Hier sei ein paradigmatischer Zyklus von Vorträgen Rudolf Steiners gebracht, aus dem April 1914 in Wien
'Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt'
Gesamtausgabe Rudolf Steiner-Verlag Dornach - GA 153, Öffentlicher Vortrag, Wien, 6.4.1914
Aufgabe und Ziel der Geisteswissenschaft und das geistige Suchen in der Gegenwart
Wer derjenigen Form geisteswissenschaftlicher Weltanschauung, von der ich mir gestatten werde heute und übermorgen zu sprechen, einen gewissen Wert beimessen will, wird sich schon einmal bekannt machen müssen mit dem eigentümlichen, in der Menschheitsentwicklung gelegenen Widerspruch, daß eine geistige Strömung, ein geistiger Impuls von einem gewissen höheren Gesichtspunkt aus im eminentesten Sinn zeitgemäß sein kann und daß dieses also Zeitgemäße dennoch zunächst von der Zeitgenossenschaft scharf zurückgewiesen wird, zurückgewiesen in einer, man möchte sagen, durchaus begreiflichen Weise.
Zeitgemäß war der Impuls zu einer neuen Anschauung vom Weltenall des Raumes, den Kopernikus in der Morgenröte der neuen Zeit gegeben hat, zeitgemäß zweifellos von dem Gesichtspunkt aus, daß die Entwicklung der Menschheit gerade zu der Zeit des Kopernikus notwendig machte, daß dieser Impuls kam. Unzeitgemäß erwies sich dieser Impuls durchaus noch für lange Zeiten, insofern als gegen ihn Front gemacht wurde von all denen, die an den alten Denkgewohnheiten, an jahrhundert- und jahrtausendalten Vorurteilen festhalten wollten. Zeitgemäß in einem solchen Sinne erscheint den Bekennern der hier gemeinten Geisteswissenschaft diese geisteswissenschaftliche Weltanschauung, und unzeitgemäß ist sie von dem Gesichtspunkt aus, von dem sie noch von vielen unserer Zeitgenossen beurteilt werden muß. Dennoch glaube ich, im Laufe des heutigen und übermorgigen Vortrages zeigen zu können, daß in unterbewußten Seelentiefen der gegenwärtigen Menschheit etwas wie eine Sehnsucht nach dieser geisteswissenschaftlichen Weltanschauung besteht und etwas wie eine Hoffnung nach ihr lebt.
So wie sich zunächst darstellt, diese Geisteswissenschaft, will sie sein eine echte Fortsetzerin der naturwissenschaftlichen Geistesarbeit, wie sie in den letzten Jahrhunderten geleistet worden ist. Und ganz (S10) unrichtig wäre es, wenn man glauben wollte, daß diese Geisteswissenschaft irgendwie von sich selbst aus eine Gegnerschaft entfaltete gegen die großen Triumphe, gegen die unermeßlichen Errungenschaften und die weitblickenden Wahrheiten, welche das naturwissenschaftliche Denken der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Im Gegenteil, dasjenige, was Naturwissenschaft war und ist für die Erkenntnis der äußeren Welt, das will diese Geisteswissenschaft sein für die Erkenntnis der geistigen Welt. So könnte sie geradezu ein Kind der naturwissenschaftlichen Denkweise genannt werden, obwohl dies noch in weitesten Kreisen heute bezweifelt werden wird.
Um eine Vorstellung, nicht einen Beweis, sondern zunächst eine Vorstellung, die Verständigung hervorrufen soll, anzuführen, sei über das Verhältnis der hier gemeinten Geisteswissenschaft zur naturwissenschaftlichen Weltanschauung das Folgende gesagt: Blicken wir auf die große, gewaltige Entwickelung naturwissenschaftlicher Erkenntnis in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, so sagen wir uns, daß sie auf der einen Seite unermeßliche Wahrheiten über den weiten Horizont menschlicher Erkenntnis gebracht hat, daß auf der anderen Seite dieses Denken eingeflossen ist in das praktische Leben. Überall sehen wir uns entgegenleuchten auf dem Gebiete des Technischen, Kommerziellen, das, was uns die in die Lebenspraxis hineingeflossenen Gesetze und Erkenntnisse der Naturwissenschaft gebracht haben. Will man sich nun eine Vorstellung davon machen, wie zu diesen Fortschritten die hier gemeinte Geisteswissenschaft steht, so kann man zunächst einen Vergleich geben. Man kann hinblicken auf den Bauern, der sein Feld bestellt, der einerntet die Früchte des Feldes. Der größte Teil dieser Früchte des Feldes wird hereingenommen in das menschliche Leben, zur Nahrung der Menschen verwendet; ein kleiner Teil nur bleibt übrig. Er wird verwendet zur neuen Fruchtaussaat. Nur von diesem letzteren Teile kann man sagen, daß er folgen darf den Triebkräften, den inneren Lebe- und Bildekräften, die im aufsprossenden Korn, in der aufsprossenden Frucht selber liegen. Das, was in die Scheunen geführt wird, wird zumeist abgebracht von seinem in den eigenen Bildungsgesetzen liegenden Fortschritt, wird gleichsam in eine Seitenströmung geführt, zur menschlichen Nahrung verwendet, (S11) setzt nicht fort in unmittelbarer Weise das, was in den Keimen liegt, was die eigenen Triebkräfte sind.
So erscheint der Geisteswissenschaft, die hier gemeint ist, ungefähr das, was die Naturwissenschaft an Erkenntnissen gebracht hat in den letzten Jahrhunderten. Der weitaus größte Teil ist mit Recht dazu verwendet worden, Einsicht zu gewinnen in die äußeren, sinnlich-räumlichen Tatsachen, ist dazu verendet worden, in den menschlichen Nutzen einzugehen. Aber zurückbleiben kann gerade von den Ideen, welche die Betrachtung der Natur in den letzten Jahrhunderten geliefert hat, in der menschlichen Seele etwas, das nun nicht verwendet wird, um das oder jenes zu begreifen in der sinnlichen Außenwelt, was nicht verwendet wird, Maschinen zu bauen oder Industrien zu pflegen -, sondern das lebendig gemacht wird, so daß es erhalten wird in seiner eigenen Richtung wie das Korn, das wieder zur Aussaat verwendet wird und seinen Bildungsgesetzen folgen darf. Gerade wenn sich der Mensch also durchdringt seiner Seele, wenn er ein Gefühl hat dafür, zu fragen: Wie läßt sich das seelische Leben durchleuchten und erkennen an den Begriffen und an den Ideen, welche die Naturwissenschaft geliefert hat, wie läßt sich mit diesen Ideen leben, wie läßt sich von ihnen aus begreifen, wo die Haupttriebkräfte des menschlichen Seelenlebens liegen? - wenn die menschliche Seele ein Gefühl dafür hat, mit dem errungenen Geistesschatz diese Fragen aufzuwerfen - aufzuwerfen nicht als Theorie, sondern mit der ganzen Fülle des seelischen Lebens -, dann erscheint das, was erst in unserer Zeit, da eine Weile die Naturwissenschaft sozusagen auf ihrem eigenen Boden gepflegt worden ist, in die menschliche Kultur übergehen kann.
Und auch in anderer Beziehung ist diese Geisteswissenschaft vielfach ein Kin der naturwissenschaftlichen Denkweise zu nennen, nur muß der Geist in einer anderen Weise erforscht werden als die Natur. Gerade wenn man auf ebenso sicherer, methodischer, wissenschaftlicher Basis dem Geiste gegenüberstehen will, wie die Naturwissenschaft der Natur gegenüber, so muß man das naturwissenschaftliche Denken umformen und es so prägen, daß er ein taugliches Werkzeug (S12) für die Erkenntnis des Geistes wird. Wie das werden kann, davon soll in diesen Vorträgen einiges mitgeteilt werden. Gerade wenn man so recht fest steht auf dem Boden der Naturwissenschaft, dann sieht man ein, daß mit den Mitteln, mit denen sie arbeitet, eine geistige Erkenntnis sich nicht gewinnen läßt. Immer wieder und wiederum ist von erleuchteten Geistern davon gesprochen worden, daß, von dem sicheren Boden der Naturwissenschaft ausgehend, der Mensch einsehen muß, daß seine Erkenntniskraft begrenzt sei. Naturwissenschaft und Kantianismus - nur um diese zu nennen - haben dazu beigetragen, den Glauben heraufzubringen, daß die Erkenntniskräfte des menschlichen Geistes begrenzt seien, daß der Mensch nicht eindringen könne durch sein Wissen in die Gebiete, wo der Quell liegt, mit dem sich die Seele verbunden fühlen muß; wo der Mensch einsieht, daß nicht nur hereinwirken die Kräfte, die mit Naturwissenschaft überschaut werden können, sondern andere Kräfte. Da gibt Geisteswissenschaft der Naturwissenschaft völlig Recht. Gerade für die Erkenntnisfähigkeiten, die die Naturwissenschaft groß gemacht haben, auf denen die Naturwissenschaft auch stehen bleiben muß als solche, für sie gibt es keine Möglichkeit, einzudringen in das geistige Gebiet.
Aber in der menschlichen Seele schlummern andere Erkenntnisfähigkeiten, Erkenntnisfähigkeiten, die im Alltag und im Getriebe der gewöhnlichen Wissenschaft nicht verwendet werden können, die aber hervorgeholt werden können aus dieser menschlichen Seele und die, wenn sie hervorgeholt werden, wenn sie gleichsam aus den untergründlichen Tiefen der Menschenseele herausgeholt werden, dann aus dem Menschen etwas ganz anderes machen: die ihn durchkraften mit einer neuen Erkenntnisart, mit einer solchen Erkenntnisart, die eindringen kann in Gebiete, welche der bloßen Naturwissenschaft verschlossen sind. Es ist - ich lege auf den Ausdruck keinen besonderen Wert, aber er verdeutlicht die Sache - eine Art geistiger Chemie, durch die man in die geistigen Gebiete des Daseins eindringen kann, aber eine Chemie, die allerdings nur in bezug auf sichere Logik und methodisches Denken Ähnlichkeit hat mit der äußeren Chemie: es ist die Chemie des menschlichen Seelenlebens selber. - Und von diesem Gesichtspunkte aus, um uns zu verständigen, sei wiederum von mir vergleichsweise (S13) das Folgende gesagt: Wenn wir Wasser vor uns haben, so hat dieses Wasser gewisse Eigenschaften. Der Chemiker kommt und zeigt, daß in diesem Wasser Wasserstoff und Sauerstoff darinnen sind. Nehmen wir den Wasserstoff: er brennt, er ist gasförmig, er ist ganz anders als das Wasser. Würde jemand jemals, wenn er nichts von Chemie wüßte, dem Wasser ansehen können, daß in ihm Wasserstoff ist? Wasser ist flüssig, brennt nicht, löscht sogar Feuer. Wasserstoff brennt, ist ein Gas, kurz: Würde jemand dem Wasser ansehen können, daß in ihm Wasserstoff enthalten ist? - Dennoch kommt der Chemiker und trennt ab von dem Wasser den Wasserstoff. Mit dem Wasser läßt sich vergleichen der Mensch, wie er im Alltag vor uns steht, wie er vor der gewöhnlichen Wisse2nschaft steht. In ihm sind vereinigt Physisch-Leibliches und Geistig-Seelisches. Die äußere Wissenschaft und die Weltanschauung, die sich auf ihr aufbaut, sie haben völlig recht, wenn sie sagen: Ja, diesem Menschen, der uns da gegenübersteht, kann man nicht ansehen, daß in ihm ein Geistig-Seelisches ist; und begreiflich ist es, wenn eine Weltanschauung dieses Seelisch-Geistige völlig ableugnet. Aber das ist gerade so, wie wenn man die Natur des Wasserstoffes ableugnen würde.
....wird fortgesetzt