem Jahrhundert entstanden sind, sprechen in dieser Beziehung eine deutliche Sprache. Es ist ein so erweitertes Bild des Menschen andererseits aber dennoch in unserem Jahrhundert zu erringen zugleich möglich geworden dadurch, daß das auf der Erfahrung fußende begriffsschöpferische Denken, wie es die moderne Naturwissenschaft ausgebildet hat, heute die innere Reife erlangt hat, um selbst Gegenstand einer ins Seelisch-Geistige heraufgehobenen Erfahrung zu werden, - einer Erfahrung, in welcher die zugleich individuelle und universelle Wesenheit des in diesem Denken sich betätigenden Ichs erlebt werden kann. Diese Erfahrung führt aber - wie dies schon im ersten Bande geschilderte wurde - in ihrer weiteren Vertiefung zur Erkenntnis der Tatsache der Wiederverkörperung der geistigen Individualität des Menschen.
Es ist dieser Fortgang von der Naturwissenschaft zur Geisteswissenschaft im anthroposophischen Sinne auch aus dem Grunde notwendig, weil innerhalb der modernen Kultur besonders in unserem Jahrhundert ein ähnlicher Prozeß - nur in viel umfassenderem Maße - sich vollzieht, wie er - auf engerem Raume - innerhalb der griechisch-römischen Antike durch die Alexanderzüge und die Ausbreitung des römischen Imperiums eintrat. Wie damals von Spanien bis an die Grenzen Indiens eine Verschmelzung der verschiedenen Kulturen und Völker, die in diesem Raume früher mehr oder weniger isoliert voneinander zur Entfaltung gekommen waren, zu der hellenistischen "Weltkultur" (S89) zustandekam, und der Einzelne dadurch aus der ehemaligen volks- und standesgemäßen Gebundenheit gelöst und einerseits ganz auf sich selbst, andererseits in die damalige "Weltkultur" hineingestellt wurde, - so findet heute eine die ganze Erde umfassende Verschmelzung und Vereinheitlichung nicht nur der nationalen, sondern auch der Kulturen statt, die in den verschiedenen Hautfarben ihre Grundlage hat. Diese waren bisher noch mehr oder weniger gegeneinander abgeschlossen und werden nun von einer die totale Menschheit umspannenden Weltkultur umspannt. Ihr drückt dennoch aber diejenige, die in den letzten Jahrhunderten in Europa sich entwickelt hat, im wesentlichen das Gepräge auf, wenngleich diese zugleich bedeutsamste Einwirkungen aus den orientalischen Kulturen nicht mehr abzuwehren vermag. Die hierdurch bedingte auch blutsmäßige Vermischung über alle Schranken hinweg, die schon seit längerer Zeit eingesetzt hat und in der Zukunft weiter fortschreiten wird, bewirkt, daß der Einzelne in immer wachsender Häufigkeit verschiedenste Elemente in seiner Erbmasse tragen und sich so blutmäßig und kulturell als "menschheitlicher" Mensch in diese Weltkultur hineingestellt sehen wird.
Wie aber zur Zeit des Hellenismus innerhalb der Antike das Christentum in die Welt trat, das den Einzelnen prinzipiell nicht mehr als Angehörigen einer volksmäßigen Blutsgemeinschaft, sondern als individuelle Seele - als Geist-Seele - ansprach und in der Kirche, wenigstens der Idee nach, eine allmenschliche Gemeinschaft begründete, - so fordert unsere Zeit einen geistigen Impuls, welcher den Einzelnen nicht mehr nur als individuelle Geist-Seele, sondern in vollem Maße als individuellen Geist erfaßt, der eine gegenüber dem Leiblichen überhaupt unabhängige Realität darstellt und ein Repräsentant der Gesamtmenschheit auch dadurch ist, daß er, durch die Folge seiner Verkörperungen hindurchschreitend, zum Bürger aller Zeiten und Kulturen wird. Eine geistige Relität, die nicht nur - im Erdenleben - geistig-kulturschöperisch tätig ist, sondern auch - im Dasein zwischen Tod und neuer Geburt - bis in die Bereitung der leiblichen Erbmasse und die Wahl der geschichtlichen Umwelt hinein sich betätigt, innerhalb welcher sie sich dann verkörpert. Nur ein so erweitertes und vertieftes Menschenbild wird den erkenntnismäßigen und lebensmäßigen Anforderungen gerecht, welche von unserer Zeit an den Einzelnen gestellt sein werden.
Dazu muß aber noch ein Weiteres kommen: nämlich eine der heutigen Entwicklungssituation entsprechende abermalige fundamentale Umgestaltung der Erziehungsprinzipien. Wenn in den frühgeschichtlichen Kulturen Erziehung überhaupt noch überwiegend Völkererziehung war und den Einzelnen, soweit sie ihn betraf, nur in die Überlieferung seines Volkes einzugliedern hatte, so muß sie sich in der Zukunft ganz und gar auf die Entwicklung und Bildung des Einzelnen als solchen beziehen. Und wenn im Aufgang der neueren Zeit Comenius zum Fundament moderner Erziehung den Anschauungsunterricht (S90) proklamierte, durch den der heranwachsende Mensch zur selbständigen Bildung von Begriffen angeregt werden sollte, so wird für die Zukunft als das grundlegende pädagogische Prinzip zu postulieren sein die Befreiung und Entfaltung aller schöpferischen Fähigkeiten, welche die menschliche Individualität als Ergebnis früherer Erdenleben in das je gegenwärtige mitbringt. Erkannt wird werden müssen, daß der Erzieher nichts in das Kind hineinlegen kann, - daß er ihm auch nicht seine eigene Weltanschauung und Lebensauffassung beizubringen hat, sondern durch seine unterrichtliche Tätigkeit lediglich die eigenen schöpferischen Kräfte zur Entfaltung bringen soll, die im Kinde schlummern, indem er die Hemmnisse hinwegräumt, welche der Entwicklung derselben im Wege stehen. Hierbei erlangt die Übermittlung des Unterrichtsstoffes der verschiedenen Lehrfächer eine ganz neue Bedeutung, welche gewissermaßen die Umkehrung derjenigen darstellt, die ihr in alten Zeiten zukam. Wenn damals - wie angedeutet - die Übermittlung des überlieferten Wissens Selbstzweck war bzw. die Einfügung der heranwachsenden Generationen in die überkommenen Verhältnisse zum Ziel hatte, so wird sie hier umgekehrt zum Mittel der Entfaltung der schöpferischen Eigenkräfte des Zöglings. Denn als der Mikrokosmos, welcher der Mensch ist, eignet ihm mit jedem Weltengebiete irgendeine Verwandtschaft. Durch jedes Tatsachengebiet, mit dem er bekannt gemacht wird, kann ein Element seines eigenen Wesens angesprochen, eine Saite in ihm zum Schwingen gebracht werden. So kann durch die Einführung in die verschiedenen Weltengebiete dem Zögling die Möglichkeit geboten werden, daß das in ihm erwacht, was als besondere Gabe in ihm veranlagt ist. Allerdings ist hierfür außerdem notwendig, daß die Übermittlung des Lehrstoffes wie überhaupt die gesamte Unterrichtsmethodik ständig ihre Form wandelt entsprechend den Altersstufen, welche der heranwachsende Mensch durchschreitet.
In den Erziehungsidealen, wie sie der mitteleuropäische Neuhumanismus der Goethezeit (Herder, Pestalozzi, Humboldt, Schleiermacher u.a.) entwickelt hat, sind diese neuen Zielsetzungen und methodischen Prinzipien der Pädagogik zum erstenmal geltend gemacht worden, - allerdings noch weitgehend in Wiederaufnahme und Fortbildung derjenigen des Griechentums. Erst in der von Rudolf Steiner aus der Anthroposophie heraus begründeten pädagogischen Methodik, die heute schon an zahlreichen Schulen in vielen Ländern gepflegt wird, sind sie restlos aus den spezifischen Gegebenheiten und Bedingungen der gegenwärtigen Menschheit heraus begründet worden und haben in dieser Form die Anfänge ihrer Verwirklichung erfahren.
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nächstes Kapitel: 3. Fortschritt + Rückschritt