4. Universitätsstudium und anthroposophische Hochschularbeit
Mit meinem Übergang von Tübingen nach Heidelberg im Herbst 1919 begann eine neue Phase meines akademischen Studiums. Ich stand damals im 21. Lebensjahre. Ich hatte mich inzwischen so tief in die Anthroposophie, ihre erkenntnistheoretische und methodische Fundierung hineingearbeitet, daß mir klar geworden war: wenn ich in ihrem Sinn tätig werden wolle, werde es sich in erster Linie darum handeln, von ihr her mich mit der heutigen Wissenschaft auseinanderzusetzen beziehungsweise von beiden Seiten her Brücken zwischen ihnen zu schlagen. Dazu würde es jetzt aber vor allem nötig sein, auch die Wissenschaft, wenigstens auf den Gebieten, die für mich in Frage kommen, ernsthaft genauer kennenzulernen. Diesem Ziel, das ich mir setzte, kam von seiten der Wissenschaft der glückliche Umstand entgegen, daß ich in Heidelberg Professoren kennen lernte, die als Menschen und als Forscher mich stark beeindruckten. Die Philosophie, die für mich wieder an die erste Stelle gerückt war, wurde damals dort vertreten einerseits durch den schon älteren Heinrich Rickert. Eine wohlbeleibte Gestalt mit einem prachtvollen bärtigen Philosophenhaupt, kam er von seiner Villa am rechten Neckarufer unterhalb des Philosophenwegs, in der er auch seine Seminare abhielt, zu seinen Vorlesungen regelmäßig in einer Pferdekutsche angefahren und wurde dann von seiner Frau in den Hörsaal geleitet. Der andere Vertreter dieses Faches war der verhältnismäßig noch junge, erst kurz vorher zum Ordinarius berufene Karl Jaspers, eine hochgewachsene, schmächtige Gestalt. Ich meldet mich bei beiden sogleich auch zur Teilnahme an ihren Seminaren an. (S41)
Rickert war, nach seinem Vorgänger Wilhelm Windelband, der Hauptrepräsentant der "badischen Schule", das heißt der von dieser vertretenen "Wertphilosophie". Er hatte - was sogleich mein besonderes Interesse erweckte - um die Jahrhundertwende in einem umfangreichen Werke über "die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" in Weiterführung Windelbandscher Gedanken die Eigenständigkeit und Eigenart geisteswissenschaftlicher Erkenntnisart gegenüber der naturwissenschaftlichen herausgearbeitet. In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk "Der Gegenstand der Erkenntnis" versuchte er dann nachzuweisen, daß das Erkennen überhaupt nicht ein bloßes Abbilden oder Ordnen der Wirklichkeit sei, sondern immer ein "Werten", sozusagen ein moralisches Moment in sich schließe. Hieraus ergab sich für ihn der Grundgedanke seiner Philosophie: daß neben der Welt der "Wirklichkeit" eine nicht weniger objekte Welt der "Werte" bestehe, der nicht wie jener ein "Sein", sondern ein "Gelten" zukomme, und daß der Mensch in all seinem (wissenschaftlichen, ästhetischen, moralischen) Verhalten zwischen diese beiden Welten hineingestellt sei als verbindendes Glied, dessen Bestimmung infolge des "Sollens", das die Werte für ihn bedeuten, die Verwirklichung der letzteren bilde. In diesem Sinne gestaltete er seine Philosophie zu einem System der Werte aus. Mir schienen in den Grundlagen derselben positive Momente zu liegen, an die sich anknüpfen lasse. In einem Referat, das ich in seinem erkenntnistheoretischen Seminar übernahm, suchte ich - im Sinne der Steinerschen Erkenntnislehre - zu zeigen, daß diese "Werte" nichts anderes seien als das "Wesen" dessen, was uns in der sogenannten "Wirklichkeit" zunächst als eine Welt bloßer Phänomene entgegentritt, und deshalb mit diesen zusammen erst die wahre, volle Wirklichkeit ausmache. Ich fand damit bei ihm allerdings kein Verständnis, da sein Gedankengehäuse in ihm bereits zu seiner endgültigen Form sich verfestigt hatte. Ich wandte darum mein Interesse seitdem mehr Karl Jaspers zu, in dem mir eine ganz andere, nicht-herkömmliche Art des Philosophierens entgegentrat.
Er kam von der Psychiatrie her und hatte soeben eine "Psychologie der Weltanschauungen" veröffentlicht, in der er die in den (S42) verschiedenen seelischen Konstitutionen, Geistestypen und Weltorientierungen enthaltenen Voraussetzungen philosophischer Weltbilder darstellte. Er vertrat zwar die Meinung, daß heute, im Zeitalter der Wissenschaft, auch die Philosophie, was Tatsachenwissen betrifft, an dieser sich zu orientieren habe, daß sie aber an sich selbst etwas anderes darstelle als Wissenschaft: eine durch Erkenntnis erhellte Lebensgestaltung, ein als inneres Handeln verstandenes Erkennen, das aus der Ganzheit des Menschen hervorgeht und in dem sich der innerste Kern der Persönlichkeit verwirklicht. So wurde er zum eigentlichen Begründer der "Existenzphilosophie" unseres Jahrhunderts. Auch in dieser erblickte ich bestimmte positive Momente, wenngleich mir in ihr die Belange der Erkenntnis zu kurz zu kommen schienen. Sein erstes von mir besuchtes Seminar hatte Hegels "Phänomenologie des Geistes" zum Gegenstand. Schon vor dessen Beginn arbeiteten Anton Burg und ich gemeinsam für uns die ersten Kapitel dieses schwierigen Werkes durch, um uns in das Hegelsche Denken einzuleben. In dem Referat, das ich im Verlaufe des Seminars hielt, versuchte ich eine Verbindungslinie zu ziehen von Hegels Lehre vom Geist zur Geist-Erkenntnis Rudolf Steiners. Jaspers, der mich von Anfang an freundlich aufgenommen hatte, wandte mir seither erhöhte Aufmerksamkeit zu. Zu verschiedenen Einladungen von Studenten in seinem Hause wurde auch ich hinzugezogen, - und ich gewann bald so großes Vertrauen zu ihm, daß ich beschloß, bei ihm mein Doktorexamen zu machen. Als Dissertation nahm ich eine philosophie-geschichtliche Betrachtung in Aussicht, die irgendwie ebenfalls einmünden sollte in die Begründung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Als ich ihm von dieser Absicht erzählte, riet er mir aufs entschiedenste von diesem Thema ab und empfahl mir, eine ganz spezielle philosophische Problematik oder eine bestimmte Gestalt der Philosophiegeschichte zum Gegenstand meiner Prüfungsarbeit zu machen. Ich hätte jenes Thema damals wohl auch nicht zu bewältigen vermocht. (Ich darf aber hier die Bemerkung einschalten, daß es mich trotzdem weiter beschäftigte, und daß es mir zwanzig Jahre später dann gelang, es in meinem Buche "Die Wiedergeburt der Erkenntnis" auszuarbeiten.) S43
Nicht lange nach dem ersten, mißglückten Versuch, eine Doktorarbeit zu schreiben, fand ich hierfür, eine Anregung Friedrich Doldingers folgend (den ich bei einem naturwissenschaftlichen Kurs Rudolf Steiners in Stuttgart kennengelernt hatte), einen in der Richtung von Jaspers' Ratschlag liegenden Gegenstand: in dem schweizerischen Philosophen I. P. V. Troxler, - einem Vorverkünder, so darf man ihn wohl nennen, der heutigen Anthroposophie - bis in ihren Namen hinein! Jaspers erklärte sich, als ich ihm davon berichtete, im Prinzip bereit, eine Arbeit über Troxler entgegenzunehmen, obwohl ihm dieser damals so gut wie unbekannt war. Im folgenden Semester bildete das Thema des von ihm abgehaltenen Seminars die Behandlung seines kurz zuvor erschienenen Werkes "Psychologie der Weltanschauungen". Ich übernahm wieder ein Referat und setzte mich darin in der Hauptsache mit dem von ihm in dem genannten Buche entwickelten Begriff der "Grenzsituation" auseinander. Dieser Begriff erschien mir als ein besonders geeigneter Anknüpfungspunkt dafür, die Möglichkeit einer Überschreitung der Erkenntnisgrenzen im Sinne der Steinerschen Erkenntnislehre aufzuweisen. Ja, der Jaspersche Begriff der Grenzsituation schien mir angesichts des unausweichlichen "Halt", das Jaspers hinsichtlich derselben statuierte, zu einem solchen Aufweis geradezu herauszufordern. In der seelischen Erregung, in der ich meine Darlegungen vorbrachte, verstieg ich mich zu der Wendung, daß ich mich durch die starre Betonung der unübersteigbaren Schranken beziehungsweise der unauflöslichen Antinomien, welche diese Grenze charakterisieren, wie "mit ausgestreckten Armen auf ein Kreuz festgenagelt" fühle. Meine Ausführungen machen nicht nur auf die Studenten, sondern auch auf ihn sichtlichen Eindruck, wenngleich er meine Darlegung als Mißverständnis ablehnte.
Als ich ihm dreißig Jahre später eine von mir in einer Zeitschrift veröffentlichte Besprechung seines damals erschienenen Buches "Vom Ursprung und Sinn der Geschichte" zusandte, antwortete er mir in einem Briefe mit seinem freundlichen Dank dafür: "Ich habe noch eine lebhafte Erinnerung ans Sie aus einem ganz bestimmten Grunde: Sie sagten in einer Seminarsitzung bei der Diskussion, Sie (S44) seien nicht berreit, mit meiner Interpretation der Grenzsituationen sich gleichsam ans Kreuz schlagen zu lassen. Das hat mir oft zu denken gegeben und der Ernst Ihres Ausspruches war mir in der Folge ein Stachel, so rein wie möglich herauszubringen, was ich eigentlich meine."
Kurze Zeit nach jener Seminarsitzung war ich wieder bei ihm eingeladen. Wir kamen dabei abermals auf die Anthroposophie zu sprechen. Ich versuchte, ihm ihre Bedeutung auseinanderzusetzen. Er hörte interessiert zu, erklärte mir, daß er in mir erstmals einen ernst zu nehmenden Vertreter derselben kennen lerne, und bat mich am Schluß des bis gegen Mitternacht sich hinziehenden Gesprächs, ihm einige Bücher Steiners leihweise zu überlassen. Ich brachte ihm denn auch die "Philosophie der Freiheit" und die "Rätsel der Philosophie". Als er sie mir nach längerer Zeit zurückgab, erklärte er mir, er könne mit ihnen, schon ihres Stiles wegen, nichts anfangen.
Auf historischem Gebiete hörte ich in Heidelberg die interessanten Vorlesungen Hermann Onckens über neuere Geschichte. Unter den verschiedenen Vertretern der Nationalökonomie fesselte mich mit seinen Vorlesungen am stärksten Alfred Weber. Er hatte damals noch nicht seine kultursoziologischen und geschichtsphilosophischen Werke geschrieben, sondern hielt sich streng im Bereich wirtschaftswissenschaftlicher Betrachtungen. Aber seine eindringenden, die Dinge in all ihren Momenten und Aspekten in kompizierte Satzperioden einfangenden Darstellungen gaben mir viel und bedeuteten mir eine große Hilfe auch für meine Beschäftigung mit den Ideen der sozialen Dreigliederung. Seinen berühmteren Bruder Max Weber, der, seit langem in München wirkend, im Sommer 1920 starb, erlebte ich nur ein einziges Mal, als mein Freund Otto Senn, der damals in München studierte, mich im Februar 1920 für eine Woche dorthin einlud. Unter vielen anderen Vortrags- und künstlerischen Veranstaltungen, die wir dort besuchten, war auch eine öffentliche Diskussion im Münchner Rathaus über Spenglers "Untergang des Abendlandes", der damals so großes Aufsehen erregte und den auch ich mit gierigem Interesse las. Sie spielte sich in der Hauptsache zwischen Spengler selbst und (S45) Max Weber ab, führte aber zu keiner Verständigung, weil ihre Betrachtungsweisen zu weit voneinander abstanden.
Aber nicht nur von der akademisch-wissenschaftlichen, sondern auch von der Seite der Anthroposophie her kamen meinen eingangs erwähnten damaligen Bestrebungen die günstigsten Umstände zustatten: nämlich dadurch, daß in jenen Jahren von Rudolf Steiner verschiedene Fachkurse gegeben wurden, von denen ich - außer den medizinischen - die meisten hören durfte. Es begann mit den Kursen über Licht- und Wärme-Lehre sowie über Sprachwissenschaft, die er den Lehrern der Waldorfschule gab und zu denen auch ich zugelassen wurde.
Es folgte dann der erste Hochschulkurs am Goetheanum im Herbst 1920, an dem mehrere hundert Studenten teilnahmen, und mit dem zugleich der Goetheanumbau (wenn auch nur erst, weil er noch nicht ganz vollendet war, provisorisch) eröffnet wurde. Er dauerte volle drei Wochen, und neben Rudolf Steiner, der an den Abenden jeweils die gewichtige Vortragsreihe "Grenzen der Naturerkenntnis" sowie Vorträge über Sprachgestaltung und über den Goetheanumbau hielt, wirkten gegen 30 Dozenten und Vertreter verschiedenster Fachgebiete als Vortragende mit. Unvergeßlich ist wohl allen, die sie miterlebt haben, die Eröffnungsansprache Rudolf Steiners geblieben, mit der die ersten Worte in dem erstmals von Zuhörern gefüllten Bau gesprochen wurden. Der große Kuppelsaal mit seinen völlig neuartigen, architektonisch-plastischen Formen, in dem vielfarbigen Lichte schimmernd, das von den farbigen Fenstern her ihn durchflutete, wirkte wie ein fast unglaubhaftes Märchengebilde, dessen Wirklichkeit nur die reale Wahrnehmung der Sinne, mit der er erlebt wurde, verbürgt wurde. Nach Dr. Steiner kamen dann Dr. Roman Boos, der eigentliche Initiator der Veranstaltung, und Dr Carl Unger zu Wort, und von der Empore her erklang, von Marie Steiner rezitiert, die (für diesen Zweck abgewandelte) Ansprache des Theodosius aus dem ersten Bild des dritten Mysteriendramas "Der Hüter der Schwelle". Darauf folgte der programmatische Vortrag Rudolf Steiners über die Anthroposophie als die Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion, deren Pflege der Bau gewidmet sein solle. Er schloß mit den Worten: (S46)
Zum Lichte uns zu wenden
In dunkler Zeiten Not,
Zum Geistesmorgenrot
Die Seelenblicke senden:
Menschenwollen sei es hier
Und bleib' es für und für!
Neben den Vorträgen und Aussprachen fanden Kurse und Darbietungen in Eurythmie statt. Unter den jungen Menschen, die größtenteils in improvisierten Massenlagern untergebracht waren, herrschte eine ungeheure Begeisterung. Diese steigerte sich bei der Abschiedsfeier zu einem Gipfelpunkt, als ein Teilnehmer aus Triest in seinen Dankesworten zum Ausdruck brachte, diese Zusammenkunft so vieler junger Menschen aus verschiedensten Ländern in diesem erhabenen Menschheitstempel und ihr gemeinsames, begeistertes Bemühen um eine umfassende geistige Erneuerung, so kurz nach dem größten Kriege der Weltgeschichte, in dem die Völker Europas sich in einem gegenseitigen Haß wie nie zuvor zerfleischten, begründe einen befreienden Glauben an eine bessere Zukunft. Zum Abschluß der Veranstaltung wurde ein "Bund für anthroposophische Hochschularbeit" begründet, in welchem die anthroposophischen Studentengruppen, die sich bereits an verschiedenen Universitäten gebildet hatten, sich zu einer Gemeinschaft zusammenschlossen, die sich die Aufgabe stellte, die Anthroposophie in die Welt der Hochschulen hineinzutragen. Auf ihre Bitte hin verfaßten Dr. Steiner und Dr. Boos einen entsprechenden programmatischen Aufruf, der mit dem Beginn des Wintersemesters dann an die Studenten aller deutschen Hochschulen verteilt wurde.
Ich hatte in Heidelberg seit Beginn meines dortigen Aufenthalts die Leitung der Studentengruppe übernommen. Wir arbeiteten in ihr verschiedene Werke Steiners durch. Außerdem hielt ich während meiner ganzen dortigen Studienzeit im Heidelberger Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft und besonders in der dortigen Ortsgruppe des Bundes für Dreigliederung regelmäßig Vorträge und erweiterte bald meine Vortragstätigkeit über die soziale (S47) Dreigliederung über die im Umkreis von Heidelberg liegenden größeren und kleineren Städte bis nach Frankfurt hin. Mit den die dortige Studentenarbeit leitenden Persönlichkeiten, Dr. Hermann Poppelbaum, Julia Charlotte Mellinger und Helene Grunelius wurde ich bald eng befreundet. Meine Vortragstätigkeit speziell für die Idee der Dreigliederung übertraf an Intensität zeitweise bei weitem meine Studien an der Universität. So durfte ich, als im Februar 1921 Rudolf Steiner in Stuttgart für die "Dreigliederungsredner" einen Rednerkurs hielt, auch an diesem teilnehmen. Ich begann in dieser Zeit auch in verschiedenen Zeitschriften, vor allem in der von Ernst Uehli redigierten Stuttgarter Dreigliederungs-Wochenschrift, mit einer literarischen Wirksamkeit für diese Gedanken.
Auf dem in dem lieblichen Neckartal etwas oberhalb Heidelbergs gelegenen, von Erinnerungen an die Zeit der Romantik umwobenen Stift Neuburg war ich öfters bei Alexander von Bernus, dem Dichter und Alchimisten, der damals noch die Zeitschrift "Das Reich" herausgab, zu Besuch. Bei ihm lernte ich auch den Literarhistoriker Dr. Karl Justus Obenauer aus Darmstadt kennen. Er hielt damals auf dem Stift allsonntäglich eine Reihe von Vorträgen über "Goethes Verhältnis zur Religion", von deren bedeutendem Gehalt ihre nachfolgende buchmäßige Veröffentlichung noch Zeugnis ablegt. Etwas später folgte ihr ein Vortragszyklus über "Deutsche Mystik im Mittelalter". Die hohe Qualität dieser Darstellungen veranlaßte mich, Dr. Obenauer auch um öffentliche Vorträge im Rahmen unserer anthroposophischen Studentengruppe in Heidelberg zu bitten. Und so hielt er kurz darauf in einem vollbesetzten Saal der Stadthalle eine Vortragsreihe über "Goethes Faust II". In dieser Zeit fand auch eine öffentliche Eurythmie-Aufführung der Dornacher Gruppe mit Rezitation von Marie Steiner statt. Mir fiel die Aufgabe zu, die einleitenden Worte über das Wesen der Eurythmie zu sprechen.
Mit all dem war meine Betätigung für die anthroposophische, beziehungsweise Dreigliederungsbewegung, im Grunde schon voll in Gang gekommen. Parallel damit ging eine fortschreitende Entfremdung gegenüber der Welt der Universitätswissenschaft. Ich verblieb wohl bei meiner Überzeugung, daß eine Auseinandersetzung (S48) mit ihr und eine Anknüpfung an ihre positiven Forschungsergebnisse für die Wirksamkeit der anthroposophischen Bewegung eine unerläßliche Notwendigkeit sei. Aber ich sah immer klarer, daß die Vertreter der Wissenschaft selber - mit ganz wenigen Ausnahmen - in bestimmten mit diesen Ergebnissen verquickten Theorien und Denkweisen so befangen sind, daß sie die Brücken nicht zu sehen, noch weniger zu beschreiten vermögen, die von da zu einer geistgemäßen Weltauffassung führen können. Andererseits wurde der Drang, ausschließlich im Dienste der anthroposophischen Sache tätig zu sein, in mir immer unwiderstehlicher.
Ich erwähne das deshalb, weil es mir in der rückblickenden Betrachtung als charakteristisch erscheint für die Generation, der ich angehörte. Wir, die wir um die Jahrhundertwende geboren waren - und das war eine beträchtliche Zahl von damals innerhalb der anthroposophischen Bewegung in Erscheinung tretenden jungen Menschen -, waren gerade so alt wie die Anthroposophie selbst, die als solche ja auch mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts geboren worden war. Indem wir volljährig geworden waren, hatte auch sie das Alter ihrer "Mündigkeit" erreicht. Hierin mag es begründet sein, daß wir mit Selbstverständlichkeit das Bedürfnis emmpfanden, sie zum Inhalt unserer beruflichen Tätigkeit zu machen, sie in unsere Lebenswirksamkeit einfließen zu lassen und durch diese zu praktizieren, - wobei das Wesentliche nicht so sehr die Berufsart als solche war, sondern die Verwirklichung der anthroposophischen Impulse in den betreffenden Berufen. Das war bei der älteren Generation - mit einigen Ausnahmen - im allgemeinen noch nicht so gewesen. Ihre Schicksalsaufgabe hatte darin gelegen, durch ihre Aufnahmebereitschaft für die Ergebnisse der Geistesforschung mit ihrem gesellschaftlichen Zusammenschluß eine Schale zu bilden, in welche diese hineingegossen und dadurch auf den physischen Plan heruntergetragen werden konnten. Aber die Pflege dieser Inhalte war weitgehend etwas, was neben den äußeren Berufen, welche die Menschen ausübten, und ohne inneren Zusammenhang mit ihnen im stillen Kämmerlein der Seele beziehungsweise in den geschlossenen Zusammenkünften der Mitgliedergruppen der Anthroposophischen Gesellschaft sich vollzog. Zwischen dem Einen und dem (S49) Andern bestand ein ausgesprochener Dualismus (Siehe hierzu auch R. Steiners Vortrag: Anthroposophische Gesellschaftsentwicklung, vom 13. Februar 1923). Als sei 1910 die Mysteriendramen aufgeführt wurden, und besonders als seit 1913 das Goetheanum in Dornach entstand, veränderten sich diese Verhältnisse zunächst wenigstens im Gebiete der Kunst, in deren Neuschöpfungen und neuen Stilgestaltungen (Mysteriendramen, bildende Künste, Eurythmie) der Geist der Anthroposophie begann, in sichtbaren Werken sich zu verkörpern. Aber das war noch an eine verhältnismäßig kleine Schar von Menschen gebunden, deren Wirken im engsten Zusammenhang mit demjenigen Rudolf Steiners stand. Erst in der Zeit nach dem Weltkrieg, als eine neue Generation hinzukam, die um die Jahrhundertwende geboren war und während ihres Heranwachsens nur den Zusammenbruch der überkommenen Zivilisation erlebt hatte, entstand in diese der elementare Drang, jenen Dualismus zu überrwinden, das heißt die Anthroposophie in äußeren Berufen verschiedenster Art im Sinne einer Neugestaltung der Zivilisation zu verwirklichen. Gleichzeitig hatte auch in Steiners Schaffen die Anthroposophie selbst jene Ausreifung erlangt, welche dies möglich machte, - und so entstanden jetzt jene "Tochterbewegungen" der wissenschaftlichen Forschung, Pädagogik, Heilpädagogik, Medizin, Christengemeinschaft, Dreigliederungsbewegung, in denen Anthroposophie Berufspraxis wurde. Und auf allen diesen Gebieten waren es zum großen Teil junge Menschen meines Alters, welche zu den Trägern dieser Impulse wurden.
Aus all dem Angedeuteten kann verständlich werden, wie ich mich verhielt, als ich im Sommer 1921 meine Troxler-Dissertation abgeschlossen hatte und sie Jaspers vorlegte. Er gab sie mir nach wenigen Tagen zurück mit der Bemerkung, sie besitze zwar etwas, was man sonst kaum in irgendeiner Dissertation finde: einen künstlerisch-intuitiven Charakter, - aber ihr fehle, was sonst jede Dissertation "bis zur letzten Studentin" enthalte: eine wissenschaftlich-handwerkliche Durcharbeitung ihres Gegenstandes, und das sei doch dasjenige, wodurch man sich als wissenschaftlich (S50) geschult auszuweisen habe. Es sei ihm darum nicht möglich, meine Arbeit anzunehmen. Aber er wolle meinem Erfolg nicht im Wege stehen. Er habe einen Ruf nach Kiel erhalten und werde wahrscheinlich im nächsten Semester nicht mehr in Heidelberg sein (was dann aber nicht der Fall war). Ich möge deshalb im nächsten Semester bei seinem Nachfolger mein Glück mit meiner Arbeit versuchen.
Trotz dieser seiner nach wie vor freundlichen Haltung mir gegenüber war ich von diesem Bescheid so schwer enttäuscht, daß ich mitten im Semester von Heidelberg abreiste. Dabei wirkte freilich meine kaum mehr bezähmbare Sehnsucht mit, so bald als nur irgend möglich ausschließlich für die Sache der Anthroposophie tätig sein zu können. Mein Doktorat gedachte ich später irgendwann einmal bei passender Gelegenheit zu erlangen.
Ich übernahm zunächst das Sekretariat des "Bundes für anthroposophische Hochschularbeit" in Stuttgart, das bis dahin Werner Rosenthal betreut hatte, der nun aber sein unterbrochenes Studium fortzusetzen beabsichtigte. Mein Büro befand sich im Dachstübchen des Hauses Champignystraße 17, in welchem die Verwaltung der Aktiengesellschaft "Der kommende Tag" untergebracht war, von der ich ein kleines Gehalt bezog. Kurze Zeit darnach fand der erste öffentliche Kongreß der anthroposophischen Bewegung im Gustav-Siegle-Haus in Stuttgart statt, der von den verschiedenen Organisationen derselben veranstaltet wurde. Als Vertreter des Hochschulbundes saß ich mit im Tagungskomitee. Rudolf Steiner hielt seinen grandiosen Vortragszyklus "Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und ihre Lebensfrüchte, mit einer Einleitung über den Agnostizismus als Verderber echten Menschentums". Er schilderte darin in gewisser Weise die Entstehungsgeschichte der Anthroposophie, als deren Marksteine seine Auseinandersetzung mit der agnostischen Erkenntnistheorie des ausgehenden 19. Jahrhunderst, mit Goethes Naturanschauung, mit Haeckel und mit Nietzsche und zuletzt die Ausbildung der geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden sich darstellten. In den Vorträgen der übrigen Redner wurden verschiedene Fachgebiete vom Gesichtspunkt der Anthroposophie behandelt und jeweils auch eine kritische (S519) Auseinandersetzung mit charakteristischen Vertretern oder Erscheinungen dieser Gebiete aus der Zeitwelt durchgeführt. Eurythmische Darbietungen Morgensternscher Humoresken schlossen sich jeweils an die letzteren an und heiterten die Atmosphäre der Kritik wieder auf.
Im Herbst, nach Semesterbeginn, unternahm ich eine Vortragsreise in eine Reihe von Universitätsstädten, die mich über Jena, Berlin bis nach Rostock führte, um unsere dortigen Studentengruppe zu besuchen. In den Vorträgen, die ich auf allen Stationen derselben hielt, suchte ich die Anthroposophie als die Erfüllung jener Bemühungen um eine Steigerung der menschlichen Erkenntniskräfte aufzuweisen, welche in den großen Philosophen des deutschen Idealismus zutagegetreten waren. Von Stuttgart aus wurde im übrigen eine rege Korrespondenz mit den verschiedenen Ortsgruppen unseres Bundes gepflegt. Wir gaben auch eine Schriftenreihe "Wissenschaft und Zukunft" heraus, innerhalb welcher vortreffliche Arbeiten von Dr. C. Unger, A. K. Stockmeyer, E. Schwebsch, Prof. Dr. H. Beckh, Prof. Dr. O. Römer u.a. erschienen. Im Rahmen dieser Reihe veröffentlichte ich meine erste kleine Schrift "Die Krisis in der Wissenschaft und die Anthroposophie", die eine Frucht meiner bis dahin verfolgten Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wissenschaft und meiner Bestrebungen, von ihr aus einen Weg zur Anthroposophie zu bahnen, darstellte. Im Verlag "Der kommende Tag" wurde in dieser Zeit unter dem Titel "Goetheanum-Bücherei" eine Neuveröffentlichung von bedeutenden Werken aus der "vergessenen Geistesströmung" des Goetheanismus des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen, für welche Rudolf Steiner bestimmte Autoren und Titel vorgeschlagen hatte. Mir fiel hierbei, da ich mich mit Troxler beschäftigt hatte, die Neuausgabe von dessen "Blicke in das Wesen des Menschen" zu, ferner eine solche einer Auswahl von Werken des Geschichtsphilosophen Ernst von Lasaulx. Rudolf Steiner beabsichtigte, für diese ein Vorwort zu schreiben, kam aber nicht mehr dazu, und so erschien das Buch erst, ohne seinen Beitrag, nach seinem Tode. Daneben begann ich im Rahmen der "Stuttgarter Hochschulkurse" die damals eingerichtet und in der Hauptsache von Waldorflehrern (S52) durchgeführt wurden, einen Kurs über Volkswirtschaftslehre zu halten. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht noch einer Sache gedenken: Schon im vorangehenden Jahr hatte Herr Emil Molt, der Leiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik und Begründer der Walldorfschule, weil er von meinen nationalökonomischen Bestrebungen gehört hatte, mich eines Tages eingeladen, ein 10tägiges "volkswirtschaftliches Praktikum" in seiner Fabrik zu absolvieren. Seiner Einladung folgend, arbeitete ich dann kurz darnach durch 10 Tage von 7 Uhr früh bis 6 Uhr abends in jedem Saal, in jeder Abteilung seines Betriebes, mithelfend, so gut ich konnte, und lernte dabei jede Stufe im Werdegang einer Zigarette bis zu Verpackung und Versand kennen. Angesichts der einzigartigen sozialen Bestrebungen und Einrichtungen, die Herr Molt in seinem Unternehmen durchgeführt hatte, wurden mir diese 10 Tage zu einem mich tief ergreifenden Erlebnis. Den Schlußakt des Ganzen bildete eine Führung, die Herr Molt mit den älteren Schülern der Waldorfschule durch die ganze Fabrik veranstaltete, und der ich als sein "Assistent" beiwohnen durfte. Zuletzt führte er mich allein noch durch alle Räume und Winkel der Fabrik, erzählte mir die ganze Geschichte des Unternehmens, seine wirtschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen und schenkte mir zur Erinnerung ein feingearbeitetes Zigarettenetui. -
Mein Tätigkeit in Stuttgart war nicht von langer Dauer. Für den Frühsommer wurde ein großer öffentlicher Kongreß in Wien geplant. Das Organisationskomitee desselben trat im Januar 1922 an mich mit dem Vorschlag heran, mich nach Wien zu begeben, um den Kongreß vortragsmäßig und journalistisch mit vorzubereiten. So reiste ich denn Anfang Februar nach Wien. Meine Nachfolge im Stuttgarter Sekretariat trat René Maikowski an. Er führte bald danach die Liquidation des Hochschulbundes durch; denn die Ziele, die sich dieser gesetzt hatte, erwiesen sich in kurzer Zeit als jenseits der Fähigkeiten und Möglichkeiten liegend, über welche die Studenten verfügten. Mir aber eröffnete sich in Wien ein neues Feld des Wirkens, auf dem tätig zu sein mir durch fast zwei Jahrzehnte beschieden sein sollte.