Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

7. Lebenslauf und soziale Gestaltung


   Nachdem die Probleme des menschlichen Lebenslaufs bisher vom Gesichtspunkte des einzelnen Menschen aus betrachtet wurden, soll im Folgenden ihre Bedeutung vom Aspekte des sozialen Lebens aus ins Auge gefaßt werden. Hierfür kann an manches angeknüpft werden, was bereits in den vorangehenden Ausführungen an hierhergehörigen Motiven angeklungen ist. Wir beschränken uns hierbei allerdings im wesentlichen auf die neuere Entwicklung.

   Auszugehen ist auch hier von der Grundtatsache der ganzen modernen Geschichte: der Geburt der menschlichen Individualität in dem Sinne, wie sie bereits in den vorangehenden Kapiteln gekennzeichnet worden ist. Wir wiesen darauf hin, wie sie wesentlich verknüpft ist mit der Umwandlung beziehungsweise Verinnerlichung, welche das menschliche Denken im Übergang zur neueren Zeit erfahren hat. Der abendländische Mensch empfindet seither das Gedankenelement nicht mehr als etwas, das in irgendeinem Sinne - sei es als universalia ante res oder in rebus - der Welt angehört und von ihm aus dieser nur empfangen wird, sondern ausschließlich als die Schöpfung seines eigenen Denkens. Und in dieser seiner begriffsschöpferischen Tätigkeit erscheint ihm, indem er sich in Descartes ihrer bewußt wird, geradezu die Realität seines Ichs begründet. In ihr aber wurzelt auch das Freiheitserlebnis in der besonderen Art, wie es dem modernen Menschen eigentümlich ist.

   Durch diese besondere Entwicklung zur Individualität hat der neuere Mensch sich schrittweise aus allen Bindungen und Gemeinschaftsformen geistiger, seelischer, leiblicher Art emanzipiert, in denen die Angehörigen älterer Zeiten noch drinnengestanden hatten.

   Auf geistigem Gebiet ist er den religiösen Glaubensgemeinschaften fortschreitend entwachsen, da die noch weitgehend mythologisch gearteten religiösen Vorstellungen, die von diesen tradiert werden, dem Urteil nicht standhalten konnten, das er sich aus seinem individuellen Denken heraus über Gott, Welt und Mensch bilden mußte. Und auf wissenschaftlichem S113 Gebiete vermochte er sich nicht weiter der Autorität eines Aristoteles oder anderer <<Meister derer, die da wissen>> (Dante), zu unterwerfen, die das menschliche Denken vergangener Jahrhunderte beherrscht hatten, sondern mußte des Postulat der freien, das heißt lediglich auf die Erfahrungstatsachen und das selbständige Urteil des jeweiligen Forschers begründeten Wissenschaft aufstellen. Für beide Gebiete darf nochmals an Descartes erinnert werden, der zum Begründer der modernen Philosophie dadurch wurde, daß er zum Ausgangspunkt seines Philosophierens den radikalen Zweifel an allem gemacht hat, was bis dahin als wahr gegolten hatte.

   In der politisch-rechtlichen Sphäre, in welcher der Mensch vornehmlich durch sein seelisch-gefühlsmäßiges Erleben drinnensteht, hat das Erwachen der Individualität dazu geführt, die ständischen Gruppierungen mit ihren rechtlichen Privilegien und Benachteiligungen zu überwinden und die Forderung der rechtlichen Gleichstellung aller Menschen aufzustellen; denn der Charakter der Individualität, in welchem jetzt das wesentlich Menschliche gesehen wurde, muß jedem Menschen in gleicher Art zuerkannt werden. Welthistorischer Ausdruck dieses Strebens wurden die im 18. Jahrhundert zuerst in Amerika formulierten Erklärungen der Menschenrechte sowie die französische Revolution mit allem, was sie an Wirkungen auf die moderne Welt ausgeübt hat. So entstand allmählich die neuzeitliche Demokratie mit ihrem allgemeinen gleichen aktiven und passiven Wahlrecht, - die aber zu ihrem Gegenstück hat die bloße Summe der aus allen früheren ständischen Zusammenhängen herausgelösten, ganz auf sich allein gestellten, als bloße Individuen gedachten <<Einzelnen>>.

   Und was schließlich die leibliche Sphäre betrifft, so steht der moderne Mensch nicht mehr in so instinktiver, selbstverständlichen Weise in den Blutszusammenhängen seiner Familie, seines Volkes drinnen wie derjenige älterer Zeiten. Zu seiner inneren Befreiung aus diesen Gebundenheiten und seiner vorurteilslosen, vielfach sogar kritischen Beurteilung dieser Zusammenhänge hat ja besonders die Entwicklung des modernen Weltverkehrs und schließlich der Weltwirtschaft beigetragen; denn diese hat nicht nur zu einem gegenseitigen Sichkennenlernen der verschiedensten Teile der Erdenbevölkerung, sondern auch zu ihrer Vermischung in einem früher nie gekannten Maße geführt. Während im Beginne des Kolonisationszeitalters die farbigen Völker von den Europäern noch S114 als halbtierische Wesen betrachtet und dementsprechend behandelt wurden, sehen wir sie heute über die ganze Erde hin die volle Gleichberechtigung mit den weißen sich erkämpfen.

   Hat in dieser Weise der moderne Individualismus auf der einen Seite alle früheren Gemeinschaftsgebilde schrittweise gesprengt, so kann man nun fragen, ob er auf der anderen Seite nicht zugleich auch neue geschaffen habe.

   Hier ist nun fürs erste nochmals ein Grundphänomen der neuzeitlichen Entwicklung ins Auge zu fassen, auf das im Vorangehenden schon mehrfach hingewiesen wurde, und das als eine der eigenartigsten und zugleich bedeutungsvollsten Folgeerscheinungen jener Verinnerlichung und Individualisierung des Denkens bezeichnet werden muß, die der modernen Geistesentwicklung das Gepräge verliehen hat. Diesem modern Denken, gerade weil es sich so ganz verinnerlicht hat, fällte es nicht leicht, sich ins rechte Verhältnis zur sinnlichen Wahrnehmung zu setzen. Obwohl die Eigenart der modernen Naturwissenschaft durch nichts anderes so sehr gekennzeichnet ist wie durch das Streben, die Begriffe (auf dem Wege der Induktion) ganz und gar aus der Sinneserfahrung herauszuholen und mit ihnen nirgends den Boden der letzteren zu verlassen, so liegt es dennoch in der Natur gerade des modernen Denkens, diese Beziehung immer wieder zu verlieren, indem entweder auf der Grundlage eines ganz beschränkten Bereiches von Erfahrungstatsachen weltumfassende Theorien mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit aufgebaut werden oder die Grenze der Sinneserfahrung gleichsam durchstoßen und hinter ihr eine Welt von erfahrungsjenseitigen Verursachungen hypothetisierend erdacht wird. Ja, man darf vielleicht behaupten, daß, wenn keine Zeit methodisch in so strikter Weise den Anschluß des Denkens an die sinnlichen Erfahrungstatsachen gefordert hat wie diejenige der modernen Naturwissenschaft, dies eben deshalb geschah und geschehen mußte, weil in keinem anderen Zeitalter dem menschlichen Denken ein so unbezähmbarer Hang innewohnte, sich in begrifflichen Abstraktionen zu verlieren, die sich von den Erfahrungstatsachen losgelöst haben. Und schaut man auf das Ganze der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung hin, so muß man feststellen, daß dieser Hang über jenes methodische Bemühen dennoch triumphiert hat.

   Mit dieser Tendenz des modernen Denkens ist aber unmittelbar eine andere verbunden. Produziert werden die Gedanken S115 von der menschlichen Individualität immer in irgend einem Zusammenhang mit Erlebtem und Erfahrenem. Indem sie sich aber schon in ihrer Ausbildung leicht aus dieser Verbindung lösen und ihren Geltungsbereich durch Verallgemeinerung zu überschreiten streben, lösen sie sich damit gleichzeitig von der Individualität ihres Schöpfers los, spinnen sich im Gehirn gleichsam von selbst weiter und verbreiten sich dann, gewissermaßen als anonyme Theorie, im Raume des geistigen Lebens. Als solche können sie dann von jedem angeeignet werden, der ebenfalls über die Fähigkeit solchen abstrakten Denkens verfügt. Und diese Fähigkeit ist ja durch die fortschreitende Überwindung des Analphabetismus in der europäischen Menschheit und vor allem durch die Entwicklung der modernen Buch- und Zeitungsliteratur, wie sie die Erfindung der Buchdruckerkunst zur Folge gehabt hat, im umfassendsten Maß innerhalb dieser erworben worden. So entstand auf den verschiedensten Gebieten das, was man seit langem als Öffentliche Meinung bezeichnet, was aber seinem Umfange nach viel umfassender gedacht werden muß, als es gemeinhin geschieht. Es bezieht sich nämlich nicht etwa bloß auf politische Verhältnisse und Geschehnisse, sondern vor allem auch auf naturwissenschaftliche und weltanschaulich-philosophische Probleme. Bestimmte Auffassungen über die Natur, den Menschen, sein Wesen, seine Herkunft, seine geschichtliche Entwicklung, seine Erkenntnismöglichkeiten usw., welche ursprünglich von einzelnen Naturforschern und Philosophen ausgegangen sind, sind zu anonymen <<öffentlichen Meinungen>> geworden, und diese ziehen sich gewissermaßen durch die geistige Atmosphäre, in welcher die moderne Menschheit lebt, als eine so dicke, fast undurchdringliche, alles überdeckende Schicht hin, daß zu dem ihr zugrundeliegenden Tatsachenboden durchzustoßen kaum mehr möglich ist. In dieser Schicht von öffentlicher Meinung lebt und atmet der moderne Mensch als geistiges Wesen. Sie wird ihm schon durch die Erziehung in der Schule eingeflößt - denn was ist das Wissen, das ihm über Natur und Geschichte vermittelt wird, in den allermeisten Fällen anderes als die <<fable convenue>>, die über diese beiden Weltgebiete jeweils gerade zur herrschenden Mode geworden ist -, und sie dringt später, wenn er erwachsen geworden ist, durch Presse und Literatur, neuestens durch Radion und Television so pausenlos und gewaltsam auf ihn ein, daß er sich ihrer kaum mehr erwehren kann.

   Wir deuteten auch schon darauf hin, wie auf diesem Wege S116 zwar auch eine <<Gemeinsamkeit>> erzeugt wird, eine Gemeinsamkeit von Auffassungen und Überzeugungen, die aber das wahrhaft individuelle Denken und damit die Individualität selbst auslöscht und das Phänomen der Vermassung erzeugt. Sie bringt die <<Durchschnittsmenschen>> hervor, die je nach staatlicher, nationaler oder klassenmäßiger Zugehörigkeit in den verschiedensten Varietäten auftreten und zum herrschenden Menschentypus unserer Zeit geworden sind. Die Kollektive dieser Durchschnittsmenschen sind das moderne Gegenstück zu den mannigfaltigen Gemeinschaftsformen, die in früheren Epochen bestanden haben. Während aber diese auf dem Prinzip der Blutszusammenhänge beruhten, in welche der Mensch durch die Natur hineingestellt ist, und eine Menschheit gliederten, die noch nicht durch den Prozeß der Individualisierung und Intellektualisierung hindurchgegangen war, sind jene auf den Geist begründet, insofern er sich in dem Intellektualisierungsprozeß der neueren Zeit dokumentiert hat, und löschen die Individualisierung, welche dieser mit sich gebracht hat, wieder aus. Sie repräsentieren daher nicht diejenige Gemeinschaftsbildung, welche als eine neue zu entwickeln der modernen Zeit zur Aufgabe geworden ist, sondern sind Pseudogemeinschaften, die sich als Ersatz der geforderten anbieten und deren Ausbildung geradezu verhindern.

   Nur ein spezielles Beispiel dieser modernen Kollektivismen ist das chauvinistische Nationalgefühl, das in unserer Zeit die Angehörigen derselben Nation verbindet und das, ein charakteristisches Produkt der letzten Jahrhunderte, sich so sehr von dem natürlichen Heimatgefühl und der Vaterlandsliebe älterer Zeiten und Völker unterscheidet. Dieser moderne Nationalismus ist eine typische Massenerscheinung, allem Individuellen feindlich und auf Nivellierung hintendierend, und er ist ganz wesentlich eine Frucht der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, welche im einzelnen Menschen in ähnlicher Art nur ein <<Exemplar>> seiner nationalen <<Art>> sehen möchte, wie das einzelne Tier nur <<Exemplar>> seiner Gattung ist. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der das aus dieser Auffassung sich ergebende Ideal der <<nationalen Selbstbestimmung>> am Ende des Ersten Weltkriegs zum Hauptpunkte seines berühmten Vierzehn-Punkte-Programms machte, hatte bereits in einem Buche Die neue Freiheit 1911 die Worte geschrieben: <<Das große Problem des Regierens beruht auf der Kenntnis dessen, was der Durchschnittsmensch erfährt und wie er seine S117 Erfahrungen beurteilt. Die meisten von uns sind Durchschnittsmenschen; nur sehr wenige erheben sich über das allgemeine Niveau der uns umgebenden Menschen, es sei denn durch glückliche Zufälle>>, und an anderer Stelle: <<Lebendige politische Verfassungen müssen in ihrem Bau und in ihrer Handhabung darwinistisch sein. Die Gesellschaft ist ein lebender Organismus und muß den Gesetzen des Lebens, nicht denen der Mechanik gehorchen; sie muß sich entwickeln. Alles, was die Fortschrittlichen verlangen oder wünschen, ist die Erlaubnis, inmitten eines Zeitalters, in dem <Entwicklung> und <Fortschritt> die Worte der Wissenschaft sind, - die Verfassung im Einklang mit den von Darwin ergründeten Naturgesetze interpretieren zu können; alles, was sie verlangen, ist die Anerkennung der Tatsache, daß eine Nation ein lebendiges Wesen ist und keine Maschine...>> (Zitiert aus Roman Boos: Wirklichkeit und Schein im modernen Staatsbegriff, Berlin 1931). Blickt man darauf hin, zu welch rücksichtsloser Unterdrückung der geistigen Selbstbestimmung der Individuen die Verwirklichung des Rechts auf <<Selbstbestimmung der Individuen die Verwirklichung des Rechts auf <<Selbstbestimmung der Nationen>> seit 1918 geführt hat, so hat man hier ein Musterbeispiel dafür vor sich, wie das was heute <<Öffentliche Meinung>> geworden ist, die Auslöschung der Individualität zur Folge hat. Ganz zu schweigen von der bis zur physischen Ausrottung ganzer Bevölkerungen gehenden Barbarei, in welche der in Mittel- und Osteuropa zur <<öffentlichen Meinung>> gemachte Antisemitismus ausmündete.

   Wenden wir uns speziell dem staatlichen Leben zu, so tritt uns ja in der Entstehung des politischen Parteiwesens, wie es sich in der neueren Zeit gestaltet hat, ein Urphänomen der <<Gemeinschaftsbildung>> auf Grund <<Öffentlicher Meinung>> entgegen. Denn wenigstens in ihren Anfängen waren die verschiedenen politischen Parteien - woran noch solche Namen wie konservativ, liberal, demokratisch, national usw. erinnern - durch politische Ideale bestimmt, in denen fast durchwegs gewisse, auf beschränkten Lebensgebieten durchaus berechtigte Forderungen zu allgemeinen Programmen verabstrahiert erschienen.

   Hier sei aber noch auf ein anderes Phänomen der Blick hingelenkt. Die moderne Demokratie hat auf der einen Seite dazu geführt, daß nicht nur die Wahl der Abgeordneten der Parlamente und der Regierungsfunktionäre, sondern auch ein S118 immer größerer Teil gesetzgeberischer Regelungen der Abstimmung entweder durch die ganze Bevölkerung oder durch die Volksvertretungen unterworfen werden. Auf der anderen Seite aber hat der moderne Staat zugleich immer weitere Sektoren des sozialen, namentlich der geistig-kulturellen und des wirtschaftlichen Lebens in den Bereich seiner Kompetenzen übernommen. Die Folge davon ist, daß heute - bei der ungeheuren Kompliziertheit, welche die Lebenszusammenhänge erfahren haben - bei Abstimmungen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die meisten der Abstimmenden über die Sachkenntnis gar nicht verfügen können, welche für eine sachgemäße Beurteilung und Stellungnahme zu den betreffenden Angelegenheiten erforderlich wäre. Sie werden in bezug auf ihre Urteilskraft überfordert, und so bleibt ihnen nichts übrig, als sich, sofern sie nicht einfach bestimmte <<Interessen>> zu vertreten haben, an die Parolen der <<Öffentlichen Meinung>> zu halten. Durch diese Art von Demokratie wird die Macht der <<Öffentlichen Meinung>> geradezu immer mehr herangezüchtet.

   Um aber auf die politischen Parteien zurückzukommen, so sind sie ja in neuester Zeit zum allergrößten Teil zu bloßen Vertretungen wirtschaftlicher Interessengruppen geworden. Und hierin dokumentiert sich eine weitere Grundtatsache der neueren Geschichte, die wir ebenfalls schon an früherer Stelle hervorgehoben haben: die Tatsache, daß das Wirtschaftsleben zur fast alleinigen Wirklichkeit des modernen Lebens geworden ist. In den Gegensätzen der wirtschaftlichen Interessen aber, wie sie sich in neuerer Zeit herausgebildet haben, spiegelt sich die - oben auch schon geschilderte - Verselbständigung wider, welche das Wirtschaftsleben überhaupt gegenüber den anderen Gebieten des sozialen Lebens erfahren hat. Es verläuft heute ausschließlich nach seinen eigenen Gesetzen, und diese kommen in den Spannungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen unverhüllt zum Ausdruck. Aus den mannigfaltigen Gegensätzen von Interessengrppen wie etwa der Industrie, des Handels, des Handwerks und Gewerbes, der Kleinbauern und der Großgrundbesitzer usw. sei hier als Beispiel nur derjenige hervorgehoben, der sich als der bedeutsamste und geschichtlich folgenreichste herausgebildet hat: der Gegensatz der Unternehmer und der <<Proletarier>>. Sind in den Zusammenschlüssen: Verbänden, Gewerkschaften, politischen Parteien S119, in denen sich diese beiden Gruppen organisiert haben, neue menschliche Gemeinschaftsbildungen entstanden?

   Diese Frage stellen, heißt sie verneinen. Wir haben es in ihnen vielmehr mit Kampforganisationen zu tun, in denen sich - durch die Not der Lage gezwungen - diejenigen vereinigt haben, die im <<Kampf ums Dasein>>, zu dem das moderne Wirtschaftsleben geworden ist, auf derselben Seite stehen. Es sind sozusagen Kriegsbündnisse, durch welche mit mehr Aussicht auf Erfolg der Kampf geführt werden kann, als wenn von den in ihnen Vereinigten jeder für sich allein kämpfte. Daß aber das Wirtschaftsleben diesen Krieg erzeugt beziehungsweise in der Form, die es in der neueren Zeit angenommen hat, den Charakter eines permanenten Kriegszustandes bekommen hat, ist ein Beweis für die oben schon aufgewiesene Tatsache, daß es aus der ihm innewohnenden Eigengesetzlichkeit heraus keine wahrhaft menschliche Lebensgestaltung hervorzubringen vermag und daher, wenn es alleinige Lebenswirklichkeit wird, die Menschennatur korrumpiert und die sozialen Verhältnisse ins Unmenschliche entarten läßt. Das moderne Wirtschaftsleben baut durch seine Eigennatur <<menschliche>> Gemeinschaft zwischen Menschen fortdauernd ab und prägt in demselben Maße, als es alleinherrschend wird, dem gesamten sozialen Leben den Charakter eines Kampfes ums Dasein, eines Krieges Aller gegen Alle auf. Wenn wir diejenigen Kräfte des sozialen Lebens, die gemeinschaftsbildend wirken, als <<soziale>> im besonderen Sinne bezeichnen dürfen, jene dagegen, die gemeinschaftsauflösend wirken, als <<antisoziale>>, so stellt das Wirtschaftsleben im modernen sozialen Organismus den Pol der antisozialen Kräfte dar. Damit ist nicht eine Kritik sondern lediglich eine Charakteristik dessen gegeben, was die Eigengesetzlichkeit der modernen Wirtschaft, vom soziologischen Aspekt aus gesehen, ausmacht. Und gestalten sich die Verhältnisse so, daß dieser Pol der antisozialen Kräfte der allein wirksame im sozialen Leben wird, so zeigt dies eben in seiner Gesamtheit jene fortdauernde Tendenz zum Zerfall, zur Zerklüftung, zum Ausbruch kriegerischer Konflikte oder revolutionärer Chaotisierung, die seinen heutigen Zustand in der Tat im höchsten Maße kennzeichnet.

   Nun zielen ja seit einem Jahrhundert die Bestrebungen darauf hin, diesem Kriegszustand des modernen Wirtschaftslebens mit all den Erscheinungen der Unterdrückung, Vergewaltigung und Versklavung, die er im Gefolge hat, ein Ende zu machen S120 durch eine <<Sozialisierung>> desselben. Es ist hier nicht nötig, im einzelnen auf die verschiedenen Wege einzugehen, die zu diesem Ziele gewiesen und auch tatsächlich eingeschlagen worden sind. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß sie alle in irgend einer, sei es extremeren oder milderen Form, dazu führen, die Verfügung über Kapital und Produktionsmittel aus privaten Händen in die der <<Allgemeinheit>>, und das heißt: des Staates überzuleiten und anstelle des freien Handels und des freien Wettbewerbs der Produzenten eine staatliche Planung und Lenkung des gesamten Wirtschaftsprozesses zu setzen. Diese Verstaatlichung des Wirtschaftslebens führt aber, wie die Gegenwartsgeschichte in hinlänglichem Maße gezeigt hat, mit Notwendigkeit zur Hypertrophie des Staates. Die staatliche Regulierung und Reglementierung des gesamten Lebens erreicht ein solches Übermaß, daß die Freiheitssphäre des Einzelnen bis zu einem Grade eingeengt wird, der ihrer völligen Aufhebung gleichkommt. Und so geht die soziale Freiheit, die der moderne Mensch sich errungen hat, Stück für Stück wieder verloren und macht einer ganz neuartigen Allmacht des Staates über die Menschen Platz. Es vollzieht sich hier auf äußerlich-materiellem Gebiet ein ganz analoger Vorgang wie auf innerlich-seelisch-geistigem Gebiet durch die wachsende Macht der <<öffentlichen Meinung>>. Die soziale Frage als Problem einer den modernen Verhältnissen wahrhaft entsprechenden Gemeinschaftsbildung wird nicht wirklich gelöst, sondern es werden die menschlichen Individualitäten lediglich gleichsam zu dem amorphen Brei einer Masse zerstampft, der mit den Mitteln staatlicher Diktatur geformt und in seinen Bewegungen gelenkt und dessen Kräfte mit diesen Mitteln gebändigt oder, je nach Bedarf, auf die entsprechenden Schlachtfelder geworfen werden. Da aber die Gesinnung nicht geändert wird, das heißt die Wirtschaft nach wie vor als einzige Realität, und Recht und Geist lediglich als <<Ideologie>> betrachtet werden, so wird der Daseinskampf nur aus der Sphäre der Wirtschaft in diejenige der Politik verlagern, wo er sich dann als Kampf um die Macht im Staate - mit den permanenten <<Säuberungen> und Liquidierungen der <<Verräter>> - oder als teils kalter, teils heißer Krieg zwischen den verschiedenen staatlich-wirtschaftlichen Machtblöcken abspielt, in welche die Gesamtmenschheit aufgeteilt wird. Aus dem Wirtschaftsleben allein - gleichgültig, ob man es individualistisch oder sozialistisch, das heißt privat - oder staatskapitalistisch S121 gestaltet - wird sich nie eine wahrhaft menschliche Sozialordnung ergeben. Solange es als einzige Realität gilt, Recht und Kultur aber nur als Ideologe, wird die Korrumpierung des Menschen von seiner Seite her nicht aufhören, sondern nur immer wieder neue Formen annehmen.

   Hieraus kann ersichtlich werden, in welcher Richtung die wirkliche Lösung des Problems moderner Gemeinschaftsbildung gesucht werden muß. Sie kann nur darin liegen, daß die anderen Sphären des sozialen Lebens, insbesondere die geistig-kulturelle, auf eine der heutigen Entwicklungsstufe der Menschheit entsprechende Weise wieder den Charakter einer selbständigen, vom Wirtschaftlichen unabhängigen Realität gewinnen und als solche jene <<sozialen>> Kräfte in das Menschheitsleben hineinfließen lassen, die den <<antisozialen>> des Wirtschaftslebens entgegenwirken.

   Eine solche selbständige Realität eignete dem Geistesleben in alten Zeiten dadurch, daß die in ihm wirksamen Fähigkeiten und damit auch deren Schöpfungen religiöser, künstlerischer, erkenntnismäßiger Art als Gaben des Kosmos erlebt wurden, die dem Menschen im Laufe seines Lebens durch die verschiedenen Planetensphären in der Art verliehen wurden, wie dies im ersten Kapitel dieses Buches geschildert worden ist. Dadurch behauptete das geistige Leben damals noch eine so dominierende Stellung, daß in die aus seinen Bedingungen sich ergebenden Gliederungen der Menschen noch ganz auch deren wirtschaftliche Beziehungen und Verrichtungen eingebettet waren.

   Eine selbständige Realität kam in einer mittleren Epoche, wie wir im zweiten Kapitel schilderten, noch dem staatlich,rechtlichen Leben zu, weil in ihm dasjenige erblickt wurde, was in spezifischer Weise gerade den Menschen kennzeichnet und außerhalb desselben nirgends in der Welt, weder bei Göttern noch bei Tieren zu finden ist. Und im Sinne des <<Zoon politikon>> ein Mensch zu sein, dahin zielte alles Streben, das die Menschen der griechisch-römischen Kultur beseelte.

   Warum eigentlich haben diese beiden Lebensgebiete, - warum hat insbesondere das geistige Leben in neuerer Zeit den Charakter einer selbständigen, in sich begründeten Realität so ganz eingebüßt? Indem wir die Antwort auf diese Frage suchen, eröffnet sich uns noch ein weiterer Aspekt der Tatsachen, die wir von anderen Gesichtspunkten aus in den letzten Kapiteln geschildert haben. Die Individualisierung des Menschen S122, wie sie in der neueren Zeit stattgefunden hat, mußte sich durch sich selbst zunächst so auswirken, daß innerhalb des menschlichen Lebenslaufs die erste Hälfte ein Übergewicht bekam über die zweite. Denn so, wie wir im letzten Kapitel bemerkten, daß die verschiedenen Charaktere der Menschen besondere Affinitäten besitzen zu den einzelnen Lebensaltern, so daß die Menschen, je nach ihrer Charakteranlage, im jugendlichen, im Mannes- oder im Greisenalter sich vorteilhafter ausnehmen und ihr Wesen zur Geltung bringen können, - so hat der Prozeß der Individualisierung auf seiner ersten Etappe eine besondere Verwandtschaft zur ersten Lebenshälfte des Menschen; denn in dieser arbeitet sich ja ganz allgemein die Persönlichkeit aus den Blutszusammenhängen, aus denen sie auf Erden hervorgegangen ist, aus der Abhängigkeit von Eltern und Erziehern heraus und stellt sich auf sich selbst.

   Dieser ganz allgemeinmenschliche und darum in gewissem Maße für alle Zeiten geltende Wesenszug der ersten Lebenshälfte erfuhr in den letzten Jahrhunderten eine außerordentliche Potenzierung dadurch, daß gerade in dieser Zeit auch im geschichtlichen Sinne die <<menschliche Individualität>> geboren wurde und ihre ersten geschichtlichen Lebensschritte machte. Diese Potenzierung kam vor allem dadurch zustande, daß den heranwachsenden Generationen jeweils schon in ihrer Schulbildung, die gerade jetzt auch erst eine allgemeine wurde, jenes moderne verinnerlichte Denken beigebracht wurde, welches diese Individualisierung ja recht eigentlich bewirkte. Und so sind denn auch in den letzten Jahrhunderten im allgemeinen gerade die jungen oder wenigstens noch in ihrer ersten Lebenshälfte stehenden Menschen es gewesen, welche die Rechte der Individualität, die freie Selbstbestimmung der Persönlichkeit gegenüber Tradition und Konvention geltend machten, - bis hin zur Jugendbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts.

   Nun hat aber die erste Lebenshälfte auch noch eine andere Eigentümlichkeit, auf die wir bei der Darstellung des menschlichen Lebenslaufs ebenfalls schon hingewiesen haben: daß nämlich die seelischen Fähigkeiten, die bis etwa zum 28. Lebensjahr im Menschen sich entwickeln, gewissermaßen von selbst als Begleiterscheinungen der entsprechenden leiblichen Bildungsprozesse auftreten, die bis dahin vor sich gehen. Erst vom Ende der 20er Jahre an ist der Mensch, um in seiner seelischen Entwicklung weiterzukommen, darauf angewiesen, diese auf dem Wege S123 der Selbsterziehung zu erstreben. Vom Menschen bis zu dem genannten Lebensalter gilt in der Tat das oben bereits zitierte Wort des Baccalaureus aus dem Faust:


<<Des Menschen Leben lebt im Blut, und wo

Bewegt das Blut sich wie im Jüngling so?

Da ist lebendig Blut in frischer Kraft,

Das neues Leben sich aus Leben schafft.>>


Das hat aber zur Folge, daß eine Kultur, die vornehmlich aus den Kräften gespeist wird, die der Mensch bis zum 28.Jahr entwickelt - und wir haben ja gesehen, daß dies für das naturwissenschaftliche Zeitalter in der Tat der Fall war -, die Tendenz zum Materialismus zeigt, das heißt zu der Auffassung, daß alles seelisch-geistige Leben nicht in einer selbständigen Realität gründe, sondern bloße Wirkung leiblich-materieller Prozesse sei. Ob man nun diese materiellen Prozesse in den physiologischen Vorgängen des leiblichen oder in den wirtschaftlichen des sozialen Lebens erblickt, sind nur verschiedene Spielarten derselben Grundauffassung.

   Und hier erst kann nun die Bedeutung hervortreten, die einer solchen Fortsetzung und Steigerung der menschlichen Selbsterziehung bis in die höheren Altersstufen hinauf, wie wir sie in den letzten Kapiteln skizziert haben, für die soziale Problematik unserer Zeit zukommt. Wir haben ja gesehen, wie die spezifischen Fähigkeiten des mittleren und gar diejenigen des letzten Lebensdrittels nur zum Vorschein kommen, insofern sie der Mensch selbst auf dem Wege der Selbsterziehung, ja der systematischen inneren Schulung in sich erweckt.

   Und wir haben weiter gesehen, wie insbesondere diejenigen des höheren Lebensalters dadurch in der Seele hervortreten, daß die Kräfte derselben, die sich während des Heranwachsens mit dem Leibe verbunden haben, durch die sich steigernde Aktivierung des inneren Wesens von diesem wieder losgelöst und in solche einer höheren Erkenntnis beziehungsweise eines höheren Bewußtseins verwandelt haben. Die seelisch-geistige Entwicklung in den späteren Lebensphasen emanzipiert sich in diesem Sinne immer mehr von der leiblichen Grundlage, und das geistige Erleben und Schaffen, das sich so entfaltet, ist damit durch sich selbst ein Beweis für die dem Körperlich-Materiellen gegenüber selbständige Realität des Geistigen. Ein Beweis, der nicht theoretisch durch Argumente geliefert wird, sondern in Lebenstatsachen besteht. Denn die geistige S124 Produktivität wird hier dem fortschreitenden Verfall des Leibes abgerungen. Insbesondere aber erweist sich dadurch erst die menschliche Individualität selbst als geistige Wirklichkeit.

   Wird eine solche geistige Altersentwicklung durch vermehrtes Beschreiten der ihr entsprechenden Schulungswege - in der Art, wie es am Ende des letzten Kapitels skizziert wurde - in Zukunft zu einem selbstverständlich anerkannten Bestandteil menschlicher <<Bildung>> überhaupt und erlangen ihre Erkenntnisfrüchte allmählich im allgemeinen Geistesleben jene Stellung und jenes Gewicht, die ihrer inneren Bedeutung entsprechen, so wird dies zur naturgemäßen Folge haben, daß das Geistige überhaupt wieder als eine selbständige Wirklichkeit anerkannt wird. Denn wie ein aus Jugendkräften gespeistes Geistesleben zum Materialismus hintendiert, so führt ein aus geistigen Altersfähigkeiten genährtes zu einer spirituellen Weltauffassung. Innerhalb des sozialen Lebens aber wird dann der geistig-kulturelle Sektor nicht mehr nur als ein Anhängsel oder eine Verzierung des wirtschaftlichen erscheinen, sondern sich als ein eigenständiger Wirklichkeitsbereich behaupten. Da die Schaffensquellen eines solchen Geisteslebens die Frucht einer freiwilligen, das heißt moralischen Aktivierung des inneren Wesens des Menschen darstellen, werden von ihm auch die moralischen, <<sozialen>> Kräfte ausgehen können, die den <<antisozialen>> des Wirtschaftslebens das Gegengewicht zu halten vermögen.

   Wodurch wird ein so geartetes Geistesleben solcher sozial aufbauender, gemeinschaftsbildender Wirksamkeit fähig sein? Da brauchen wir uns nur daran zu erinnern, wie - im vorletzten Kapitel - gemäß der Struktur des menschlichen Lebenslaufs die Eigenart der höheren Stufen der Selbsterziehung, namentlich von der Lebensmitte an, geschildert werden mußte. Wir sprachen von dem <<Umstülpungsprozeß>>, der im Verhältnis zwischen <<Mensch und Welt>> um die Mitte der 30er Jahre stattfindet. Wir schilderten, wie der Mensch bis dahin ein <<Nehmender>> ist, dann aber ein <<Gebender>> werden kann. Wie er bis zur Lebensmitte seelisch gleichsam vom Zentrum seines eigenen Wesens in die Welt hinausgeblickt hat, nun aber lernen muß, vom Umkreis der Welt her auf sein eigenes Wesen und Wirken hinzublicken. Wie er, wenn er in seiner Entwicklung weiterkommen will, die Stellung und Bedeutung dessen in der Welt, was er zu geben hat, gleichsam mit den Augen eines Fremden zu betrachten und zu beurteilen sich bestreben muß. Hat er sich S125 früher schrittweise aus der Umwelt, aus der er hervorgegangen ist, ausgegliedert, so wird er sich jetzt der Verpflichtung bewußt, sich mit seinem Wirken in die Welt gemäß deren Forderungen richtig einzugliedern. Wenn er in der ersten Lebenshälfte mit Recht seine Ansprüche an die Welt geltend gemacht hat, so muß er sich jetzt die Frage stellen und beantworten: Was verlangt die Welt von mir? Kurz: erst jetzt geht ihm eigentlich der Sinn auf für die Bedingungen der Gemeinschaftsbildung, wie sie in unserer Zeit geartet sind. Denn das Wesentliche der Entwicklung, wie wir sie hier über die Lebensmitte hinaus geschildert haben, besteht ja darin, daß sie über die volle Ausbildung der Individualität geht, ja nichts anderes ist als diese. Und eine wahrhaft moderne Gemeinschaftsbildung kann nicht auf die Auslöschung oder auch nur auf die Schwächung der Individualität begründet werden, sondern muß gerade als eine Frucht der vollen Entwicklung der Individualität erwachsen. Ihren Boden kann nichts anderes bilden als eben die Entfaltung des Menschen zur Individualität.

   Gewiß, die Jugend ist in besonderem Maße die Zeit, da Freundschaften geschlossen werden. Diese kommen da sozusagen noch von selbst, durch ein natürliches Bedürfnis nach seelischer Verbindung, zustande. Aber wie wenige dieser Jugendfreundschaften haben für das ganze Leben Bestand? Man schließt sich im allgemeinen mit Gleichgearteten und Gleichgesinnten zusammen. Aber das eigentlich Individuelle hat sich da noch gar nicht voll offenbart. Tritt es im weiteren Verlauf des Lebens dann, schicksalgestaltend, völlig in Erscheinung, so löst sich in der Regel die frühere Gemeinsamkeit der Gesinnungen und Ideale auf. Die Wege des Lebens nehmen so verschiedene Richtung, daß man sich gegenseitig nichts mehr zu sagen hat.

   Es gibt dann eine zweite Art von Beziehungen, in die man durch seinen Beruf gebracht wird: es ist das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern, Vorgesetzten und Untergebenen. Da aber die Berufe heute im allgemeinen aufs äußerste spezialisiert sind, ist es nur ein ganz winziger Ausschnitt aus dem Ganzen des menschlichen Lebens, in welchem die Daseinssphären verschiedener Menschen sich da berühren. Daher verbleiben diese Beziehungen meist ganz an der Peripherie oder sie bilden das Schlachtfeld jenes wirtschaftlichen Kampfes ums Dasein, zu dem das soziale Leben heute in weitestem Umfang geworden ist. Daß diese Beziehungen - da in ihnen ja der Mensch normalerweise für lange ausharren muß - einer Verbesserung S126 bedürfen und daß die Notwendigkeit dieser Verbesserung heute auch schon eingesehen wird, dafür ist ein Beweis, zum Beispiel die unter dem Begriff <<Human relations>> in Amerika entstandene und namentlich seit dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa vordringende Bewegung, welche sich die Pflege der menschlichen Beziehungen in wirtschaftlichen Betrieben zur Aufgabe macht. Freilich bedient man sich zu diesem Zwecke hierbei noch in der Hauptsache psychologischer Experten, die - vornehmlich aus den Gedankengängen der modernen Tiefenpsychologie heraus - die seelischen Komplexe zu erforschen und zu lösen haben, an denen die in Betrieben zusammenarbeitenden Menschen laborieren. Außerdem geschieht diese Pflege der <<menschlichen Beziehungen>> vielfach unter dem Gesichtspunkt, daß durch sie eine höhere Arbeitsleistung erzielt werden könne. Eine wirkliche Verbesserung wird auf diesem Gebiete nur erreicht werden können, wenn das hier vorliegende Problem in sachgemäßer Weise an seinem Kerne angepackt wird. Dieser liegt, wie schon angedeutet, in der bis zum Äußersten getriebenen Spezialisierung, welche die Berufstätigkeit durch die moderne technische und soziale Arbeitsteilung erfahren hat. Da in diese vielfach bis auf wenige, immer nur in gleicher Weise zu wiederholende Handgriffe reduzierte Betätigung vom <<Menschlichen>> im Menschen kaum etwas einzufließen vermag, so ist die Arbeit damit zugleich immer mehr entseelt worden. Und diese Entseelung überträgt sich auch auf die Beziehungen zu denen, mit welchen zusammen man in diese Arbeit hineingestellt ist. Das Element menschlich-seelischer Beteiligung, welches im Handwerker früherer Zeiten die Arbeit selbst durch ihre weitgehend künstlerische Qualität erzeugte, muß dem heutigen Arbeiter und Angestellten von anderer Seite her ermöglicht werden. Nämlich dadurch, daß im selben Maße, in dem sich seine Tätigkeit spezialisiert, verengt hat, sein Bewußtsein von den wirtschaftlich-sozialen Zusammenhängen, in welchen seine Tätigkeit drinnensteht, erweitert wird. Diese kann zum Beispiel geschehen durch in regelmäßigen Zeitabständen abzuhaltende Betriebsvorträge oder -besprechungen, in welchen Darstellungen gegeben werden vom Aufbau der betreffenden Betriebe, von ihrer Verflochtenheit in den Gesamtwirtschaftsprozeß nach der Lieferanten- und nach der Kundenseite hin, vom Werdegang der verarbeiteten Materialien vom Rob- bis zum Fertigprodukt usw., kurz: durch eine Bildungsarbeit, S127 welche eine besondere Form der <<Erwachsenenbildung>> darzustellen hätte. Was nicht mehr unmittelbar aus der Arbeit als solcher, das kann heute nurmehr aus dem Einblick in das Ineinandergreifen von wirtschaftlichen Prozessen und Interessen, von geistigen Fähigkeiten und materiellen Bedürfnisse, von rechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen usw. dem Einzelnen an menschlicher Anteilnahme erfließen, die er dann auch in seine Arbeit und in die Beziehungen zu seinen Mitarbeitern hineinzugießen vermag.

   Eine dritte, höchste Art von Beziehungen kann erst zwischen Menschen entstehen, die in der Entwicklung ihrer Individualität so weit gekommen sind, daß sie sich der Eigenart und der Grenzen derselben bewußt geworden und die Notwendigkeit der Ergänzung derselben durch Verbindung mit anderen Individualitäten empfinden, aber diesen anderen dasselbe Recht auf Eigenart und Selbstbestimmung zubilligen, das sie für sich in Anspruch nehmen müssen. Im Gegensatz zu den Jugendfreundschaften, die auf Gleichartigkeit beruhen, werden also solche Beziehungen gerade von Verschiedenartigen gesucht werden. Ein solches Zusammenwirken von Menschen, das auf freiester Selbstbestimmung jedes Einzelnen wie auf unbedingtester gegenseitiger Toleranz beruht, wird im allgemeinen erst im höheren Lebensalter möglich und bildet erst den vollen, aufbauenden Gegenpol zu den gemeinschaftsabbauenden Kräften, welche im individuellen Leben in der ersten Lebenshälfte überwiegen und im sozialen Leben heute durch die Vorherrschaft der Wirtschaft dominieren.

   Wenn wir an früherer Stelle als weltgeschichtlich vorbildliches Beispiel für die von unserem Zeitalter geforderte Entwicklung der Individualität durch Selbsterziehung das Leben Goethes und Schillers erwähnten, so darf hier als ein solches der von unserer Epoche geforderten Gemeinschaftsbildung der Freundschaftsbund noch hervorgehoben werden, zu dem sie sich nach erfolgter Selbstverwandlung auf der Höhe ihres Lebens und Schaffens zusammengefunden haben. Wir wiesen auch bereits darauf hin, wie wegen der geradezu polarischen Gegensätzlichkeit ihrer Wesensarten, die sie beide vorher von einander abgestoßen hatte, dieser Bund erst zustandekommen konnte, als zwar jeder seine Eigenart zu voller Entschiedenheit ausgebildet hatte, aber zugleich auch die Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch ihren Gegenpol erkannte, empfand und bejahte. Goethe faßte, was hier geschah, im Rückblick (in seinen S128 Annalen) einmal in die einfachen Worte zusammen: <<Schillers ideeller Tendenz konnte sich meine reelle gar wohl nähern, und weil beide doch nicht nicht zu ihrem Ziele gelangen, so traten beide zuletzt in einem lebendigen Sinne zusammen.>> Und ein moderner Literaturforscher (Michael Bernays in seiner Goethebiographie) kennzeichnet die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Vereinigung in folgender Art: <<Ist im Kunst- und Geistesleben einer Nation der von allen strebenden Kräften lange vorbereitete Moment gekommen, in welchem das Höchste zur Erscheinung gelangen soll, so geschieht es nicht selten, daß dieses Höchste in zwei Gegensätzen gespalten auseinandertritt. Diese verharren dann in feindseliger Trennung. Hier zum ersten und einzigen Mal, zeigt sich uns das erhebende Schauspiel, daß die Gegensätze sich suchen, ums sich zu versöhnen. Schillers und Goethes Bund darf als die innigste Vereinigung der schärfsten Gegensätze bezeichnet werden; er ist zugleich die unerwartete höchste Blüte, zu der das Zeitalter der Humanität sich entfalten konnte.>> Diese Freundschaft hat denn auch unvermindert bis zum Tode Schillers fortgedauert.

   Das Entscheidende, was durch die vorangehende Darstellung gezeigt werden sollte, liegt also darin, daß durch den geschichtlichen Prozeß der Individualisierung in unserer Zeit der der ersten Hälfte des menschlichen Lebens wesensgemäß eigentümliche Vorgang der Verselbständigung der Persönlichkeit ganz erheblich verstärkt worden ist, so daß wir geradezu von der Entfaltung gemeinschaftsauflösender, antisozialer Kräfte in dieser Lebensphase des heutigen Menschen sprechen können. Diese Antisozialität in der ersten Lebenshälfte entwickeln zu können, ist aber eine unvermeidliche, ja unerläßliche Notwendigkeit; denn nur sie gewährleistet die soziale Freiheit, welche für die moderne Menschheit eine Lebensbedingung darstellt. Das moderne Leben muß also diese antisozialen Kräfte als ein durchaus positives Element, gewissermaßen als den einen Pol seiner Wirksamkeit, in sich aufnehmen; es muß aber allerdings, als den Gegenpol derselben, zugleich die gemeinschaftsbildenden, eigentlich <<sozialen>> Kräfte entwickeln, - und diese können nur dadurch entbunden werden, daß die individuelle Entwicklung des Menschen in rechter Weise in die zweite Lebenshälfte hinein fortgeführt wird; denn da läßt sie durch sich selbst in ihm die gemeinschaftsbildenden Fähigkeiten aufsprießen. Es kommt also, wie man sieht, alles S129 auf das richtige Hindurchgehenkönnen durch den ganzen Lebenslauf an im Sinne dessen, was dieser in unserer Epoche geworden ist.

   Dadurch unterscheiden sich die Lebensbedingungen der modernen Sozietät grundsätzlich von denjenigen des alten Griechentums. Damals kam das <<Rechte>> beziehungsweise die <<goldene Mitte>> einfach dadurch zustande, daß man im staatlichen Leben die Jungen und die Alten gewissermaßen <<zusammenspannte>> und ihre gegensätzlichen Tendenzen dadurch zum Ausgleich brachte. Das war dadurch möglich, daß auf naturgemäße Weise damals Jugend und Alter Eigenschaften entwickelten, die entgegengesetzte Einseitigkeiten und damit sich ergänzende Gegensätze darstellten.

   Heute würde ein solches bloßes <<Zusammenspannen>> derselben allein nicht genügen. Denn auf natürliche Weise entwickelt der heutige Mensch im Alter nicht - oder jedenfalls bei weitem nicht in zureichendem Maße - jene Kräfte, die ein volles Gegenstück bilden zu der Antisozialität, die er in der Jugend entfaltet. Er vermag sie nur zu entwickeln, wenn er sich durch sein ganzes Leben hindurch das entsprechende Maß von Selbsterziehung angedeihen läßt. Das soziale Problem ist also heute primär ein individuelles. Es läßt sich nicht unmittelbar durch bestimmte äußere Einrichtungen lösen, sondern muß zunächst im und vom einzelnen Menschen als solchem in entsprechender Weise gelöst werden, und zwar von jeder neuen Generation wieder von neuem. Dann allerdings werden zu dieser inneren, seelisch-geistigen Lösung auch bestimmte äußere organisatorische Lösungen hinzukommen müssen. Aber die letzteren bekommen durch jene ersteren erst einen Boden, auf dem sie sich fruchtbar auswirken können. Hierbei wird es sich allerdings nicht mehr so sehr darum handeln, Junge und Alte speziell im politischen Leben zum rechten Zusammenwirken zu vereinigen, als vielmehr darum, im gesamten Umfang des sozialen Lebens: im wirtschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Leben zu einer Gliederung der Aufgaben und Funktionen zu gelangen, welche die Jungen und welche die Alten ihren spezifischen Fähigkeiten gemäß zu erfüllen geeignet sind. Die sozialen Räume zu schaffen, in welchen sich diese verschiedenartigen Fähigkeiten in für das soziale Ganze fruchtbarer Weise entfalten und betätigen können, wird zu den wesentlichen Aufgaben sozialer Gestaltung in der Zukunft gehören.

   Ansätze hierzu finden sich heute bereits vielerorts. In S130 Amerika hat Walter Pitkin durch seine Bücher Life begins at Forty und Careers after Forty den Bemühungen einen starken Impuls gegeben, den spezifischen Fähigkeiten der Alten erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden und ihnen gemäße soziale Betätigungsfelder zu eröffnen. Er hat vor allem auch darauf hingewiesen, daß die ungeheure Komplikation, welche alle Lebensverhältnisse in unserer Zeit erfahren haben, für leitende, verantwortungsvolle Posten heute ein Maß von Erfahrung und Überschau erfordert, das erst im höheren Alter erreicht werden kann. <<Heutzutage>>, so schreibt er in dem erstgenannten Buch, <<wird nicht einmal ein alter Mensch die Welt mit allen ihren Begebenheiten überblicken können - wieviel weniger gar ein junger. Es trifft wahrhaftig zu, daß die Welt immer komplizierter wird. Aber gerade deshalb befinden sich ältere Menschen, die die Vierzig überschritten haben, heute den jüngeren gegenüber immer mehr im Vorteil, während sie sich gleichzeitig ihre langsam abnehmende Energie immer weniger zu Herzen zu nehmen brauchen. In wenigen Jahrzehnten werden die Zustände noch zehnmal verwickelter sein, weil die Welt bis dahin keine Entfernungen mehr kennen und zu einem riesigen Dorf geworden sein wird. Kein Mensch unter fünfunddreißig wird dann die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge so wie die sich ergebenden technischen Probleme auch nur ahnungsweise übersehen können. Also werden durch natürliche Auswahl die verantwortlichen Posten durch ältere und erfahrene Leute besetzt werden. Je schwieriger die Aufgaben, die es zu lösen gibt, umso wichtiger werden die Menschen, die ihnen dank ihrer Reife und Jahre gewachsen sind. Die tatendurstige, jugendliche Energie wird in Zukunft nicht mehr so hoch bewertet wie bisher. Mit anderen Worten: es werden unseren jungen Leuten manche Gebiete verschlossen sein, auf denen sie sich bislang betätigen durften. Einige unserer größten Gesellschaften haben in dieser Beziehung schon gelernt. Eine Zeitlang hielt man es für richtig, vielversprechenden jungen Leuten verantwortungsreiche Posten zu übertragen. Aber man kam bald dahinter, daß sie bei wichtigen Entscheidungen häufig versagten. Ganz ähnliche Erfahrungen machte man in den letzten zehn Jahren mit sehr jungen Bankiers, Schuldirektoren, Bevollmächtigten und Börsenmaklern. Es wird immer offensichtlicher, daß die für unsere Pionierzeit gültigen Voraussetzungen heute nicht mehr zutreffen.>>

   Schon vor dem Zweiten Weltkrieg ist in Amerika eine S131 Bewegung entstanden, die den Alten die ihnen gebührende Stellung im Wirtschaftsleben verschaffen will. Über sie und andere ähnliche Bestrebungen berichtete A.L.Vischer in Das Alter als Schicksal und Erfüllung (1942): <<Mr.Henry Simler, Vorsitzender einer der ältesten Schreibmaschinenunternehmungen Amerikas, hat eine Arbeitgeberorganisation veranlaßt, einen Ausschuß zur Bekämpfung der <<Fortyphobia>>, der Furcht vor den Übervierzigern, zu gründen. In seinem Kampf appelliert dieser Ausschuß keineswegs an das Mitleid für die alten Arbeitslosen, er bringt vielmehr Beweise, daß sich die Anstellung alter Leute sehr wohl lohnt. Nach einer Statistik Mr.Simlers in neunzehn Schreibmaschinengeschäften beträgt das Durchschnittsalter der erfolgreichsten Verkäufer 44,5 Jahre, und dabei weisen einige Siebziger Spitzenleistungen auf. Eine Umfrage im Kleinhandel von Kalifornien bis New York zeigt die Fünfziger als die beste Verkäuferklasse. Der genannte Ausschuß stellte an 31 prominente Arbeitgeber einen Fragebogen <<Forty-Plus or Minus?>> mit 31 Fragen wie: <<Wer bringt Ihnen am meisten neue Anregungen, die Unter- oder Übervierziger? Bei welchen findet sich die größte Loyalität? Wer ist am lernbegierigsten? Wo findet sich die größte Gewissenhaftigkeit? usw. Bei der Beantwortung dieser Fragen ergaben sich einige Teilsiege 3:1 für die Jugend bei den Fragen über äußere Erscheinung, über gute Laune und Begeisterung. In den Fragen aber über die eigentliche Produktion, über die Wichtigkeit der Übernahme unangenehmer Aufgaben, über die Fähigkeit der Ein- und Unterordnung siegten die <<Forty-Plus>> mit 3:1. Nahezu Einstimmigkeit herrschte in bezug auf größere Gewissenhaftigkeit der Alten bei unbeaufsichtigter Arbeit. Mr.Simler schloß seinen Bericht: <Unsere Untersuchungen zeigen, daß mit 40 und 50 Jahren der Mensch die Notwendigkeit von Einordnung und Zusammenarbeit gelernt hat. Die Erfahrung hat den Übervierzigern die Kunst des Umgangs mit Menschen beigebracht, sie hat sie eine Technik des Sichhineinfindens in neue Situationen, denen die Unerfahrenen hilflos gegenüberstehen, gelehrt. Die Analogie des menschlichen Lebens mit der Altersabnützungskurve einer Maschine stimmt nicht: Menschen reifen, Maschinen nicht. Freilich, es kann sich nicht um einen Kampf zwischen Jugend und Alter handeln. Die Wirtschaft benötigt jugendliche Frische ebenso wie die Erfahrung des Alters. Aber die Belegschaft eines Betriebes, bei der allzu einseitig eine Altersklasse überwiegt, ist nicht im Gleichgewicht.> Tatsächlich scheint es, S132 daß die von Mr.Simler in Amerika geleitete Bewegung sich weiter ausbreitet. Nach Ray Giles hat kürzlich die große General Electric Company angekündigt, daß 40 Prozent ihrer Belegschaft Übervierziger sein sollen, entsprechend der Altersverteilung der Gesamtbevölkerung. Henry Ford stellt den Grundsatz auf, der Altersaufbau der Arbeiterschaft solle parallel sein zum Altersaufbau der Bevölkerung der Stadt, in welcher der Betrieb liegt. In einer Fordschen Fabrik sollen von 700 neueingestellten Arbeitern 200 gewesen sein, welche das 50. Jahr überschritten hatten.

   In neuester Zeit begegnen wir auch in Deutschland ähnlichen Gedankengängen. Hertha Siemering konnte anhand eines großen Zahlenmaterials zeigen, daß im Jahre 1933, 21,03 Prozent der männlichen und 17,17 Prozent der weiblichen Erwerbspersonen fünfzig und mehr Jahre alt waren. Bei den Kopfarbeitern, sowohl den männlichen wie den weiblichen, liegt aber der Anteil der älteren Kräfte meistens erheblich über diesem Durchschnitt, wie einige Beispiele zeigen: bei Richtern und Staatsanwälten beträgt der Anteil 48,60 Prozent, bei Hochschullehrern 38,38 Prozent, bei Rechtsanwälten und Notaren 35,48 Prozent, bei bildenden Künstlern 34,33 Prozent, bei Architekten 32,05 Prozent, bei Ärzten 31,58 Prozent. Die Verfasserin kommt zum Schluß, daß die Kopfarbeiter vielfach in einem Alter berufstätig sind, in dem sie in anderen Berufen längst aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet worden wären. Doch haben diese älteren Kräfte einen Nutzwert, der auch durch diese im Vergleich zu anderen Berufen längere, aber auch für viele geistige Berufe immer noch zu kurze Aktivitätsdauer nicht ausgeschöpft ist. Hertha Siemering möchte dieses volkswirtschaftliche Kapital nicht brachliegen lassen. <<Es muß in Deutschland so etwas wie eine verborgene geistige Reservearmee geben, die mindestens zum Teil reaktiviert werden sollte. Dabei wird es sich im Augenblick meist nicht gerade um Erwerbslose handeln, wohl aber um Persönlichkeiten, die an anderen Posten mehr und Besseres leisten können, als ihnen an dem Platz, auf dem sie heute stehen, zu leisten vergönnt ist. Zahlreiche ältere Menschen, die in einem Angestelltenverhältnis geistige Arbeit zu leisten haben, sind heute in die Zeiteinteilung eines Betriebes eingeordnet ohne Rücksicht auf die Erfordernisse ihres Lebensalters. Wir werden, da unsere Volkswirtschaft in steigendem Maße auf die Arbeitskraft der Alten angewiesen ist, zu einem Arbeitsschutz der bejahrten Kräfte kommen müssen. S133 Mit zunehmendem Lebensalter wird man die tägliche Arbeitszeit verkürzen müssen... Wird neben der zweckmäßigen Ökonomie der physischen Kräfte für das rechte psychische Arbeitsklima gesorgt, in dem auch die Arbeitsfreude bis zur äußersten Grenze der Arbeitsfähigkeit erhalten bleibt, dann wird nichts mehr verloren gehen von dem großen Kapital, das die bejahrten Kopfarbeiter verkörpern.>>

   Soviel richtige Gedanken und berechtigte Forderungen in all den hier erwähnten Bestrebungen enthalten sind, eine fruchtbare Auswirkung wird ihnen doch nur in dem Maße beschieden sein, als mit ihnen eine solche, auf tieferen Erkenntnisgrundlagen basierende, geistige Umorientierung Hand in Hand geht, wie sie in den vorangehenden Ausführungen skizziert worden ist.

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