III. Zeit und Geschichte
7. Christentum und Geschichte
(S285) In diesem abschließenden Kapitel soll einerseits ein Thema, das in den vorangehenden Kapiteln verschiedentlich angetönt wurde, zu einer relativen vorläufigen Abrundung gebracht und andrerseits eine gewisse Überleitung zum zweiten Bande dieses Werkes dadurch gegeben werden, daß bestimmte Motive, die in diesem ausführlicher zur Darstellung gelangen werden, gleichsam präludierend angeschlagen werden.
Das Thema, das hier, ebenfalls vom Aspekte des Zeitproblems aus, abgerundet werden soll, ist dasjenige des Verhältnisses vom Christentum und Geschichte. Daß dieses Verhältnis ein ganz besonders inniges ist, kam ja auch schon in den vorangehenden Darstellungen in verschiedener Weise zur Geltung: einmal in dem Hinweis darauf, daß wir es in dem Pfingstgeschehen, durch welches die christliche "Kirche" begründet wurde, mit einer prophetischen Hindeutung auf jene im spezifisch "Geistigen" wesende allmenschliche Gemeinschaft zu tun haben, welche im Verlauf der geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens sich herausbilden soll. Zum zweiten in der Schilderung, wie durch die Christuserscheinung das die Zukunft repräsentierende Geistige des Menschen (Baum des Lebens), das sich im "Sündenfall" von dem auf die Vergangenheit weisenden Leiblichen desselben (Baum der Erkenntnis) getrennt hatte, mit diesem wiedervereinigt, und daß mit dem diese Vereinigung entstehenden Gegenwartselemente erst jene gegliederte Totalität des Zeitwesens für die Menschheit errungen worden sei, welche den geschichtlichen Menschen kennzeichnet. Daß damit "Geschichte" im höchsten Sinne des Wortes erst eigentlich ihren Anfang genommen habe, - was auch in der Tatsache zum Ausdruck gekommen sei, daß erst auf dem Boden des Christentums der Begriff der Menschheit und der einheitlichen Menschheitsgeschichte erwachsen ist. Das besonders innige Verhältnis zwischen Christentum und Geschichte zeigt sich aber auch darin, daß das Christentum nicht nur - wie auch Buddhismus und Islam - zu den durch geschichtliche Stifter begründeten Religionen gehört, die den ins Vorgeschichtliche sich verlierenden Ursprüngen der älteren Natur- oder Volksreligionen gegenüberstehen, sondern auch innerhalb der geschichtlichen Religionen dadurch wiederum eine einzigartige Stellung einnimmt, daß den Inhalt bzw. Gegenstand seiner religiösen Lehre selbst im engsten Sinne bestimmte geschichtliche Ereignisse: Geburt, Leben, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi bilden. Christus ist - wie schon Schelling in seiner "Philosophie der Offenbarung" (S286) hervorgehoben hat - nicht der bloße Stifter, sondern der Inhalt der christlichen Religion. Es kommt dies darin zum Ausdruck, daß - da ja Religion überhaupt in der Beziehung des Menschen zum Göttlichen besteht - den wesentlichsten Inhalt der christlichen Religion die Lehre von der Göttlichkeit Christi oder von der Menschwerdung des Gottessohnes ausmacht.
Weil es sich also schon in der Auffassung vom Wesen der Christusgestalt und der Bedeutung des "Christusereignisses" um Religion handelt, darum konnte im 19. Jahrhundert (D.Fr.Strauss) die Meinung entstehen, daß das Historisch-Tatsächliche, von dem die Geschichte des Christentums ihren Ausgang genommen hat, gar nicht das Wesentliche sei, sondern die Entfaltung der religiösen Idee von der Menschwerdung des Göttlichen in der Geschichte überhaupt, die sich mit der Gestalt des Jesus von Nazareth nur in besondrer Weise verbunden, auf sie gleichsam konzentriert habe, - ja es konnte sogar (A.Drews: Die Christusmythe) die Auffassung vertreten werden, daß der Entstehung des Christentums überhaupt kein historisches Begebnis zugrunde liege, sondern lediglich die Verdichtung prophetischer Mythen von einem zu erwartenden Messias und Welterlöser, wie sie in mannigfaltiger Gestalt bei den damaligen Völkern Vorderasiens gelebt haben, zu einer sich als historisch gebenden Legende. Jedenfalls haben wir es bei der Lehre von der "Erlösungstat Christi", so wie sie wenigstens bisher durch das Christentum vertreten worden ist, so wie sie wenigstens bisher durch das Christentum vertreten worden ist, mit einem religiösen Glauben zu tun. Und insofern sich der Inhalt dieses Glaubens zu einer bestimmten Auffassung von der Menschheitsgeschichte erweitert, ist auch diese auf einen religiösen Glauben begründet, - wie denn auch Auugstinus, der eigentliche Begründer der christlichen Geschichtsphilosophie, in seinem "Gottesstaat" ausdrücklich betont hat. Es ist diese Geschichtsphilosophie daher in Wahrheit eine Geschichtstheologie.
Für ein Auge, das die Ereignisse, welche sich im Beginn unsrer Zeitrechnung in Palästina abgespielt haben, nicht durch die "Brille" dieses Glaubens betrachtet, stellen sie sich keineswegs als jenes Mittelpunktsgeschehen der Weltgeschichte dar, als welches sie, durch diese Brille gesehen, erscheinen. "Kein Historiker kann als solcher in dem historischen Jesus den Gottessohn und den zweiten Adam erkennen und in der Geschichte seiner Kirche den Kern aller wahren, weil durch den heiligen Geist inspirierten, Geschichte entdecken... Für die natürliche Vernunft eines empirischen Historikers ist es unmöglich, anzunehmen, daß unser ewiges Heil und die Erlösung der ganzen Schöpfung von einem Ereignis abhängen soll, das sich zufällig vor zweitausend Jahren in Palästina abgespielt hat. Empirisch gesehen sind die Geschichte Israels und der christlichen Kirche Geschehnisse gleich anderen, innerhalb einer bestimmten Periode des weltlichen Geschehens, aber keine Phasen des Heilsgeschehens, die ein zentrales Ereignis vorbereiten und (S287) erfüllen" (K.Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S171). Ja selbst ein Historiker, der seiner religiösen Überzeugung nach ein gläubiger Christ ist, kann, insofern er als Historiker die Geschichte darstellt, diesen seinen Glauben nicht zur Grundlage seiner Darstellung machen. So hat z.B. auch L.v.Ranke in seiner "Weltgeschichte" das Christentum lediglich als jene religiöse Bewegung behandelt, als welche es seit der Regierungszeit des Kaisers Tiberius geschichtlich wirksam geworden ist, unter Absehung von dem Bilde, welches den Bekennern desselben die Weltgeschichte im Lichte ihre religiösen Glaubens darbietet. "Indem ich diesen Namen (Jesus) nenne", so schreibt er in diesem Zusammenhang, "muß ich, obwohl ich glaube, ein guter evangelischer Christ zu sein, mich dennoch gegen die Vermutung verwahren, als könnte ich hier von dem religiösen Geheimnis zu reden unternehmen, das doch, unbegreiflich wie es ist, von der geschichtlichen Auffassung nicht erreicht wird. Sowenig wie von Gott dem Vater kann ich von Gott dem Sohne handeln. Die Begriffe von Verschuldung, Genugtuung, Erlösung gehören in das Reich der Theologie und der die Seele mit der Gottheit verknüpfenden Konfession. Dem Geschichtsschreiber kann es nur darauf ankommen, die große Kombination der welthistorischen Momente, in welchen das Christentum erschienen ist, und wodurch dann auch seine Einwirkung bedingt wurde, zur Anschauung zu bringen... Niemand wird erwarten, daß ich die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu, wie sie in den heiligen Schriften kindlich und populär, tiefsinnig und erhaben überliefert wird, in die Weltgeschichte einflechte. Die Gebiete des religiösen Glaubens und des historischen Wissens stehen nicht im Gegensatz miteinander, sind aber doch ihrer Natur nach getrennt. Der Historiker kann von dem eigentlich Religiösen abstrahieren, er hat nur die Ideen zu erforschen, welche durch ihre Macht die allgemeinen Bewegungen veranlassen."
Nun bezieht aber, wie wir schon an früherer Stelle ausführten, die christliche Geschichtstheologie, abgesehen davon, daß - oder besser gesagt: weil - sie auf einem religiösen Glauben beruht, die Menschheitsgeschichte auch nur insoweit in ihr Geschichtsbild ein, als sie "Heilsgeschichte" ist. Da aber dieses Geschichtsbild vom Blickpunkte des einzelnen Menschen aus (soweit dieser in der griechisch-römischen Zeit zu einem solchen geworden war) gesehen ist, so kommt der Geschichte nur insoweit der Charakter des "Heilsgeschehens" zu, als sie sich zwischen dem vorgeschichtlichen Anfangspunkte des Sündenfalls und dem nachgeschichtlichen Endpunkte des Jüngsten Gerichts erstreckt und ihren Schwerpunkt in dem im Grunde mehr als nur "geschichtlichen" Ereignis der Opfertat des Gottessohnes hat. Alles übrige, nur "profan" Geschichtliche, d.h. aber das eigentlich Geschichtliche selbst, ist für dieses Heilsgeschehen ohne Bedeutung. Es ist das stetig sich wiederholende Auf und Ab im Kampfe zwischen der civitas dei und der civitas (S288) terrena. Es ist diese Geschichtsphilosophie, wie wir bereits früher feststellten, mit anderen Worten im tieferen Sinne noch ungeschichtlich.
In seinem schon mehrfach zitierten Werke: "Weltgeschichte und Heilsgeschehen" (1953) hat nun Karl Löwith in scharfsinniger Weise gezeigt, daß die moderne Geschichtsphilosophie, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere seit Voltaire, entwickelt hat, durch eine Säkularisierung der christlichen Geschichtstheologie entstanden ist. Sie ist in der Gestalt, die sie durch Voltaire, Condorcet, Turgot, Proudhon u.a. erhalten hat, zwar achristlich, aber dennoch ein Kind des Christentums. An die Stelle der göttlichen Vorsehung setzte sie den Fortschritt der menschlichen Vernunft, an die Stelle der Erlösung des Menschen von der Erbsünde das Sichheraufarbeiten der Menschheit aus barbarisch-unzivilisierten Zuständen zu immer höheren Stufen der Humanität und Zivilisation. Was im Christentum als ein nachgeschichtlicher Zustand ewiger Seligkeit für diejenigen erhofft wurde, welche beim Jüngsten Gericht als "gerecht" erfunden worden sind, das verwandelte sie in einen geschichtlichen Endzustand menschlicher Vollkommenheit und Glückseligkeit. Wurde jener nachgeschichtliche Zustand in einer Welt vorgestellt, die der Apokalyptiker als "einen neuen Himmel und eine neue Erde", als das "himmlische Jerusalem" bezeichnete, so sollte dieser geschichtliche Endzustand auf der physischen Erde als eine Art irdisches Paradies sich verwirklichen. Damit, daß dieses erstrebte Endziel auf die Erde und in die Geschichte selbst hineinverlegt wurde, erlangte die letztere für diese Geschichtsphilosophie eine ungleich größere Bedeutung, als sie innerhalb der christlichen Geschichtstheologie besessen hatte, - ja ihre Wichtigkeit erfuhr die denkbar höchste Steigerung. Und indem die einzelnen Stufen dieses Vervollkommnungsprozesses als innerhalb der irdischen Geschichte selbst sich verwirklichend gedacht wurden, mußte hieraus das Streben resultieren, diese Verwirklichungen in der Folge der geschichtlichen Epochen aufzuweisen. So wurde hier erst der ganze Umfang des geschichtlichen und vor allem des profanen Lebens in die geschichtsphilosophische Betrachtung einbezogen und die letztere dadurch erst jetzt im vollen Sinne zu einer Philosophie der Geschichte. In einer besonderen Variante - welche die geschichtlich wirksamste geworden ist - gestaltete diese Art von Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert Karl Marx in seiner materialistischen Geschichtsauffassung aus. Wir sehen hier davon ab, wie Marx in der Abfolge von Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus die Stufenschritte auf dem Wege zu einem Zustand der Vollkommenheit glaubte nachweisen zu können. Wir beschränken uns darauf, einige Sätze aus dem Löwithschen Buche zu zitieren, in denen gezeigt wird, wie nicht nur der Geist der christlichen Geschichtstheologie, sondern sogar auch noch der altjüdischen, aus der jene (S289) hervorgegangen ist, in der marxistischen Lehre, wenn auch in verwandelter, oder besser: pervertierter Form, weiterlebt: "Die geheime Geschichte des Kommunistischen Manifestes ist nicht sein bewußter Materialismus und was Marx darüber denkt, sondern der Geist des Prophetismus. Das Kommunistische Manifest ist in erster Linie ein prophetisches Dokument, ein Urteilsspruch und ein Aufruf zur Aktion, keineswegs aber eine rein wissenschaftliche, auf empirische Gegebenheiten gegründete Analyse. Die Tatsache, daß 'die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft' mannigfache Formen von Gegensätzen zwischen einer herrschenden Minderheit und einer beherrschten Mehrheit aufweist, rechtfertigt nicht ihre Auslegung und Bewertung als 'Ausbeutung' und noch weniger die Erwartung, daß, was bisher eine allgemeine Tatsache war, in Zukunft notwendigerweise keine mehr sein werde. Mag Marx auch die Tatsache der Ausbeutung durch seine Mehrwert-Theorie 'wissenschaftlich' erklären, so bleibt 'Ausbeutung' nichtsdestoweniger ein moralisches Urteil; sie ist, wenn an einer bestimmten Idee von Gerechtigkeit bemessen, ein absolutes Unrecht. In Marx' Darstellung der Weltgeschichte ist sie nichts Geringeres als das radikal Böse der Vorgeschichte oder, biblisch gesprochen, die Erbsünde dieses Äons. Und wie die Erbsünde korrumpiert sie nicht nur die moralischen, sondern auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen. Die ausbeutende Klasse kann von ihrem eigenen Lebenssystem nur ein 'falsches' Bewußtsein haben, wohingegen das Proletariat, das von der Sünde der Ausbeutung frei ist, die kapitalistische Illusion zugleich mit seiner eigenen Wahrheit durchschaut. Als das radikale und alles infizierende Böse ist die Ausbeutung weit mehr als ein ökonomisches Faktum... Wenn Marx darauf besteht, durch keinerlei moralische Vorurteile und Wertungen beeinflußt zu sein, und doch seine Aufzählung der verschiedenen Formen sozialer Gegensätze in die herausfordernden Worte 'Unterdrücker und Unterdrückte' zusammenfaßt, so ist dies eine seltsame Fehlinterpretation seiner selbst. Die grundlegende Voraussetzung des Kommunistischen Manifestes ist nicht der Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat als zweier einander gegenüberstehenden Klassen, der Antagonismus liegt vielmehr darin, daß die eine Klasse Kinder der Finsternis und die andere Kinder des Lichtes sind. Ebenso ist die Endkrise der bürgerlich-kapitalistischen Welt, die Marx in Form einer wissenschaftlichen Voraussage prophezeit. ein letztes Gericht, wenngleich es durch das unerbittliche Gesetz des Geschichtsprozesses gefällt werden soll. Weder die Begriffe 'Bourgeoisie' und 'Proletariat', noch die allgemeine Auffassung der Geschichte als eines sich zunehmend verschärfenden Kampfes zwischen zwei feindlichen Lagern, und erst recht nicht die Vorwegnahme seines dramatischen Höhepunktes, können auf rein empirischen Wege nachgewiesen werden. Nur in Marx' 'ideologischem' Bewußtsein ist die ganze Geschichte eine Geschichte (S290) von Klassenkämpfen. Die wirklich treibende Kraft hinter dieser Konzeption ist ein offenkundiger Messianismus, der unbewußt in Marx' eigenem Sein, in seiner Herkunft, wurzelt. Wenn er auch ein emanzipierter Jude des 19. Jahrhunderts, entschieden areligiös und auch antisemitisch war, so war er doch ein Jude von alttestamentlichem Format. Der alte jüdische Messianismus und Prophetismus, den zweitausend Jahre ökonomischer Geschichte vom Handwerk bis zur Großindustrie nicht verändern konnten, und das jüdische Bestehen auf unbedingter Gerechtigkeit, sie erklären die idealistische Basis des historischen Materialismus. In der verkehrten Form von wissenschaftlichen Voraussagen hält das Kommunistische Manifest an dem Grundzug des Glaubens fest: an der 'gewissen Zuversicht des, das man hofft'.
Es ist deshalb kein Zufall, daß der letzte Antagonismus der beiden feindlichen Lager, der Bourgeoisie und des Proletariats, dem Glauben an einen Endkampf zwischen Christus und Antichrist in der letzten Geschichtsepoche entspricht, und daß die Aufgabe des Proletariats der welthistorischen Mission des auserwählten Volkes analog ist. Die universale Erlösungsfunktion der unterdrückten Klasse entspricht der religiösen Dialektik von Kreuz und Auferstehung, und die Verwandlung des Reiches der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit der Verwandlung des alten in einen neuen Äon. Der ganze Geschichtsprozeß, wie er im Kommunistischen Manifest dargestellt wird, spiegelt das allgemeine Schema der jüdisch-christlichen Interpretation der Geschichte als eines providentiellen Heilsgeschehens auf ein sinnvolles Endziel hin. Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie" (S46ff).
Wenn wir auch der Löwithschen Erklärung des Marxschen Messianismus, die im Blute zu finden glaubt, was in der Individualität, d.h. in deren früheren Verkörperungen gesucht werden muß, nicht zustimmen können, so ist doch an dem - übrigens schon früher von N.Berdjajew (Der Sinn der Geschichte) aufgewiesenen - Faktum des der Marxschen Geschichtsauffassung zugrunde liegenden Heilsgeschichtsschemas nicht zu zweifeln.
In andrer Art als in den bisher genannten Geschichtsphilosophien hat eine Verweltlichung der christlichen Geschichtstheologie stattgefunden in den geschichtsphilosophischen Anschauungen, die in verschiedenen Varianten (Lessing, Herder, Schelling, Hegel, Fr.Schlegel) innerhalb des deutschen Idealismus ausgebildet worden sind. Hier ist man zwar bei dem ursprünglichen Inhalte dieser Geschichtstheologie mit ihrer Hinorientierung auf die Christuserscheinung als das Mittelpunktsereignis der Weltgeschichte stehengeblieben, hat aber eine Verweltlichung desselben insofern vollzogen, als man eine stufenweise Verwirklichung des Impulses, der durch jenes Ereignis in das Menschheitswerden eingeschlagen hat, innerhalb der Geschichte selbst aufzufinden bzw. aufzuweisen suchte. Hierbei wirkten in verschiedenen (S291) Umgestaltungen die Ideen Joachims de Fiore nach, der ja auch innerhalb der Geschichte selbst auf die Epoche des Sohnes folgend eine solche des Geistes vorausgesehen hatte. Auch für Hegel verwandelte sich in bestimmtem Sinne die christliche Religion in eine solche des Geistes. In der absoluten Philosophie, wie er sie selbst in seiner Vernunftslehre entwickelte, erblickte er die höhere, zur Stufe des Wissens erhobene Form dessen, was auf der niedrigeren Stufe des Glaubens in Form der religiösen Vorstellungen des Christentums aufgetreten war. Auf jener Stufe des im Elemente des reinen Gedankens webenden Wissens stehend aber vermeinte Hegel im Konkreten das Wirken der in der Geschichte waltenden göttlichen Vorsehung enthüllen zu können, das für eine niedrigere Stufe des Bewußtseins noch als verborgene "List der Vernunft" bezeichnet werden muß, die sich der Ambitionen der einzelnen menschlichen Persönlichkeiten bedient, um durch sie ihre großen geschichtlichen Ziele zu erreichen. In andrer Art unterschied Schelling in seiner "Philosophie der Offenbarung" innerhalb der christlichen Entwicklung die Dreiheit einer petrinischen, einer paulinischen und einer johanneischen Epoche, von denen die erste durch den bloßen religiösen Glauben, die zweite (mit der Reformationszeit beginnende) durch die Vorherrschaft des bloß rational-intellektuellen Wissens und Begreifens charakterisiert ist, die dritte, künftige aber durch die Synthese von Religion und Wissenschaft, die Verschmelzung von Glauben und Erkennen gekennzeichnet sein wird.
Allein diesen teils achristlichen, teils christlichen Geschichtstheorien hält Löwith entgegen, daß sie nur scheinbar wissenschaftlich oder philosophisch sind, in Wirklichkeit aber ausnahmslos die Geschichte durch die Brille eines Glaubens - entweder in seiner ursprünglichen oder in einer pervertierten Form - betrachten, dadurch aber gleichzeitig den urprünglichen Sinn dieses Glaubens verkennen und in Widerspruch mit den wirklichen Tatsachen der Geschichte geraten. Denn auf der einen Seite haben sich weder die Impulse des Christentums in der Geschichte verwirklicht noch hat die Humanität in ihrem Verlaufe zugenommen. "Die Geschichte hat kein letztes Ergebnis. Eine Lösung ihrer Probleme aus ihr selbst hat es nie gegeben und wird es nie geben, denn die menschliche Geschichtserfahrung ist eine Erfahrung dauernden Scheiterns. Auch das Christentum ist als historische Weltreligion gescheitert. Die Welt ist noch dieselbe wie zu Zeiten Alarichs; nur unsre Mittel der Vergewaltigung und Zerstörung - wie auch des Wiederaufbaus - sind beträchtlich vollkommener geworden" (a.a.O.S175). Auf der andern Seite hat sich die ursprüngliche christliche "End-Erwartung" keineswegs auf einen irdisch-geschichtlichen, in der "Zeit" jemals erreichbaren Endzustand der Vollkommenheit bezogen, sondern auf einen in der "Überwelt" zu erhoffenden, der "Ewigkeit" angehörenden Zustand der "Seligkeit". Die Möglichkeit, dieses ewigen Heiles teilhaftig zu werden, hängt nach ihrer (S292) Auffassung auch nicht von irgendeiner geschichtlichen Konstellation oder von dem Eintritt irgendeiner geschichtlichen Epoche ab, sondern ist seit Golgatha für eine jede Seele, mag sie in welcher Epoche immer und in welchem geschichtlichen Zusammenhang immer leben, grundsätzlich die gleiche und ist lediglich eine Frage ihrer inneren Wiedergeburt in Christo. Daher ja auch, wie wir gesehen haben, die Bedeutungslosigkeit, welcher innerhalb der Augustinischen Geschichtstheologie dem äußeren Geschichtsablauf für das "Heilsgeschehen" zukommt.
Was ergibt sich daraus für eine Konsequenz? Für Löwith liegt sie in der reinlichen Scheidung zwischen Glauben und Wissen in bezug auf die Geschichte. Für unser Wissen "ist das Problem der Geschichte innerhalb ihres eigenen Bereichs nicht zu lösen. Geschichtliche Ereignisse als solche enthalten nicht den mindesten Hinweis auf einen umfassenden, letzten Sinn" (S175). Für unser Wissen hat die Geschichte weder einen Anfang im Sinne des Paradiesesmythus noch einen Endpunkt in Gestalt eines letzten Gerichts. Und Jesus ist auf dieser Ebene nur "der Gründer einer neuen Sekte" (S171). Der einzige Zusammenhang zwischen den geschichtlichen Ereignissen liegt in ihrer äußeren zeitlichen Kontinuität, und was als einziges allen geschichtlichen Wandel überdauert, ist die sich gleich bleibende menschliche Natur (S183). "Um jedoch konsequent zu sein, müßte das Vertrauen in die 'Kontinuität' der Geschichte zu der klassischen Theorie einer kreisförmigen Bewegung zurückkehren; denn nur unter der Voraussetzung einer Bewegung, die ohne Anfang und Ende ist, ist Kontinuität wirklich erweisbar" (S183). Für Löwith ergibt sich also eine Rückwendung zur orientalisch-griechischen Auffassung vom Kreislaufcharakter der Geschichte. Bedeutet dies aber für ihn eine notwendige Abkehr von dem christlich-theologischen Geschichtsbild? Keineswegs! Es handelt sich lediglich darum, dieses wieder als das zu nehmen, was es ursprünglich gewesen ist: al Inhalt eines religiösen Glaubens! Ein solcher aber speist sich aus ganz andern Quellen als aus denen einer rational-wissenschaftlichen Erkenntnis. "Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt" (S814). Und "der christliche Glaube ist keine weltliche Erwartung, daß irgend etwas sich wahrscheinlich ereignen wird, sondern eine Gesinnung, die sich auf den bedingungslosen Glauben an Gottes Erlösungsplan gründet. Echte Hoffnung ist deshalb so frei und unabhängig wie der Glaubensakt selbst. Die christlichen Tugenden des Glaubens und der Hoffnung sind Gnadengeschenke. Die Gründe für solch einen bedingungslos hoffenden Glauben können nicht auf der rationalen Berechnung seiner Vernünftigkeit beruhen. Daher kann eine gläubige Hoffnung auch niemals durch sogenannte 'Tatsachen' in Frage gestellt werden; sie kann durch eine tatsächliche Erfahrung weder gesichert noch erschüttert werden" (S187f). Hinzu kommt, daß ja ein "Sinn" der Geschichte innerhalb ihrer eigenen (S293) Sphäre nicht gefunden werden kann. Der Mensch kann aber ohne Hoffnung nicht leben. "Bliebe er ohne Hoffnung, de-sperans, er würde in seiner desperaten Lage verzweifeln" (S186). Solcher Verzweiflung kann in besonderem Maße der Mensch der Gegenwart verfallen angesichts der geschichtlichen Katastrophen, welche die vergangenen Jahrzehnte mit sich gebracht haben, und der düsteren Perspektiven, welche sich für die kommenden eröffnen. Glaube und Hoffnung aber "gedeihen beide nur auf den Trümmern allzumenschlicher Hoffnungen und Erwartungen, auf dem fruchtbaren Boden der Verzweiflung an all dem, was Illusion und Täuschungen unterworfen ist" (S188).
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Sowenig die Abrechnung Löwiths mit den bisherigen Geschichtsphilosophien wird angefochten werden können, sowenig befriedigt nun doch das "positive" Fazit, das für ihn aus derselben resultiert.
Fürs erste wird sich dem Menschen der Gegenwart schwerlich plausibel machen lassen, daß sich die Geschichte bloß im Kreise der ewigen Wiederkehr des Gleichen drehe. Denn gerade das, was unsrer Zeit das Gepräge gibt: Naturwissenschaft, Technik, Industrialismus, Weltwirtschaft, die rapide Zunahme der Erdenbevölkerung, das verkehrsmäßige Zusammenschrumpfen des Erdballs auf einen winzigen Bruchteil seiner früheren Ausdehnung, der Beginn der "einheitlichen Menschheitsgeschichte" usw., - sind alles absolute Nova in der Geschichte. Und selbst wenn man für die geschichtliche Phase des menschlichen Daseins, solange sie bisher währte, jede innere Wandlung des menschlichen Wesens bestreiten wollte, so hat gerade das letzte halbe Jahrhundert uns mit einer mindestens doppelt so langen vorgeschichtlichen Phase desselben bekannt gemacht. Obzwar deren Hinterlassenschaften ihn auch schon für damals als "Menschen" im vollen Sinne ausweisen, so nötigen sie uns dennoch - wie in den vorangehenden Kapiteln dieses Buches dargelegt wurde -, im vorgeschichtlichen Menschen das "Menschliche schlechthin" in einem andern "Typus" sich ausprägen zu sehn als im geschichtlichen.
Was aber die Unterscheidung der Sphären des Glaubens und des Wissens betrifft, so mag ihr eine Berechtigung insofern zukommen, als man jene auf die Welt des Göttlichen, diese auf diejenige der Natur bezieht. Der Mensch jedoch gehört beiden Welten an, - die Grenze zwischen ihnen geht mitten durch ihn hindurch. Und trotzdem ist er zugleich ein einheitliches Wesen, - ja er wird erst in dem Maße voller Mensch, als er diese beiden Elemente in sich zur Einheit zu verschmelzen vermag. Man könnte auch sagen: das Ziel seiner Menschwerdung erreicht er erst dann, wenn er durch diese Verschmelzung in sich selbst ein Mittleres, Drittes, herauszubilden imstande ist, das (S294) dann als das spezifisch Menschliche das verbindende Mittelglied zwischen Göttlichem und Natürlichem darstellt. Wir haben von den Grundlagen aus, auf denen die Ausführungen dieses Buches stehen, an früherer Stelle gezeigt, daß die eigentliche Bedeutung des "Christusereignisses" eben darin liegt, daß es diese Vereinigung erst möglich gemacht hat. Aber selbst wenn man von den überlieferten christlichen Glaubensvorstellungen ausgeht, so muß die vorchristliche Menschheit als die durch den Sündenfall in ihrem Wesen korrumpierte erscheinen. Diese Korruption betrifft den Menschen nicht nur als handelnden, sondern auch erkennenden. Wie er als der "gefallene" im Handeln dem "Bösen" unterworfen ist, so als erkennender dem "Irrtum". Er kann also die eigentliche Wahrheit gar nicht erkennen. Sollte dieses Nichtkönnen nicht darin zum Ausdruck kommen, daß ihm die Geschichte so, wie sie sich diesem Erkennen zunächst darbietet, ihren "Sinn" nicht enthüllt? Und weiterhin darin, daß die Wahrheit über den Sinn der Geschichte, nachdem sie ihm durch Christus geoffenbart wurde, zunächst noch den Ergebnissen seines Erkennens zu widersprechen scheint, zum mindestens sich mit diesen nicht zu einem einheitlichen Bilde verschmelzen läßt? Dann aber müßte die innere Hinwendung zu dem bzw. die innere Verbindung mit dem, der die Erlösung von der Erbsünde gebracht hat, zu dem Bemühen führen, die Korruption nicht nur im Handeln, sondern auch im Erkennen zu überwinden, so daß die Wahrheit über den Sinn der Geschichte selbst gefunden werden kann. Dies war jedenfalls das Streben, das die Geister des deutschen Idealismus: Lessing, Schelling, Hegel u.a. beseelt hat.
Darin aber können wir Löwith allerdings recht geben, daß für unser Erkennen, solange wir es nicht wandeln, die Geschichte "einen umfassenden, letzten Sinn" nicht offenbart bzw. "das Problem der Geschichte innerhalb ihres eigenen Bereiches nicht zu lösen ist". Ja es bestätigt diese Feststellung Löwiths sogar in eindrucksvollster Weise, was wir selbst gerade in den unmittelbar vorangehenden Kapiteln darzulegen versucht haben. Wenn wir dennoch geglaubt haben, ihren eigentlichen "Sinn" aufweisen zu können, so haben wir aber auch immer wieder betont, daß diese nur dadurch möglich wurde, daß wir in den Horizont der Betrachtung Vorgeschichte und Urzeit miteinbezogen, d.h. ihn über das mehr als nur geschichtliche Ganze des gesamtirdischen Menschheitswerdens ausdehnten, dabei freilich jene Erweiterung des Begriffes des Menschen vornahmen, zu welcher die auf Vorgeschichte und Urzeit bezüglichen Tatsachen zwar nötigen, welche aber erst vollzogen worden ist durch die Geistesforschung Steiners, und zwar vermittels jener Wandlung des menschlichen Erkennens, welche in der Ausbildung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnismethoden ihren Ausdruck gefunden hat. (S295)
Diese Erweiterung des Menschenbegriffs waren wir bei der Behandlung der "Urzeit" genötigt, bis zu dem Ausmaße durchzuführen, daß wir den Menschen seinem Leibe nach als den Mikrokosmos zu fassen hatten, der nach der einen Seite hin aus demselben Urquell des Werdens hervorgegangen ist, aus dem nach der andern Seite hin der ganze Makrokosmos entstanden ist. Diesen gemeinsamen Urquell bezeichneten wir als den Inbegriff der "universalia ante res", jener schöpferischen Gottesgedanken, durch welche die Welt aus dem Göttlichen heraus ins Dasein gerufen worden ist. Dieses Ganze der "universalia ante res" kann auch als der "Logos" bezeichnet werden, von welchem es im Anfang des Johannesevangeliums heißt, daß er im Urbeginne war, daß er bei Gott war und daß er selbst Gott war sowie daß alles durch ihn entstanden sei. Als der schöpferische Grund des Menschen hat sich der "Logos" in der Urzeit zunächst in der Bildung der (allgemeinen) Menschengestalt geoffenbart, welche die "Welt im Kleinen" darstellt. In der Vorgeschichte hat er sich in der Bildung der menschlichen Sprache manifestiert, welche damals der Menschheit aus der Welt (der "universalia in rebus") noch geistig entgegentönte und aus ihr selbst nur in Gestalt der einheitlich-menschlichen Ursprache als "Echo" widerhallte. In der Geschichte endlich gelangt der "Logos" durch die in ihr erfolgende Intelligenzentwicklung im einzelnen Menschen in der Ausbildung der Begriffswelt (universalia post res) zur Offenbarung, - durch jene Intelligenzentwicklung, welche den Menschen zugleich erst zum "Ich", d,h. zur geistig auf sich selbst gestellten, sich selbst erfassenden Individualität und damit zum Repräsentanten des Menschlichen schlechthin werden läßt. Dies "Grundthema" der Geschichte, das auch als das urbildlich-archetypische Geschehen bezeichnet werden kann, welches in ihrem Gesamtverlauf sich verwirklicht, kommt in ihrer vierten, mittleren Epoche erst voll zum Durchbruch und erfährt - weil es sich hierbei um ein Geschehen handelt, das seinem Wesen nach durch den Einzelmenschen repräsentiert ist - in dieser eine einzigartige, höchste Konzentration in der Gestalt des Jesus von Nazareth, der hierdurch zum paradigmatischen Träger des "Logos" wird, aber doch so, daß er das "Vorbild" darlebt, dem "nachzufolgen" seither das höchste Ziel jedes einzelnen Menschen bildet.
"Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren"
(Angelus Silesius)
So erhält die geschichtliche Phase, wie sie in ihrer vierten, mittleren Epoche, ihrer "Achsenzeit" überhaupt, speziell in der Christuserscheinung ihren Schwerpunkt, ihren "Achsenpunkt".
Und wie durch ihr "Grundthema", ihr urbildlich-archetypisches Geschehen überhaupt, die Geschichte sich sinnvoll an Vorgeschichte und Urzeit (S296) anschließt, d.h. in den Zusammenhang mit den ihr vorangehenden Phasen und damit in das Ganze des irdischen Menschheitswerdens eingliedert, so tut sie es speziell durch dieses ihr Mittelpunktereignis. Insofern kann allerdings zugestanden werden, daß auch diesem Ereignis seiner eigentlichen Bedeutung nach aus einer bloß geschichtlichen Betrachtung heraus nicht verstanden werden kann, sondern nur aus einer solchen heraus, welche das übergeschichtliche Ganze des Menschheitswerdens umfaßt. Eine bloß geschichtliche Betrachtung kann in Jesus nur "den Gründer einer Sekte" erblicken. Der Zusammenhang aber in welchem die Geschichte speziell durch dieses Ereignis mit den ihr vorangehenden Phasen des Menschheitswerdens steht, erweist sich hinsichtlich der Vorgeschichte als dieser, daß in der "Fleischwerdung des Wortes", die in Jesus Christus erfolgte, wie in einer "höheren Oktave" des Werdens sich wiederholt die Geburt des "Wortes" im Menschen überhaupt in Gestalt der "Ursprache". Auf die Beziehung hingegen zur Urzeit ist innerhalb der christlichen Glaubensvorstellungen schon immer dadurch hingedeutet worden, daß die Erlösungstat Christi als das Ausgleichsgeschehen aufgefaßt wurde zum "Sündenfall", der in jener Urzeit stattgefunden hat. In diesem Ausgleichscharakter der Christustat kommt aber noch ein anderes zum Ausdruck, das erst durch den Zeitbegriff verständlich wird, wie er in den vorangehenden Kapiteln entwickelt wurde: nämlich die symmetrische Struktur der Zeit. Gemäß dieser Symmetrie entspricht nämlich die Urzeit als die dritte (lemurische) Phase der Gesamtentwicklung der Geschichte als der fünften (nachatlantischen) derselben in dem Sinne, daß die letztere die Umkehrung der ersteren bildet. Diese Umkehrung bezeugt sich darin, daß dem Sturz in das Böse, den in der Urzeit der "erste Adam" (als die die ganze Menschheit repräsentierende Kollektivpersönlichkeit) erlitten hat, die Überwindung desselben gegenüberstweht durch den "zweiten Adam", in welchem sich die einzelne menschliche Persönlichkeit als solche zum Repräsentanten der Gesamtmenschheit erhoben hat. Und des weiteren darin, daß dem Tod, welchem als "der Sünde Sold" damals die Menschheit verfallen ist, die Besiegung desselben durch die Auferstehung gegenübersteht. Insofern kann als das "Grundthema der Geschichte" auch die "Sündenerhebung" oder die Auferstehung bezeichnet werden. In welcher Art es zur Durchführung gelangt, wird in ausführlicher Art der zweite Band dieses Werkes schildern. Hier soll es lediglich noch von einem Gesichtspunkt aus angedeutet werden, der sich an Ausführungen eines früheren Kapitels anschließt. Zuvor aber ist noch auf das Folgende hinzuweisen:
Wie wir es hinsichtlich der ersten Hauptphase des Menschheitswerdens: der Urzeit (in der engeren und der weiteren Bedeutung dieses Begriffes) als das für ihr Verständnis Entscheidende herauszuarbeiten versucht haben, zu sehen, daß die leibliche Menschengestalt aus dem Ganzen desjenigen (wie aus ihrem (S297) Mutterschoße herausgeboren wird, was auch dem Ganzen der Welt schöpferisch zugrunde liegt, so haben wir es auch bezüglich der zweiten: der Vorgeschichte als das für ihr Verständnis Wesentliche aufzuweisen versucht, zu erfassen, daß die damalige Geburt der Sprache, wenn sie auch eine solche nicht mehr in der leiblichen, sondern in der seelischen Sphäre war, doch ebenfalls aus dem Mutterschoße der Welt selbst erfolgt ist. Der Mensch hat die Sprache aus der Welt empfangen. Ebenso ist es nun wiederum entscheidend für das Verständnis dessen, was im Lauf der Geschichte als die Geburt der Intelligenz bzw. der Begriffswelt im Menschen zustande kommt und in der Menschwerdung des Logos in Jesus seine höchste Konzentration erfährt, sich zu vergegenwärtigen, daß es zwar eine Geburt auf der "geistigen Ebene" ist, jedoch abermals eine aus dem Mutterschoße der Welt heraus erfolgende Geburt. Dies ist es, worauf der Ausdruck "Empfangen vom Heiligen Geiste" hindeutet. Wir haben es, wenn diese Geburt auch auf dem Schauplatze des Innersten des Menschen stattfindet, bei ihr doch ebenso mit einem Vorgang, welcher in der Beziehung zwischen Welt und Mensch sich abspielt, zu tun, wie bei der Entstehung der menschlichen Sprache oder der menschlichen Leibesgestalt. Dies ist zu berücksichtigen, wenn in zureichender Art verstanden werden soll, in welchem Sinne das Christusereignis dem in der Geschichte sich vollziehenden archetypischen Geschehen angehört. Dieses Geschehen spielt sich zwar zwischen Mensch und (geistiger) Welt ab; es erlangt aber in seiner höchsten Konzentration in der Erscheinung Christi den Charakter eines zugleich auch der Sphäre des äußerlich historisch Tatsächlichen angehörenden Vorgangs. Dieses zugleich geistige und im physischen Sinne real-historischer Ereignis wird dann zum Vorbild, dem "nachzufolgen" zur Aufgabe jedes einzelnen Menschen wird. (In der Jungschen Psychologie wird der Christus ebenfalls als der Urarchetypus des Menschen bzw. des menschlichen "Selbst" - als der "Urmensch" - bezeichnet. Es wird aber von ihr - wegen ihrer ausschließlich psychologischen Betrachtungsweise - nicht gesehen, daß die Verwirklichung desselben nicht bloß die zu allen Zeiten dem Menschen sich stellende höchste Forderung bildet, sondern in Jesus Christus eine in der Einheit ihrer "geistig-mystischen" und ihrer historisch-faktischen Bedeutung einmalige Tatsache gewesen ist).
Was nun aber die "Nachfolge Christi" betrifft, so haben wir an das andre zu erinnern, was in den vorangehenden Kapiteln immer wiederum aufzuweisen versucht wurde: daß nämlich das Wesen der geschichtlichen Entwicklung überhaupt erst in der gegenwärtigen, fünften Epoche derselben zu vollständigen Ausprägung gelangt. Das bedeutet, daß das urbildliche Geschehen, das sich im Ganzen der Geschichte in der Menschheit abgespielt und im Christusereignis in einmaliger vorbildlicher Vollkommenheit verwirklicht hat, innerhalb jedes einzelnen Menschen nachgebildet werden soll. Was Jesus Christus (S298) in einmaliger Vollendung war: Repräsentant der Gesamtmenschheit, das soll in unsrer Epoche jeder einzelne zu werden streben. Wie gestaltet sich diese Nachbildung im Konkreten?
Wenn die Geschichte, im Ganzen genommen, die "Umkehrung" der Urzeit darstellt, so kann sie, da die letztere im Hinblick auf die in ihr erfolgte Leibesbildung auch als die Zeit der Inkarnation der Menschheit auf Erden betrachtet werden kann, in Umkehrung derselben als die Phase der Exkarnation betrachtet werden. Wie diese im Ganzen des geschichtlichen Prozesses sich vollzieht, wird im zweiten Bande dieses Werkes zur Darstellung kommen. Es liegt nun auf der Hand, daß zu diesem im Ganzen der Geschichte sich abspielenden Exkarnationsgeschehen im einzelnen Menschenleben in einer besonderen Beziehung stehen muß die zweite Lebenshälfte, in welcher mit der Involution des Leiblichen parallel geht das stufenweise "Freiwerden" des Seelisch-Geistigen, das dann im Tode seinen Abschluß findet. Wir haben in einem früheren Kapitel die einzelnen Etappen dieses Freiwerdens geschildert. Wir haben dabei aber auch hervorgehoben, daß es sich, wenn dieser Prozeß in rechter Weise zustandekommt, dabei nicht um eine bloße Trennung des Seelisch-Geistigen vom Leiblichen handelt, sondern um eine Umwandlung derjenigen Kräfte und Fähigkeiten, welche als leiblich-seelische in den aufeinanderfolgenden Jahrsiebenten des Heranwachsens in "naturhafter" Art sich entfaltet haben, in geistig-seelische Fähigkeiten. Daß dann, wenn diese Umwandlung in zureichendem Maße gelingt, innerhalb einer seelisch-geistigen Altersentwicklung jene höheren Erkenntniskräfte der Imagination, Inspiration und Intuition ausgebildet werden können, welche der anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen Forschung zugrunde liegen. Wir haben aber auch geschildert, wie eine solche Altersentwicklung nur dann erreicht werden kann, wenn in der Lebensmitte der Mensch in vollem Maß als "Ich" sich selbst erfassen und betätigen lernt. Wir wiesen darauf hin, wie diese "Ich-Werdung" dadurch erreicht wird, daß das auf die Vergangenheit bezogene Erkenntniselement und das auf die Zukunft gerichtete Willenselement miteinander verschmolzen werden, und wie sie sich deshalb darin ausprägt, daß der Mensch in vollem Sinne in der Gegenwart bzw. aus der "Geistesgegenwart" heraus zu leben lernt. Wir beschrieben dann weiter, wie es eigentlich dieses Ich ist, das die mit zunehmendem Alter aus den Tiefen des eigenen Wesens, Umwandlung erheischend, wiederaufsteigenden Fähigkeiten des Jugendalters ergreift und verwandelt, - und wie in dieser Verwandlung des Vergangenen, Alten in wahrhaft Zukünftiges, Neues, der Bereich der Gegenwart sich immer weiter ausbreitet, und wie in dieser, Vergangenheit und Zukunft in sich umfassenden und verschmelzenden Gegenwart sich das Element der Ewigkeit im Menschen entfaltet, das ja nichts anderes ist als das Wesen des Ichs selber. Wie in diesem stufenweisen (S299) Sichhineinleben in die Welt der Ewigkeit deshalb das Ich immer höhere Entwicklungsgestalten seines Wesens ausbildet. Aus dieser Schilderung kann aber ersichtlich werden, wie durch diesen Verwandlungsprozeß dasjenige im Menschen, was ohne ihn dem Tode verfiele, diesem entrissen und für die Ewigkeit gewonnen d.h. dem unvergänglichen Wesen des Ichs selbst eingefügt wird. Wir haben es hier in Wahrheit - wie an dieser Stelle nur angedeutet, genauer erst im zweiten Bande geschildert werden kann - mit dem Vorgang der Auferstehung innerhalb des Menschen zu tun. Denn es wird durch diese Transsubstantiation der Fähigkeiten dem menschlichen Ich in der Tat eine "Geist-Leiblichkeit" erbildet, mittels welcher es instand gesetzt wird, seine Unvergänglichkeit auch für sein Bewußtsein zu erringen und ihrer damit in einem höheren Sinne erst teilhaftig zu werden. Denn eine Unvergänglichkeit, von der das sie besitzende Wesen kein Wissen hat, ist eine solche nicht im vollen Sinne.
Nun haben wir aber auch schon geschildert, wie bereits auf einer ersten Stufe einer solchen Altersentwicklung (im Laufe der 40er Jahre) dem Menschen durch sie die innere Symmetrie der Zeit, zunächst im eigenen Lebenslauf, zur Erfahrung werden kann. Dieser verwandelt sich dadurch aus einem bloßen Naturvorgang in einen geschichtsartigen Prozeß. Er nimmt gewissermaßen "geschichtliches" Gepräge an; denn es kommt in seinem Verlaufe immer wieder Neues zur Entfaltung. Dabei offenbart er dieselbe innere zeitliche Struktur wie die Geschichte der Menschheit, - und hier zeigt ich nun noch von einer neuen Seite her, wie in unsrer Zeit der einzelne Mensch zum Repräsentanten der Menschheit werden kann und soll. Er kann es eben auch insofern werden, als sein individueller Lebenslauf in seiner zeitlichen Stufengliederung zum Abbild und Repräsentanten des geschichtlichen Lebenslaufes der Menschheit wird. Eben deshalb vermag er ja auch zu jenem "Okular" zu werden, durch welches hindurchblickend der Mensch die innere Gliederung des Geschichtprozesses wahrnehmen und dadurch zu einer wirklichen Geschichtswissenschaft gelangen kann.
In noch höherem Maße ist dies dann noch auf der nächsten (mit den 50er Jahren beginnenden) Stufe dieser Altersentwicklung der Fall. Denn auf ihr wird die "Leibfreiheit" eine noch größere und dringt dadurch das unvergängliche, durch die Folge der Inkarnationen, d.h. aber zugleich durch die Folge der geschichtlichen Epochen hindurchschreitende Ich immer mehr ins Bewußtsein herauf.
Insbesondere auf dieser Stufe - aber nicht erst auf ihr - wird nun auch zum Inhalt der inneren Erfahrung, daß eine solche höhere Entwicklung dem heutigen Menschen nur deshalb möglich ist, weil der den Menschen zum "Ich" machende "Logos" durch das Ereignis von Golgatha entscheidend in die Menschheit eingezogen ist. Es eröffnet sich gewissermaßen - unabhängig von (S300) allen äußeren Dokumenten - ein geistiger Durchblick auf die wahre, im Vorangehenden angedeutete Bedeutung jenes Ereignisses. Der Mensch findet das, was durch jenes Geschehnis innerhalb der Menschheit geboren worden ist: die "Christuskraft" in sich, und er wird sich dessen bewußt, daß er auf der Bahn der eingeschlagenen Altersentwicklung nur in dem Maße weiterkommen kann, als er in der "Nachfolge Jesu" sich von dieser Christuskraft immer mehr durchdringen läßt.
Mit all dem, was so nur mit blassen Hinweisen angedeutet ist, vollzieht sich aber ein weiteres Entscheidendes im Menschen: nämlich die Umwandlung dessen, was bisher bloßer christlicher Glaubensinhalt war, in Erkenntnisinhalt. Und es wird damit noch in tieferem Sinne verständlich, inwiefern das eigentliche Wesen der geschichtlichen Entwicklung noch nicht in deren mittlerer, vierter, sondern erst in ihrer jetzigen, fünften Epoche zur vollen Ausprägung kommt. Dies ist nämlich insofern der Fall, als das, was ihr zentralstes Geschehen ausmacht (die Tat auf Golgatha), in der vierten Epoche noch nicht verstanden, sondern erst als religiöser Glaubensinhalt ergriffen werden konnte, - in dieser Form aber eben auch das Geheimnis, den Sinn der Geschichte für das erkennende Bewußtsein noch nicht aufzuschließen vermochte. Was Löwith von der Geschichte feststellt, insofern sie dem historischen Betrachter "empirisch" gegeben sei, ist der typische Ausdruck dieses Verschlossenseins ihres Geheimnisses. Mit der Umwandlung der christlichen Glaubens- in Erkenntniswahrheit erst enthüllt sich zugleich auh das Geheimnis, der Sinn der Geschichte.
Und da zeigt sich allerdings, daß das Christentum in der Weltgeschichte doch nicht bloß "gescheitert" ist, sondern sich durchaus zu verwirklichen begonnen hat, - allerdings nicht da, wo man diese Verwirklichung zunächst suchen möchte: in der äußeren Lebensgestaltung, sondern innerlich, in der menschlichen Bewußtseinsgestaltung. Nämlich überall da, wo in neuerer Zeit der Versuch aufgetreten ist, Wesen und Struktur der Geschichte zu durchschauen, auch wenn dieser Versuch zunächst noch mit sehr untauglichen Mitteln und deshalb noch mit sehr unzulänglichem Ergebnis durchgeführt worden ist. Ganz besonders aber da, wo, wie im deutschen Idealismus, durch eine Höherentwicklung der menschlichen Erkenntniskräfte (wie etwa bei Hegel oder besonders bei Schelling) versucht worden ist, den Fortgang der Geschichte gerade als eine stufenweise Entfaltung des Samens zu verstehen, der durch das Golgathaereignis in die Menschheit versenkt worden ist. Insbesondere wird man dann die richtige, prophetische Ahnung nicht verkennen können, die in Worten Schellings wie denen zum Ausdrucke kommt, die sich am Ende seiner "Philosophie der Offenbarung" (36.Vorlesung) finden, wo er von der Zeit des künftigen johanneischen Christentums spricht als derjenigen, in welcher "das Christentum Gegenstand allgemeiner Erkenntnis (S301) geworden, wo es nicht mehr das enge, verschrobene, verkümmerte, verdürftigte der bisherigen dogmatischen Schulen, noch weniger das in armselige, das Licht scheuende Formeln notdürftig eingeschlossene, ebensowenig das zu einem Privatchristentum zugeschnitzelte sein wird, sondern erst wahrhaft öffentliche Religion - nicht als Staatsreligion, nicht als Hochkirche, sondern als Religion des Menschengeschlechts, das in ihm zugleich die höchste Wissenschaft besitzt."
Gewiß, das Unzulängliche des deutschen Idealismus lag darin, daß er die "Verwirklichung" des Christentums noch vollständig innerhalb der Geschichte selbst erwartete oder erhoffte und dadurch eine zu kurze und auch in der Richtung nicht völlig zutreffende Perspektive im Auge hatte. Auch diese Unzulänglichkeit aber korrigiert sich auf dem oben geschilderten Wege einer geistigen Altersentwicklung als einer solchen höherer Erkenntniskräfte. Denn auf ihrer dritten Stufe (etwa von der Mitte der 50er Jahre an), wo die "Leibfreiheit" durch den gekennzeichneten Umwandlungsprozeß ein höchstes Maß erreicht, weitet sich der geistige Blick immer mehr und immer deutlicher über die gesamtirdische Menschheitsentwicklung. Und damit zeigt sich: wie der Urzeit - im engeren Sinne der dritten, lemurischen Epoche - noch zwei andere vorangegangen sind (die polarische und die hyperboräische), in welcher der irdische Inkarnationsprozeß der Menschheit erst seinen Anfang nahm, - so werden auch die Geschichte als der fünften, nachatlantischen Epoche noch zwei weitere, eine sechste und siebente Epoche folgen, in welchen der Prozeß der Exkarnation d.h. aber in Wahrheit der Auferstehung, der Bildung eines Geist-Leibes erst seinen End- und Höhepunkt erreichen wird. In diesem Sinne wird der Keim, der durch Golgatha in das irdische Menschheitswerden versenkt wurde, erst in einer nachgeschichtlichen Epoche zu seiner letzten, höchsten Frucht ausreifen. Diese Frucht aber wird in den Fähigkeiten der menschlichen Iche liegen, welche sich diese auf dem ganzen Entwicklungswege, den sie bis dahin auf der Wanderung durch ihre wiederholten Erdenleben durchlaufen haben, werden erworben haben. Im Innern der einzelnen Menschen wird das Ergebnis der Erdenentwicklung zu finden sein, - nicht im Äußeren, Physischen. Dieses ist als solches der Vergänglichkeit und dem Tode unterworfen und wird ihm dann anheimgefallen sein. Insofern kann der Löwithschen Behauptung durchaus ihr Recht gelassen werden: daß, ihrem äußern Verlauf nach, die Weltgeschichte die Erfahrung eines stetigen Scheiterns ist. Von dieser Behauptung wird aber dasjenige nicht getroffen, was im Vorangehenden über die "Verwirklichung" des Christentums gesagt wurde. Denn was in diesem Scheitern und durch alle äußeren Untergänge hindurch gerettet und für die Ewigkeit errungen werden kann, sind die Kräfte und Fähigkeiten, welche die menschlichen Individualitäten im Hindurchgang durch Leid und Tod, in allem Untergang des Äußern, entwickeln.
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Die nächste Seite beginnt mit dem Zweiten Band des Grundwerkes von Hans Erhard Lauer:
"Geschichte als Stufengang der Menschwerdung"
- Ein Beitrag zu einer Geschichtswissenschaft auf geisteswissenschaftlicher Grundlage"
"Die Wiederverkörperung des Menschen als Lebensgesetz der Geschichte"
1958 - Novalis-Verlag, Freiburg im Breisgau
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