Englische und Deutsche Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts In den bisher besprochenen Gestaltungen der neueren Philosophie: im Cartesianismus und seinen verschiedenen Fortbildungen haben wir den modernen Agnostizismus vornehmlich in der Form eines ontologisch gefaßten Dualismus von Geist und Körper, von Denken und Ausdehnung in Erscheinung treten sehen. In den im folgenden zu besprechenden Gestaltungen zeigt er sich in der Weise, daß von den zwei Polen jeweils nur mehr der eine oder der andere berücksichtigt wird. Die Zweiheit von denkendem Geist und ausgedehntem Körper, hinter der ja diejenige von Denken und Wahrnehmen steht bzw. diejenige von Mensch und Welt, bricht in dem Sinne völlig auseinander, daß ihre Gegensätze sich auf verschiedene Menschen oder Menschengruppen verteilen. Die einen schauen nur mehr auf die wahrnehmbare Körperwelt, die andern nur mehr auf die Welt des denkenden Geistes hin. Es ist aber klar, daß ebensowenig wie der unüberwundene Gegensatz zwischen den beiden Polen das Vertreten bloß des einen oder andern derselben zu einer wirklichen Erkenntnis führen kann. Die beiden Hälften, in die der moderne Mensch sich selbst gespalten hat, indem er sich von der Welt abspaltete: die wahrnehmend-sinnliche und die denkend-geistige, werden innerhalb der modernen Geistesentwicklung im Großen repräsentiert durch die Veranlagungen des britischen und des deutschen Volkstums, die sich zu deren hauptsächlichsten Trägern entwickeln. Und der zunächst unüberbrückbare Gegensatz zwischen diesen beiden Seiten des Menschentums spiegelt sich wider in der immer mehr sich ausprägenden Gegensätzlichkeit und der stets wachsenden Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen diesen beiden Völkern.
Das einseitige Hinschauen auf die Welt der Sinneserfahrung innerhalb des Britentums sahen wir zum erstenmal bereits bei Bacon auftreten. Allerdings geschah das dort noch - wie die Bacon'sche Auffassung vom Wesen und Ziel der induktiven Methode zeigte - aus den alten ontologischen Vorstellungen heraus. Eine gewisse Erneuerung erfährt der in Bacons "Novum Organon" geltend gemachte Empirismus am Ende des 17. Jahrhunderts durch John Locke in dessen "Untersuchungen über den menschlichen Verstand". Man kann zwischen den beiden Werken einen Parallelismus bis in ihren Aufbau hinein finden: Wie der erste Teil des Bacon'schen in der Hauptsache dem Kampf gegen die überlieferten und immer wieder entstehenden "Idole" (Götzenbilder des Verstandes) gewidmet ist, so füllt den ersten Teil des Locke'schen ausschließlich der Kampf gegen die (von Descartes eingeführten) "angeborenen Ideen" aus, durch die in andrer Form von neuem ein Kult von "Idolen" begründet wurde. Und wie im zweiten Teil seiner Schrift Bacon die von der Erfahrung ausgehende induktive Methode darlegt, so weist Locke in den weiteren Teilen der seinigen die Erfahrung als die alleinige Quelle aller unsrer Erkenntnis auf. S84
Freilich ist die Problemstellung der Untersuchung, innerhalb welcher Locke den Empirismus vertritt, eine gegenüber Bacon völlig neue. Ihm handelt es sich nicht mehr darum, diejenige Erkenntnismethode zu finden, die einem in bestimmter Art gedachten Sein am angemessensten ist. Er geht überhaupt nicht mehr von bestimmten Vorstellungen über das Sein aus. Ihn interessiert vielmehr zunächst lediglich die Untersuchung des menschlichen Erkennens als solches. Zwar kommt es auch ihm letztlich auf die richtige Betätigung desselben an. Aber er hält diese dann für erreicht, wenn sie mit dem Wesen, den Bedingungen und Möglichkeiten des Erkenntnisvorgangs übereinstimmt. Es wird also hier vom Sein zunächst ganz abgesehen und lediglich das Erkennen an sich selbst betrachtet. Als Maßstab für die richtige Methode gilt nicht mehr seine Angepaßtheit an das Sein, sondern seine Betätigung im Sinne seiner eigenen Gesetze. Nicht mehr eine Lehre vom Sein, sondern eine solche vom Erkennen wird als "erste Philosophie" allem übrigen Erkennen vorangestellt. Damit wird hier die Untersuchung des Erkennens zum erstenmal in spezifisch modernem Sinne betrieben: als philosophische Grundwissenschaft. Es geht dies deutlich aus der Schilderung hervor, die Locke selbst von der Entstehung seines Werkes gibt: "Schickte es sich, Sie mit der Entstehung dieses Werkes zu unterhalten, so würde ich sagen, daß fünf bis sechs Freunde sich in meinem Zimmer einzufinden pflegten und bei der Besprechung ganz andrer Dinge als die hier behandelten sich bald durch Schwierigkeiten gehemmt sahen, die von allen Seiten sich erhoben. Nachdem wir uns viel gemüht und doch der Lösung der Zweifel, die un bedrängten, nicht näher kamen, fiel mir ein, daß wir wohl einen falschen Weg eingeschlagen hätten, und daß vor Beginn solcher Untersuchungen man seine eigenen Fähigkeiten prüfen und sehen müßte, welche Dinge sich zu einer Beschäftigung für den Verstand eignen. Ich sagte dies der Gesellschaft; man stimmte mir bei und beschloß, dies zuerst in Untersuchung zu nehmen. Einige Gedanken, die ich eilig und roh über diesen von mir bisher unbeachteten Gegenstand bei der nächsten Zusammenkunft vorbrachte, gaben den ersten Anlaß zu der vorliegenden Untersuchung" (Brief an den Leser). Locke ist sich auch der Neuartigkeit und Schwierigkeit seines Unternehmens durchaus bewußt. Er sagt in der Einleitung seines Buches: "Während der Verstand, gleich dem Auge, uns alle andern Dinge sehen und erkennen läßt, achtet er auf sich selbst nicht und es erfordert Mühe und Kunst, ihn sich gegenüberzustellen und ihn zu seinem eigenen Gegenstande zu machen". Man kann das Bedeutsame der Betrachtungsweise Lockes auch dahin charakterisieren, daß er nicht mehr - wie Descartes und seine Nachfolger diese getan hatten - das erkenntnistheoretische Problem in ein ontologisches umdeutet, sondern als das behandelt, was es ursprünglich und tatsächlich ist. Insofern tritt in ihm die Bewußtseinslage und Erkenntnisproblematik der modernen Menschheit reiner zutage als bei jenen Philosophen des Kontinents. Gegenüber der so formulierten Fragestellung ist es nun, daß er in ganz einseitiger Weise bloß das Wahrnehmungselement als maßgebend für den Erkenntnisprozeß erklärt. "Wir wollen also annehmen", so heißt es im Beginne des zweiten Teiles seiner Schrift, "die Seele sei, wie man sagt, ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier, ohne irgendwelche Vorstellungen: wie wird sie nun damit versorgt? Woher kommt sie zu dem großen Vorrat, welchen die S85 geschäftige und ungebundene Phantasie des Menschen darauf in beinahe endloser Mannigfaltigkeit verzeichnet hat? Woher hat sie all den Stoff für die Vernunft und das Wissen? Ich antworte darauf mit einem Worte: Von der Erfahrung. All unser Wissen ist auf diese gegründet, und von ihr leitet es sich im letzten Grunde ab. Unser Beobachten, entweder der äußeren wahrnehmbaren Dinge oder der innern Vorgänge in unsrer Seele ist es, was den Verstand mit dem Stoff zum Denken versieht. Sie sind die beiden Quellen des Wissens, aus denen alle Vorstellungen, die wir haben oder natürlicherweise haben können, entspringen." Die äußere Wahrnehmung der Welt (sensation) und die innere unsrer selbst (reflection) liefern also den gesamten Inhalt unsres Bewußtseins; dem Denken kommt lediglich die Funktion zu, diese Inhalte zu verbinden und wieder zu trennen. Locke unterscheidet demgemäß einfache und zusammengesetzte "Ideen". Die einfachen sind jene, die uns unmittelbar die äußere und die innere Wahrnehmung liefern, also einerseits z.B. die Ideen der Farben oder der Töne, andererseits etwa die Ideen des Denkens oder des Wollens. Die zusammengesetzten sind diejenigen, die das Denken durch Kombination jener bildet: zu ihnen gehören die Ideen der Substanzen (Dinge), der Modi (Zustände) und der Verhältnisse.
Diese Locke'sche Theorie des Erkennens vermag ihre so einseitige Erklärung desselben nur zu geben, weil sie von vornherein vier Dinge als bloß verschiedene Worte für dieselbe Sache ansieht und behandelt: Vorstellung, Stoff zum Denken, Bewußtseinsinhalt, Idee. Hätte Locke den Inhalt des menschlichen Bewußtseins sorgfältiger untersucht, so hätte er bemerkt, daß eine Sinneswahrnehmung etwas anderes ist als eine Vorstellung und diese wieder etwas anderes als eine Idee oder ein Begriff. Dann aber hätte er schon nicht mehr die Möglichkeit gehabt, sich mit einer so einseitigen Erklärung des Erkenntnisvorgangs zufriedenzugeben. Denn der Wahrnehmungsinhalt zwar und zu einem Teil auch der Vorstellungsinhalt lassen sich von den Sinnen her erklären; nicht mehr aber der Inhalt des Begrifflich-Ideellen. Dieses hätte ihn auf die andere Quelle unseres Erkennens, die im Denken liegt, aufmerksam werden lassen müssen. Da nun aber Locke als Vorstellung oder Idee (etwa als "einfache" Idee) schon das bezeichnet, was die Sinne uns liefern, so hat er damit bereits eine Erklärung dessen gegeben, was er "Idee" nennt. Wenn er dann später solche Denkerzeugnisse wie die Begriffe der Substanz, des Modus usw. ohne weitere Begründung auch als "Idee" bezeichnet (wenn auch als "zusammengesetzte", um wenigstens hierdurch einen gewissen Unterschied derselben von den Sinneswahrnehmungen anzugeben), so braucht er ihre Herkunft nicht mehr besonders zu erklären: denn wie "Ideen" entstehen, wissen wir ja bereits. (Dabei wird von ihm außerdem ganz übersehen, daß zwei Dinge in ganz verschiedener Art zusammengesetzt werden können - um als einfachstes Beispiel die Zahlen 2 unde 3 zu nennen, die wir als 2 + 3 oder als 2 x 3 oder als 2hoch3 usw. verbinden können - und somit die Art ihrer Verbindung mindestens als etwas von den Inhalten Verschiedenes zu ihnen von anderswoher hinzukommen muß.) Das begriffliche Element unseres Erkennens wird von ihm also nach seiner besonderen Natur nicht gewürdigt und seine Erklärung daher erschlichen.
Eine solche Theorie vermag das wirkliche Erkennen nicht zu erfassen. Was sie als "Erkennen" schildert, ist daher ein solches in Wirklichkeit gar nicht. S86 Dies muß in irgendeiner Art auch zum Ausdrucke kommen. Und es kommt darin zum Ausdruck, daß Locke die Meinung vertritt, das Erkennen - wie er es eben schildert - sei nicht dazu geeignet, seine Gegenstände ihrer Natur nach wirklich zu erfassen. Diese Meinung tritt bei ihm in der Weise zutage, daß auch er das Erkennen im Verlaufe seiner Untersuchung dem "Sein" im alten Sinne gegenüberstellt und erklärt, daß dieses von jenem nicht erreicht werden könne. In dem Begriffe der "Substanz", wie er ihn entwickelt, taucht nämlich jenes "Sein" doch auch bei ihm wieder auf. Zwar bildet er diesen Begriff, wie wir sahen, zunächst aus seiner Erkenntnislehre heraus: als ein der "zusammengesetzten Ideen"; er erklärt aber dann, daß demselben eine objektive Realität entspreche; nur sei uns diese unbekannt und unerkennbar. Hier kommt also der agnostische Charakter seiner Theorie zum Vorschein. Mit der Konsequenz der Enthaltung von jeglicher Aussage über die unbekannte Substanz, welche sich aus dieser Auffassung ergäbe, steht nun allerdings in Widerspruch, daß Locke die materialistisch-mechanistische Metaphysik des Galilei und Descartes übernimmt. Durch ihn und in der Form, die er ihr gibt, wird sie erst recht populär. Er führt die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten ein. Zu den primären Eigenschaften, d.h. denjenigen, die den Dingen selbst angehören, rechnet er alles, was gemessen, gezählt, gewogen werden kann: Dichtigkeit, Ausdehnung, Gestalt, Lage, Bewegung. Zu den sekundären dagegen, d.h. denjenigen, die erst in unserer Seele entstehen, zählt er Farben, Töne, Geschmäcke usw. Es steht diese Auffassung im übrigen Inhalt seiner Erkenntnislehre wie ein Fremdkörper drinnen; denn sie hat ihren Ursprung ja in einer gerade entgegengesetzten Auffassung und Betätigung des Erkennens: nämlich in dem Erlebnis der absoluten Gültigkeit der einem produktiven Denken entstammenden mathematischen Begriffe.
Konsequenter als Locke hat den Weg des Empirismus David Hume verfolgt und dadurch einen äußersten Punkt auf demselben erreicht. Er wendet sich gegen das Abgleiten in ontologisch-metaphysische Deutung, das Locke beim Substanzbegriffe passiert ist, und erklärt den letzteren für nicht höherwertig als alle andern "zusammengesetzten Ideen" die unser Verstand durch Kombination von "einfachen" Vorstellungen gewinnt. Ebenso wie alle andern Ideen nur innerhalb der Erkenntnissphäre Gültigkeit haben, aber nichts über die Seinssphäre ausmachen, ebenso ist es auch mit dem Substanzbegriffe der Fall. Damit, daß wir aus verschiedenen äußerlich wahrgenommenen Sinnesqualitäten den Substanzbegriff, d.h. ein "Ding" zusammenstellen, ist keineswegs gesagt, daß ein solches wirklich existiert. Ebensowenig aber auch ist damit, daß wir aus den verschiedenen innerlich wahrgenommenen psychischen Qualitäten den Begriff unserer "Seele" zusammensetzen, ausgemacht, daß es diese als "Substanz" (d.h. als "denkende Substanz" im Cartesianischen Sinne) tatsächlich gibt. Und dieselbe Kritik, die er dem Substanzbegriff gegenüber übt, wendet Hume auch auf den für die mathematisierende Naturwissenschaft zentral gewordenen Kausalitätsbegriff an. Auch dieser sagt nichts über die wirkliche Beschaffenheit der Dinge selbst, sondern ist rein nominalistisch lediglich als eine bestimmte Weise unserer Zusammenfassung derselben zu betrachten. Damit, daß Hume so die metaphysische Gültigkeit der durch den Substanz- und den Kausalbegriff bezeichneten Einsichten bestreitet, hängt nun unmittelbar S87 zusammen, daß er ihre Entstehung nicht auf ein inneres Tun unserer geistigen, sondern auf durch unsere sinnliche Natur bedingtes, inneres Erleiden zurückführt. Ein psychologischer Zwang zur Ideenassoziation nötigt uns, verschiedene Qualitäten zu einem Ding- oder Substanzbegriff zu verbinden; und das in unserer Natur liegende Faktum der Gewöhnung bewirkt es, daß wir das "post hoc" der Geschehnisse in ein "propter hoc" umdeuten, wenn diese sich öfter in derselben Reihenfolge abspielen. In Wahrheit sind "wir" es also gar nicht, die den Substanz- und den Kausalbegriff tätig bilden, sondern diese entstehen einfach im Bewußtsein aus einem psychologischen Mechanismus heraus. Deshalb sagen sie auch nichts darüber aus, ob "wir" als "Seele", als "Ich" wirklich existieren. Hume führt also tatsächlich den Locke'schen Empirismus zur äußersten Konsequenz: es gibt nur die zwei Erkenntnisquellen der äußern und der innern Wahrnehmung: "Sensation" und "Reflection". Aus jener entsteht das Wissen von den sinnlichen Inhalten (das Hume mit einer ganz ungerechtfertigten Verwendung dieses Wortes als "intuitives" bezeichnet), aus dieser das Wissen von den Größenverhältnissen, Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen jenen Inhalten (das Hume ein "demonstratives" nennt und mit der Mathematik identifiziert). Beide sagen aber nichts über irgendein "Sein" aus. Über dieses haben wir uns jeder Aussage zu enthalten. Hume lehnt damit jede naturwissenschaftliche oder philosophische Metaphysik ab. Er fällt in keinerlei Ontologie mehr zurück, betont vielmehr aufs schroffste die Getrenntheit des modernen Erkennens von dem, was im hergebrachten Sinne als "Sein" bezeichnet wird. Zugleich nagelt er das Erkennen in diesem seinslosen Zustande, in dem es sich in sich selbst vernichtet, gewissermaßen fest. Und zwar nimmt dieser totale Agnostizismus bei ihm dadurch eine ganz bestimmte Gestaltung an, daß er noch radikaler als Locke die empiristische Einseitigkeit in der Erklärung des Erkennens durchführt, d.h. aus der letzteren alles ausrottet, was auf das Denken als eine gegenüber dem Wahrnehmen selbständige Quelle des Erkennens hindeuten könnte. So glaubt er zwar gegenüber Locke betonen zu müssen, daß Kausalitäts- und Substanzbegriff sich nicht aus der Erfahrung oder dem, was dieser als ein "Sein" zugrundeliegt, erklären lassen, sondern an diese vom Menschen erst herangebracht werden. Wirkliche Begriffe dürfen sie nun aber doch auch nicht sein - denn solche würden ja eine Denktätigkeit voraussetzen - und so werden sie für bloße Weisen der Verknüpfung von Wahrnehmungen erklärt, die sich, aus einem psychologischen Zwang heraus: durch die Macht der Gewöhnung und die Nötigung zur Ideenassoziation gewissermaßen "von selbst" ergeben. Eines besonderen Denkaktes bedarf es zu ihrer Entstehung nicht. Und ebenso soll es bei den mathematischen Operationen zugehen; sie sollen lediglich auf dem innern Wahrnehmen und Vergleichen beruhen, das sich auf die Größenverhältnisse, Ähnlichkeiten und Unterschiede der von außen empfangenen Sinneseindrücke bezieht. Wie Locke, so übersieht auch Hume, daß ein Vergleichen, ein Zusammen- und Auseinanderhalten von Sinneseindrücken nur möglich ist, wenn an diese von anderer Seite her die Begriffe der Größe, Ähnlichkeit usw. denkend herangetragen werden. Aber für alles Begrifflich-Ideelle sind solche "Denker" wie Locke und Hume eben vollkommen blind. Aus solcher Auffassung heraus, die das Begriffselement nicht nur - wie Locke - erschleicht, sondern als solches geradezu verneint und S88 mit ihm auch jegliche Art von Tätigkeit innerhalb des Erkennens, kann sich keine andere Darstellung des letzteren ergeben als die eines wesen- und wirklichkeitslosen Bewußtseinsscheines bzw. Wahrnehmungsinhaltes, ohne ein "Etwas", das wahrgenommen wird, und ohne einen "Jemand", der wahrnimmt. "Der Geist", so schreibt Hume an einer Stelle seines "Treatise on human nature" (I,4), "ist eine Art Bühne, auf der verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinandermengen." Damit gilt aber für Hume in noch höherem Maße als für Locke, daß das, was er als "Erkenntnisprozeß" schildert, ein solcher in Wirklichkeit gar nicht ist. Dies zeigt sich bei ihm in der Weise, daß nach seiner Auffassung das Erkennen gar keinerlei Wert hat. Man kann mit ihm allein nicht leben. Hume gründet daher das gesamte praktische Leben des Menschen auf den "Glauben". Alle Vorstellungen, nach denen wir unser Leben praktisch und faktisch gestalten, haben nach seiner Meinung nur den Wert von Glaubens- nicht einen solchen von Erkenntnisinhalten. Ein Teil dieser Glaubensinhalte sind die sogenannten religiösen Wahrheiten. Der Wert auch dieser letzteren liegt lediglich in ihrem praktischen Nutzen. Vom Gesichtspunkte dieser Auffassung aus hat Hume eine "Naturgeschichte der Religion" geschrieben. In mehr versteckter Art als in der englischen ist der Agnostizismus in der deutschen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts vorhanden. Wir deuteten schon an, daß in ebenso einseitiger Weise, wie jene nur das Wahrnehmungselement ins Auge faßt und als einzige Quelle des Erkennens betrachtet, diese nur das Denkelement ins Auge faßt und als einzige Quelle des Erkennens betrachtet. Dazu kommt, daß in der mitteleuropäischen Bevölkerung bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts hin noch stark die Bewußtseinsgestaltung des "philosophischen" Zeitalters fortlebt - eine Tatsache, die auch für alle andern Gebiete ihres geistigen Lebens nachgewiesen werden kann. Sie wiederum bedingt eine Empfänglichkeit für die Aufnahme der von Descartes ausgehenden französischen Philosophie, die ja, wie wir sahen, trotz ihrem modernen Ausgangspunkte, die philosophisch-ontologische Betrachtungsweise in einer freilich dekadenten Abwandlungsform erneuerte. Beide Umstände zusammen erst bewirken die Eigenart der deutschen Philosophie im 17. und 18. Jahrhundert. Als deren bedeutendster Repräsentant stellt sich G.W.Leibniz dar. Die "philosophische" Bewußtseinsgestaltung zeigt sich bei ihm darin, daß auch seine Lehre in der Hauptsache eine Ontologie ist. Zwar hat er in Auseinandersetzung mit den im modernen Sinne erkenntnistheoretischen Untersuchungen Lockes in seinen "Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand" auch eine spezielle Erkenntnislehre entwickelt. Doch aber liegt auch bei ihm dieses vor, daß eine, obzwar von der Descartes'schen verschiedene, man könnte vielleicht sagen: charakteristisch deutsche Schau des Erkenntnisprozesses und -problems außerdem, daß er sie als solche darstellt, sich ihm zugleich zum Inhalte einer Metaphysik, einer Seinslehre gestaltet. Er gliedert zunächst, gleich Aristoteles, die uns "unmittelbar gegebenen" Einsichten in die "zufälligen" oder bloßen "Tatsachen-Wahrheiten" (vérités de fait); und in die "ewigen" oder "notwendigen Wahrheiten" vérités éternelles); jene sind die S89 Inhalte der Sinneswahrnehmung, diese die Sätze, die der Vernunft unmittelbar einleuchten. Er unterscheidet nun aber nicht, wie der griechische Denker, dieser Gliederung des Erkennens entsprechend, am Seienden das Moment des Stoffes (von dem das Zufällige herrührt) und das der Form (von dem das Notwendige sich herschreibt). Er kann das deshalb nicht, weil er doch ein moderner Mensch ist und darum für ihn eine solche zusammengehörige Entsprechung von Erkennen und Sein nicht mehr besteht wie für die Griechen. Das Wahrgenommene und das Gedachte sind für ihn zunächst keine Seins-, sondern lediglich Erkenntnisbegriffe. Hier kommt vor allem das Gedachte in Frage, da, wie wir voraus bemerkten, in ihm für Leibniz der Schwerpunkt des Erkennens liegt. Seine Gedanken kann aber der moderne Mensch zunächst nicht anders als nominalistisch erleben, weil er sich selbst in ihrer Erzeugung tätig erlebt. Und dieses Tätigsein im Denken wird von Leibniz sogar in ganz besonderem Maße betont. Der moderne Mensch kennt also nicht mehr ein "universale in re", das auf der Seite des Seins dem entspricht, was auf der Seite des Erkennens das "universale post rem" ist. Er kennt keine objektive Ideen- oder Formenwelt mehr. Wie kommt nun aber Leibniz zu seiner Seinslehre? Wir deuteten schon an, daß auch er die Vernunftwahrheiten als "gegeben" und als "ewig" und "notwendig" bezeichnet. "Gegeben" sind sie für ihn freilich, wie gesagt, nicht mehr von einer objektiven Ideenwelt her, die im Sinne des Aristoteles und Thomas durch den "intellectus agens" erfaßt wird. Leibnis faßt ihre "Gegebenheit" vielmehr in dem Sinne, in welchem sie erstmals Descartes interpretiert hatte: als An- oder Eingeborenheit. Er verteidigt diese Descartes'sche Vorstellung gegen die Einwände Lockes. Sie macht ihm möglich, die "ewigen Wahrheiten" einerseits als aus dem menschlichen Innern herausquellend anzusehen, andererseits doch einem außermenschlichen Ursprung entstammend, dem Menschen in einem bestimmten Sinne "gegeben" und damit geeignet, auf ein "Sein" bezogen zu werden, d.h. eine Ontologie zu begründen.
Bevor wir nun aber den Inhalt dieser Ontologie skizzieren, fassen wir noch die andere Seite des Philosophierens ins Auge, die in seiner "Deutschheit" wurzelt: nämlich das einseitige Hinschauen auf die im Erkennen stattfindende denkerische Tätigkeit. Mit dieser scheint zunächst die Tatsache des "Gegebenseins" der Vernunftwahrheiten im Widerspruche zu stehen, auch wenn das letztere nur als ein "Eingeborensein" verstanden wird. Leibniz sucht diesen Widerspruch zu beheben, indem er die Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption einführt. Angeboren (perzipiert) sind zwar - nach seiner Darstellung - die ewigen Wahrheiten dem Menschen; aber sie schlummern zunächst in seinem Unterbewußtsein. Was im Erkenntnisakte geschieht, das ist das tätige Heraufheben derselben ins Bewußtsein (Apperzeption). Denken ist nichts anderes als das Sichbewußtmachen des unbewußt schon vorhandenen Wissens. Mit dieser Vorstellung verbindet Leibniz eine weitere, durch die er zugleich das Problem der Sinneswahrnehmung zu lösen versucht. Denn das Vorhandensein der letzteren neben der Denktätigkeit und den Begriffen leugnet er, wie wir eingangs schon sahen, keineswegs. Er bezeichnet jedoch, Descartes auch hierin folgend, das sinnliche Wahrnehmen als verworrenes Denken. Es ist zugleich die Gestalt, in der unsere begrifflichen Einsichten zunächst in uns vorhanden sind. Es enthält sie nämlich zwar bereits in sich, aber noch auf S90 verborgene Weise. Wir empfangen also die Sinneseindrücke nicht in der Art, wie man gewöhnlich glaubt, durch "äußere Einwirkungen". Sondern sie sind die Form, in der die uns angeborenen Wahrheiten zunächst in uns leben. Erkennen heißt daher zugleich auch: aus den Sinnestatsachen die in ihnen enthaltenen Begriffe herausarbeiten. So verstanden, läßt Leibniz der Sinneswahrnehmung ihre volle Bedeutung als Grundlage und Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses zukommen. Und doch macht er in einem tieferen Sinne genaus das Umgekehrte von dem, was Hume tat: wie dieser leugnete, daß im Erkenntnisgeschehen etwas wie ein Begriff oder wie eine innere Tätigkeit auftrete, und das, was sich als solche darstellt, in ein Nichtbegriffliches bzw. in ein Erleiden umdeutete, so leugnet Leibniz, daß im Erkennen überhaupt ein Empfangen eines von außen gegebenen Inhaltes stattfinde; und was als ein solches Empfangen erscheint: die Sinneswahrnehmung, das deutet er um in eine bestimmte Art des Begriffe-Erlebens, d.h. in eine bestimmte Form des Herausquellens der Erkenntnis aus dem Menscheininnern, welches er als das alleinige Geschehen im Erkenntnisprozeß ansieht. Das Erkennen hat somit gar nichts zu tun mit einer Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, sondern ist eine rein innermenschliche Angelegenheit. Im besonderen muß die ganze Wahrnehmungwelt zunächst als eine bloße Entwicklungsform betrachtet werden, in der das Erleben der begrifflichen Wahrheiten im Menschen auftritt.
Darnach erhebt sich aber die Frage: Was bleibt dann von einer Welt außer dem Menschen noch übrig? Denn wir haben es eigentlich überhaupt nur noch mit dem Menschen, nicht mehr mit einer Welt zu tun. Leibniz zieht in der Tat in gewisser Weise die Konsequenz, indem er erklärt: Eben das, was im vorangehenden als das Wesen des Menschen bzw. des menschlichen Erkennens geschildert wurde, ist selbst schon die Welt bzw. das Weltgeschehen. Die Welt besteht nur aus "Menschenartigem", das Weltgeschehen nur aus "Erkenntnisartigem". Und so wird die Kennzeichnung des Erkennens zugleich zu derjenigen des Seins.
Was aber macht "Menschenart" aus? Der Mensch ist gleichsam ein Geist- oder Ich-Punkt, der einen bestimmten begrifflichen Gehalt in sich veranlagt, "eingeboren" enthält und diesen in sich tätig zur Entfaltung bringt. Ein solches Wesen bezeichnet Leibniz als "Monade" und erblickt in ihm dasjenige, dem einzig die Bezeichnung der Substanz oder dess Seienden beigelegt werden darf. So besteht für ihn das Weltensein ausschließlich aus Monaden, und zwar unendlich vielen, die aber alle nach dem Muster der menschlichen von ihm gedacht werden. Und das Weltgeschehen besteht in nichts anderem als in der Entfaltung, welche die Monaden dem in ihnen schlummernden Gehalte in sich verleihen. Freilich kann diese Entfaltung in der verschiedensten Art stattfinden. In der pflanzlichen Monade verbleibt der Begriffsinhalt immer in schlafhafter Unbewußtheit und entfaltet sich lediglich in Form der Lebenskraft und der Gestaltbildung; in der tierischen Monade hellt er sich zur träumenden Empfindung auf; in der menschlichen endlich nimmt er die Form des bewußten Gedankens an.
Mit den zuletzt angedeuteten Vorstellungen sehen wir Leibniz doch in einer gewissen Weise über den und aus dem Menschen hinausgehen. Was ermöglich S91 ihm diesen Schritt? Woher weiß er, wie es sich mit Tier und Pflanze als "Monaden" verhält? Es gibt für diesesn Austritt kein anderes Tor als das von uns bereits genannte: seine Auffassung von der Eingeborenheit der Begriffswelt. Wir können diese so verstehen, daß Leibniz trotz des ihm als modernem Menschen eigenen Nominalismus seiner Begriffswelt gegenüber doch die Empfindung hat, ihr komme nicht eine bloß menschliche, sondern auch in der außermenschlichen Welt irgend eine Bedeutung zu. Indem er sich dieser Empfindung hingibt, glaubt er diese Begriffswelt, wenn auch in anderer Form, so doch demselben Inhalte nach als die Substanz auch des pflanzlichen und tierischen Wesens zu finden. Was aber ist eigentlich dieser Inhalt? Er ist das Bild des Universums überhaupt, d.h. der eigenen und aller übrigen Monaden. So spiegelt jede Monade - wenn auch jede in anderer Form - als mikrokosmisches Abbild den Inhalt des Makrokosmos wider. Und diese in unendlichfacher Form geschehende Spiegelung macht den Lebensinhalt derselben aus. Hierdurch befinden alle Monaden untereinander sich zugleich in vollkommener Übereinstimmung. Ohne diese durch die Identität ihres Wesensgehaltes verbürgte Harmonie der Monaden würde freilich das Weltgebäude auseinanderfallen. Denn keine von ihnen hat ein "Fenster". Keine vermag von außen her durch eine andere irgend eine Einwirkung zu empfangen. Jede lebt nur aus sich selbst heraus, in der tätigen Ausgestaltung ihres eigenen Gehaltes, wie sie beim Menschen in der Form des Erkennens erfolgt. Es ist also die Idee der "prästabilierten Harmonie" zwischen den Monaden das unerläßliche Komplement zu dem, was die Art ihres Lebens und Wirkens ausmacht.
Wir sehen an dieser Stelle und in dieser Form bei Leibniz den Ersatz für das auftreten, was an der richtigen Stelle bei ihm fehlt. Leibniz sieht nicht, daß es beim Erkenntnisprozeß darauf ankommt, zur "Harmonie", d.h. zur Verschmelzung miteinander zu bringen, was aus Sinneserfahrung und Denken als zwei selbständigen Quellen des Erkennens fließt, d.h. aber: was von außen empfangen und von innen erzeugt wird. Er blickt in einseitiger Weise nur auf die Denktätigkeit hin, die den Begriff aus dem Innern herausarbeitet; und er betrachtet auch die Sinneswahrnehmung bloß als ein verworrenes, noch nicht geklärtes Denken. Dadurch verliert er sich ganz im menschlichen Innern; denn auch das Denken weist ihn durch seinen Inhalt unmittelbar nicht über den Menschen hinaus. Einzig die Behauptung vom Angeborensein der Begriffe zeigt ihm einen solchen Weg. Aber auch dieser ist ein solcher in Wirklichkeit nicht. Denn Leibniz findet auch ihm kein wirkliches Draußen, das dem Drinnen als ein anderes gegenüberstände, sondern, wie wir sahen, nur das Drinnen noch einmal, gleichsam in unendlich sich variierender Wiederholung. (Man hat daher schon mit Recht bemerkt, daß, wenn nach Leibniz jede Monade ein Spiegel des Universums, d.h. aller übrigen Monaden sei, dies nur ein Spiegeln von Spiegeln bedeute.) Und so bleibt ihm keine andere Möglichkeit als durch eine vorbestimmte, ihnen durch Eingeburt aufgeprägte Harmonie den Monaden die Beziehung zur Welt, d.h. zu den andern Monaden zu sichern, die sie durch ihre eigene Tätigkeit selbst herzustellen nicht vermögen. Es wird hier deutlich, daß für das, was die Erkenntnis - in der Leibniz'schen Auffassung - durch sich selbst nicht zu leisten imstande ist, die als "angeboren" angenommene Weltharmonie eintreten muß. Ohne die prästabilierte Harmonie wäre Leibnizens S92 Bild von der Welt nicht fertig. Daß er diesen Begriff als "zusätzlichen" aufstellen mußte, beweist, daß diesem Bild etwas fehlte. Was wirklich fehlt, ist das volle Verständnis für die Bedeutung, die der Sinneserfahrung für den Erkenntnisprozeß zukommt. Als Ersatz für dieses Fehlende tritt die Harmonie zwischen den Monaden ein. Daß dieser Ersatz aber kein vollwertiger ist, zeigt sich z.B. darin, daß auch Leibniz an einer Stelle seiner "Neuen Abhandlungen" (4.Buch,2.Kap.) ein Erlebnis zum Ausdruck bringt, das als eine Folge der Trennung von Denken und Sein zum erstenmal bereits von Descartes und im Verlauf der modernen Philosophiegeschichte bis auf den heutigen Tag von den verschiedensten Denkern in den verschiedensten Darstellungen geschildert worden ist: das Erlebnis des unwirklich-traumhaften Charakters unserer Bewußtseinsinhalte. "Allerdings muß man zugeben", so heißt es da, "daß diese ganze Gewißheit (unserer Erkenntnisse) nicht eine des höchsten Grades ist... Denn es ist, metaphysisch gesprochen, nicht unmöglich, daß es einen so konsequenten und langandauernden Traum geben kann wie das Leben eines Menschen; aber das ist etwas so Vernunftwidriges, als wenn man sich ein Buch denken wollte, das durch Zufall gebildet würde, indem man die Drucklettern bunt durcheinander wirft. Übrigens ist, wenn die Erscheinungen nur verbunden sind, wirklich auch nichts daran gelegen, ob man sie Träume nennt oder nicht, weil die Erfahrung zeigt, daß man sich in den um der Erscheinungen willen genommenen Maßregeln nicht täuscht, wenn sie nach Maßgabe der Vernunftwahrheiten genommen werden."
So ist also auch das von Leibniz geschilderte "Erkennen" kein wirkliches, das Sein erfassende Erkennen. Auch seine Philosophie ist im Grunde agnostisch. Vielleicht am deutlichsten tritt dies zu Tage an einer besonderen Funktion, die er der prästablilierten Harmonie außer ihrer allgemeinen noch zuschreibt. Wie alle organischen Körper, so besteht nach seiner Auffassung auch der menschliche Leib aus einer Summe von Monaden. Als Ganzes ist er zwar, wie alle Organismen, eine Maschine. Die einzelnen Teile dieser Maschinen sind aber eben lebendige Monaden. Leibniz konnte sich von der durch Descartes begründeten mechanistischen Naturauffassung nicht ganz freimachen. Diese war ja hervorgegangen aus einer in rein quantitativer Art mathematisierenden Betrachtung der Phänomene. Leibnis hat durch die von ihm (gleichzeitig mit Newton) erfundene Infinitesimalrechnung zur Weiterentwicklung dieser Art Mathematik selbst einen der bedeutendsten Beiträge geleistet. Er glaubte, die rein mechanistische Auffassung der Natur, die sich aus diesem Mathematisieren ergeben hatte, dadurch in gewisser Weise überwinden zu können, daß er die "organischen Mechanismen" aus lebendigen Bestandteilen zusammengesetzt dachte. Nun hatte es ja schon für Descartes eine Hauptschwierigkeit bedeutet, das Verhältnis zwischen der als bloß denkende Substanz vorgestellten Seele und dem als bloß ausgedehnte Substanz, d.h. als bloße Maschine aufgefaßten Leibe zu bestimmen. Wir deuteten jedoch bei der Besprechung Descartes' darauf hin, daß diese Entgegensetzung der beiden Substanzen und d.h. auch von Leib und Seele nur eine ontologische Verkleidung der Tatsache darstellt, daß der moderne Mensch Wahrnehmen und Denken nicht mehr befriedigend zu verbinden bzw. mit seinem Erkennen nicht mehr zum Sein zu gelangen vermag. Descartes mußte die Wahrhaftigkeit Gottes berufen, um von S93 seinen Denkinhalten den Übergang zu einem ihnen entsprechenden Sein zu finden. Der Okkasionalismus Geulinxs mußte Gott als dauernden Vermittler zwischen Seele und Leib in Anspruch nehmen. Für Leibniz muß denselben Dienst die Idee der prästabilierten Harmonie zwischen beiden leisten. Wie irgendwelche Monaden überhaupt, so sind auch die menschliche Seelenmonade und die den menschlichen Leib bildenden Monaden nur durch diese Harmonie aufeinander abgestimmt. Leibniz vergleicht dieses Verhältnis einmal mit dem zwischen zwei gleichgerichteten Uhren.
Der skizzierte Überblick über seine Philosophie zeigt, daß für ihre Betrachtungsweise das Weltproblem sich letztlich zusammenfaßt in die Frage nach dem Verhältnis von Individualität und Universalität, von Ichheit und Allheit. Es kommt dies davon her, daß er dem, was er in sich als Ich-Wesenheit erlebt, die weiteste Verallgemeinerung verleiht und so die ganze Welt aus lauter Ichen oder nach dem Muster des Ich vorgestellten Monaden bestehen läßt. So verwandelt sich für ihn die Welt im Grunde in eine reine Geisterwelt. Die "Materie" ist für ihn bloße Erscheinung, in der sich die Tatsache offenbart, daß die Monaden nicht nur unendliche, tätige, sondern zugleich endliche, leidende Wesen sind und daher zueinander nicht im Verhältnis des gegenseitigen Durchdringens, sondern des Außer- und Nebeneinander stehen. Das Problem ihrer Gemeinschaft aber löst sich für ihn in der Weise, daß er im Innern jedes Ichs wieder das All findet als dasjenige, was dem Wirken desselben von vornherein das Gepräge gibt. Indem er so die ganze Welt in einem gewissen Sinne "vermenschlicht", geht jedoch in der so vorgestellten Welt das Spezifische des Menschen und namentlich der menschlichen Erkenntnis unter.
Konnte schon Leibniz sich nicht ganz von dem philosophischen Bewußtseinszustand zu dem rein wissenschaftlichen hinarbeiten, so fiel Chr.Wolff gar noch einmal so tief in den ersteren zurück, als dies in der damaligen Zeit überhaupt möglich war. Dadurch entstand bei ihm eine Vermischung der älteren und der neueren Bewußtseinsform, die alles das in Undeutlichkeit und Unentschiedenheit verschwimmen ließ, was für den modernen Menschen als Bewußtseinssituation und als Erkenntnisproblematik charakteristisch geworden war. Philosophie wurde für ihn wieder identisch mit Erkenntnis überhaupt und umfaßte daher noch einmal alle Teilgebiete der letzteren in den verschiedenen Abteilungen, in die er sie gliederte. Ihr Fundament aber bildete auch für ihn wieder die Ontologie. Den Inhalt derselben baute er auf mittels der Kategorien (Raum, Zeit, Ding, Wesen, Grund usw.) und der übrigen ontologischen Grundbegriffe des Aristoteles (möglich, zufällig, notwendig usw.). Die Methode aber, nach der er sie entwickelte, stellt charakteristischerweise eine Verbindung dar der älteren Syllogistik mit dem neueren Mathematisieren, wie es etwa Spinoza übte. Im Mathematisieren hatte ja der moderne Mensch, weil es als ein von ihm Erzeugtes für ihn völlig durchsichtig ist, solche Erkenntnissicherheit erlebt, daß sich aus ihm eine neue, mechanistische Ontologie für ihn gestaltete. Eine Ontologie, die freilich den Charakter einer spekulativen Metaphysik hat, d.h. deren Inhalt als jenseits der Erfahrbarkeit liegend vorgestellt werden muß. Die Logik hatte für die antiken Denker ebenfalls zugleich noch ontologische Bedeutung gehabt. Das war aber damals deshalb der Fall, weil die Gedanken noch als geistig geoffenbarte erlebt wurden. Das Sein, welches sie repräsentierten, war also S94 ein geistig erlebbares. Diese Situation besteht für den modernen Menschen nicht mehr. Er erlebt gewisse logisch-mathematische Sätze höchstens noch als "angeborene Wahrheiten". Ihre Angeborenheit ist das einzige, was ihn noch auf eine außermenschliche Gültigkeit derselben hinweist. Aus solchen angeborenen Wahrheiten heraus spinnt Wolff in logisch-mathematischer Deduktion seine "vernünftigen Gedanken" über Gott, Welt, Seele usw.. Dabei bleibt unentschieden, ob diese Gedanken nur eine auf die bloß menschliche Erfahrung oder eine auf das außermenschliche "Sein" bezügliche Geltung haben. Diese Unentschiedenheit bringt Wolff auch in der Weise zum Ausdruck, daß er die Philosophie als die Wissenschaft - nicht vom Wirklichen oder Notwendigen, aber auch nicht vom bloß Zufälligen, sondern - vom "Möglichen" bezeichnet (wobei er unter "möglich" alles versteht, was keinen Widerspruch in sich schließt).
Dieses Vorbeisehen Wolffs an den eigentlichen Problemen des modernen Menschen war es, das in Kant, der zuerst in den Bahnen Wolffs gewandelt war, das Bedürfnis erregte, als der durch das Studium der Hume'schen Schriften aus seinem "dogmatischen Schlummer erwachte" und in die Periode seines "kritischen Philosophierens" eintrat, diese Probleme um so entschiedener anzupacken und unter jene ältere und veraltete Art des Philosphierens einen womöglich endgültigen Schlußstrich zu ziehen.
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