"Unter allen Forderungen unsrer Zeit ist die Geschichtserkenntnis selbst die Urforderung"
so Hans Erhard Lauer (1899-1979), Begründer der anthroposophischen Geschichtsphilosophie, er fehlte als Stimme in den Auseinandersetzungen um das Buch "Anthroposophie" von Helmut Zander, dem Religionshistoriker, dem dieses Thema für seine Habilitation an der Humboldt-Universität/Berlin gewährt wurde. Deutungshoheit ist ein akademisches Steckenpferd - aber als nur eine beiläufige Spielart auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie erweist sich
der Zander'sche "Historismus",
der Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, als einen Wiederkäuer der Geschichte statuieren will. Diese Spezies aufzuspüren hätte es dem Habilitanden genügt, den Historiker-Rückspiegel auf 180° einzustellen. Auf einer Tagung der Humboldt-Universität mit dem "EFFE - Europäisches Forum für Freiheit im Bildungswesen" im Jahr 2000 habe ich als anthroposophischer Buchhändler nicht mit den Teilnehmern aus der "Waldorfschulbewegung", sondern überraschenderweise mit interessierten Koryphäen dieser Universität einen stattlichen Umsatz mit anthroposophischen Büchern zu politologischen, sozialen und pädagogischen Themen gemacht. Da wurde eifrig studiert und das Ergebnis dieses Professoriums (oder heißt es: Provisorium?) ist das Buch von Helmut Zander. Bald erschien von anthroposophischer Seite im Gegenzug ein Kompendium "Anthroposophie", herausgegeben von Rahel Uhlenhoff, in dem mehrere Vertreter der Anthroposophie aus ihren Quellen berichten.
Nun sind verschiedenste Gesichtspunkt immer hilfreich, sie dürfen aber nicht nur nebeneinandergestellt bleiben. Sonst beengen langatmige Ausführungen da, wo ein freier Atem walten möchte. Zander hat zwar für seinen Output jahrelang recherchiert, dabei nicht zu leugnende praktische Ergebnisse anthroposophischer Arbeit in Landwirtschaft,
Pädagogik und Medizin vordergründig anerkannt, deren Quellorte und wissenschaftliche Reputation aber durch seine Interpretationen letztlich hinweggeblasen sehen wollen. Doch der Wind (Pneuma=Geist) weht, wo er will, und so haben die versammelten Autoren im Gegenzug nicht erst lange herumhecheln müssen - ihre Lebensluft ist seit Jahren die konstruktive Arbeit an ihrer jeweiligen Thematik und deren Quellen. Dennoch: Wer hier wie da seine Erkenntnisfragen und Lebensprobleme im Mainstream ignoriert sieht, muß nicht nur gegen einen Strom schwimmen - es werden deren auf dem Weg zu den Quellen immer mehr und es wird schwer, die Strömung zu finden, die zur reinsten und stärksten Quelle führt. Mit Beginn der Neuzeit (um 1500nC) ist ein Luther an eine solche Quelle der Wahrheit als Einzelner gegangen und er mußte sich gegen die alten Machtströmungen verteidigen, die hierarchisch kanalisiert in der katholischen Kirche (in deren Sukzession Zander steht) seit den Zeiten des Hierarchien-Lehrers Dionysius Areopagita dahinfliessen. Rudolf Steiner, der mit Beginn des "Lichten Zeitalters" ~1900nC aufgetreten ist, hat den Quellort der Anthroposophischen Bewegung eingefaßt mit der 1924 gegründeten "Freien Hochschule für Geisteswissenschaft". Christian Morgenstern hat auf seiner Quellensuche in einem Gedicht das Wirken Rudolf Steiners so gewürdigt:
Die "Neuzeit", die das "Mittelalter" ablöste, und der Beginn des "Lichten Zeitalters" ist mittlerweile von einer noch "neueren Zeit" überholt worden, wie überhaupt künftige Zeiten auch unsere "neueren Zeiten" überholen werden. Das liegt nun einmal im Wesen des Zeitlaufes, daß es immer ein gewordenes "Dasein" zum alten Eisen macht und ein Werdendes an dessen Stelle setzt, bis dieses - deutlich geworden - selbst wieder alt aussieht. Derzeit befinden wir uns im Zeitalter "alternativer" Fakten. Wie es um deren Wahrheitsgehalt steht, ist zwischenzeitlich klarer geworden - ihr Quellpunkt liegt in brodelndem braunen Magma. Und was kommt nach dem "postfaktischen" Zeitalter? Noch verdrehtere Visionen noch abenteuerlicherer Machtergreifer? Aber gleichzeitig mit diesen treten scheinbar machtlose Einzelne stellvertretend für die ganze Menschheit ein wie z.B. Edward Snowden, Träger des "alternativen" Nobelpreises 2014. Es gebiert sich in der neuesten Zeit der "Kosmopolit", der nicht nur verfolgt, sondern auch in die absolute Heimatlosigkeit verstoßen wird und zur sozialen Unwirksamkeit verurteilt wird. Das geht vielen so, mehr als man denkt. Auch den Millionen Flüchtlingen geht es nicht anders. Die Brüchigkeit der alten Strukturen wird deutlich, wo befürchtet wird, daß Individuelles die bestehenden, aber eigentlich maroden Rahmen sprengt: "Das Wahre ist eine Fackel, aber eine ungeheure, deswegen suchen wir alle, nur blinzelnd so daran vorbeizukommen, in Furcht sogar, uns zu verbrennen"
sagte Goethe schon, der zwar in feudalen Verhältnissen lebend, dennoch aus vielerlei Zwängen ausgebrochen ist und selber ein ganzes Quellsystem darstellt. Die kollektiven Strukturen stehen in den Achsenzeiten der Geschichte (Jaspers) der Emanzipation des Individuums entgegen, auch wenn diese durch "Massenträgheit" behindert wird, als gäbe es "nichts Neues unter der Sonne". "Neu" ist, daß Wahrheiten nicht mehr verortet werden können aus Alleinvertretungsanspruch und Deutungshoheit. Funktionäre der Anthroposophischen Gesellschaft unterscheiden sich da nicht von den Leithengsten des Mainstreams. Eine neuzeitliche Haltung z.B. hat die Donauschwaben im 18./19. Jahrhundert in ihrem geraden Sinn - jeglichem philosophischen Spekulieren fern - bewogen, trotz Mißgunst seitens kirchlicher und weltlicher Obrigkeit den zentralen Quellpunkt der Geschichte, die Christ-Geburt nachzuspielen, die hier "en miniature" gebracht wird: Christgeburtspiel. Es darf gesagt werden, die Protagonisten dieser Spiele ins Auge fassend: Wahre Hirten und Könige gehen mit offenen Augen auf zentrales geschichtliches Geschehen zu, während Vasallen blind dafür sind, sie sehen nur die ewige Wiederkehr des Gleichen und fürchten Neues, weil sie dann um ihre alten Pfründe fürchten müssten. Rudolf Steiner hat diese Spiele durch seinen Lehrer Julius Schröer kennengelernt und später szenisch neu eingerichtet. Wir können bei ihm in die Schule gehen, sie führt zu den eigentlichen und einzigen Urquellen des Daseins.
"...Eine wirkliche Überwindung der durch den Historismus eingetretenen Relativierung wird, wie dies auch immer gefühlt wurde, nur möglich von einer "metahistorischen" Sphäre aus. Diese wird aber als eine nicht nur glaubensmäßig erlebbare, sondern erkenntnismäßig zu erfassende nur erschlossen, wenn sie in der die Epochen der Urzeit, der Vorgeschichte und der Geschichte umfassenden gesamtirdischen Entwicklung des "Menschlichen" gefunden wird, wie sie in diesem Buche Hans Erhard Lauer: Geschichte
darzustellen versucht wurde. Dies ist allerdings, wie wir gezeigt haben, nur möglich durch jene "Erweiterung des Begriffes des Menschen", wie sie durch die Anthroposophie errungen worden ist. Denn von daher ergibt sich eine bestimmte urbildliche Idee des Ganzen der Geschichte und zugleich die Erkenntnis, daß dieses Ganze der Geschichte in der fünften (nachatlantischen) Phase der letzteren erst vollständig zur Ausprägung gelangt, wodurch das geschichtliche Dasein der Menschheit in dieser Phase restlos "geschichtlich" wird...
Der Menschheit erwächst in dieser Phase die Aufgabe einer absoluten, auch im Bereich des Ideell-Archetypischen zu voll ziehenden Neuschöpfung, weil keinerlei Wiederspiegelungen alter Impulse und Formen wie eine Re-Naissance oder Re-Formation erfolgen..."
Hans Erhard Lauer 1899-1979 "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung",
(oben: III.5-S241-43, unten: II-S17-21)
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"Über den Historismus"
aus Hans Erhard Lauer: "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung"
2.Band: Die Wiederverkörperung des Menschen als Lebensgesetz der Geschichte, Einleitung: Die Gegenwartslage der Menschheit und ihre Forderungen (S17-21): Hans E. Lauer: Geschichte II:
Hinblickend auf diese im Gleichschritte mit der Zunahme des geschichtlichen Wissens fortschreitende Abnahme kulturschöpferischer Kräfte stieß bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Nietzsche den in seiner Schrift "Über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" zum Ausdruck kommenden Alarmruf aus. Die moderne Menschheit leidet, so lautete die darin von ihm gestellte Diagnose, an der "historischen Krankheit", d.h. an einem "Übermaß von Historie, durch welches die plastische Kraft ihres Lebens angegriffen ist". Denn was für den einzelnen Menschen sein Gedächtnis, das ist für die Menschheit ihr geschichtliches Wissen. Wie aber ein Mensch, der nichts vergessen könnte, auch nichts zu produzieren vermöchte, weil er keiner neuen Situation mit frischen, unbefangenen Sinnen, mit für Neues empfänglicher Seele gegenüberzutreten imstande wäre, so hat das Übermaß ihres historischen Wissens die kulturschöpferische Kraft der neueren Menschheit gelähmt. "Zu allem Handeln gehört Vergessen; wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen wäre, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer (S18) wiederholten Wiederkäuen fortleben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu sein, wie das Tier zeigt. Es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinn, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrundegeht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur..." Als "Gegenmittel gegen diese Krankheit" forderte Nietzsche "das Unhistorische und das Überhistorische. Das Unhistorische: die Kraft, vergessen zu können, - das Über-historische: Kunst und Religion".
Welche Bedeutung diese von ihm erstmals empfohlenen Rezepte in unserem Jahrhundert erlangen sollten, davon wird sogleich zu reden sein. Zunächst freilich - nicht umsonst hatte Nietzsche diese Schrift seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" eingereiht - verhallte der in ihr erhobene Ruf ohne Echo. Denn die "Historisierung" der modernen Weltschau war in vollem, unaufhaltsamem Gange und eilte ihrem Gipfelpunkte zu. Sie erreichte diesen um die Jahrhundertwende mit der Vollendung des Historismus. Dieser bedeutet die restlose, absolute Historisierung aller auf den Menschen und die menschliche Kultur bezüglichen Betrachtung. Ob es sich um Religion, Kunst, Philosophie, Moral, Recht, Wirtschaft oder was immer handelte, - es ausschließlich nach seinen geschichtlichen Bedingungen und Wirkungen, seinem geschichtlichen Werden und Vergehen zu erforschen, erschien im Sinne seiner Prinzipien als die einzige Art von Verständnis, die gegenüber den Phänomenen menschlicher Kultur sinnvollerweise angestrebt werden könne.
Es wäre ungerecht, die großen Verdienste zu leugnen, die dem Historismus zu verdanken sind. Er hat in einem nie zuvor erreichten Grade den Blick erschlossen für das Einmalige, Situationsbedingte, Nichtwiederholbare, das die geschichtlichen Phänomene am allerwesentlichsten kennzeichnet und sie von den Naturerscheinungen grundlegend unterscheidet. Er hat damit auch entscheidend dazu beigetragen, den Eindruck der auf das Allgemeine, Gesetzmäßige, Gattungshafte zielenden naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise in die Geschichtsforschung, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erfolgt war, abzuschlagen und die geschichtliche Erkenntnisweise sich in ihrer Eigenart und Selbständigkeit gegenüber der naturwissenschaftlichen behaupten zu lassen. Aber, wie alle Dinge in der Welt, so hatte auch er seine Kehrseite. Indem er nämlich den geschichtlichen Beziehungen und Zusammenhängen der Kulturerscheinungen absolute Bedeutung zuerkannte, musste er ihnen das nehmen, was sie bisher besessen hatten: die Gültigkeit ihrer geistigen Werte. Mit anderen Worten: die Verabsolutierung der Geschichte bedeutete die Relativierung aller kulturellen Werte. Seien es nun Werte der Wahrheit, der Schönheit oder der sittlichen Güte (d.h. der Erkenntnis, der Kunst oder der Moral), - indem diese bloß nach ihren geschichtlichen Relationen ins Auge gefaßt (S19) wurden, verflüchtigte sich ihr Anspruch auf absolute, übergeschichtliche Gültigkeit. Ja, durch diese Verabsolutierung der Geschichte relativierte der Historismus auch seine eigene Wahrheit; denn er musste ja auch sich selbst als bloß geschichtlich bedingt verstehen. Und so musste sich denn unter seinem Einfluß der Mensch unseres Jahrhunderts in die Geschichte wie in einen Strom hinein-geworfen empfinden, der von einer unbekannten Quelle zu einer unbekannten Mündung fließt, der in seinem Fließen ständig neue Wirbel erzeugt und wieder auflöst, in dem man nur immer mitzuschwimmen verurteilt ist, ohne jemals auf einem Boden Fuß fassen und einen festen Stand gewinnen zu können. Die so aufgefasste Geschichte sagt ihm nurmehr, was er in einer bestimmten Lage - je nach ihren Gegebenheiten - tun kann oder nicht tun kann, aber nicht, was er tun soll. Sie gibt ihm keine Antriebe und Richtlinien für sein Verhalten, sie offenbart ihm aus sich selbst heraus keinen Sinn und kein Ziel ihrer Bewegung. Das geschichtliche Wissen ist - nach Max Weber - "wertfrei", d.h. aber in höherem Sinne für das Leben und Handeln wertlos geworden. Pointiert ausgedrückt: unser Jahrhundert hat uns nicht nur die Begründung der physikalischen Relativitätstheorie, sondern - als Ergebnis des Historismus -
zugleich auch einen geschichtlichen Relativismus gebracht. Die Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins hatte sich überspitzt und musste dadurch mit Notwendigkeit in eine gegenläufige Bewegung umschlagen. Diese Bewegung ist es, die unserer Gegenwart die Signatur gibt. Da die Übersteigerung der Bedeutung der Geschichte uns aller absoluten Wertmaßstäbe und Verhaltensorientierungen beraubt hat, musste sie die Meinung entstehen lassen, daß wir, wenn wir zu solchen wieder gelangen wollen - denn ohne solche können wir als Menschen nicht leben und handeln -, von dieser Überschätzung der Geschichte zurückkommen müssen (M.Eliade). Da diese aber mit unserem heutigen geschichtlichen Wissen untrennbar verknüpft, ja mit ihm geradezu identisch ist, so schien keine andere Möglichkeit übrig zu bleiben, als die notwendigen absoluten Gültigkeiten aus dem Glauben herauszuschöpfen (K.Löwith). Da wir unser geschichtliches Wissen jedoch nicht geradezu "aufheben" können, so bedeutet dies, daß wir ihm, die Sphäre seiner Gültigkeit begrenzend, eine Sphäre des Glaubens ergänzend entgegenstellen müssen, die ein Überhistorisches repräsentiert. So hat die Forderung Nietzsches nach Religion als dem Überhistorischen heute breiteste Aktualität erlangt. Das Streben nach ihrer Erfüllung tritt in unserem Jahrhundert in den mannigfaltigsten Varianten in Erscheinung.
Wo gefühlt wird, daß die wissenschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte und die mit ihr verbundene geistige Verselbständigung der menschlichen Individualität heute eine Wiederbelebung dogmatischer Glaubenslehren unmöglich macht, wird eine je individuell geartete und im je eigenen Tatenleben zu bewährende bewußte innere Wiederverbindung (S20) des Menschen mit den das menschlich-geschichtliche Dasein durchwirkenden "immanent transzendenten Mächten" gefordert (A.Weber).
Wo dagegen der Glaube an die an die geistigen Ansprüche und Fähigkeiten der menschlichen Individualität durch den Gang der neuzeitlichen Geistesentwicklung und die Ausartungen des modernen Individualismus erschüttert wurde - wie dies heute in weiten Kreisen der Fall ist -, wendet man sich zu den christlichen Glaubensüberlieferungen, namentlich in ihrer ihrer katholischen Ausgestaltung, zurück. Denn diese stellt ein "Weltanschauungsgehäuse" dar, welches als ein umfassender, überpersönlicher, in Gemeinschaft erlebbarer Kosmos von Werten und Gültigkeiten das Gefühl der geistigen Standfestigkeit und zugleich des Geborgenseins zu verleihen vermag. Man spricht in solchen Kreisen vom "Ende der Neuzeit", das in unserem Jahrhundert gekommen sei, und vom Anbrechen eines "neuen Mittelalters" (R.Guardini). Die katholische Weltanschauung versteht sich selbst ja als ein überzeitlich Gültiges und erkennt dem Wandel der geschichtlichen Erscheinungen und Epochen nur eine begrenzt-relative Bedeutung zu. Die Geschichte erscheint in ihrem Lichte in ein umfassenderes, übergeschichtliches Heilsgeschehen eingeordnet, innerhalb dessen ihr nur ein bestimmt umgrenzter Sinn zukommt.
Noch um einen Schritt weiter wird dort gegangen, wo man auch den Glauben an die begrenzte Bedeutung preisgibt, welche der Geschichte in christlicher Sicht zuerkannt wird, und ein Absolutes nur in der Beziehung des Einzelnen zu göttlichen Mächten in Natur und Kosmos, unabhängig von allem Geschichtlichen, meint finden zu können. In der Preisgabe dieses Glaubens zieht man die radikalste Konsequenz aus der Relativierung aller auf die Geschichte bezüglichen geistigen Weltordnungen, welche der Historismus bewirkt hat. Die Folge davon ist in den meisten Fällen die Hinwendung zu den völlig ungeschichtlichen Weltdeutungen und Daseinsinterpretationen des Orients, deren geistige Erbschaften daher heute in breitem Strome die abendländische Zivilisation überfluten. Den Konversionen zum Katholizismus treten so in stets wachsender Zahl die Bekehrungen zu den Lehren des Buddhismus, Hinduismus, Taoismus zur Seite. Auch das Auftreten der indisch orientierten theosophischen Bewegung in unserer Zeit gehört in diesen Zusammenhang.
Was in all den zuletzt genannten Strömungen auf relativ höherer geistiger Ebene in der Gegenwart als ein Verlust oder eine Preisgabe des im Abendland entstandenen und entwickelten historischen Sinnes sich vollzieht, dem entspricht auf tieferem geistigen Niveau jenes rapide Hinschwinden geschichtlichen Interesses und Wissens, das wir in den großen Massen unter dem Einfluß ihrer geistigen Betäubung durch die Errungenschaften der Technik und ihrer geistigen "Ernährung" durch Kino, Radio und Television heute wahrnehmen (1958 geschrieben!). Mit ihm geht Hand in Hand das Abreißen fast aller Kulturtraditionen und Bildungsüberlieferungen, das unsere Zeit kennzeichnet. Es ist, als (S21) ob die Massen bis zu einem fas tierisch zu nennenden Hinvegetieren in jenen Geistesschlaf des Vergessens gegenüber allem Geschichtlichen versinken wollten, den Nietzsche als das andere Gegenmittel gegen die "historische Krankheit" bezeichnet und empfohlen hatte, - oder mindestens auf eine vorgeschichtlich-ungeschichtliche Bewußtseinsstufe zurückzufallen im Begriffe wären. "Es scheint heute möglich, daß die gesamte Überlieferung... verloren geht, daß die Geschichte von Homer bis Goethe in Vergessenheit gerät. Das mutet an wie die Drohung des Untergangs des Menschseins, jedenfalls ist unabsehbar und unvorstellbar, was unter solchen Bedingungen aus dem Menschen wird" (K.Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S169).
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Zur Entstehung einer Geschichtswissenschaft in Ergänzung einseitig aufgefaßter Wissenschaftlichkeit des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses sei hier ein Ausschnitt gebracht aus:
Hans Erhard Lauer
"Die Wiedergeburt der Erkenntnis:
Die Anthroposophie - Die Stufen des Erkennens"
...Im weiteren Verlaufe seines anthroposophischen Wirkens hat Rudolf Steiner in vielen umfangreichen Vortragsreihen über das Christentum und insbesondere über die Schriften des Alten und Neuen Testaments eine umfassende Christosophie entwickelt, in der überhaupt zum erstenmal eine erkenntnismäßige Darstellung des Christuswesens selbst und seiner Wirksamkeit innerhalb der Menschheitsgeschichte gegeben worden ist. Doch ist deren Inhalt, unabhängig von jeder äußern Tradition, restlos aus der übersinnlichen Anschauung geschöpft. Durch nachträgliche In-Beziehung-Setzung desselben zu den christlichen Urkunden wurde freilich zugleich eine völlig neue Interpretation der letzteren errungen. Während die neuere Bibelforschung, die sich nur an die äußeren Dokumente hielt, aus diesen die Christusgestalt allmählich gänzlich verloren hatte und nur mehr ein - übrigens höchst dürftiges und unsicheres - Bild des Menschen Jesus in ihnen zu finden vermochte, ist hier gerade durch die von allen äußeren Dokumenten unabhängige Geistesforschung das Christuswesen und -wirken zum erstenmal für die Erkenntnis erobert und nachträglich dann auch in den Evangelien wiederentdeckt worden. So bedeutet die Steinersche Christosophie zugleich eine Erneuerung speziell der christlichen Religion aus dem Geiste der Erkenntnis, nachdem diese als eine vom Glauben getragene durch die moderne Naturwissenschaft im allgemeinen und die neuere Bibelkritik im besondern zum Absterben gebracht worden war.
Das andere aber, was die intuitive Geist-Erkenntnis enthüllt, ist die kosmische, die weltschöpferische Bedeutung des Moralischen. Sie zeigt, wie der Kosmos gewissermaßen aus Kräften der "Götter-Moralität" heraus: durch göttliche Opfertaten entstanden; wie er in der Mitte seiner Entwicklung über deren kritische Wende durch die freieste göttliche Liebestat (des Christus) hinweggebracht worden ist; und wie er, nachdem der Mensch seit jener Zeit zum selbständigen geistigen Wesen herangereift ist, nur durch das Zusammenwirken von menschlicher mit göttlicher Moralität seinem Ziele entgegengeführt werden kann. Der selbständig gewordene Mensch ist zum Mitarbeiter der Götter am Weltenfortgange berufen. Und er wirkt in diesem Sinne auf der gegenwärtigen Stufe der kosmischen Entwicklung durch das regelmäßige Abwechseln zwischen irdischem Dasein, durch das er immer wieder die Impulse des Geistes der Sinneswelt einverleibt, und geistig-himmlischem Dasein, durch das er immer wieder seine Erdenerfahrungen in die Götterwelt hinaufträgt und in dieser zu neuen Fähigkeiten und Absichten umwandelt. Seine moralischen Handlungen erweisen sich so als die Saaten, aus denen die künftigen Gestaltungen des Weltendaseins erblühen. Und der intuitiven Erkenntnis ergibt sich durchaus eine gewisse Schau in die Zukunft sowohl der geschichtlichen wie der kosmischen Entwicklung. Damit aber entsteht erst eine wirkliche Geschichtswissenschaft. Denn in der Geschichte handelt es sich um den Menschen. Darum kann nur eine wirkliche Menschenerkenntnis auch zu einer wahrhaften Geschichtserkenntnis führen. Der Mensch aber, wie er zwischen der geistig-göttlichen und der physisch-natürlichen Welt als ihr Vermittler drinnensteht, steht ebenso auch als das eigentliche Gegenwartswesen zwischen Zukunft und Vergangenheit drinnen S246 und ragt zugleich in beide hinein. Darum ist eine echte Geschichtserkenntnis nur diejenige, die sowohl von seiner Vergangenheit wie von seiner Zukunft zu sagen weiß.
Eine Geschichtsforschung, welche - wie die bisherige - nur Vergangenes beinhaltet, beschreibt nur, was das wirkliche geschichtliche Leben als Leichnamartiges von sich ausgeschieden hat, nicht aber die treibenden Kräfte, die in ihm gewirkt haben und auch in seiner Gegenwart wirken. Sie ist im Grunde eine bloß als Geschichtsforschung verkleidete Naturwissenschaft. Und so wird hier noch einmal sichtbar, daß es die neuere Zeit bisher nur zu einer Naturwissenschaft gebracht hat. Denn die Natur repräsentiert die kosmische Vergangenheit. Sie ist das, was aus der kosmischen Entwicklung ausgeschieden wurde. Sie ragt als Vergangenes nur in die Gegenwart herein. Aber in ihr geschieht nichts Neues. Sie hat keine Geschichte. Sie wiederholt nur immer das Gleiche. Dagegen ist die Zukunft nur in der geistigen Welt zu finden. Diese ist gleichsam die Sphäre der Absichten, der Möglichkeiten. Ihre Wesenheit repräsentieren, was der Mensch künftig einmal werden soll. Dessen Enthüllung fordert daher die Ausbildung einer übersinnlichen Erkenntnis.
Die Wesenheit des Menschen aber erstreckt sich in beide Welten hinein, - in die natürliche hinunter und in die geistige hinauf. Und so verbindet er in seinem Leben auch Vergangenheit und Zukunft. Darum muß eine echte Geschichtswissenschaft ebenfalls beides in sich enthalten. Sie muß Zukunft und Vergangenheit gegenseitig in sich spiegeln lassen. Sie muß seine Zukunft im Lichte seiner Vergangenheit und diese im Lichte jener darstellen. Darum auch muß sie nicht nur unser Erkennen beschäftigen, sondern zugleich unser Handeln impulsieren können. Sie kann nicht moralisch neutral, nicht "wertfrei" sein wie die Naturerkenntnis. Daß die "Wertfreiheit" - man könnte auch sagen: die Wertlosigkeit für unsere praktischen Aufgaben - zum Grundmerkmal der gesamten, heute noch herrschenden "Erkenntnis" geworden ist, wie Max Weber einmal ("Wissenschaft als Beruf") festgestellt hat, beweist von einer letzten Seite her, daß die neuere Zeit bisher nur eine Naturwissenschaft ausgebildet hat - auch dort, wo sie geschichtlich-kulturelle Phänomene behandelte -, noch nicht aber einer wirkliche Geschichtserkenntnis. Eine solche ist erstmals von Rudolf Steiner aus der Anthroposophie heraus begründet worden. Und sie ist in der Tat nicht "wertfrei". Sie gibt auch Antwort auf die Frage: "Was sollen wir tun?" Allerdings nicht in der Form von moralischen Geboten oder allgemeinen Kulturprogrammen. Auch nicht indem sie ein System von abstrakten "Werten" aufstellt, denen kein "Sein", sondern bloße "Geltung" zukommt, - wie dies die moderne "Wertphilosophie" tut. Sondern indem sie eine Erkenntnisart pflegt, welche die Gesetze zu erfassen vermag, die dem Menschen- und Weltenwerden von seinem göttlich-geistigen Ursprunge her zugrunde liegen. Indem sie uns diese Gesetze ins Bewußtsein heben lehrt, nimmt sie ihnen den Charakter des Zwingenden, macht uns von ihnen frei. Die Beschaffenheit aber dieses Erkennens gibt uns zugleich die Möglichkeit, seine Inhalte zu sittlichen Zielsetzungen - in ganz individueller Weise, je nach dem Platze, an dem der einzelne steht - schöpferisch umzugestalten; Zielsetzungen, die dann nicht subjektiv-willkürlich, seinsfremd sind, sondern in unserm Sein selbst wurzeln. So eröffnet sie uns durch die Art ihrer Menschen- und Welterkenntnis die Möglichkeit, freie Schöpfer der Menschen- und S247 Weltenzukunft zu werden. Und diese Möglichkeit, im höchsten, kosmischen Sinn ein freies Wesen zu werden, tritt durch sie zum allererstenmal in der Weltgeschichte für den Menschen auf.
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