Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Anthroposophie und "die Mitte"

und Urphänomene von Gegensätzen und ihre Wirkungen

Buchhinweis: Hans Peter van Manen: 'Wiederkunft und Heimsuchung - Die Suche nach der Mitte'

Und wie schwer es ist, heute eine Mitte zu finden und zu halten, kann am Beispiel der "Friday for Future" erlebbar werden.

Greta Thunberg hat sich kritisch zum Israelkrieg geäußert, was nun wohl zur Spaltung der Bewegung führt und das eigentliche Anliegen schwächt

 

  1) Im physikalischen Sinn sind Sog und Druck geläufige Phänomene. Im Seelischen wirken Sympathie und Antipathie ähnlich. Das eine ist anziehend - man fühlt sich hingezogen. Beim andern empfindet man Druck vom Gegenüber ausgehend, in der Folge wirkt das abstoßend. Der falsche Philanthrop oder die 'andere Philia' (9.1) täuschen mit ihrer Süßlichkeit Interesse vor, das sich unweigerlich in nachfolgenden Verleumdungen entlarvt. Im Geistigen sind es Wesen, da spricht Steiner von Luzifer und Ahriman, die immer irgendwie zusammenwirken in ihrer Auflehnung gegen göttliches Wirken. Es sind die sogenannten Widersacher. Bei Goethe ist es Mephistopheles mit seinen zwei Seiten. Auf der einen Seite ist er der Lügengeist, auf der anderen vertritt er eine ätzende Begriffslogik, die mit wahrer Wirklichkeit auch nichts zu tun hat. In der Bibel sind es der Teufel und Satan, im Altpersischen wird letzterer Ahriman genannt, als Name eines geistig verdunkelnden Wesens, später wurde er auch Mammon genannt, was seine erdverhaftende Tendenz verdeutlicht und heute in der Geldgier ihren Ausdruck findet (9.2). Luzifer, ein römischer Name, wird in der Bibel genannt und bedeutet der Lichtbringer. Die Widersacher wirken polarisch: verströmend-zusammenziehend oder auflösend-verhärtend. Weich/hart, Licht/Finsternis, Hitze/Kälte, überbordendes Leben/Todeserstarrung sind Gegensätze, zwischen denen der Ausgleich zu suchen ist, im Seelischen der zwischen Euphorie und Zwang, oder der echte Mut zwischen Feigheit und Kühnheit. Die Scheu, Furcht oder Angst vor geistiger Erfahrung steht der Faszination von Esoterikspielerei gegenüber. West und Ost - Materialismus und Seelenmystik - Wissen und Glauben sind solche Gegensätze (9.3). Beim Streben nach Freiheit ist die Mitte zwischen Zwang (Determination) und Illusion (Beliebigkeit) zu suchen.  Mitte kann nie statisch hergestellt werden, sie ist Sache von Entwicklung im Lebenslauf des einzelnen Menschen (mikrosozial) und in der Geschichte der Menschheit (makrosozial). Eine Gesellschaft kann sich eine freiheitliche Verfassung geben, in der Freiheit möglich wird. Aber nur der Mensch selber kann frei sein, nicht eine mesosoziale (juristische Person) oder makrosoziale Institution (Staat). Man kann mit Ivan Svitak sagen: (9.4)


"Der moderne Mensch steht nicht links oder rechts, er geht – in der Mitte"


so wie Steiner das dargestellt hat beim Menschheitsrepräsentanten der plastischen Gruppe im Goetheanum/Schweiz. Die Mitte ist das eigentliche Mysterium der dortigen Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Rudolf Steiner wollte sie in den Herzen der Beteiligten gegründet wissen und hat für sie zunächst die ersten Inhalte geschaffen. Auch der Grundsteinspruch (9.5) ist auf der Dreiheit aufgebaut und stellt ein Präludium der Hochschularbeit dar. Goethe formuliert einen circulos vitiosus im Menschlichen wirkend so:

"So tauml‘ ich von Begierde zum Genuß, und im Genuß verschmacht‘ ich nach Begierde" (9.6)

   Der Sinn für Mitte und Maß karikiert sich aber oft zum Mittelmaß. Mitte entsteht erst aus dem Vermitteln zwischen Gegensätzen. Geht man extrem nur in eine Richtung – es schlägt um in die andere und so fort, wenn man nicht die Mitte findet, auch z.B. zwischen verinnerlichend-veräußerlichend, zentripetal-zentrifugal, verspätend-verfrühend, erhebend-herunterziehend und anderer solcher Gegensätze. Wer der Kälte moderner Erwerbsarbeit in die Wärme alternativer Betriebe entflieht, der hat damit auch noch nicht die Mitte wiedergefunden, die durch die Trennung von (selbständigem) Denken und (fremdbestimmtem) Handeln verlorengegangen ist. Wer willig sein Ego zurückstellt, hat oft unvermerkt seine Persönlichkeit schon reduziert um einer nebulos warmen Gemeinschaft willen. Persönlichkeit will sich aber ganzheitlich in der Mitte entwickeln, wie dies Goethe klassisch in die Orphischen Urworte (9.7a) geprägt hat, es sind Zauberworte der Mitte:


"Geprägte Form, die lebend sich entwickelt"


   Form droht immer zu erstarren, Vitalität droht immer auszuufern. Mitte ist dabei immer in einem labilen, instabilen Gleichgewicht. Um es herzustellen und zu halten, muß immer wieder zu den Gewichten mal der einen, mal der anderen Seite gegriffen werden. Formung kann dabei zur Verhärtung, Leben aber auch zur Wucherung und Auflösung führen. Die Krebskrankheit führt auf der organischen Ebene vor, wie Verhärtung umschlagen und in die Wucherung und Auflösung eines Ganzen führen kann. Und wer glaubt, die Mitte endgültig gefunden zu haben, der merkt nur den Stillstand mit seinen Verhärtungstendenzen nicht mehr oder das Illusionäre seines Treibens. Auch das mittelalterliche Ora et labora kann als ein Streben in die Mitte aufgefaßt werden: Ora ist kein Aussitzen und Labora kein Zerstreuen langweilender Zeitspannen, sondern es handelt sich um einen künstlerischen Prozeß - einmal handelnd in eine Materie eindringend, dann sich betrachtend, besinnend und vertiefend zurücknehmen.

 

Eine Betrachtung von Hedwig Greiner-Vogel sei hier eingefügt (9.7b): 

'Das Problem der Mitte'

  "...Wie oft ist in diesem Jahrhundert gesprochen worden von dem 'Verlust der Mitte'. Aber diese Mitte ist es gerade, welche als Schaffenssphäre des Künstlers zu gelten hat. Die menschliche Organisation selber schafft sich im Sinne einer lebendigen Menschenkunde aus dieser Mitte die Quelle ihrer lebenslangen Erneuerung.

  Diese Mitte ist die Sphäre des Rhythmus. Atmung und Zirkulation wirken harmonisierend zusammen. Sie schaffen den Ausgleich zwischen dem innerlich pulsierenden Herzen und dem in Ein- und Ausatmung mit der Umwelt kommunizierenden Lungenorgan. Was seelisch auf dieser 'rhythmischen Organisation' wie auf einem Instrument spielt, ist die weitgespannte Skala des Gefühlslebens. In sie hinein formt von oben her wachbewußt die Kraft der Sinnesempfindung und Gedankenbildung. Aus den Lebenstiefen der unbewussten Aufbau- und Bewegungskräfte strömt nach oben - wie träumend - das Element schaffender Willensimpulse. Im rhythmischen Ineinanderwirken von Hauptes- und Gliedmassenkräften gliedert sich das Menschenwesen ein in den Werdestrom des Daseins.

  Die schöpferische Mitte wird zu einer Schwelle, in welcher sich das Wesen der Zeit überkreuzt, in welcher Seelisches, aus der Vergangenheit herübergetragen, zum Bilde formen will, das wie in Erinnerung festgehalten wird und wo die noch unausgelebten zukünftigen Lebensimpulse, wie vorausgeahnt, das Wesen der Phantasie befruchten. Bewußtseinserweiterung vollzieht sich konkret, wenn diese schöpferische Mitte ergriffen wird, indem die räumlich gegenwärtige Situation sich ausdehnt in den unendlichen Werdeprozeß eines Zeitstromes. Der Mensch als ewige Individualität ist eingegliedert in den Zeitorganismus. Im Erlebnis der Mitte ist der Mensch Künstler. Der Ursprung des Künstlerischen liegt im Übersinnlichen. Er wird in der menschlichen Mitte dem Gefühl bewußt. Wie ein unbestimmtes Rumoren kann das empfunden werden, was sich als 'schöpferischer Überfluß geltend macht. Halbbewußt wird das Erlebnis der Künste durch diesen Zeitorganismus in Gesetzmäßigkeit geordnet. Der Reigen aller Künste läßt sich wesenhaft am Aufbau der Menschennatur selber ablesen. Der Gesamtmensch in seiner Evolution steht ausgebreitet im Zeitenstrom vor uns. In jedem Augenblick ist der Mensch ein Ausdruck der Weltvergangenheit, die er als unbewußten Gedächtnisschatz in sich trägt. Faust beschreitet den 'Gang zu den Müttern', um Helena, der Kunstgestalt der Schönheit, zu begegnen:

"Was einmal war in allem Glanz und Schein, es regt sich dort, denn es will ewig sein..."

  Aber auch der Keim der Zukunft regt sich, der ahnungsvoll in der Willensnatur veranlagt ist:

"Das Künftige voraus lebendig"

  Das ist Goethesche Kunstgesinnung für jene andere "prophetische Seite des Schaffensprozesses". Und weil der folgende Abschnitt ebenfalls die Frage nach der Mitte beinhaltet, sei auch er hier zugefügt:

"Der Gesamtorganismus der Künste"

  "Wie lassen sich die Kunstgattungen von der Zeitperspektive her überschauen? Der Mensch trägt ja im Leben zwischen Geburt und Tod auch Spuren an sich, die über diese Existenz hinausweisen. Würde er sich nur in seinem irdischen Dasein beschränkt erleben, so wäre kein Anlaß zu künstlerischem Schaffen gegeben. Die Kunst könnte sich nur mehr oder weniger naturalistisch gebärden: "Der Naturalismus wird für den Besserempfindenden sich eben empfindungswidrig erweisen müssen". Das ist nicht eine Sache von glauben und beweisen, sondern des realen Erlebens, welches sich in dieser Richtung schulen will. Die doppelte Erlebnissphäre öffnet sich nach den Polaritäten von Vergangenheit und Zukunft, um sich im Herzgebiet der Mitte als Quelle des 'Kunstimpulses zu begegnen. Was wird aus dem Strom der Vergangenheit? Die sogenannten bildenden Künste, Architektur, Plastik. Was weist den Menschen in die Zukunft? Die Sphäre der sprechenden und musikalischen Künste. Die anthroposophische Erkenntnis der Doppelnatur des Übersinnlichen als 'Ungeborenheit' und 'Unsterblichkeit' erweckt in jedem Menschen ein sachgemäßes Empfinden für Architektur und Plastik einerseits, für Musik und Dichtung andererseits. Dieses Empfinden läßt sich schulen, um die in unserer Zeit so häufige Unsicherheit des Kunsturteils, den Dilettantismus im Schaffen und Genießen zu überwinden. Das Eingeständnis der Inkompetenz würde heißen, nicht zu rechnen mit der vorirdischen Existenz der Seele, kein Interesse zu entwickeln für zukünftiges Dasein"

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2) Die Zukunft steht der Vergangenheit gegenüber in dem Sinne, daß auf luziferische Verhältnisse ahrimanische Zwänge folgen, wo der Mensch kein paradiesisches Schlaraffenland mehr vorfindet, sondern seine Existenz bedroht sieht. Auch hier gilt es heute, eine Mitte zu schaffen, dies ist die eigentliche Aufgabe der Gegenwart, sowohl im individuell-menschlichen, wo man sich aus Herzenskräften um seine Entwicklung bemüht, wie auch im Gesellschaftlichen, wo der Mensch allgemein in die Mitte der gesellschaftlichen Entwicklung gestellt sein will, Stichwort 

Grundeinkommen

   Auch hier wollen Herzenskräfte freigesetzt werden! Nur wessen Menschenbild selbst faul ist, sieht dabei eine Gefahr der Ausbeutung von unten. Der Rechtsstaat hat hier seine eigentliche Aufgabe der Vermittlung, die er aber nicht wahrnehmen kann, solange er von einer Seite okkupiert ist. Und in räumlicher Hinsicht gilt es auf unserem Globus zu vermitteln zwischen Nord/Süd und Ost/West. Da geht es oft sehr herzlos zu, wie dies ein ehemaliger Mitarbeiter des IWF, Stieglitz, sehr deutlich zeigt, dem es um mehr als seinen persönlichen Gewinn geht. Die Christianisierung zwischen den einzelnen Menschen ist einigermaßen gediehen, zwischen den Nationen ist sie noch am Anfang! (9.8)

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3) Das eigentliche Mysterium, das zu allen Zeiten gesucht und zelebriert worden ist (auch der Papst hat 1912 im Reichstagsgebäude von einem solchen in Berlin gesprochen!) ist dieses: das Gute - die Mitte. Die Mitte bildet sich zwischen den Gegensätzen - oben/unten - vorne/hinten - rechts/links. Letztlich urständet sie im Menschen, denn er steht ja mittendrin! Der Menschheitsrepräsentant steht zwischen Luzifer und Ahriman, das Böse ist zweifacher Natur, und wenn man es nur als von unten angreifend betrachtet, übersieht man gleichsam in pietistischer Weise seinen Angriff von oben. Wer nur seinen Heiligenschein voller Hingabe pflegt, ist ein Schein-Heiliger! Prof. Thürkauf hat den Klugscheißer treffend charakterisiert: Wenn der Kopf herzlos auf dem Rumpf aufsitzt, dann werden Gedanken durchfallartig als Output ausgeworfen.

   Und die Vertikale im Sozialen sei noch bedacht: was dem Menschen von oben und unten zukommt, darf nicht vermarktet sein: der Geist und die Erde als solche. Ein Kapital- und Grundstücksmarkt prostituiert geistige Arbeit bzw. Grund und Boden gleichermaßen. Man kann diese nutzen, aber nicht beliebig vermehren, wie das zur Definition und dem Wesen von Ware gehört. Auch der Mensch darf nicht vermarktet sein – Arbeitskraft ist erst recht keine Ware. Der gerechte Preis wiederum für eine Ware fluktuiert im Quadrat (9.9): es kommen Variable seitens der Produzenten/Dienstleister und der Verbraucher in betracht. Da zeitigt des Schnäppchenjägers Lustwandel den Frusthandel irgendwo im Warenkreislauf – der gerechte Preis liegt zwischen Lust und Frust. Darüber hat sich schon Thomas von Aquin in seiner Wirtschaftsethik Gedanken gemacht, die ihren Ursprung bei Aristoteles haben. Danach sind Preise ungerecht, die einem Teil der Gesellschaft nicht zumindest eine angemessene Grundversorgung gewährleisten (9.10a). Das Problem ist also viel älter als die Industriegesellschaft! Das goldene Kalb aus den mosaischen Zeiten ist zu einer stattlichen Kuh ausgewachsen, heilig gesprochen und heißt Wachstum. Wenn sie brüllt, dann hört jeder sein Wunschkonzert, der eine die Renditesymphonie, der andere die Renten- und Abfindungsoldies, wieder andere die Buschtrommeln im Spekulationsdschungel. Norbert Blüm ruft zum Aufstand gegen Vorteilssucher auf und gegen den Imperialismus des Homo oeconomicus (9.10b).

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4)  Auch aus der Polarität, die sich zwischen den Geschlechtern abspielt, kann eine Mitte entstehen Dabei sei hier nicht die biologische Steigerung gemeint, die sich aus dem Zusammenkommen von Mann und Frau in Form des Nachwuchses ergeben kann, sondern eine solche seelische Art. Von mittelalterlichen Schriftsteller Chréstien de Troyes gibt es den Ritterroman 'Erec et Enide'. Darin werden die Beziehungen zweier unterschiedlicher Paare geschildert, das eine in tugendhafter Entfaltung und das andere, das die Entwicklung der höfischen Tugenden vermissen läßt. Die gemüthafte Seelenverfassung, die sich dabei so oder so abzeichnet, zeigt, daß es in der mittelalterlichen Zeit darum ging, moralische Grundlagen für die weitere europäische Entwicklung zu schaffen. Denn der Beginn der Neuzeit bringt die selbstbewußte seelenhafte Verfassung mit sich, die in moralischer Hinsicht durch ihre Selbstbezogenheit dahingestellt ist.

    Männlich/weiblich in seiner Einseitigkeit und erforderlichen gegenseitigen Ergänzung spielt sich heute aber auch im Innerseelischen des einzelnen Menschen ab: Menschsein bedeutet für den Mann heute, auch die weiblichen Seiten in sich zu entdecken und zu kultivieren. Und die Frauen sind oft tapferer als Männer, eben weil sie in ihrer ätherisch-leiblichen Verfassung das männliche Prinzip in sich tragen. Hier ist eine Mitte im Werden, die sich eindeutig von biologischen Gegebenheiten emanzipiert (9.11).

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5)   Wenig spekulativ geht es bisher in der Beziehung zwischen physischer und geistiger Welt, zwischen leiblicher und geistiger Existenz, zu. Ihre gegenseitige Abschließung scheint zementiert. Die Brücke zwischen beiden hat Goethe in seinem 'Märchen' geschildert (9.12). Von ihr scheint noch kaum jemand wissen zu wollen. Goethe hat sie in seinen Imaginationen aber als von allem Volk in beiden Richtungen begangene geschildert. Vorausgegangen ist da allerdings die Vermählung des irdischen Jünglings mit der himmlischen Lilie. Dabei kommen sowohl einzelmenschliche wie menschheitliche Entwicklungen in betracht. Der Schwellenübergang gehört zu den Aufgaben  und Möglichkeiten der Mitte wie das zuvor Geschilderte. Und die wichtigste Brücke, die ja immer eine vermittelnde Funktion hat:

Aus Hans-Peter van Manen: "Wiederkunft und Heimsuchung" (9.13):

"...Durch den 'Neuen Bund', der mit dem Erdenleben des Menschengottes besiegelt wurde, ist die Brücke zwischen den getrennten Welten, 'Himmel und Erde', Sonnen- und Erdenraum als geistigen Kraftfeldern, grundsätzlich neu geschlagen; doch muß das damit Angebahnte von Menschen ergriffen und nach und nach in eine erdumspannende Lebensrealität umgesetzt werden. Das ist ein Vorgang, der die künftigen Jahrtausende erfüllen soll. Wie der Entfernungs- und Entfremdungsprozeß zwischen Menschheit und Gottheit die vergangenen Weltalter überschattet und geprägt hat, so darf jetzt die Annäherung der Lebensreise leuchtend als Zielbild über der Zukunft stehen. Die Sonnensubstanz göttlicher Art, die Christus auf die Erde heruntergetragen hat, wird von den Menschen, die sich um seine Altäre scharen, aufgenommen und durch ihr Tun allmählich in die ganze Menschheit - und damit in die Lebenswirklichkeit des Planeten - hineingetragen. Das Werkzeug dazu ist: der Vollzug des Abendmahls. In Brot und Wein, wie sie sich auf den Altären verwandeln, siegelt der lichte Gott, Christus, seine Sonnenkraft ein..."

"...nun der Erde innerlichstes Himmelsfeuer, daß auch sie einst Sonne werde"...

(Christian Morgenstern, 9.14)

  "...Die beiden Pflanzen Brotgetreide und Weinrebe sind von Natur aus schon veranlagt, zwischen Oben und Unten eine Vermittlerrolle zu spielen. Auf der einen Seite wird Lichthaftes, Sonnenentstammendes verleiblicht in irdische Stofflichkeit (Getreide); auf der anderen Seite wird Erdhaftes, Bodenständiges durch Sonneneinwirkung geläutert und zur Süßigkeit verklärt (Wein)..."

  "...In diese Besinnung spiegelt sich ein Urbild aus der Vergangenheit hinein: Ungefähr zweitausend Jahre vor Christus hat das Geheimnis von Brot und Wein schon einmal entscheidend in den Gang des Geschichtsgeschehens eingewirkt. Abraham, der als Stammvater des israelitischen Volkes in jener Zeit seine geschichtliche Aufgabe übernimmt, wird durch eine geheimnisvolle Gestalt gesegnet und für seine Mission gestärkt. Melchisedek erscheint am Abend des Kampftages (1.Mos.14). Plötzlich ist er da; man weiß nicht, woher er kommt; vermutlich ist ein Altar im Höhlenheiligtum unter dem Zionsberg verborgen. Er tritt hervor und reicht Brot und Wein als Friedensgabe und Wegzehr..." (9.14)


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 Wirkungen im Geschichtlichen: 1968

aus anthroposophischem Horizont reflektiert 

 

  Im Sozialen beherrscht die Sogstimmung die sogenannte 'Pionierphase' eines Arbeitszusammenhanges. Etwas Beglückendes herrscht, Wärme, Begeisterung und Sympathie walten. Bei den 68-ern wirkten die Vorreiter regelrecht ansteckend. So richtig wußte man als Mitgerissener nicht, worum es geht, denn wie viele waren auch zu einer fundierten sozialwissenschaftlichen Kritik der Gesellschaft in der Lage? Gerade die Studenten der Sozialwissenschaften kamen angesichts der vielen unterschiedlichen Ansätze unter Druck und mußten sich beschränken, wobei der große Überblick verlorenging bzw. erst gar nicht gewonnen werden konnte (10.1). Die Achtundsechziger, abgesehen von den wenigen Vordenkern, sind sozial vielleicht ein großer Wurf - aber ohne eigenen Inhalt! Das kann aber auch positiv gesehen werden: ein kosmopolitischer Zug war dieser Zeit eigen. Die Volksseele öffnete sich nach der brachialen Isolation der letzten Generationen, nahm die Inhalte fremder Kulturen auf und suchte den Menschenbruder, gleich welcher Hautfarbe (s.a.13.11). Die Verweigerung des Kriegsdienstes - auch angesichts der Greuel in Vietnam - ist ein Beleg für das Auftreten einer neuen Generation mit sozialen und friedlichen Impulsen, die durch dieseitige oder jenseitige Bedürfnisse (Unterhaltungsindustrie oder transzendentale Meditation und Drogen) vielfach in Schnulleraktionismus und Nabelschau verfiel und umgebogen wurde. Andererseits setzte sie sich im Ergreifen sozialer Berufe oder im Kriegsersatzdienst sozial produktiv ein, oft mehr oder weniger als billige und willige Arbeitskraft in den Sozialdiensten, Behinderten- und Jugendhilfeeinrichtungen ausgebeutet.

   Die Pionierphase einer sozialen Entwicklung setzt sich aus Primären und Sekundären, d.h. aus Lokomotiven und Mitgezogenen zusammen (10.2). Die 68er übernahmen größtenteils die marxistische Doktrin, ohne die Traufe zu merken, in die die Flucht aus dem Regen führt. Denn Marxismus ist Heilsgeschichte im materialistischen Gewand, er betreibt so minutiöse historische Studien, weil er die historischen Entwicklungslinien im Unterbau der soziologischen Verhältnisse sucht, nicht in dem Überbau des hegelianischen Weltgeistes. Aber Marx hat sich philosophisch an Hegel hochgerankt, er hat nur dessen Ansatz(Axiom) von der Idee in den der Tat umgekehrt:

„Die Philosophen haben die Welt interpretiert – es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ 

Da steht am Anfang jeglicher Neuschöpfung die Tat, und so erwies sich Marx wie schon beschrieben als ein Geistverwandter von Faust und damit durchaus als ein moderner Mensch. Der Begriff von denkerisch erfasster Wahrheit kommt dabei aber zu kurz, denn sie hat dann keine eigene Relevanz und muß erst im öffentlichen Diskurs gefunden werden. Das mag für den sozialen Prozeß förderlich sein, vorausgesetzt der Diskurs ist ehrlich. Und es zeitigt in der Geschichtswissenschaft versierte Philologen, denn Wahrheit wird dann reduziert auf die sprachliche Einigung über einen Sachverhalt (10.1). Wenn man sich auf herrschende Sprachregelungen im Konsens einigt (Habermas oder auch die Vertreter der Korrespondenztheorie), dann kann die Wahrheit auch außen vor bleiben. In ihrem Besitz ist dann der, der entweder eloquent im Strom schwimmt oder das beste Sitzfleisch hat. Deswegen dauern Kaderversammlungen so lang, wo die Generalsekretäre der KPs gerne lange Reden halten - bis um die 8 Stunden (10.1). Und die Gutachten und Dossiers, die im Bundestag den Damen/Herren Abgeordneten von 'Sachverständigen' in Hochglanzformat überreicht werden, dienen natürlich der Verständigung zwischen Politik und Wirtschaft und Wissenschaft! Vielleicht sollte man dort Filztaschen auslegen, damit wenigstens die Verpackung stimmt!

   Von den Marxisten des Prager Frühling z.B. dem Wirtschaftsminister der Prager Reformer, Ota Sik, konnte man eine 3-stündige Nähkästchenplauderei erleben (Kongress Dritter Weg, Achberg 1974, 10.3), die wenig eloquent oder ideengetragen war, aber von den erlebnishungrigen (R)Evolutionär/innen wie vom Zeitgeist selbst inspiriert aufgenommen wurde. Ein Ivan Svitak oder Eugen Löbl (10.4) mit ihren tiefergehenden Ansätzen standen da vergleichsweise nicht angemessen im Vordergrund. Was im Après-Ski weiter vor sich ging, war dann schon befruchtender und erinnert an Schilderungen von Rolf Henrich aus der DDR (10.5). Und als Schulmeisterei und Schwätzerei gar wurde auch von manchen bedeutungsschwangeren Damen und Herren Dreigliederern empfunden, was der anthroposophische Geschichtsphilosoph Hans-Erhard Lauer nüchtern-enthusiastisch vorbrachte, als echter Vertreter mitteleuropäischer Geistigkeit Brücken bauend zwischen Ost und West, Vergangenheit und Zukunft. Da war den Anthro-68-ern, die sich gerne in einer kritischen Dialektik sonnten, ein geistiger Inhalt angeboten, den sie in ihrem aus jugendlichem Sturm und Drang resultierenden Dünkel aber meist nicht empfinden wollten und erkennen konnten. Noch die Satire 'Astral-Marx' auf anthroposophische Aktivitäten von dem Marxisten Joseph Huber um 1979 nimmt sich da gutartiger aus (10.6). Die Anthroposophen empfand dieser als die Igel, die Linken als die Hasen aus dem Grimm'schen Märchen. Wo immer letztere auf sozialem Feld aktiv wurden: die Stacheligen waren schon da – ein witziger und listig gemeinter Vergleich. Sollte das davon ablenken, daß Anthroposophen sich auch abrackern? - Nur mit dem Stapellauf hapert es, weil geistige Wahrheiten individuell und dadurch zunächst inkompatibel scheinend gefasst sind. Materialisten haben es aber auch leichter, denn bei ihnen liegt die Wahrheit mehr auf der Hand und ist deswegen einfacher weiterzugeben (10.7).

   Die sozialwissenschaftlernden 'Dreigliederer' haben sich meistens nur zusammengesetzt, um sich wieder und wieder auseinanderzusetzen. Zu einem transportablen Instrument ist bei ihnen die Guillotine geworden. Ihre Energie bezieht sie von (Vorur)Teilchen-Beschleunigern, macht kein Aufsehen mehr, spaltet aber garantiert jedes Haar in jeder Suppe. Jeder ordentliche Dreigliederer hat heute ein solches Gerät geschultert und trägt Sorge, daß es nicht rostet - die Revolution läßt grüßen und frißt weiterhin ihre Kinder! Sachlicher formuliert: es ist das Signum des Bewußtseinsseelenzeitalters, daß die Intelligenz weitgehend individualisiert ist und wie atomisiert und atomisierend erscheint. Auch der Unterschied zwischen Begriffs- und Wirklichkeitslogik ist zu berücksichtigen (10.8). Denn die Wirklichkeit richtet sich nicht nach den Theoretikern - Gottseidank!

  In den anderen Strömungen der 68-er ging es auch locker zu: von einer Mischung lau-sympathischer Impulse wurden die Hippies, Hausbesetzer und Wohngemeinschaftler beherrscht, die Terroristen von hitzig-antipathischen Haltungen. In der darauffolgenden Organisationsphase (10.9) z.B. des Marsches durch die Institutionen und der Etablierung der Partei der Grünen, wo man sich besonnener abgrenzte, wurde es kühler, nüchterner, desillusionierender. Da gab es immer weniger Anziehendes, bis hin zu den neuentstandenen Repressionen, auf deren Erleben hin die Bewegung aggressionsgeladen ja erst in Gang kam. Noch das Triumvirat Schröder/Schily/Fischer machte Hoffnung auf die Impulse der 68er, auch wenn das Klima längst umgeschlagen war. Man lese einmal von Otto Schily den Kommentar zu Steiners 'Kernpunkten der sozialen Frage'!(10.10) Hartz-4 und Rente ab 67 ist ein seltsam anmutendes Ergebnis dieser Legislaturperioden: Daumenschrauben für Arbeitslose und Blockade von Arbeitsplätzen für Jüngere von den Sozis installiert, das wäre unter der Ägide liberal-konservativer Seite eher zu erwarten gewesen. Und das Ganze nur, weil man sich an eine neue Umverteilung nicht herantraut und Arbeitslosen- wie Rentenversicherungsträger nicht mehr finanzieren kann. Der sogenannte Sozialpakt ist längst gekündigt! Der soziale Organismus steht kopf, wenn für das Schachern um 5€ mehr Hartz-4-Leistung der kostspielige politische Apparat monatelang in Anspruch genommen wird.


"Laßt uns mal was Einfacheres machen! Laßt uns schnell mal einen 100-Milliardenkredit für eine Bad-Bank beschliessen!" (10.11).

  Die EZB (Europäische Zentralbank) hat am 1.3.2012 eine halbe Billion Euro in den Finanzkreislauf gepumpt, damit Banken einfacher Kredite bekommen und vergeben können. - Die Spirale dreht sich weiter ins Unendliche! Die Ankurbelung der Nachfrage würde das Grundeinkommen leisten, sicher aber nicht das Geld, welches in den Ausschüttungen und Boni der Banken und Multis verschwindet! So kann man letztlich von sozialen Handlungszwängen sprechen, wo einmal der Sog, ein andermal der Druck auslösend ist. Und vor allem: das eine zieht das andere nach sich. Wenn die Hitzköpfe sich abgekühlt haben, schlägt man sich an den Kopf, wie die Leute in Auerbachs Keller, sie merken, daß sie wohl der Teufel selbst genasführt hat (10.12). Da ist man aber schon wieder im Bann der Ernüchterung.


 Weitere geschichtliche Beispiele

15. Jahrhundert - Die Reformation bedeutete einen großen Aufbruch. Aber man könnte auch sagen, sie hat den 30-jährigen Krieg bewirkt und die Gegenreformation provoziert und damit wieder den Rückfall von ihren Fortschritten, indem vieles wieder in alte Gleise gebracht wurde. Ignatius von Loyola gründete den streng hierarchischen Jesuitenorden nicht zuletzt, um der katholischen Kirche Terrain zurückzugewinnen.

 

  Oder 12./13. Jahrhundert: die Kreuzzüge - begeisterter Aufbruch, erst völlig unkoordiniert, dann koordinierter und vorbereiteter, auch begleitet von der zeitweisen Erfüllung des angestrebten Zieles der Wiedergewinnung des Heiligen Grabes aus der Hand der Muslime. Und alle die Gründungen und Aufbrüche außerhalb und alternativ zu der römischen Kirche: Katharer, Waldenser, Albigenser, Bogumilen und Gottesfreunde, Franziskaner und Bettelmönche, die Fiorenser mit ihrem Aufbruch in das johanneische Reich des Heiligen Geistes, das 3. Reich nach dem des Vaters (Petrus) und des Sohnes (Paulus). Nicht zuletzt die Johanniter, Malteser und Templer, letztere mit ihrem großartigen Vorgriff auf ein modernes Bankwesen, die aber epochemachend die innovative freimaurerische Baubewegung der Kathedralen ermöglichten.

 

    Oder 9. Jahrhundert: die Ritterzeit um König Artus und den Heiligen Gral, die man gerne in das Reich der Fabel verlegt (11.1). Später kam wieder die militante Gestaltung des nationalen Heereswesens, besonders als auch noch das Schießpulver nach Europa kam. Vorbei die ritterlichen Tugenden und der Minnedienst!

  

  Und die weiteren Kehrseiten? Die Judenprogrome, Jerusalem dann doch wieder besetzt von den Seldschukken! Die Kaiser ausgebootet von Papst und Kirche, z.B. der Staufer Friedrich II., der wie sein Vater Heinrich VI. und sein Großvater Friedrich Barbarossa mit der Gralsströmung und ihren Gegnern in Berührung kam (11.2). Die „abgeteilten“ (sektierten) Glaubensbewegungen vom eigens gegründeten Inquisitionsorden, den Dominikanern, verfolgt, abgeurteilt und zur Kur ins Jenseits geschafft. Andere vorsorglich verketzert wie die Fiorenser, wenn auch ohne inquisitorische Exzesse. Und die Templer, in deren Zeit das weltliche Reich mächtiger wurde als das kirchliche? Philip der Schöne von Frankreich machte bekanntlich den Papst zu einer Marionette und holte ihn nach Avignon – hier wurde ein Geschehen die Steilvorlage für das 20. Jahrhundert, das statt des ersehnten Heiligen Dritten Reiches seine furchtbare Gegenspiegelung mit aller Konfiszierung, Deportation und Ausrottung brachte (11.3). Ein neuzeitliches Symptom ist die Bücherverbrennung, wo nicht nur die leibliche Auslöschung von Juden und 'unwertem Leben', sondern auch die Eliminierung von so befundenem 'entartetem' Geistigen und Künstlerischen angeordnet wurde. Geistiges ist aber unkaputtbar, es kennt Wandlungen, aber keinen Tod wie Leibliches. - Soweit eine kurzgefasste Retrospektive.

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  Symptomatologie + Anthroposophie 

Buchhinweise: Andre Bartoniczek 'Imaginative Geschichtserkenntnis - Rudolf Steiner und die Erweiterung der Geschichtswissenschaft' - Albert Schmelzer 'Exakte Phantasie als Organ der Geschichtserkenntnis' - A.Schmelzer: 'Geschichte als Symbol - Wer verstehen will, muß fühlen' (12.1a) - Jens Göken: 'Den Himmel spüren sie in sich' - Das Jahr 1950

   Man kann versucht sein, in früheren Jahrhunderten die Folien für spätere Jahrhunderte zu sehen, es wäre eine lohnende Aufgabe für Historiker, solche Zusammenhänge zu verifizieren. Und man geht wohl gar nicht fehl, wenn man von gewissen Ähnlichkeiten und Wiederholungen bzw. Anknüpfungen ausgeht (12.1b). Geschichtlich wirkt nach der symptomatologischen Methode, die Steiner in die Geschichtsforschung eingeführt hat, eben nicht nur lineares, chronologisches Geschehen im Sinne von Ursache und Wirkung, oder der Rhythmus des Generationenalters von 30-33 Jahren mit seinen Spiegelungen nach vorwärts und rückwärts (12.2). Auch nicht nur das Fortschreiten im dialektischen (Hegel/Marx) oder heilsgeschichtlichen (Augustinus) Sinne, oder der Wechsel von Sog und Druck. Sondern es gibt geistige Impulse und historische Einschläge, die im geschichtlichen Auf und Ab durch reinkarnierte Menschen und karmische Gruppen sich zeigen. (LauerII,S37:)

"...der Schwerpunkt der anthroposophischen Reinkarnationsauffassung liegt auf ihrer Bedeutung für die Geschichte..."

(17.2;LI,3.Teil,4.Kap.S202) ..."Was ist aber mit all dem eigentlich gesagt? Es ist dieses, daß der eigene Lebenslauf, hinsichtlich seiner inneren Entwicklungsmöglichkeiten bis in seine höchsten Stufen hinauf vollmenschlich durchgestaltet, gewissermaßen zum Okular wird, durch welches man hindurchblickend man erst in die Tiefen und in die innere zeitliche Struktur des gesamten und speziell auch des geschichtlichen Menschheitswerdens hineinzuschauen vermag. Damit ist das Wichtigste und Wesentlichste ausgesprochen, was die methodischen Grundlagen und Prinzipien des in diesem Buche zur Darstellung kommenden Beitrags zur Grundlegung einer Geschichtswissenschaft betrifft... ...Und warum kann er dieses Instrument werden? Weil die Zeitorganismen, um die es sich beim Wesen und Werden des Menschen handelt, alle dieselbe innere Struktur haben. Denn immer haben wir es dabei ja mit dem Menschen zu tun, der die Zeitlichkeit ist. Haben wir diese Struktur einmal an demjenigen Zeitorganismus erfaßt, in welchem sie sich unserem erlebenden Erfahren am unmittelbarsten gegeben ist, dann enthüllt sie sich uns auch an den umfassenderen Zeitorganismen der Geschichte und der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung"...

Der kometenhafte Aufstieg oder der ruhige Verlauf im Leben eines Menschen weist auf planetarische Bezüge vorgeburtlichen Lebens. Im Leben wird, kausalistisch oder freiheitlich – in neu gegriffener Weise - an Vergangenes angeknüpft. Wie würde Friedrich II. (12.3) im 20. Jahrhundert charakterlich aussehen und wirken, oder Joachim de Fiore? Als Bild gebraucht Steiner das strömende Auf und Ab von Meereswogen. Nicht umsonst spricht man von geistigen Strömungen. Rahel Uhlenhoff zitiert den französischen Historiker:

  ..."Braudel stellte damit aus dem Fokus des abendländischen Volksgeistes die Mittelmeerwelt dar: zuerst in ihrer Äthergeographie, sodann in ihren Langzeitstrukturen des sozialen Organismus und schließlich in ihren symptomatischen Schlüsselereignissen und -personen. Die Ereignisse bilden eine ruhelos wogende Oberfläche, vom Strom der Gezeiten heftig bewegte Wellen. Wir müssen lernen, ihnen zu mißtrauen und die Tiefenströmungen zu erschauen"... Diese Gedanken wurden 1947 veröffentlicht, gut 30 Jahre nach Steiners Darstellungen über geschichtliche Symptomatologie!

   Und nicht zu vergessen ist dabei das Erzengelwirken in den entsprechenden Epochen und insgesamt der Impuls, der den Menschen vom Spielball zum freien Mitspieler machen wird (12.5). Und da kommt mehr als nur kausales Geschehen in Betracht. Man kann z.B. einen Zusammenhang unserer heutigen Zeit mit der staufischen Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts suchen. Es ist, wie wenn das Bankwesen der Templer eine Wiederauferstehung erlebt trotz aller Gegenspiegelungen unseres sattsam bekannten Finanzwesens (12.6). Therapiebedürftigkeit und Krankheit findet wie bei den Templern, Johannitern und Maltesern die Menschen, die helfen wollen und können. So stellen sich Menschen auf eigene Beine gegenüber Gott und Welt und gründen zivilgesellschaftliche Einrichtungen trotz aller schon erwähnten Problemen (s.Kap.5).

   Allen voran die Urzelle von Innovation: die von Steiner in letztmöglicher Anwendung freiheitlicher Gesetzgebung in Baden-Württemberg gegründete Waldorfschule. Bekanntlich hat ein Fabrikant sie in Gang gebracht, der für seine Mitarbeiter etwas tun wollte – ein Beispiel für ein epochemachendes, dreigliedriges Zusammenwirken von Geistesarbeiter, Bourgeois und Proletarier (12.7). Damit ist diese Initiative ein Quellpunkt konstruktiver, ganzheitlicher sozialer Neugliederung, der der geschichtlichen Würdigung noch harrt. Nur aus der Anthroposophie kann ein Impuls für die Pädagogik erwachsen, dem Heranwachsenden eine allgemeine Kulturfähigkeit zu ermöglichen, um mit der Persönlichkeitsreife ganz individuelle Zukunftsziele zu ergreifen. Es ist zudem nicht nur ein persönlicher, sondern ein gesellschaftlicher Gewinn, wenn Menschen in Kindheit und Jugend mit Entwicklungsimpulsen ausgerüstet werden, die im Erwachsenen- und sogar noch im Greisenalter nicht versiegen (12.8; LauerII,S126;IIIS87ff). Wenn dagegen heute bei Verfehlungen pädagogischer Arbeit die Reformpädagogik als gefährdetes Terrain ausgemacht wird und die Waldorfschule Rudolf Steiners in einem Atemzug mit anderen genannt wird, dann ist das ein ziemlich durchsichtiges Ausweichmanöver, selbst wenn auch dort sich schwarze Schafe einschleichen. Denn gerade wenn schulische Verantwortung horizontal in den Händen aller Beteiligten liegt – nämlich auch der Eltern – ist die Verantwortlichkeit sauber gemanagt: Eltern in einer freien und selbstverwalteten Schule bemerken Fehlhandlungen und -entwicklungen schneller als Eltern in vertikal verwalteten Schulen oder gar in Internaten. - Vorwürfe gegen die Reformpädagogik kaschieren nur das Motiv des Angriffs auf die Freiheit der rasant sich entwickelnden freien Schulbewegungen. Solche Angriffe kommen meist von hinten, weil frontal nichts zu machen ist! In Brandenburg werden freie Schulen behindert, weil Behörden der Meinung sind, daß durch ihren Zulauf staatliche Schulen wirtschaftlich schlechter gestellten werden. Man stelle sich vor, der Staat würde freie wirtschaftliche Initiative behindern, weil diese eine Konkurrenz staatlicher Betriebe darstellt! Der Anachronismus wird erst bei diesem Vergleich deutlich und zeigt einmal mehr die Forderung nach einer gesunden Gliederung gesellschaftlicher Strukturen. In Baden-Württemberg ist eine begrüßenswerte Entwicklung in Gang gekommen, dort wird nicht länger über die Erfolgsgeschichte der Waldorfbewegung hinweggesehen, und das hat ausnahmsweise einmal konstruktive Folgen für ihre Finanzierung, "Es grünt so grün, wenn im Süden die Blumen blühn..."

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 Dazu seien in der Folge zwei Texte aufgeführt, der erste von Rudolf Steiner und der zweite von Hans Erhard Lauer, indem er auf die Methoden der geschichtlichen Symptomatologie hinweist, die über chronologisch-faktisches Auffassen der Geschichte Imagination, Inspiration und Intuition als geisteswissenschaftliche Disziplinen hinzuzieht.

  "Die Freunde des menschlichen Fortschrittes, die durch ihr Temperament und vielleicht auch durch eine gewisse gesteigerte Urteilsfähigkeit zu Lobrednern einer radikalen Richtung werden, haben im wesentlichen zwei Arten von Gegnern. Die einen sind diejenigen, deren Gefühle an dem Hergebrachten hängen, weil sie in ihm das Gute zu erkennen glauben. Diese sehen in reformatorischen Ideen mehr oder weniger den Ausfluß eines intellektuellen oder sittlichen Mangels. Das sind die eigentlichen konservativen Naturen. Zu ihnen kommt eine zweite Art von Gegnern. Diejenigen, die reformatorischen Ideen an sich nicht feindlich gesinnt sind, die aber nicht müde werden, bei jeder auftauchenden konkreten Fortschrittsfrage, die in den "Verhältnissen liegenden entgegenstehenden Schwierigkeiten" zu betonen. Sie sehen ihre Aufgabe darin zu bremsen, auch wenn sie den Ideen der Radikaleren an sich durchaus nicht feindlich gegenüberstehen. Für die erst Art von Gegnern gibt es nur ein Heilmittel: die ZeitMit Vorstellungen kann man nicht unmittelbar an sie herankommen. Sie können für ein Neues nur dadurch gewonnen werden, daß es ihnen immerfort vorgeführt wird und sich auf diese Weise ihre Gefühle seiner Macht anpassen.

  Anders scheint die Sache bei denjenigen Gegnern, deren Gefühle mit dem Neuen sympathisieren, und die sich nun über die 'gewissen Schwierigkeiten' nicht hinwegsetzen können. Sie müßten vor allem zu einer Erkenntnis kommen, nämlich zu derjenigen, daß die Hauptmasse dieser Schwierigkeiten weniger in der Macht der Verhältnisse liegt, die der Mensch nicht bändigen kann, als vielmehr in ihren eigenen vorgefaßten Meinungen. Sie können zu keinem Urteil über den menschlichen Fortschritt kommen, weil sie durch ihre Einbildungen über das, was nun einmal notwendig erscheint, sich selbst fortwährend alle möglichen Schwierigkeiten auftürmen. Wieviele der wichtigsten 'Lebensfragen' leiden unter solchen eingebildeten Schwierigkeiten! Könnten wir nicht zum Beispiel in der Reform des höheren Schulwesens viel weiter sein, wenn die beteiligten Kreise nicht immerfort wieder alles mögliche vorbrächten über die Notwendigkeit, gewisse Einrichtungen des gegenwärtigen Unterrichtswesens beizubehalten? Und wieviel von dem, was da als Notwendigkeit betont wird, beruht nur auf Einbildung!... (GA 31, S 329)

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Aus Hans Erhard Lauer: "Die deutsche Klassik - Urbild und Erdengestalt. Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Geschichtsbetrachtung (S 2-8):

   "...Nun gliedert sich aus der Geisteswissenschaft im Allgemeinen die geisteswissenschaftliche Geschichtsbetrachtung im Besonderen heraus durch den Ausschnitt aus dem menschlichen Gesamtdasein, den sie zu ihrem Gegenstand hat. Insofern kann zum Zwecke ihrer Charakteristik von ihrem Inhalte in dem Sinne ausgegangen werden, daß angedeutet wird, was sich für sie als der eigentliche Inhalt der Menschheitsgeschichte darstellt und was sich diesem gemäß als die eigentliche Aufgabe ihrer Forschungsaufgabe ergibt. In dieser Beziehung kann neben manchem andern wohl ein Dreifaches als Hauptsächliches hervorgehoben werden:

   Ein Erstes ergibt sich daraus, daß für die Geistesforschung sich zeigt, daß - in analoger Art, wie dies in der Organisation des einzelnen Menschen während seines Lebens von Jahrsiebent zu Jahrsiebent geschieht - im Organismus der Gesamtmenschheit im Laufe der Geschichte von Kulturepoche zu Kulturepoche die verschiedenen Wesensprinzipien zur Entwicklung gelangen, aus denen sich die menschliche Wesenheit aufbaut. Insofern ist mit der Darstellung der "Wesensgliederung des Menschen", wie sie in den Anfangskapiteln der anthroposophischen Grundwerke Rudolf Steiners: der "Theosophie" und der "Geheimwissenschaft" gegeben ist, auch schon die Grundgesetzmäßigkeit aufgewiesen, nach welcher sich der Entwicklungsgang der Geschichte vollzieht. Indem die Menschheit durch die Folge der geschichtlichen Epochen hindurchschreitet, kommen in ihrem leiblich-seelisch-geistigen Gefüge der Reihe nach die Elemente zur Entfaltung, die eben das menschliche Wesen konstitutieren. Jedem dieser Elemente entspricht nun eine ganz bestimmte Bewußtseinsform, eine ganz bestimmte Gestaltung des gesamten äußeren kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Daseins der Menschheit. Daß diese den Kosmos durch eine gewisse Zeit hindurch im Sinne des Ptolemäus, während einer anderen in der Art des Kopernikus vorstellt, - daß sie in der einen Epoche die Daseinsrätsel in Form von mythologischen Bildern, in einer andern in Gestalt von wissenschaftlichen Begriffen sich beantwortet, - daß sie in früheren Zeitaltern ihr Gemeinschaftsleben durch das Kastensystem nach dem Prinzip des Blutes, in späteren durch den Staat nach dem Prinzip des Rechtes ordnet, - daß gewisse Völker in einer bestimmten Zeit vom Hirtentum zum Bauerntum, d.h. vom Nomadenleben zur Seßhaftigkeit übergehen, - daß seit dem 18. Jahrhundert das Maschinenwesen in die moderne Wirtschaft eingezogen ist usw. usw., - in allen solchen Phänomenen drückt sich letzten Endes das Wesen und die Entfaltung bestimmter Elemente der Menschennatur aus. Zu zeigen, wie diese Entsprechungen im Konkreten geartet sind, wie der Fortgang der Entwicklung durch die Reihe der Wesensglieder hindurch sich widerspiegelt in dem Aufblühen, Hinwelken und Sichablösen der entsprechenden Bewußtseinsformen und äußeren Lebensgestaltungen, - bildet eine erste Aufgabe geisteswissenschaftlicher Geschichtsdarstellung. Rudolf Steiner selbst hat sich ihr insbesondere in der ersten Zeit seines anthroposophischen Wirkens gewidmet (siehe z.B. die Vortragsreihe "Okkulte Geschichte" 12.9).

 Beinhaltet diese erste Aufgabe geisteswissenschaftlicher Geschichtsforschung im wesentlichen also dieses, im Grundsätzlichen aufzuweisen und im Einzelnen zu schildern, in welchem Sinne von Fortschritt, von Entwicklung in der Geschichte gesprochen werden kann und muß, so bezieht sich nun eine zweite auf die Art und Weise, wie dieser Fortschritt zustandekommt. Hierüber verbreiten Licht die Tatsachen der Wiederverkörperung und Schicksalsbildung, wie sie Rudolf Steiner aus der allgemeinen Anthroposophie heraus aufgedeckt hat. Diese Tatsachen zeigen nämlich, wie die Entwicklungserrungenschaften früherer Epochen in den einzelnen menschlichen Individualitäten bewahrt und von diesen so in spätere Zeiten hinübergetragen werden, daß sie zur Grundlage und Voraussetzung weiterer, höherer Errungenschaften werden können. Im Genaueren vollzieht sich dieser Prozeß als ein Wechselgeschehen von Individualisierung und Universalisierung. Auf der einen Seite nämlich wirken auf den einzelnen Menschen aus seiner menschheitlichen Umwelt fortwährend Einflüsse ein, in welchen die Entwicklungsimpulse des jeweiligen Zeitalters leben; sie erlangen, indem er sie in sich, insbesondere in seinem nachtodlichen Geistdasein verarbeitet, individuelle Prägung, werden ein Stück seiner selbst, gestalten sich zu seinen individuellen Fähigkeiten. Tritt er dann mit diesen in einer späteren Epoche in ein neues Erdenleben ein, so fließen sie mit all seinen Taten, Werken und Schöpfungen wieder in seine Umwelt aus und drücken dieser, je nach ihrer inneren Kraft, ihren Stempel auf. So wird also Vergangenheit nicht nur durch äußere Tradition, sondern auch durch die Menschen selbst auf ihrem Gange durch die Folgen der Inkarnationen in die Zukunft getragen. Und während die erstere Art ihrer Überlieferung sie allmählich ersterben und erstarren und damit schließlich zu einem Hindernis des geschichtlichen Fortschrittes werden läßt, wird sie durch die letztere, da diese ihre Träger immer wieder durch rein geistige Daseinszustände hindurchführt, immer wieder verjüngt und in individuell geartete produktive Fähigkeiten umgewandelt, durch welche immer wieder ein Neues geschaffen, ein weiterer Fortschritt gemacht werden kann. Und dies geschieht eben zugleich als Wechselwirkung zwischen Einzelnem und Allgemeinheit, die einen Rhythmus geistiger Ein- und Ausatmung darstellt, - ein Rhythmus, der in seinen wesentlichen Wirkungen sich von Inkarnation zu Inkarnation erstreckt. In diesem Sinne hat Rudolf Steiner in den "Karmavorträgen", die er in den letzten Jahren seines Lebens hielt, an einer großen Zahl von historischen Persönlichkeiten, die er mit den Mitteln der Geistesforschung durch eine Reihe von Lebensläufen verfolgte, gezeigt, wie sie aus Entwicklungserrungenschaften, die sie aus früheren: griechischen, vorderasiatischen, arabischen, mexikanischen usw. Inkarnationen mitbrachten, die Wirkungen entfalteten, die sie, in der neueren Zeit sich wiederverkörpernd, auf diese ausgeübt haben; und wie sie durch diese Wirkungen dem modernen Kulturleben auf den verschiedenen Gebieten sein Gepräge und seine Fortschrittsimpulse verliehen haben.

   Ein dritter Gesichtspunkt geisteswissenschaftlicher Geschichtsdarstellung endlich ergibt sich aus der Berücksichtigung der Stellung, die dem Menschen überhaupt - nach den Ergebnissen der Geisteswissenschaft - im Weltzusammenhange zukommt. Das Gesetz der Wiederverkörperung bildet nur eine unter vielen andern Formen, in denen sich diese Stellung offenbart. Sie kann - ganz abstrakt - gekennzeichnet werden als die eines Mittlers zwischen irdisch-physischer und kosmisch-geistiger Welt. Es bedeutet eben die irdisch-physische Welt (wie dies Rudolf Steiner schon in seinen erkenntnistheoretischen Schriften in philosophischer Terminologie darlegte) nur die "halbe Wirklichkeit", die sich zur ganzen erst dadurch vervollständigt, daß die geistig-kosmische Welt als deren andere Hälfte zu ihr hinzugefügt wird. Im einzelmenschlichen Dasein findet diese Ergänzung als realer Vorgang einmal in der Weise statt, daß auf ein Leben zwischen Geburt und Tod in der physisch-irdischen Welt immer wieder ein solches zwischen Tod und neuer Geburt in der geistig-kosmischen Welt folgt, sodann aber auch in der Art, daß innerhalb des Erdendaseins selbst im Laufe von 24 Stunden mehr oder weniger regelmäßig ein Aufenthalt des Seelisch-Geistigen im Leibe (während des Wachens) mit einem teilweisen Heraustreten desselben aus dem Leibe und Verweilen in der Geistwelt (während des Schlafens) abwechselt. (Daß dieser allnächtliche Aufenthalt des Seelisch-Geistigen in der übersinnlichen Welt während des Schlafens vom gegenwärtigen Menschen in Bewußtlosigkeit durchlebt wird, ist duch die besondere Entwicklungsaufgabe gerade u n s r e s Zeitalters bedingt, - worauf hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Der Umstand der Unbewußtheit nimmt jedoch nichts von der Tatsache hinweg, daß die menschliche Seele von der irdisch-physischen Hälfte der Wirklichkeit zur geistig-kosmischen immer wieder während des Schlafes wie in einem lebendigen Pendelschlag sich hinüberbewegt).

   Was vom Erdenleben des einzelnen Menschen, dasselbe gilt nun auch vom Erdendasein  der Gesamtmenschheit, insofern sich dieses in deren Geschichte darlebt. Auch hier ist das, was sich als der Verlauf der irdisch-physischen Ereignisse und Entwicklungen darbietet, nur die eine Hälfte der vollen Wirklichkeit. Als deren andere erweist sich für die geisteswissenschaftliche Anschauung ein in der übersinnlichen Welt verlaufender Strom von Geschehnissen und Wirksamkeiten. Nur wechselt dieser - im Ganzen gesehen - mit dem in der physischen Welt dahinfließenden nicht rhythmisch ab, sondern geht dauernd mit ihm parallel, - da sich beide aus den einander durchdringenden Daseinskreisläufen unzähliger einzelner Menschen zusammensetzen. Der eigentliche Lebens- und Entwicklungsprozeß der Geschichte aber kommt dadurch zustande, daß diese beiden Ströme des Geschehens, sich fortwährend gegenseitig zur Erzeugung neuer Wirkungen und Bildungen befruchten. Denn mit jeder Menschengeburt, aber auch mit jedem morgendlichen Erwachen der Menschen werden Impulse aus der geistigen in die physische Welt hinunter- und mit jedem Menschentode, aber auch mit jedem abendlichen Einschlafen der Menschen solche aus der physischen in die geistige Welt hinaufgetragen. So ist die Geschichte ein unendlich vielfältiges Gewebe von Taten und Wirkungen, in welchem sich Erden- und Himmelsgeschehen ineinander verflechten. Diesen Aspekt ihres Wesens hat Rudolf Steiner insbesondere in einer mittleren Epoche seines geisteswissenschaftlichen Wirkens erschlossen, indem er an vielen historischen Ereignissen zeigte, wie das, was auf Erden stattfand, nur verständlich wird, wenn es mit dem, was sich gleichzeitig in der geistigen Welt abspielte, zu einem zusammengehörigen Ganzen zusammengeschaut wird. Als Beispiel hierfür sei zunächst nur erwähnt, was er (etwa in der Vortragsreihe "Der Sturz der Geister der Finsternis" 12.10) über die Geist-Ereignisse in der Zeit von 1841 bis 1879 ausführte. Von diesen Darstellungen darf gesagt werden, daß sie die Grundlagen für ein ganz neues, unendlich vertieftes Verständnis der Geistesentwicklung des 19. Jahrhunderts enthalten.

   Aus dem Wenigen, das im Vorangehenden zur Charakteristik der geisteswissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung hervorgehoben wurde, wird schon ersichtlich, daß die Begriffe von Ursache und Wirkung, wie sie heute im allgemeinen auf die Geschichte angewendet werden, durch sie eine vollkommene Umgestaltung erfahren. Es ist dies zunächst im inhaltlichen Sinne der Fall. Entsprechend der aus der Naturwissenschaft, genauer: aus der Physik übernommenen Bedeutung, in der diese Begriffe auch von den Historikern verstanden und angewendet werden, sucht man heute die Ursachen für ein geschichtliches Ereignis in dem, was diesem in der physisch-irdischen Welt unmittelbar vorangegangen ist, so etwa die Ursachen für eine geschichtliches Ereignis in dem, was diesem in der physisch-irdischen Welt unmittelbar vorangegangen ist, so etwa die Ursachen für die Ereignisse des 19. Jahrhunderts in denen des 18., die Ursachen für diejenigen des 18. Jahrhunderts wiederum in denen des 17. usf. Die Geisteswissenschaft muß die "Ursachen" für geschichtliche Taten an andern Stellen suchen: einmal in dem, was gleichzeitig mit diesen in der geistigen Welt vor sich gegangen ist, ein andermal in Erlebnissen, welche die Vollbringer solcher Taten in früheren Inkarnationen erfahren haben, die in der Vergangenheit weit, vielleicht um viele Jahrhunderte zurückliegen. Noch viel mehr aber erfahren durch sie die Vorstellungen vom Zusammenhang der Ereignisse im methodischen Sinne eine Umgestaltung. Es liegen nämlich bei den meisten und namentlich bei den wichtigsten Ereignissen der Geschichte überhaupt keine "Verursachungen" in dem gewöhnlich verstandenen Sinne vor, sondern ganz anders geartete Beziehungen und Zusammenhänge. Man kann diese - im Sinne des ersten der hervorgehobenen Gesichtspunkte - etwa bezeichnen als Offenbarung eines Innern in einem Äußern, - im Sinne des zweiten - als Metamorphose eines Früheren in ein Späteres, - im Sinne des dritten - als Spiegelung eines Geistigen in einem Physischen. Indem aber solch Begriffe aufgestellt werden, wird auf das Methodische der geisteswissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung überhaupt hingewiesen. Denn alle die genannten Beziehungen können nur erfaßt werden von bestimmten Arten des Erkennens: eine Metamorphose nur von einem lebendigen Denken, das eine Ideen- oder Seelengestaltung in eine andre sich umwandeln zu lassen vermag, - eine Spiegelung nur von einem Erkennen, das geschichtliche Phänomene als imaginativ geartete Bild-Eindrücke aufzufassen und mit solchen zusammenzuhalten imstande ist, in denen sich rein geistige Wesenhaftigkeiten aus der übersinnlichen Welt heraus offenbaren, - eine Offenbarung im oben gemeinten Sinne nur von einer Anschauung, die in der Lage ist, eine äußere Erscheinung als physiognomisch-symbolischen Ausdruck eines Innern zu erfassen. Es läßt sich eben, was sich der geisteswissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung als der Inhalt ihres Geschichtsbildes ergibt, nicht loslösen von den besondern Erkenntnismethoden, deren sie sich bedient, und die eben die Erkenntnismethoden der geisteswissenschaftlichen Forschung überhaupt sind. In die Begriffe, wie sie die neuere Naturwissenschaft ausgebildet hat und wie sie heute im allgemeinen durchaus auch auf die Geschichte angewendet werden, läßt sich dieser Inhalt nicht oder, wo dies doch versucht wird, nur in einer ganz verzerrten Gestalt einfangen. Nur ein im geisteswissenschaftlichen Sinne gewandeltes Erkennen vermag ihn sich anzueignen. Hierin liegt der Grund, warum dieser Inhalt, trotz seiner epochemachenden Bedeutung, bis heute noch so wenig in das allgemeine Bewußtsein übergegangen ist.

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