Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Rudolf Steiners Leben und Lehre,

wie sie einander gegenseitig beleuchten


   Überschauen wir die Erscheinung Rudolf Steiners im ganzen, so steht er vor unserm geistigen Blicke als die Persönlichkeit da, die in dem weltgeschichtlichen Zeitpunkt, da die Entwicklung des zuerst gegenüber der äußern Natur erwachten und zunächst in Gestalt der Natur-Wissenschaft ausgebildeten modernen wissenschaftlichen Erkennens die Reife hiefür erlangt hatte, diese wissenschaftliche Erkenntnisbetätigung von ihrer bis dahin ausschließlichen Verbindung mit der sinnlichen Erfahrung losgelöst, in den Bereich des Menschlich-Seelisch-Geistigen heraufgehoben und dadurch die Wissenschaft vom Menschen begründet hat als eine weitere, gegenüber der Natur-Wissenschaft durchaus neue Ausprägung der wissenschaftlichen Erkenntnisentwicklung. Und zwar ist diese Wissenschaft vom Menschen von ihm ja nicht etwa bloß in den ersten Anfängen entwickelt, sondern sogleich auch nach den verschiedensten Richtungen, welche die Natur ihres Gegenstandes ihrer Ausgestaltung vorzeichnete, in der umfassendsten Weise ausgebaut worden.


   Diese eine neue Epoche der menschlichen Geistesentwicklung eröffnende Leistung konnte - wenn wir sie jetzt nicht so sehr von der wissenschaftlich-methodischen als von der menschlich-individuellen Seite her betrachten - nur von einem Menschen vollbracht werden, in welchem das Wesen der "Mensch-heit" selber in einem ganz außergewöhnlichen Masse lebendig war. Denn wie Fichte einmal gesagt hat: "Was für eine Philosophie man hat, das hängt davon ab, was für ein Mensch man ist", so kann man ja durchaus auch sagen: "Man kann nur das als Philosophie, als Wissenschaft hervorbringen, was man als Mensch gleichsam selber ist." In der Tat kann ja auch das Auftreten Rudolf Steiners, wenn man es (S81) weniger von  der Seite des Werkes, der Leistung her, wie des eingangs geschehen ist, als von der andern, der Seite des Menschen her charakterisieren will, wohl nicht anders und nicht besser gekennzeichnet werden denn als die reinste, vollkommenste, umfassendste Verkörperung des Menschen-Wesens, die wenigstens in der europäischen Geschichte bisher in Erscheinung getreten ist. Man könnte dies auf die mannigfaltigste Weise, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus zeigen. Aufgabe der folgenden Zeilen soll es nun sein, es nach einer Richtung hin zu tun.


   Eine der grundlegendsten, wichtigsten Einsichten in das Wesen des Menschen, die Rudolf Steiner durch seine "Anthropo-Sophie" zutage gefördert hat, bildet die Erkenntnis der verschiedenen Wesensglieder, aus denen die Gesamtorganisation des Menschen sich aufbaut. Man findet diese Gliederung fast allen seinen Darstellungen als Grundlage oder Einleitung vorangestellt, besonders ausführlich jedoch dargelegt in seinen beiden anthroposophischen Hauptwerken "Theosophie" und "Geheimwissenschaft". Auf diese beiden Schriften sei daher bezüglich der Begründung dieser Gliederung hier zugleich verwiesen. Auch mit dieser grundlegenden und wichtigsten Erkenntnis verhält es sich nun aber ebenso wie mit allen anderen Ergebnissen der Anthroposophie: dass sie nur von dem Menschen gefunden und ausgestaltet werden konnte, in welchem das Menschenwesen gerade auch in dieser Beziehung in besonders charakteristischer, vorbildlicher Ausprägung sich darlebte. Tatsächlich war dies auch in Rudolf Steiners Lebensentwicklung in so markanter Weise der Fall wie bei keiner zweiten Persönlichkeit der neueren Menschheitsgeschichte.  Damit verständlich werde, wie dies gemeint ist, muss bemerkt werden, dass die einzelnen Wesensglieder des Menschen ebenso, wie sie im Laufe der gesamtmenschheitlichen Entwicklung nacheinander in der Menschheit zur Entfaltung kommen, - im Sinne des biogenetischen Grundgesetzes - auch in jedem einzelnen Menschenleben zum Teil rekapitulierend, zum Teil vorausnehmend im Laufe der verschiedenen Lebensalter ausgebildet (S82) werden. Und zwar erfolgt die Entwicklung eines jeden Wesensgliedes im einzelnen Menschenleben während eines Zeitraums von ungefähr sieben Jahren. Diese individuelle Entwicklung seiner verschiedenen Wesensglieder geschah nun, wie bereits angedeutet, im Lebensgange Rudolf Steiners in solcher Vollkommenheit und gleichmäßig deutlicher Ausprägung, dass man ebensosehr den Sinn speziell dieser seiner Lehre von der menschlichen Wesensgliederung an nichts klarer machen kann als gerade an seinem eigenen Lebensgang, wie umgekehrt zu einem tieferen Verständnis der einzelnen Etappen seines Entwicklungsganges und seines Wirkens nur durch Zugrundelegung seiner eigenen Lehre von der Wesensgliederung des Menschen zu kommen vermag. Beides soll im Folgenden, freilich nur mehr oder weniger andeutungsweise, gleichzeitig versucht werden. Um Missverständnissen vorzubeugen, möge jedoch bemerkt werden, dass damit nicht etwa eine psychologische Zergliederung beabsichtigt ist. Eine solche empfindet man ja mit Recht immer als etwas seelisch Verletzendes; denn sie ertötet im Grunde ihr Objekt immer in gewissem Sinne für die Betrachtung. Was hier versucht werde soll, ist vielmehr dieses: einer lebendigen menschlichen Entwicklung in ihren einzelnen Etappen insoweit betrachtend nachzugehen, als diese einerseits aus dem Wachstum des betreffenden Lebenswerkes, andrerseits auf Grund einer Lehre von der menschlichen Wesensentwicklung erschlossen werden können.


   In den ersten sieben Lebensjahren des Menschen kommt nach der Lehre Steiners zunächst vorzugsweise der physische Körper zur Entwicklung. Erst wenn dessen Ausgestaltung einen gewissen Abschluss erreicht hat (wofür das Herausbilden der zweiten Zähne um das siebente Jahr herum nur das äußerliche Symptom ist), gelangt dann das zweite Glied der menschlichen Wesenheit, der ätherische Leib, zu derjenigen Wirksamkeit, die er dann das weitere Leben hindurch als die für ihn charakteristische ausübt: einerseits die weiteren Wachstumsvorgänge und Lebensfunktionen des physischen Leibes zu bewirken, andrerseits in einer gewissen (S83) Selbständigkeit diesem gegenüber als Vorstellungs-, Phantasie und Gedächtniskraft sich zu betätigen. Schon bei diesem ersten Entwicklungsübergang zeigte sich das Besondere an Rudolf Steiners Veranlagung, durch das seine ganze weitere Entwicklung zu der angedeuteten so außergewöhnlich markanten Ausbildung ihrer einzelnen Stufen gleichsam herausgefordert wurde, und durch das er ja dann schliesslich zum Begründer der Anthroposophie geworden ist: Es wurde nämlich bei ihm in diesem Zeitpunkt das Ätherische in einem so hohen Grade selbständig gegenüber dem physischen Leibe, dass dasjenige, was in diesem Alter als Kraft der Vorstellung, der Phantasie, des Gedächtnisses erwacht, bei ihm mit dem Charakter eines übersinnlichen Erlebens auftrat. Zwar wurde dieses übersinnliche Erleben durch ein bestimmtes Schicksalsereignis zuerst in ihm wachgerufen; aber es ist eben bedeutsam, dass ihn dieses Ereignis gerade im Alter des Zahnwechsels traf. Durch das in diesem Zeitpunkt naturgemäße Selbständigerwerden des ätherischen gegenüber dem physischen Leibe konnte die starke Lockerung des ersteren leichter zustandegebracht werden, die das Ereignis in ihm bewirkte und durch die es das übersinnliche Erleben in ihm auslöste. Dadurch aber erlebte der Knabe nun seine Vorstellungswelt so, dass neben demjenigen Element derselben, das ihm durch die Sinneswahrnehmungen zukam, für ihn ein zweites Element stand, das er als eine auf nicht sinnlichem, sondern rein übersinnlichem Wege in seine Seele hereinkommende Offenbarung einer geistigen Welt ansehen musste. Und charakteristisch für diese zweite Epoche der menschlichen Entwicklung ist die Frage, die zu beantworten er sich durch dieses Erleben zunächst aufgegeben fühlte, - die Frage: Kann die Meinung erlaubt und gerechtfertigt werden, dass es außer der sinnlichen Erfahrung noch eine zweite, nicht-sinnliche Quelle unserer Erkenntnis gibt? Und wir wissen ja aus seiner Selbstbiographie, wie sich ihm auf die so gestellte Frage auch eine bejahende Antwort ergab durch das Kennenlernen der Geometrie. Denn in dieser trat ihm eine Erkenntnis entgegen, die nicht durch sinnliches, sondern (S84) ausschließlich durch ein inneres geistiges Anschauen gewonnen wird und doch als eine "erlaubte", "berechtigte" gilt. Es erzeugte dies in ihm das Gefühl, "so wie Geometrie müsse man das Wissen von der geistigen Welt in sich tragen" (Lebensgang S.11).


   Aber diese Antwort genügte ihm gegenüber demjenigen nicht mehr, was er nun als neues Rätsel empfand, als er mit dem 14., 15. Lebensjahr in die dritte Epoche der menschlichen Entwicklung eintrat, - in diejenige, während welcher der Astralleib zur eigentlichen Entfaltung kommt. Diese vorzugsweise Entfaltung des Astralischen oder Seelischen setzt ein, wenn mit der Ausbildung der Pubertät auch die Entwicklung des Ätherischen einen gewissen Abschluss erreicht hat, und sie kommt vornehmlich zum Ausdruck in der um diese Zeit eintretenden Verinnerlichung des Seelenlebens, in der erst jetzt erfolgenden Ausgestaltung des seelischen Erlebens zu einer eigentlichen Innenwelt, zu einer inneren Welt. Für Rudolf Steiner machte sich diese Veränderung dadurch geltend, dass er sein übersinnliches Erleben nicht mehr so sehr der äußeren Sinneserfahrung als vielmehr jetzt seinem eigenen inneren Seelenerleben und namentlich dem im Mittelpunkte desselben stehenden Denken gegenübergestellt sah und vor diesem zu rechtfertigen hatte. Wie verhält sich das übersinnliche Erleben zu dem an die äußere Sinneserfahrung sich anschließenden seelischen Erleben und Denken des Menschen? Das war die neue Frage, die er jetzt zu beantworten hatte. Und sie trieb ihn nun zur Untersuchung der Natur des Denkens, - ja, man darf vielleicht allgemeiner sagen: - der Natur des inneren menschlichen Seelenerlebens überhaupt in seinem Verhältnis und seiner Bedeutung gegenüber der äußeren Sinneswelt. Es wurde diese Zeit dadurch die eigentlich philosophische, oder noch genauer ausgedrückt: die erkenntnistheoretische Epoche seiner Entwicklung. Denn die Aufgabe der Erkenntnistheorie liegt ja genau in der Lösung des eben formulierten Problems. Die Antwort aber, die er auf diese Frage fand, war die: dass dasjenige, was in der menschlichen Seele, wenn diese der sinnlichen Aussenwelt (S85) gegenübertritt, entsteht an inneren Erlebnissen, namentlich an Begriffen, nicht eine bloss abbildende oder vereinfachende Wiederholung dieser Aussenwelt ist, sondern die Offenbarung von deren innerem Wesen, das in ihrer bloß sinnlichen Anschauung noch nicht enthalten ist. So dass man also sagen kann: Der Mensch verbindet sich im Erkennen von zwei Seiten her mit der vollen Wirklichkeit; von außen, durch die sinnliche Wahrnehmung kommt ihm deren eine Hälfte zu; die andere aber von  innen, durch seine denkende, erlebende Seelentätigkeit. Damit aber hatte Steiner das gewöhnliche menschliche Seelenleben in seiner Bedeutung gegenüber der äußeren Sinneswelt in einer solchen Weise begriffen, dass sich dadurch auch die Frage nach seinem Verhältnis zu dem übersinnlichen Erleben beantworten ließ: es ist, was durch das letztere geschieht, nur in einer höheren, reineren, inhaltsreicheren Art dasselbe wie das, was, in einer ärmeren, schattenhafteren Weise, schon durch die gewöhnliche Seelentätigkeit zustande kommt: das Erscheinen des inneren Wesens der Welt auf dem Schauplatze der menschlichen Seele.


   Aber auch von dieser Problemstellung musste Steiner wiederum zu einer weiteren fortschreiten, als er im Beginne seiner zwanziger Jahre in die vierte Epoche der menschlichen Entwicklung eintrat, - in diejenige, welche nun erst den Mittelpunkt des menschlichen Wesens, das Ich, zur vollen "Geburt" bringt. Dieses Ich ist zwar, wie auch die andern, bereits genannten Wesensglieder, durchaus schon von der physischen Geburt an im Menschen da; aber zur vollen Ausbildung der ihm eigenen Kräfte kommt es, wie diese, dennoch erst im Verlaufe des Lebens. In ihm, dem eigentlichen Wesenskern des Menschen, haben wir dasjenige, was nach der anthroposophischen Lehre durch die wiederholten Erdenleben hindurchgeht. In ihm liegen auch alle schöpferischen Kräfte des Menschen. Denn er ist wesensverwandt mit den göttlichen Schöpfermächten, die die Welt hervorgebracht haben, wenn er  sich auch zu diesen gleichsam nur wie ein Tropfen zum Meere verhält. Von ihm geht daher auch aller Fortschritt, jede Entwicklung aus; (S86) er ist es, der dem Dasein der Menschheit den Charakter der Geschichte verleiht.


   Nachdem in Rudolf Steiner um sein 21. Lebensjahr herum dieses Ich voll erwacht war, konnte er die Frage nach dem Verhältnis des übersinnlichen Erlebens zu dem gewöhnlichen menschlichen Seelenleben, zu dem Denken, nicht mehr in der Art stellen, wie er es vor diesem Zeitpunkte getan hatte: so dass die beiden einfach in der Weise nebeneinanderstehend erschienen, dass das erstere gewissermaßen als die höhere Form, die Fortsetzung des letzteren sich darstellte. Sondern er musste die Frage jetzt noch innerlicher stellen: Wie verhält sich das übersinnliche Erleben zu dem, was in dem gewöhnlichen Erleben und Denken als des Menschen schöpferische Kraft wirksam ist? Wie kann dieses schöpferische Wirkende im Menschen von dem gewöhnlichen Seelenleben zu dem übersinnlichen, rein geistigen Erleben übergehen? Und auf diese Frage endlich errang er sich die Antwort: Dadurch, dass der Mensch seine gewöhnliche Seelentätigkeit, seine Denktätigkeit nicht nur eben ausführt, sondern zugleich als Tätigkeit innerlich erlebt. Oder, wie sich Steiner selbst ausdrückt: dadurch, dass man dazu kommt, "nicht nur solche Gedanken zu haben, die äußere Dinge und Vorgänge abbilden, sondern solche, die man als Gedanken selbst erlebt. Dieses Leben in Gedanken offenbarte sich mir als ein ganz anderes als das ist, in dem man das gewöhnliche Dasein und auch die gewöhnliche wissenschaftliche Forschung verbringt. Geht man immer weiter in dem Gedanken-Erleben, so  findet man, dass diesem Erleben die geistige Wirklichkeit entgegenkommt. Man nimmt den Seelenweg zum Geiste hin. Aber man gelangt auf diesem innern Seelenwege zu einer geistigen Wirklichkeit, die man dann auch im Innern der Natur wiederfindet. Man erringt eine tiefere Naturerkenntnis, indem man sich der Natur dann gegenüberstellt, wenn man im lebendigen Gedanken die Wirklichkeit des Geistes geschaut hat." (Lebensgang S46).


   Mit dieser nach Steiners eigenem Zeugnis etwa in seinem (S87) 22. Lebensjahre von ihm errungenen Erkenntnis hatte seine Entwicklung zunächst einen Höhepunkt erreicht. Es war, wie wir anzudeuten versucht haben, bis dahin in drei Etappen ein Zusammenschluß des übersinnlichen Erlebens mit der sinnlichen Erfahrung bzw. dem an diese sich anschließenden gewöhnlichen Seelenleben erreicht: zunächst war ihrer beider Berechtigung erwiesen, dann ihr Verhältnis zueinander bestimmt und endlich die Brücke geschlagen worden, auf der von dem einen zum andern hinübergeschritten werden kann. Und damit war im Grunde schon das Urfundament gezimmert, auf dem die ganze spätere Anthroposophie ruht.Wir haben daher hiermit einen Punkt in Rudolf Steiners Entwicklung erreicht, dem an Wichtigkeit nur noch ein zweiter in seinem Leben gleichkommt, - jener nämlich - wir werden ihn später zu charakterisieren haben, - den Steiner in seiner weiteren Entwicklung dann um sein 42. Jahr herum, also etwa im Jahre 1903 erreichte, und der ja zum Ausgangspunkt für sein öffentliches Hervortreten als Geistesforscher geworden ist. Will man die Entstehung und die Entwicklung der Anthroposophie begreifen, so muss man daher als auf die beiden wichtigsten Marksteine an diesem Wege auf die geistigen Errungenschaften hinblicken, die etwa in das 21. und in das 42. Lebensjahr Rudolf Steiners fallen.


   Alles, was Steiner zwischen seinem 21. und 42. Lebensjahre geschaffen hat, geht zurück auf die oben charakterisierte Grundeinsicht, die ihm etwa in seinem 22. Jahr aufgegangen war. Damit aber kommen wir auf die andre Seite derselben zu sprechen. Ebenso nämlich, wie sie für Steiners vorangehende Entwicklung den abschließenden Höhepunkt bildete, so wurde sie nun zum Ausgangspunkt für eine weitere Entwicklung, - eine Entwicklung, die man aber in ihren charakteristischen Stufen nur verstehen kann, wenn man die weitere Fortsetzung der Wesensgliederung des Menschen nach Steiners Lehre zu Hilfe kommt. Das Ich, der innerste Wesenskern des Menschen, kommt, so sagten wir, erst ungefähr vom 21. Jahre an innerhalb der irdischen Leiblichkeit (S88) voll zur Geburt. Die Entwicklung aber, die es von diesem Zeitpunkt an durchmacht, verläuft zunächst in drei Epochen von jeweils wieder ungefähr sieben Jahren.. Und zwar vollzieht sie sich in diesem Rhythmus von dreimal sieben Jahren aus dem Grunde, weil sie ihrem innern Wesen nach darin besteht, dass das Ich nun von innen her die dreifache Leiblichkeit: die astralische, die ätherische, die physische der Reihe nach durcharbeitet, mit seinem eigenen Wesen durchdringt und dadurch sich selbst mit immer neuen Kräften erlebt. Empfindungsseele nennt Rudolf Steiner diejenige Art des seelischen Erlebens, die zunächst bis etwa zum 28. Lebensjahr durch eine gewisse Umwandlung des Astralischen entsteht, - Verstandesseele diejenige, die bis etwa zum 35. Jahr durch das Sicheinleben des Ichs in das Ätherische sich entfaltet, - Bewusstseinsseele endlich jene, die bis etwa zum 42. Lebensjahr entwickelt wird durch das Untertauchen des Ichs bis ganz in die physische Körperlichkeit hinein. So schließt sich also an die erste Dreiheit von siebenjährigen Entwicklungsepochen, die bis zum vollständigen körperlichen Erwachsensein dauert, eine zweite an, die durch die stufenweise innere Durchdringung der menschlichen "Hüllen" durch den Ich-Kern gekennzeichnet ist.


   Dieser innern Entwicklungsgesetzmässigkeit des menschlichen Lebens entsprechend stellt sich nun die geistige Entwicklung Rudolf Steiners von etwa seinem 21. Lebensjahre an dar als ein  immer tieferes Hinuntertragen dessen, was er kraft des in ihm erwachten Ichs errungen hatte, durch alle Schichten seiner Organisation. Mit allen Kräften, die das Ich durch die fortschreitende Durchdringung der dreifachen Leiblichkeit ausbildet, durchlebt er das, was er als eine Brücke der Entwicklung vom sinnlichen zum übersinnlichen Erleben zunächst geschlagen hat. Dadurch wird, was zuerst gleichsam ein schmaler Pfad war, zum Weg und endlich zur breiten Strasse ausgearbeitet. Und zwar vollzieht sich dieses immer tiefere, immer vollmenschlichere Durchleben des Aufstiegs von sinnlichem zu übersinnlichem Erleben entsprechend den drei angedeuteten Stufen der (S89) menschlichen Wesensentwicklung in drei deutlich voneinander unterschiedenen Etappen.


   Während der ersten, die also ungefähr von Steiners 21. bis 28. Lebensjahr oder von 1882 bis 1889 dauert, und in deren Mitte das für sie charakteristische Werk "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" entstanden ist, wird das oben charakterisierte Erleben der eigenen erkennenden Seelentätigkeit als ein Wahrnehmen, Beobachten, Erfahren (im erkenntnistheoretischen Sinne des Wortes) des Denkens bezeichnet. Es wird dieser Akt also vom Gesichtspunkt des Astralischen, aus dem ja die für dieses Lebensalter repräsentativen Kräfte der Empfindungsseele herausgebildet werden, geschildert. Denn im Astralischen bzw. in der Empfindungsseele wird die Welt für uns zur Wahrnehmung, zur Erfahrung, zum Erlebnis. Durch diesen Gesichtspunkt der Schilderung kann nun hier besonders die Bedeutung dieses Aktes für die Erkenntnistheorie gezeigt werden, - wie es in dem genannten Buche geschieht. Denn alles, was Gegenstand unsrer Erkenntnis werden soll, muss uns zunächst als Erfahrung gegeben werden. Soll nun, wie es die Erkenntnistheorie zur Aufgabe hat. der Erkenntnisprozess selber erforscht werden, so muss er uns zunächst Erfahrung werden. Dies geschieht aber eben in dem charakterisierten Akt. Was aber diese Erfahrung lehrt, das ist - so zeigt dieses Buch weiter - dieses: dass der Mensch im Denken gleichsam die Augen des Geistes aufschlägt und nun "sieht" und "unterscheidet", was das ist, das er durch seine Sinneswahrnehmung erst gleichsam blind betastet hat, oder mit anderen Worten dass das, was wir durch das Denken zur Wahrnehmung hinzugewinnen, ein Element der Wirklichkeit selbst ist.


   Während der zweiten Epoche, dem Lebensalter der Verstandesseele (28.-35. Lebensjahr oder 1889-1896), aus welcher die beiden Werke "Wahrheit und Wissenschaft" und "Die Philosophie der Freiheit" stammen, wird dann das Erfassen der eigenen Denktätigkeit von einem anderen Aspekt aus (S90) geschildert. Es wird jetzt der Umstand betont, dass in diesem Akt die Erkenntnistätigkeit völlig in sich selbst webt. Denn die Tätigkeit, die da auf das Denken gerichtet wird, ist ja durchaus dieselbe wie die, welche im Denker selber entfaltet wird. Steiner nennt daher diesen Akt jetzt auch das Denken des Denkens oder das reine Denken, weil diese Tätigkeit sich in ihm mit nichts außer ihm Seienden verbindet, sondern nur mit sich selbst. Dadurch aber gewinnt er jetzt die Möglichkeit, zu zeigen, welche Bedeutung dieser Akt für die Begründung einer Weltanschauung überhaupt hat. Eine jede Weltanschauung besteht ja in einer Summe von Begriffen. Begriffe aber entstehen durch Denken. Man steht daher mit einer Weltanschauung solange auf keinem sichern Boden, als man sich nicht über Wesen und Wert des Denkens klar geworden ist. Dies ist aber nicht anders möglich als dadurch, dass das Denken zunächst sich selber erfasst. Eben dies geschieht aber in dem Akte des "reinen Denkens". Von ihm muss daher jede Weltanschauung ihren Ausgang nehmen, die auf einem festen Grund stehen will. In der "Philosophie der Freiheit" werden in diesem Sinne die "Grundzüge einer modernen Weltanschauung" entwickelt. Es wird in ihr gezeigt, wie im reinen Denken die Welt der Begriffe als eine solche erfasst wird, die völlig in sich selbst ruht und in dem Masse, als wir sie uns denkend erarbeiten, unsre Erkenntnisbedürfnisse befriedigt. Wie es sich daher für ein sich selbst verstehendes Erkennen nicht darum handeln kann, ein unerkennbares "An sich" der Dinge anzunehmen, sondern lediglich darum, für jede ihm entgegentretende Erscheinung den entsprechenden Begriff aufzufinden. In Wahrnehmung und Begriff hat man  durchaus die volle, ganze Wirklichkeit. Damit wird in dem genannten Buche das Letzte und Abschließende ausgesprochen, was über das Denken überhaupt denkerisch gesagt werden kann.


   Geht man nämlich noch weiter in dieser Selbsterfassung des Denkens, so führt dies bereits in gewissem Sinne durch dasselbe hindurch und darüber hinaus. Und das ist es, was wir nun vor uns haben in der nächsten Etappe von Steiners Entwicklung, die durch (S91) die Entfaltung der Bewusstseinsseele gekennzeichnet ist und von seinem 35. bis 42. Jahre oder von 1896 bis 1903 dauert. Dieser Abschnitt ist ganz besonders interessant. Die Bewusstseinsseele entfaltet sich ja - so sagten wir oben -, indem das Ich bis in den physischen Leib untertaucht. Dadurch entsteht zunächst im allgemeinen dieses, dass das Ich jetzt durch den physischen  Leib in Verbindung tritt mit der physischen Umwelt. Und es ist dies in der Tat erst auf dieser Stufe der menschlichen Seelenentwicklung im vollen Sinne der Fall. Es darf an dieser Stelle bemerkt werden, dass diejenige Epoche, in der innerhalb der Gesamtmenschheitsentwicklung die Kräfte der Bewusstseinsseele ausgebildet werden, gerade unser Zeitalter ist. Seit dem 15. Jahrhundert etwa stehen wir in dieser Entwicklung drinnen. Das ist der Grund, warum erst seit dieser Zeit die auf die Sinneserfahrung sich gründende moderne Naturwissenschaft entstanden ist. Eine unbefangene rein sinnliche Betrachtung der Naturerscheinungen war eben in früheren Zeitaltern der Menschheit noch nicht möglich. Daraus ergibt sich die bedeutsame Tatsache, dass der einzelne Mensch in unserm Zeitalter erst etwa in seinem 35. Lebensjahr in seiner individuellen Seelenentwicklung diejenige Stufe erreicht, auf der die Menschheit gegenwärtig im ganzen steht. Und es kann der Mensch eigentlich erst in der zweiten Hälfte seiner 30er Jahre sich voll und ganz in das einleben, was die charakteristischen Errungenschaften unsrer Epoche sind. Diese Tatsache trat nun wiederum in Steiners Entwicklung, weil diese eben eine einzigartig paradigmatische war, in ganz besonderer Ausprägung zutage. Während er sich bis zu seinem 35. Lebensjahr mit seinem inneren Wesen nicht ganz mit der Sinneswelt hatte verbinden können, trat diese Fähigkeit in diesem Zeitpunkt in ihm mit einer gewissen Plötzlichkeit auf. Er schreibt darüber in seinem "Lebensgang" (S221): "Am Ende meiner Weimarischen Zeit hatte ich sechsunddreißig Lebensjahre hinter mir. Schon ein Jahr vorher hatte in meiner Seele ein tiefgehender Umschwung seinen  Anfang genommen. Mit meinem Weggang von (S92) Weimar wurde er einschneidendes Erlebnis. Er war ganz unabhängig von der Änderung meiner äußeren Lebensverhältnisse, die ja auch eine große war. Das Erfahren von dem, was in der geistigen Welt erlebt werden kann, war mir immer eine Selbstverständlichkeit; das wahrnehmende Erfassen der Sinneswelt bot mir die grössten Schwierigkeiten. Es war, als ob ich das seelische Erleben nicht so weit in die Sinnesorgane hätte ergießen können, um, was diese erlebten, auch vollinhaltlich mit der Seele zu verbinden. Das änderte sich völlig vom Beginne des 36. Lebensjahres angefangen. Mein Beobachtungsvermögen für Dinge, Wesen und Vorgänge der physischen Welt gestaltete sich nach der Richtung der Genauigkeit und Eindringlichkeit um. Das war sowohl im Wissenschaftlichen wie im äußern Leben der Fall. Während es vorher für mich so war, dass grosse wissenschaftliche Zusammenhänge, die auf geistgemäße Art zu erfassen sind, ohne alle Mühe mein seelisches Eigentum wurden und das sinnliche Wahrnehmen und namentlich dessen erinnerungsgemäßes Behalten mir die grössten Anstrengungen machte, wurde jetzt alles anders. Eine vorher nicht vorhandene Aufmerksamkeit für das Sinnlich-Wahrnehmbare erwachte in mir. Einzelheiten wurden mir wichtig; ich hatte das Gefühl, die Sinneswelt habe etwas zu enthüllen, was nur sie enthüllen kann. Ich betrachtete es als ein Ideal sie kennen zu lernen allein durch das, was sie zu sagen hat, ohne dass der Mensch etwas durch sein Denken oder durch einen andern in seinem Innern auftretenden Seelen-Inhalt in sie hineinträgt." Durch diese Fähigkeit konnte nun Steiner eine positive Stellung gewinnen zu den Resultaten, welche die auf der Sinneserfaßung fußende Naturwissenschaft der neueren Zeit errungen hatte. Er lernte die Berechtigung anerkennen, die eine ausschießlich auf die Sinnesbeobachtung aufgebaute Naturforschung beanspruchen darf. Einen Höhepunkt hatte diese auf biologischen Gebiet in den Forschungen Ernst Häckels erreicht. Dessen Bedeutung beruht darauf, dass er als Naturforscher zum erstenmal in völliger Reinheit nur das zu sich sprechen liess, was die Tatsachen der Sinneswelt sagen. Sein Werk (S93) stellt gleichsam den grossartigen Versuch dar, zu sehen, wie weit man kommt, wenn man sich nur auf die Sinneserfahrung stützt. Die Berechtigung, die in einem solchen Streben liegt, lernte Steiner schätzen. Das ist der Sinn der Würdigung, die er dem Naturforscher Häckel in seiner 1899 erschienenen Schrift "Hackel und seine Gegner" zuteil werden ließ. Es ist dies aber nur das hervorragendste Beispiel für die Art, wie Rudolf Steiner in diesem Lebensabschnitte überhaupt mit seinem Zeitalter zusammen wuchs. Weil er eben in diesem Alter individuell die Entwicklung durchmachte, welche gegenwärtig die Menschheit als Ganze durchläuft, darum wurde es die Zeit seiner intensivsten Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Nietzsche, welcher in anderer Hinsicht ein Repräsentant dieser Epoche war. Endlich ist in diesem Abschnitt auch sein umfassendes Werk über die "Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert" entstanden. Doch das ist nur das allgemeine. Im besondern musste Rudolf Steiner jetzt auch seine eigenste Errungenschaft: das Sichselbsterfaßen der Erkenntnistätigkeit mit den Kräften der Bewusstseinsseele durchleben. Wie aber gestaltete sich dieses jetzt dadurch? Während er diesen Akt im Alter der (aus dem Astralischen herausgebildeten) Empfindungsseele als ein Erleben des Denkens, im Alter der (aus dem Ätherischen gebildeten) Verstandesseele als ein Denken des Denkens bezeichnet hatte, wollte er ihn jetzt mit den Kräften der (aus dem Physischen entwickelten) Bewusstseinsseele als ein Anschauen des Erkenntnisprozesses als eines in der äußern Welt sich abspielenden Vorgangs vollziehen. Er versuchte jetzt den Erkenntnisprozess so zu erfassen, dass er ihn gleichsam als ein innerhalb der Sinneswelt auftretendes Geschehen ergriff. Er sagt wiederum selbst hierüber (Lebensgang S223): "Aus alledem drang in mein Gefühlsleben eine ganz intensive Hingabe nicht an ein gedankenmäßiges theoretisches Erfassen, sondern an ein Erleben des Rätselhaften in der Welt. Ich stellte, um meditativ das rechte Verhältnis zur Welt (S94) zu gewinnen, immer wieder vor meine Seele: Da ist die Welt voller Rätsel. Erkenntnis möchte an sie herankommen. Aber sie will zumeist einen Gedankeninhalt als Lösung eines Rätsels aufweisen. Doch die Rätsel - so musste ich mir sagen - lösen sich nicht durch Gedanken. Diese bringen die Seele auf den Weg der Lösungen; aber sie enthalten die Lösungen nicht. In der wirklichen Welt entsteht ein Rätsel; es ist als Erscheinung da; seine Lösung ersteht ebenso in der Wirklichkeit. Es tritt etwas auf, das Wesen oder Vorgang ist, und das die Lösung des andern darstellt.

   So sagte ich mir auch: die ganze Welt, außer dem Menschen, ist ein Rätsel, das eigentliche Welträtsel; und der Mensch ist selbst die Lösung.


   Dadurch konnte ich denken: der Mensch vermag in jedem Augenblick etwas über das Welträtsel zu sagen. Was er sagt, kann aber stets nur soviel an Inhalt über die Lösung geben, als er selbst über sich  als Mensch erkannt hat.

   So wird auch das Erkennen zu einem Vorgang in er Wirklichkeit. Fragen offenbaren sich in der Welt; Antworten offenbaren sich als Wirklichkeiten..."


   Rudolf Steiner wollte also sagen: Schaue ich auf die Welt hin, so ist sie Rätsel. Schaue ich dann auf den Menschen hin, so sehe ich in seiner Seele Inhalte auftreten, in denen sich fortwährend und fortschreitend das Welträtsel löst. Diese Lösung liegt nicht in den einzelnen Gedankeninhalten, sondern vollzieht sich als Wirklichkeit in der menschlichen Erkenntnisentwicklung. Was aber so als Lösung des Welträtsels in der menschlichen Seele sich entwickelt, ist doch nicht etwa nur eine Angelegenheit dieser Seele, sondern der  Welt selbst. Die Welt selbst entwickelt sich vom Rätsel zur Lösung in der menschlichen Seele. "Erkenntnis - so heißt es im 'Lebensgang' (S224) weiter - wurde mir dasjenige, was nicht allein zum Menschen, sondern zu dem Sein und Werden der Welt gehört. Wie Wurzel und Stamm eines Baumes nichts Vollendetes sind, wenn sie nicht in die Blüte sich hineinleben, so sind Sein und (S95) Werden der Welt nichts wahrhaft Bestehendes, wenn sie nicht zum Inhalt der Erkenntnis weiterleben. Auf diese Einsicht blickend, wiederholte ich bei jeder Gelegenheit, bei der es angebracht war: der Mensch ist nicht das Wesen, das für sich den Inhalt der Erkenntnis schafft, sondern er gibt mit seiner Seele den Schauplatz her, auf dem die Welt ihr Dasein und Werden zum Teil erst erlebt. Gäbe es nicht Erkenntnis, die Welt bliebe unvollendet."


   In dieser Weise gestaltete sich das Erleben des Erkenntnisprozesses mit den Kräften der Bewusstseinsseele. Aber so wie dieser Akt, aus der Empfindungsseele heraus vollzogen, sich als besonders bedeutungsvoll erwiesen hatte für die Erkenntnistheorie, d.h. für die Grundwissenschaft der Wissenschaften,- wie er, aus der Verstandesseele heraus geübt, zur Grundlage geworden war für die Bildung einer Weltanschauung, d.h. für die Herstellung eines Zusammenhanges des Seelenlebens mit der Welt, so trat er jetzt, aus der Bewusstseinsseele heraus betätigt, in ein Verhältnis zur realen Existenz des Menschen selber. Denn er hatte jetzt selber den Charakter voller Realität angenommen. Denn die menschliche Erkenntnis war als die innerhalb des Menschen sich vollziehende reale Fortführung des Weltprozesses erfasst, durch die dessen zunächst verborgenes Wesen in die Offenbarung eintritt. Aber als ein Glied dieses Weltwesens tritt damit zugleich das verborgene Wesen des Menschen selbst in die Offenbarung ein. Ja, es gelangt das Weltwesen überhaupt nur in dem Masse zur Offenbarung, als der Mensch sein eigenes Wesen als den Schauplatz der Weltwesens-Offenbarung erkennend erfasst. Selbsterkenntnis wird insofern die Bedingung für wahre Welterkenntnis. Aber die Selbsterkenntnis ist ebenso eine reale Metamorphose des eigenen Wesens wie das Weltwesen sich in realer Weise in die Welterkenntnis hinein metamorphosiert. Damit aber wurde das Erleben des Erkenntnisprozesses auf dieser Stufe zum Schlüssel für das Verständnis wahrer Mystik. Und als solchen wendet es Steiner an in seinem 1901 erschienenen Werke "Die Mystik im Aufgang (S96) des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung". Das mystische Streben, so heißt es in dem Einleitungskapitel dieses Buches, ist das Streben nach wahrer Selbsterkenntnis. Aber "die Wahrnehmung seines Selbst ist ... zugleich Erweckung seines Selbst ... Erwecke ich nun mein eigenes Selbst, nehme ich den Inhalt meines Innern wahr, dann erwecke ich auch zu einem höheren Dasein, was ich von außen in mein Wesen eingegliedert habe" (2.Aufl.S6). "Mit der Erweckung meines Selbst vollzieht sich eine geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt" (S7). "So klärt das Innere des Menschen sich nicht nur über sich selbst, sondern es klärt auch über die äußeren Dinge auf. Von diesem Punkte aus öffnet sich eine unendliche Perspektive für die menschliche Erkenntnis. Im Innern leuchtet ein Licht, das seine Leuchtkraft nicht nur auf dieses Innere beschränkt. Es ist eine Sonne, die zugleich alle Wirklichkeit beleuchtet. Es tritt in uns etwas auf, was uns mit der ganzen Welt verbindet. Wir sind nicht mehr bloß der einzelne zufällige Mensch, nicht mehr dieses oder jenes Individuum. In uns offenbart sich die ganze Welt. Sie enthüllt uns ihren eigenen Zusammenhang; und sie enthüllt uns, wie wir selbst als Individuum mit ihr zusammenhängen. Aus der Selbsterkenntnis heraus wird die Welterkenntnis geboren. Und unser eigenes beschränktes Individuum stellt sich geistig in den großen Weltzusammenhang hinein, weil in ihm etwas auflebt, was übergreifend ist über dieses Individuum, was alles das mit umfasst, dessen Glied dieses Individuum ist" (S12). Es wird also hier gezeigt, wie mit der wahren Selbsterkenntnis zugleich die Welt geistig wiedergeboren wird; und wie diese Selbsterkenntnis eine reale Selbsterweckung ist.

   Soweit konnte mit den Bewusstseinsseelenkräften gegangen werden. Damit hatte aber Rudolf Steiner, am Ende dieses Lebensabschnittes, den zweiten großen Markstein in seiner Entwicklung erreicht, auf den wir oben bereits hingedeutet haben. Es war jetzt das, was er im 21.,22. Lebensjahr als das Sichselbsterfassen der Erkenntnistätigkeit zunächst im Kerne seines Wesens sich (S97) errungen hatte, bis in die tiefsten, äußersten Schichten der menschlichen Organisation getragen und mit allen Wesenskräften der Menschennatur durchlebt. Das Resultat dieser Entwicklung aber war, dass er jetzt den Übergang von sinnlichem zu übersinnlichem Erleben - welchen ja die Selbsterfassung der Erkenntnistätigkeit bildet - mit seinem ganzen Menschen vollziehen konnte. Aus allen Gliedern seines Wesens waren Kräfte für diesen Übergang entbunden, so dass jetzt ein aus dem ganzen Menschen herausentwickelter höherer ganzer Mensch in die geistige Welt hineingehen und diese erforschen konnte. Mit dieser Fähigkeit, sich als ein ganzer von dem äußeren Menschen unabhängiger innerer Mensch in der geistigen Welt zu bewegen, hatte Steiners Erleben dieser Geist-Welt nun den Reifegrad erlangt, der es ihm ermöglichte, die Anthropo-Sophie oder Wissenschaft von der geistigen Welt zu begründen, deren Schöpfung seine weltgeschichtliche Tat ist. In die letzten Jahre dieses Lebensabschnittes fällt denn auch der Beginn seines Auftretens als Geistesforscher.


    Durch diese Ausführungen klärt sich ein Doppeltes gegenseitig auf. Einerseits nämlich wird jetzt verständlich, warum Steiner, wenn er, wie er behauptet, schon von Kind auf ein übersinnliches Erleben hatte, erst so spät mit der Darstellung seiner übersinnlichen Erkenntnisse begonnen hat. Es machte eben dieses übersinnliche Erleben, wie wir gesehen haben, viele Stufen der Entwicklung durch, die durch die Gesetzmäßigkeit bedingt waren, nach der sich das menschliche Leben selber entwickelt, und es erlangte in dieser Entwicklung eben erst im Beginne der 40er Jahre jene Reife, die es möglich machte, die geistige Welt in derjenigen Form darzustellen, in welcher diese Darstellung in den Schriften Steiners vorliegt. Steiner hätte durchaus auch schon früher von der Geistwelt sprechen können; aber es wären dann in der Art dieses Sprechens noch nicht enthalten gewesen all die Kräfte, die ein Mensch bis zum 40. Lebensjahr entwickeln kann. Was heißt das aber eigentlich? Wir haben gesehen, dass der einzelne Mensch erst zwischen seinem 35. und 42. Lebensjahre diejenigen Seelenkräfte (S98) vollkommen sich erwirbt, die die Menschheit als Ganze in unserm Zeitalter entwickelt. Erst da liegt der Punkt, wo sich die Linien der individuellen menschlichen Entwicklung und der Gesamtmenschheitsentwicklung kreuzen. Hätte alo Rudolf Steiner vor seinem 35. Lebensjahr von der geistigen Welt gesprochen, so hätten in der Art seines Sprechens gerade jene Elemente noch nicht drinnen sein können, durch die dieses Sprechen gerade von den Menschen unsres Zeitalters voll verstanden und aufgenommen werden kann. Diese Elemente verleibte er erst in dem letztgeschilderten Lebensabschnitt seinem Wesen vollkommen ein.


   Und hierdurch wird nun unmittelbar das andre einleuchtend. Weil Steiner mit der Darstellung der geistigen Welt so lange zu warten die Geduld aufgebracht hat, deshalb sind in die Gestaltung, die er ihr dann geben konnte, als er im Anfang unsres Jahrhunderts mit ihr begann, auch alle Seelenkräfte eingeflossen, welche die Menschheit bis auf unsre Zeit entwickelt hat. Deshalb hat dann diese Geistes-Wissenschaft die wirkliche Fortsetzung der modernen Natur-Wissenschaft werden können, als die sie in den Eingangsworten dieses Aufsatzes bezeichnet worden ist. Denn für denjenigen, der die Entwicklung der Anschauungen Rudolf Steiners im Zusammenhang mit seiner eigenen Lebensentwicklung auf dem Hintergrunde der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Lebenslaufes so anschauen kann, wie dies im vorangehenden geschildert wurde, geht einfach aus der Tatsache, dass Steiner die Anthroposophie als solche erst von seinem 40. Lebensjahr an ausgestaltet hat, hervor, dass diese nicht aus Kräften der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und der Zukunft heraus geschöpft ist.


   Das Letztere bleibt uns nun noch etwas genauer zu zeigen. Wir sind in der Darstellung von Steiners Entwicklung gekommen bis zu dem zweiten wichtigsten Punkt im Anfange seiner 40er Jahre, der zum Beginne seines Auftretens als Geistesforscher geworden ist. Wir sagten: es war jetzt durch die ganze Menschenorganisation hindurchgetragen was er im 21. Jahre als Übergang vom sinnlichen (S99) zum übersinnlichen Erleben in seinem innersten Wesen sich errungen hatte. Es war dieser Übergang nun mit allen Kräften erlebt, die das Ich durch die fortschreitende Durchdringung der Menschenorganisation aus dieser entbindet. Dadurch konnte jetzt erst gleichsam ein ganzer höherer Mensch in die geistige Welt eintreten. Und damit ergab sich von jetzt an für Rudolf Steiner die Aufgabe, die geistige Welt selbst zu schildern, so wie er bisher den Übergang vom sinnlichen zum geistigen Erleben von den verschiedenen Aspekten aus dazustellen gehabt hatte. Nun hat aber auch diese Schilderung der geistigen Welt, die in seiner Geistes-Wissenschaft vorliegt, selber wieder in Steiners weiterem Wirken noch eine gewaltige Entwicklung durchgemacht. Leider besitzen wir jedoch über das, was dieser Entwicklung des Werkes als weitere Entwicklung des Menschen zugrunde legt, nicht mehr Zeugnisse ähnlicher Art von Steiner selbst, wie sie über die bis zur Begründung der Geisteswissenschaft reichende Zeit vorliegen, weil seine Selbstbiographie, in welcher diese Zeugnisse enthalten sind, durch seinen Tod gerade bei der Schilderung der ersten Jahre seines geisteswissenschaftlichen Wirkens abgebrochen worden ist. Aber einerseits weist das Werk so deutliche Stufen seiner Entfaltung auf, andrerseits ist ja auch die menschliche Wesensgliederung mit dem, was wir von ihr bisher charakterisiert haben, noch nicht abgeschlossen, so dass es wohl erlaubt ist, sowohl von dem Werk aus auf die Entwicklung weiterer Wesensglieder in Steiners Leben zu schließen, als auch auf Grund dieses Schlusses ein tieferes Verständnis der inneren Natur des Werkes anzustreben.


   Wir haben gesehen, dass die Entwicklung der drei Seelenglieder eigentlich aufzufassen ist als eine gewisse Metamorphose der drei "Hüllen" des Menschen durch sein Ich. Dieses arbeitet, indem es sie durchdringt, aus jeder von ihnen gewisse Kräfte heraus, so dass jetzt wiederum ein ganzer Mensch als "seelisches" Wesen da ist, wie er vorher als "leibliches" Wesen da war. Bei Rudolf Steiner war es nun so, dass er - wie wir ja gezeigt haben - jeweils zugleich mit der Entwicklung dieser Seelenglieder im allgemeinen (S100) diejenigen Kräfte im besonderen aus ihnen herausholte, mit denen der Aufstieg in die geistige Welt vollzogen werden kann. Denn durch die gewöhnliche Art ihrer Entwicklung kann dieser Übergang nicht bewerkstelligt werden. Das ist erst möglich durch einen noch höheren "geistigen" Menschen, der aus dem "seelischen" ebenso herausentwickelt werden kann, wie dieser aus dem "leiblichen" herausgebildet wird. Durch die geschilderte besondere Art nun, wie Steiner den seelischen Menschen  in  sich entwickelte, legte er zugleich mit dieser Entwicklung jeweils auch schon die Keime zur Herausbildung des geistigen Menschen aus dem seelischen. Und der "ganze höhere Mensch", mit dem er um sein 42. Jahr herum in die geistige Welt eintreten konnte, war in Wahrheit der durchaus schon in diesem Alter in allen seinen Gliedern, wenigstens den Anfängen nach, aus dem Seelischen herausentwickelte und in ihm vorhandene "geistige" Mensch. Und es handelte sich in Steiners weiterer Entwicklung von da an nurmehr darum, diesen geistigen Menschen im Verkehr mit der Geist-Welt immer mehr und mehr zur Entfaltung zu bringen. Diese Entfaltung vollzieht sich nun wiederum in gesetzmäßiger Stufenfolge, und zwar entwickelt sich zunächst das Geistselbst in gewissem Sinne durch Umwandlung der Bewusstseinsseele, dann der Lebensgeist durch die Metamorphose der Verstandesseelenkräfte und endlich der Geistesmensch durch Umwandlung der Empfindungsseele. Wiederum werden hierfür im einzelnen Menschenleben dreimal sieben Jahre in Anspruch genommen, - diejenigen, die zwischen dem 41. und 63. Lebensjahre liegen. Doch machen die meisten Menschen diese innere Entwicklung, da sie ja in bezug auf die Gesamtmenschheit noch der Zukunft angehört, gegenwärtig erst in den allerleisesten Andeutungen durch. Insoweit sie aber ein Mensch durchmacht, nimmer er ebenso die Zukunft der Menschheitsentwicklung voraus, wie er durch seine Kindheitsentwicklung deren Vergangenheit nachholt. Rudolf Steiner verwirklichte nun auch diese der Menschheitszukunft angehörenden Stufen menschlicher Entwicklung in seiner individuellen Entwicklung in (S101) beispiellosem Maße. Wir dürfen dies wenigstens mit Sicherheit annehmen auf Grund der gewaltigen Entfaltung, die sein Lebenswerk ganz besonders von seinem 40. Lebensjahr an erfuhr. Er trat eigentlich erst jetzt in diejenigen Stadien seiner Entwicklung ein, die vorzuleben, aufzuweisen und anzubahnen seine menschheitliche Sendung war.


   Es ergab sich für ihn also jetzt die Aufgabe, die geistige Welt selbst darzustellen. Und er enthüllte zunächst die wichtigsten Geheimnisse, die die geistige Welt in bezug auf den Menschen offenbart: Die Wesensgliederung, das Gesetz der Wiederverkörperung des menschlichen Geistes, das Wesen des Schicksals, das Dasein des Menschen zwischen Tod und neuer Geburt, die Weltentwicklung usw. Alles dies hat in seiner 1910 erschienenen "Geheimwissenschaft" eine zusammenfassende Darstellung erhalten. Man darf vielleicht sagen: es ist dies alles vornehmlich aus der Kraft des Geistselbstes heraus zunächst geleistet worden. Dadurch wir nun noch in einem tieferen Sinne verständlich, inwiefern die damit inaugurierte Geistes-Wissenschaft eine "Fortsetzung" der modernen Natur-Wissenschaft bildet: Das Geistselbst entsteht durch die Umwandlung der Bewusstseinsseele, die ja, wir wir oben bemerkten, der neueren Naturwissenschaft zugrundeliegt. Dieselben Kräfte also sind es, aus denen zunächst die Naturwissenschaft entsteht, und dann, wenn sie umgewandelt und dem Geiste entgegengebracht werden, die Geisteswissenschaft hervorgeht.


   Das Jahr 1910 bezeichnet aber zugleich den Beginn der zweiten Epoche in der Entwicklung der Anthroposophie. Die Impulse des Lebensgeistes treten nun in den Vordergrund. Neben die wisssenschaftliche Darstellung der geistigen Welt tritt jetzt deren künstlerische Offenbarung ein. Die vier Mysteriendramen Steiners entstehen in den Jahren 1910 bis 1913. Von ihrem ersten bekennt er selbst, dass es ihm vor seinem 49. Jahre zu gestalten nicht möglich gewesen war. Ferner fällt in diesen zweiten Abschnitt der Bau des ersten Goetheanums mit all den erneuernden (S102) Impulsen, die von ihm für die verschiedensten Künste: Architektur, Plastik, Malerei, ausgegangen sind. Endlich ist in diesen Jahren auch die eurythmische Kunst inauguriert worden, in der ja der gemeinsame Urquell aller Künste wiederaufgedeckt und selber zur Kunst gestaltet worden ist (Eine genauere Charakteristik der Eurythmie und ihrer Bedeutung sowie überhaupt dieser ganzen letzten Entwicklungsphasen von Steiners Wirken findet man in meinem Buch "Rudolf Steiners Lebenswerk".).


   Einen dritten Abschnitt eröffnen dann  die Jahre 1916/17. Der Impuls zur "Dreigliederung des sozialen Organismus" wird da zum erstenmal gegeben. Und aus ihm heraus sind dann für die verschiedensten Einzelgebiete des sozialen Lebens in den folgenden Jahren Neugestaltungsimpulse erflossen: für die Pädagogik, die Medizin, das religiöse, das wirtschaftliche Leben usw. Die Kraft des Geistesmenschen kann man in ihnen wirksam empfinden.


   Man kann also sagen: War im ersten Abschnitt die geistige Welt in wissenschaftlicher Darstellung geschildert worden, so trat zu dieser im zweiten Abschnitt hinzu deren Offenbarung in künstlerischen Gestaltungen, im dritten die Verwirklichung ihrer Impulse in der Neugestaltung des sozialen Lebens. Im ersten Abschnitt stand im Vordergrunde das Schauen, im zweiten das Erleben, im dritten das Verwirklichen des Geistes. Natürlich dürfen diese Charakteristiken nicht gepresst werden. Denn die Geist-Welt kann nicht wirklich "geschaut" werden, ohne dass sie zugleich auch "erlebt" und "verwirklicht" wird. Es traten diese einzelnen Momente in den verschiedenen Epochen nur besonders hervor. Ferner ist zu berücksichtigen, dass künstlerisches Gestalten und moralisches Verwirklichen, wenn es so wie bei Rudolf Steiner aus der Geist-Welt herausfließt, kein Sichabwenden vom erkennenden Erfassen derselben bedeutet, sondern im Gegenteil gerade der Ausdruck dafür ist, dass im Erkennen derselben immer höhere Höhen erklommen werden. Denn für die Geist-Welt bedeuten auch künstlerische Gestaltung und moralisches Wirken Formen der (S103) Offenbarung, der "Darstellung", aber eben jener höheren Geheimnisse, die in die wissenschaftliche Schilderung nicht eingehen. Es ist also dem Hinzutreten von künstlerischem Schaffen und sittlich-sozialem Wirken zu Steiners wissenschaftlicher Offenbarung der geistigen Welt durchaus parallel gehend zu denken ein immer tieferes, umfassenderes Hineinwachsen seines "geistigen" Menschen in die übersinnliche Welt. Freilich nicht im Sinne eines pantheistischen Aufgehens in ihr, sondern so, dass die Individualität im vollsten Maße erhalten bleibt, aber eben immer mehr zu einem Geistwesen unter Geistwesen wird.


   So erreichte Rudolf Steiner sein 63. Lebensjahr und mit ihm einen dritten Höhepunkt seines Lebens, wie er solche in seinem 21. und 42. Jahre durchschritten hatte. Die neue Entwicklung jedoch, für die dieser dritte Höhepunkt wiederum zum Ausgangspunkte wurde, konnte nicht mehr eine solche volle Ausgestaltung finden wie die Errungenschaften seines 21. und 42. Jahres, da Steiner schon in seinem 65. Lebensjahre gestorben ist.Wenn aber diese neue Entwicklung auch nurmehr in ihren ersten Stadien in Erscheinung getreten ist, so waren diese doch so charakteristisch und von seiner früheren Wirkensart so verschieden, dass sich ihre Eigenart dennoch deutlich bezeichnen lässt. Die menschliche Wesensentwicklung ist mit dem erschöpft, was ein mensch bis zum 63. Jahre an Kräften ausbilden kann. Rudolf Steiner hatte dies in einem noch nie dagewesenen Maße vollbracht. Dadurch aber war sein Wesen jetzt gleichsam ganz zu einem Wesen der geistigen Welt, gleichsam zu einem Mitgliede der Geisterhierarchien geworden, wie dies in vollkommener Art mit der ganzen Menschheit ja am Ende der Erdenentwicklung der Fall sein wird. Sein innerstes Wesen schien in seinen beiden letzten Lebensjahren immer mehr von der Erde wegzugehen. Dafür leuchtete jetzt die geistige Welt selbst um so gewaltiger durch ihn in die unsrige herein. Sie selber belehrte jetzt gleichsam die Menschheit, nicht mehr ein Mensch. Aber so wie der Mensch von ihr erzählt hatte, so erzählte sie jetzt von ihm. Hatte bisher Steiner die geistige Welt dargestellt, (S104) so schien sie jetzt ihn und den von ihm vertretenen Impuls darzustellen. Die anthroposophische Verkündigung wurde in den zwei letzten Lebensjahren Steiners zur Enthüllerin ihres eigenen Wesens, wie dies von der geistigen Welt aus gesehen erscheint. Es war nicht mehr Menschenwort, sondern Götterwort und Göttertun, was jetzt gesprochen und verrichtet wurde. Steiner hat in seinem letzten Lebensjahr die "Hochschule für Geisteswissenschaft" in Dornach eröffnet als eine - wie er sich ausdrückte - Institution der geistigen Welt selbst. Durch seinen Mund gab nun die geistige Welt selbst den Lehrgang, den diese Schule künftig dem nach Geist-Erkenntnis Strebenden als den Geistesweg unsrer Epoche zu vermitteln hat. Es war nicht mehr ein "persönliches" Verhältnis zu Rudolf Steiner, in das man als Schüler dieser Institution eintrat, sondern ein Verhältnis zu den führenden Geistesmächten unsrer Zeit (Ich bin, als ich eine ähnliche Darstellung dieser Sache in meinem Buche "Rudolf Steiners Lebenswerk" gab, von einer gewissen  anthroposophischen Seite dahin "korrigiert" worden, dass auch schon vor der Eröffnung der Hochschule nicht nur eine persönliche esoterische Einzelunterweisung, sondern auch eine solche für Gruppen, d.h. also eine "esoterische Schule" innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft bestanden habe. Ich meinte jedoch, wie man aus meiner Darstellung durchaus hätte entnehmen können, mit "persönlich" gar nicht Einzelunterweisung, sondern, dass selbst die "Gruppenunterweisung" früher in einem Sinne "persönlich" war, in dem diejenige innerhalb der Hochschule es eben nicht mehr war. In welchem Sinn dieses "persönlich" aber gemeint ist, geht aus der obigen Darstellung nun wohl deutlich genug hervor). Die Aufgabe der Hochschule und der Anthroposophischen Gesellschaft ist es, den anthroposophischen Impuls in dieser letzten reifsten Gestalt, zu er er durch Rudolf Steiner in seiner  Entwicklung gebracht worden ist, fortzuführen. Doch das gehört nicht mehr hierher.


   Hier sollte gezeigt werden, wie Steiners Werk sich entfaltete im Zusammenhang mit seiner eigenen geistigen Entwicklung; wie es nichts anderes ist als der Niederschlag einer einzigartig vollkommenen Verwirklichung dessen, was ein Mensch im Verlaufe seines Lebens an in der Menschennatur veranlagten Fähigkeiten entwickeln kann. Dargestellt sollte werden, wie Steiner, weil er die im Menschenleben liegenden Möglichkeiten am vollkommensten (S105) verwirklichte, auch zum Enthüller dieser Möglichkeiten: d.h. des wahren Menschenwesensbildes werden konnte. Im besonderen endlich sollte aus dieser Darstellung der Entstehungsgeschichte der Anthroposophie hervorgehen, wie sie nicht aus Vergangenheits-, sondern aus Gegenwarts- und Zukunftskräften heraus geschöpft ist und wie sie darum der Menschheit eine Leuchte auf ihrem Wege in die Zukunft werden kann.

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Geistesgeschichtliche Stellung I