III. Teil
Die Bedeutung von Rudolf Steiners Werk für die Zukunft
1. Entstehung und Entwicklung der Anthroposophie
Nach all dem in diesem Lebensrückblick Dargestellten braucht es wohl kaum noch ausdrücklich ausgesprochen zu werden, daß ich im Werke Rudolf Steiners den fundamentalen, entscheidenden Anstoß erblicken muß, der zu der Bewußtseinsverwandlung gegeben worden ist, auf die für die Zukunft der Menschheit alles ankommt. Ich muß in seinem Wirken darum das Ereignis sehen, das an Bedeutung für die Zukunft alles übertrifft, was sonst an umwälzenden Taten, Leistungen, Entdeckungen, Schöpfungen in unserem Jahrhundert zutage getreten ist. Das Auftreten einer Leistung von solcher Größe erscheint mir überhaupt nur verständlich aus der einzigartigen, über ihr künftiges Sein oder Nichtsein entscheidenden Krise, in welche die Menschheitsentwicklung in unserem Jahrhundert einmündete. Beide lassen sich nur gegenseitig auseinander erklären. In seinem Buche "Mut zur Utopie" (1969) sagt der Heidelberger Kulturphilosoph Georg Picht, daß "die Menschheit ihre Zukunft nur durch einen moralischen und geistigen Durchbruch wird erobern können, für den es in der bisherigen Geschichte kein Vorbild gibt." Es wird da also eine Leistung von nie dagewesenen, mit nichts vergleichbaren Dimensionen gefordert.
Ich bin mir nun freilich bewußt, daß man, wenn man im Anschluß an einen solchen Ausspruch einer bestimmten Leistung diese Bedeutung zuerkennt, als ein Anhänger, ein Gläubiger, ein Sektierer erscheint. Worin hat dies seinen Grund? Zunächst wohl darin, daß, wenn man einen solchen Satz wie denjenigen Pichts niederschreibt, man einen zweiten zwar nicht hinzufügt, aber hinzudenkt, nämlich diesen: daß eine solche Leistung so übermenschlich groß sei, daß sie (S130) schlechterdings nicht von einem Einzelnen, sondern nur von einer Vielheit von Zusammenwirkenden vollbracht werden könne. So verständlich diese Meinung ist, so widerspricht sie doch allen geschichtlichen Tatsachen. Alles Neue, Große ist, auf welchem Gebiete auch immer, stets nur von Einzelnen hervorgebracht worden. Um nur einige wenige Namen zu nennen: in der Religion Buddha, Mohammed, Luther, in der Philosophie Sokrates, Aristoteles, Descartes, Kant, in der Wissenschaft Kopernikus, Galilei, Darwin, Freud, Marx. Hinzu kommt bei Steiner, daß das, was er gebracht hat, gegenüber den heute herrschenden Begriffen und Denkgewohnheiten so radikal neu ist, daß, wer - um mit Christian Morgenstern zu sprechen - "vom Wein dieser Zeit bis oben trunken" ist, für dieses Neue schlechterdings kein Verständnis aufbringen kann. Selbst für geistig Offene verlangt es eine ungeheure denkerische Aktivierung, um sich dieses Verständnis zu erwerben. Es ist darum bezeichnend, daß Steiner in den Jahren um die Jahrhundertwende, die seinem Auftreten als Begründer und Verkünder der Anthroposophie unmittelbar vorangingen, in ernstester Selbstprüfung mit der Beantwortung der Frage rang: "Muß man verstummen?" Seit der Mitte unseres Jahrhunderts kommt nun als weitere Erschwerung der Lage hinzu, daß der Massenmedienbetrieb, der seitdem sintflutartig über uns hereingebrochen ist, uns tagtäglich von früh bis spät in solchem Übermaß mit zusammenhanglosen und wesenlosen Informationen überschwemmt, daß unsere Zeitgenossen immer tiefer in eine seelische Passivität und Abstumpfung versinken. Der eine Teil derselben, der die Haupterrungenschaft der Menschheit in der von ihr erlangten, fast gottähnlichen Macht über die Natur sieht, ist des Glaubens, daß die Rettung nur durch weitere Errungenschaften oder entsprechende Umgestaltung der Technik erreicht werden könne; der andere Teil, der die heutige Krise im Abfall vom religiösen Glauben begründet sieht, meint, daß sie nur durch Rückkehr zu diesem zu überwinden sei. Die erstere Partei kann darum in Steiners Werk nur die Begründung einer sektiererischen Ideologie erblicken, die letztere nur einen überheblich anmaßenden Versuch der "Selbsterlösung". In beiden Beurteilungen kommt in Wahrheit aber nur die Blindheit gegenüber dem (S131) wirklichen Charakter der heutigen Situation zum Ausdruck - sowie das Nichtwissen um das Wesen des Menschen. Dieses zur Erkenntnis seiner selbst zu erwecken: durch die Begründung einer Wissenschaft vom Menschen - darin mußte der Anstoß zur heute geforderten Wandlung zuallernächst bestehen.
Ich habe zu zeigen versucht, daß eine solche Wissenschaft in der Art, wie sie von Steiner inauguriert wurde, erst an diesem Punkte der Menschheitsentwicklung entstehen konnte, aber zugleich auch schlechthin zur Aufgabe der Zukunft werden mußte. Vorangegangen waren ihr - freilich zunächst in den damals möglichen Formen - in alten Zeiten Erkenntnis als Gotteserkenntnis, als Theosophie, in neuerer Zeit als Naturwissenschaft (dazwischen als Übergangserscheinung Erkenntnis als Philosophie, die eine gewisse Menschenerkenntnis - "Erkenne dich selbst!" - brachte). Die erste starb schon früher hin, ging in bloßen Glauben über, zuletzt in bloßes Moralisieren. Die letztere verwandelte sich in unserem Jahrhundert größtenteils in technische Naturbeherrschung im Sinne von Bacons Ausspruch "Wissen ist Macht". Der Mensch erforscht die Natur seither nicht mehr um ihrer selbst willen (und kommt deshalb zu keiner irgendwie gearteten Verbindung mehr mit ihr), sondern nur, um sie technisch zu beherrschen und für militärische oder wirtschaftliche Zwecke zu nutzen. (Man schaue nur einmal darauf hin, wofür die Gelder ausgegeben werden, welche die Staaten zur "Förderung wissenschaftlicher Forschung" zur Verfügung stellen!) Hierfür genügt eine bloße Erfassung ihrer Stoffe und Kräfte nach Maß, Zahl und Gewicht. Alles Qualitative wird aus der Naturforschung ausgeschaltet. Das "Wesen" der Materie bleibt dem Menschen grundsätzlich verschlossen.
Durch eine bloße Weiterentwicklung der Naturwissenschaft wäre daher nicht zu erlangen gewesen und ist auch heute nicht zu erlangen, was die Zeit fordert. Das Äußerste, was auf diesem Wege in positiver Richtung zu erreichen ist, stellt eine "basale Anthropologie" dar, wie sie A. Portmann entwickelt hat (Biologie und Geist, 1956). Für Weitergehendes kommt, sofern man im Bereich der Naturforschung verbleiben will, nur ein Zurück in Betracht zu ihren Anfängen, das heißt: zu ihren Begründern Kepler, Galilei, Newton (S132) u.a., in denen sie aus der ehemaligen Gotteserkenntnis herausgeboren wurde. Das bedeutet heute, sie mit den überlieferten Glaubensbekenntnissen zu einem Bunde wieder zu vereinen, wie es der Psychiater B. Staehelin (Haben und Sein, 1972), die Naturwissenschaftler W. Heitler (Der Mensch und die natuwissenschaftliche Erkenntnis, viele Auflagen), J.Illies (Für eine menschenwürdige Zukunft. Die gemeinsame Verantwortung von Biologie und Theologie, 1972) anstreben. Aber auf diesem Wege wird das nicht gefunden, was die Menschheit heute an Erkenntnissen benötigt.
Erlangt hätten diese auch nicht werden können durch eine bloße Weiterbildung der Psychologie - selbst in ihrer neuesten Form als Tiefenpsychologie. Die Begründung der letzteren, zunächst als Psychoanalyse, wurde provoziert durch die psychischen Erkrankungen (Neurose, Psychose, Schizophrenie), die in neuester Zeit sich epidemisch ausbreiteten. Die verschiedenen Richtungen derselben suchen auf unterschiedlichen Wegen die Diskrepanz zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, die diesen Erkrankungen zugrunde liegt, auszugleichen. Was hierbei C. G. Jung als den Prozeß der Individuation beziehungsweise den Weg zur Bildung des wahren "Selbst" aufgewiesen hat, stellt zwar einen gewissen Anfang zur Bildung einer Mitte des Seelischen dar, führt aber, weil hierbei nur therapeutische Ziele verfolgt werden, nicht zu jener Form der Wandlung, durch die wirklich Neues entstehen könnte.
Ausgegangen werden konnte hierfür nur von der Philosophie, die in früheren Zeiten schon einmal, in anderer Form, Menschenerkenntnis dargestellt hatte, - aber jetzt nurmehr von ihrer neuen Form, die sie, durch den von der Naturwissenschaft ausgegangenen Anstoß, in der neueren Zeit bei Denkern wie Locke, Hume, Kant angenommen hatte und in der sie zur Grundwissenschaft unserer Zeit geworden war: von der Erkenntnistheorie. Ihre Bearbeitung hatte schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt an Intensität erreicht. Sie beinhaltete die Frage nach der Erkenntnis überhaupt. Denn in der Naturwissenschaft ging damals, wie soeben schon erwähnt, Erkenntnis ihrem Ersterben entgegen, das heißt ihrer Umwandlung in bloße technische Unterwerfung der Natur unter die Herrschaft des Menschen. Da durch diesen Prozeß (S133) die Erkenntnislehre zwar zu ihrer Fragestellung herausgefordert, zugleich aber - angesichts der Herrschaftsstellung, welche die Naturwissenschaft erlangt hatte - in ihren Feststellungen bestimmt wurde, trug sie damals agnostischen Charakter: sie leugnete die Möglichkeit eines irgendwie gearteten Sichverbindens des Menschen mit der Natur im Erkenntnisprozeß und bewegte sich dadurch nurmehr im rein Formalen der Erkenntnisbildung. Ihr tonangebender Repräsentant war der Neukantianismus (J. Volkelt, E. Cassirer, Ed. von Hartmann u.a.).
Ihr gegenüber handelte es sich zunächst darum, das Erkenntnisproblem als Frage nach dem Wesen der Erkenntnis überhaupt zu artikulieren, wie es in Steiners erkenntnistheoretischer Grundschrift "Wahrheit und Wissenschaft. Prolegomena zu einer Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst" geschah. Worin aber bestand denn diese Verständigung? Offenbar darin, sich bewußt zu machen, daß das Aufwerfen der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis die Überzeugung zur Voraussetzung hat, daß Erkenntnis - im Sinne eines irgendwie gearteten Sichverbindens mit ihrem Gegenstand - doch möglich sei. Denn es soll ja durch die Beantwortung dieser Frage das Wesen der Erkenntnis erkannt werden! Wäre die bezeichnete Überzeugung nicht vorhanden, so hätte es gar keinen Sinn, diese Frage überhaupt zu stellen - höchstens im Sinne der rein formalen Frage nach seinem Wesen, seiner Bedeutung. Klammert man aber diese Frage aus, weil man Erkenntnis als ein Sichverbinden mit ihrem Gegenstand nicht für möglich hält, dann gibt es auch keine Wahrheit, denn diese ist offensichtlich das Ergebnis eines solchen Sichverbundenhabens. Dann verliert aber alles Ringen und Streiten um die Wahrheit seinen Sinn; denn es gibt dann prinzipiell nur subjektive Meinungen, und es kann sich dann nurmehr um die Frage handeln, welche dieser Meinungen hinsichtlich einer bestimmten Sache die nützlichere, die vorteilhaftere ist. Bekennt man sich aber, wenn auch zunächst nur im Sinne einer Arbeitshypothese, zu der Überzeugung, daß Erkenntnis als Sichverbinden mit einer Sache möglich sei, dann muß man auch Erkenntnis der Erkenntnis für möglich halten und als das (S134) Ziel derselben das Erfassen des Wie dieses Sichverbindens betrachten. Und man muß dann in dem Umstand, daß man die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis stellt, den Ausdruck der Tatsache sehen, daß man in dem Zustand, in dem man dies tut, mit seiner eigenen Erkenntnistätigkeit nicht verbunden ist. Da aber diese Tätigkeit doch die je eigene ist, kann es sich hierbei nur um ein bewußtseinsmäßiges Nichtverbundensein mit dieser handeln. Anders gesagt: um den Tatbestand, daß sich nicht voll bewußt vollzogen wird. Es stellt sich somit als der eigentliche Sinn der erkenntnistheoretischen Fragestellung die Forderung heraus, den Erkenntnisprozeß voll und ganz ins Bewußtsein heraufzuheben.
Für die unmittelbare Beobachtung desselben, soweit sie zunächst möglich ist, zeigt sich, daß er sich aus zwei Elementen zusammensetzt. Darum hat auch schon Kant, der bedeutendste Erkenntnistheoretiker der neueren Zeit, Sinneswahrnehmung und Denken als die zwei Stämme bezeichnet, aus denen alle Erkenntnis erwächst. Durch die Sinneswahrnehmung wird uns der Gegenstand einer Erkenntnis allererst gegeben. Aber sie verbindet uns nicht vollständig, das heißt in seiner Ganzheit, mit ihm. Deshalb bleibt er uns zunächst fremd, rätselhaft. Und darum fordert sie uns dazu heraus, die Verbindung mit ihm durch das Denken zu einer vollständigen, das heißt zu einer seine Totalität umfassenden, zu machen. Der Schwerpunkt der Erkenntnistätigkeit liegt insofern im Denken. Dieses wird aber üblicherweise nicht voll bewußt betätigt; daraus entsteht die Unsicherheit über seine Bedeutung. Die Lösung der erkenntnistheoretischen Frage kann also nur durch die volle Bewußtmachung des Denkens erreicht werden. Wie ist diese zu erlangen? Die Intensität des Denkens muß über den üblichen Grad hinaus dadurch gesteigert werden, daß es stärker mit dem Willen durchdrungen wird. Geschieht dies in genügendem Maße, dann tritt die Denktätigkeit in eine vollbewußte innere Anschauung ein. Sie wird zum Gegenstand einer inneren Erfahrung. Diese läßt aber nicht wie diejenige sinnlicher Erscheinungen einen Teil desselben noch im Verborgenen, sondern enthüllt das Denken in seiner Ganzheit, da es ja unsere eigene Tätigkeit ist. Als diese bringt es mit den von ihm erzeugten Begriffen das Wesen der Erscheinungen, die wir (S135) durch die Sinne wahrnehmen, uns zum Bewußtsein und vervollständigt dadurch unsere Verbindung mit ihnen, ergänzt das durch die Sinne uns Gegebene zur Totalität.
Diese Ergänzung ist aber nur die Wiederherstellung einer Ganzheit, einer Einheit, die an sich schon vorhanden ist, und nur vom Menschen für seine Erfahrung dadurch zerspalten wird, daß er sich durch seine Sinne nur mit ihrer einen Hälfte verbindet. Dadurch verselbständigt er sich gegenüber der Weltwirklichkeit, mit der auch er vor dem Erwachen seiner Erkenntnisfähigkeit und -tätigkeit noch eine Einheit bildete. Indem er durch seine Denktätigkeit jene Einheit wieder herstellt, verbindet er damit auch sich selbst wieder voll mit der Weltwirklichkeit, bewahrt aber zugleich ihr gegenüber seine Selbständigkeit. Dies dokumentiert sich auch darin, daß als Bild der wiederhergestellten Einheit von Wahrnehmungs- und Begriffsinhalt in seiner Seele die Vorstellung des je betreffenden Erkenntnisgegenstandes zurückbleibt.
Damit ist zugleich auf den anderen Aspekt der genannten Verselbständigung hingedeutet: auf das Werden und Wesen der menschlichen Freiheit. Ihm widmete Rudolf Steiner sein philosophisches Hauptwerk "Die Philosophie der Freiheit". Es steht im innigsten Zusammenhang mit dem Problem der Erkenntnis. Nur im Denken ist der Mensch unmittelbar als er selbst tätig und zwar in umso höherem Grade, als er es mit dem Willen durchdringt. Handelt er aus dem denkenden Erkennen heraus, dann handelt er in Freiheit. Dazu ist freilich notwendig, daß er nicht nur Begriffe zu bilden vermag, deren sinnliches Gegenstück bereits vorhanden ist, das heißt Erkenntnisbegriffe, sondern auch solche, zu denen ein entsprechendes erst durch menschliches Handeln hinzugefügt wird: das heißt Tatbegriffe. Auch diese werden zwar durch sinnliche Wahrnehmungen provoziert, aber nicht durch solche von Naturerscheinungen, sondern von Situationen des menschlichen Lebens. Denn da der Mensch nicht nur ein erkennendes, sondern auch ein handelndes Wesen ist, fordert jede Lebenssituation ein bestimmtes willensmäßiges Verhalten von ihm. Vermag er den ihr entsprechenden Tatbegriff zu erbilden, so erlangt er die Möglichkeit, frei zu handeln. Da alle Begriffe den Charakter des Allgemeinen tragen, so (S136) muß der betreffende Tatbegriff durch die Fähigkeit moralischer Phantasie erst soweit spezialisiert werden, daß seine Verwirklichung der Situation, um die es dabei geht, genau entspricht. Wie der Mensch durch seine Erkenntnisbegriffe mit der Weltwirklichkeit sich voll wiederverbindet, so verbindet er sich durch seine Tatbegriffe und damit durch sein freies Handeln mit seinen Mitmenschen, sofern diese ebenfalls frei handelnde sind. Denn die Welt, aus der die Begriffe geschöpft werden, erweist sich als eine und dieselbe für alle Menschen. Wahre Freiheit trennt deshalb nicht die Menschen voneinander, sondern vereinigt sie zur Gemeinschaft. Mit dieser Klärung des Wesens von Erkenntnis und Freiheit, welche zu den Grundmerkmalen des Menschen gehören, war im Keime schon eine neue Lehre vom Wesen und der Weltstellung des Menschen veranlagt. Damit wird noch von einer neuen Seite her verständlich, warum die notwendig gewordene Wandlung nicht durch bloße Weiterentwicklung der Naturwissenschaft hätte zustandekommen können. Es ging von Anfang an um den Menschen und um die Entwicklung einer Erkenntnismethode, die seinem spezifischen Wesen angemessen ist.
Damit tritt auch die Bedeutung ins volle Licht, die der Beziehung Rudolf Steiners zur Naturforschung Goethes zukommt. Die könnte zur Meinung Anlaß geben, daß doch durch eine Weiterentwicklung der Naturwissenschaft jene Menschenerkenntnis entstanden sei, welche zur Forderung unseres Jahrhunderts geworden war - hat doch Steiner seine Anthroposophie vielfach als eine Weiterbildung der Goetheschen Naturwissenschaft bezeichnet und ihrer zentralen Pflegestätte den Namen "Goetheanum" gegeben! In Wahrheit bestätigt aber diese Beziehung gerade die Gültigkeit dessen, was im Vorangehenden ausgeführt wurde. Denn worin bestand der Inhalt jener ausführlichen Abhandlungen, mit denen Steiner alle fünf Bände der Neuausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften einleitete, die er in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts publizierte? In einer fortschreitenden erkenntnistheoretisch-methodologischen Begründung und Rechtfertigung von Goethes Naturforschung, deren hauptsächliche Punkte er schon in der 1886 erschienenen Separatschrift (S137) "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" zusammengefaßt hatte. In der Hinzufügung also einer ihr entsprechenden Erkenntnistheorie zu Goethes Naturforschung, die Goethe selbst noch nicht hatte liefern können. Und warum erfolgte diese Hinzufügung? Weil die Naturforschung Goethes von der an den wissenschaftlichen Hochschulen zur Herrschaft gelangten Naturwissenschaft durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch immer entschiedener als wissenschaftlicher Dilettantismus abgelehnt worden war und darum ohne diese ihre erkenntnistheoretische Begründung endgültig erledigt gewesen wäre. Hatte es doch der Physiologe Dubois-Reymond um die Jahrhundertwende noch für notwendig gehalten, diese Erledigung in einem Vortrag "Goethe und kein Ende" zu einer definitiven zu machen! So wurde diese Erkenntnistheorie einerseits zu einer Rechtfertigung Goethes, andererseits zugleich zum Hinweis auf das erkenntnismäßige Fiasko der herrschenden Form der Naturwissenschaft. Außerdem konnte die Goethesche Naturwissenschaft erst dadurch, daß sie durch die ihr entsprechende Erkenntnistheorie ergänzt wurde, jene Fortbildung erfahren, die dann in die Begründung der Anthroposophie einmündete.
Denn was kennzeichnet sie, wie sie durch Goethe selbst betrieben worden war? Sie war das Produkt einer höchst eigen-, ja einzigartigen Verbindung zwischen einem entschiedenen Darleben des modernen, gegen Gott und Natur autonom gewordenen Menschentums und einem mächtigen Nachwirken einer Seelenverfassung früherer Zeiten (der klassischen Antike). In der Zentralgestalt seiner größten Dichtung: des Fausdramas, hat diese Verbindung ihr dichterisches Abbild gefunden. Im ersten Teil derselben erscheint Faus als der Prototyp des modernen Menschen und Naturforschers, der durch den Agnostizismus der herrschenden Wissenschaft (- "und sehe, daß wir nichts wissen können" -) in Verzweiflung versinkt, die sich bis zu einem Selbstmordversuch steigert - im zweiten Teil wird er durch Mephistos Zaubermantel zur klassischen Walpurgisnacht auf den pharsalischen Feldern entführt und feiert anschließend eine mystische Vermählung mit Helena, der Reprästentantin der altgriechischen Kultur, deren Träger noch (S138) mit der Inauguration der neuen Bewegungskunst der Eurythmie. Denn in allem künstlerischen Schaffen spielen Geistiges und Sinnliches gleichwertige Rollen. Seit 1917 erreichte diese Phase dann ihre Kulmination mit der Begründung der Lehre von der physiologischen Dreigliederung des menschlichen Leibes und mit dem Wirken für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Damit war zugleich die Bahn gebrochen für die Geburt der verschiedenen "Tochterbewegungen" der Anthroposophie: auf dem Gebiete der Pädagogik, der Heilpädagogik, der Naturwissenschaft, der Medizin, der Pharmakologie, der Landwirtschaft, der Soziologie, die sich seitdem Jahr für Jahr vermehrten - jener Bewegungen, durch welche in den verschiedensten Bereichen der Lebenspraxis der anthroposophische Impuls verwirklicht werden und seine Fruchtbarkeit sich erweisen konnte. Auf allen diesen Gebieten erwuchs die praktische Tätigkeit aus initiierenden Wegweisungen und grundlegenden Leistungen Steiners, die jeweils bis in die konkreten Einzelheiten der Verwirklichung der betreffenden Impulse hineingingen. Seine Krönung sollte Rudolf Steiners Wirken durch die zu Weihnachten 1923 erfolgte Neubegründung der Gesellschaft als Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft erfahren. Ihr war die Begründung einer Reihe von nationalen anthroposophischen Gesellschaften in verschiedenen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg vorausgegangen. Gleichzeitig damit wurde gleichsam als Herzorgan derselben die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum eröffnet. Die Wirksamkeit Steiners innerhalb beider Institutionen bestand in einer letzten, konzentriertesten Darstellung des Wesens der Anthroposophie: als Schulungsweg und als Lehre vom Menschen, sowie in der eingehendsten Ausarbeitung dessen, was als Erkenntnis von Reinkarnation und Karma in gewisser Weise im Mittelpunkt der neuen Lehre vom Menschen steht - einer Ausarbeitung, die bis in die Enthüllung der Reinkarnationszusammenhänge einer großen Zahl historischer Persönlichkeiten sich konkretisierte. Indem Rudolf Steiner diese gipfeln ließ in Hindeutungen auf so geartete Zusammenhänge, die sich auf die anthroposophische Bewegung und ihre Träger beziehen, sollte diesen die Möglichkeit gegeben werden, aus tiefster, auch ihre karmischen (S141) Beziehungen betreffender Selbsterkenntnis heraus und damit in eigenster Verantwortung die Bewegung weiterzuführen. Nurmehr neun Monate war es ihm vergönnt, diese Gipfelleistung in vollem Umfang durchzustehen, in wesentlich reduziertem Maß vermochte er sie dann noch während eines halbjährigen Krankenlagers zu Ende zu führen.