Zur geistesgeschichtlichen Stellung der Anthroposophie
I.
Seit dem Beginne der neueren Zeit kann man im Weltanschauungsstreben der modernen Menschheit zwei Strömungen nebeneinander herlaufen sehen. Die eine wird vertreten durch Denker, die für die Aufführung eines Weltanschauungsgebäudes zunächst eine absolut sichere Grundlage zu gewinnen suchen - in einem anderen Bilde -: die zunächst eine Art Universalschlüssel finden wollen, mit dem man alle Türen aufschließen kann, die zu den Weltgeheimnissen führen. Wir sehen solches bei Spinoza, der sein philosophisches Gebäude auf die Grundlage mathematisch gestalteter Axiome und Definitionen stellte - bei Kant, er in seiner transzendentalen Fragestellung einen solchen Universalschlüssel gefunden zu haben glaubte - bei Fichte und Hegel, von denen dem einen das "Ich", dem andern die dialektische Entfaltung des Begriffs einen solchen Dienst für die Erkenntnis leisten sollte. In unserer Zeit wiederum halten viele Denker die Unterscheidung von Seins- und Wertbegriffen für einen solchen überall passenden Erkenntnisschlüssel. Aus dieser Überzeugung, einen endgültigen Weg zur Lösung des Welträtsels entdeckt zu haben, sehen wir solche Denker dann in der Regel umfassende philosophische Systeme ausgestalten, die in ihrer Gliederung gleichsam ein Abbild der Weltenstruktur selber darstellen und für jede Tatsache und Erscheinung, die innerhalb der letzteren auftritt, an der entsprechenden die dazugehörige Erklärung enthalten sollen.
Dieser Strömung steht eine andere gegenüber, deren Erkenntnisgesinnung wohl nicht besser charakterisiert werden könnte als mit dem Worte, mit dem sie einer ihrer frühesten un zugleich bedeutendsten Vertreter selbst, Lessing, einmal zum Ausdruck gebracht hat: "Wenn Gott in seiner Rechten die Wahrheit, in seiner (S107) Linken das ewige Streben nach der Wahrheit verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist nur für Dich allein!" Solche Denker sind von der Empfindung durchdrungen, dass man niemals in einem abgeschlossenen philosophischen System die ganze Wahrheit umfassen könne, sondern dass von jedem neuen Gesichtspunkte aus, den man einnehme, die Welt wieder andere Geheimnisse enthülle. Sie wollen sich daher in ihrer Seele so beweglich und lebendig erhalten, dass sie immer neue Aussichtspunkte für die Weltbetrachtung erklimmen können. Sie vermögen auch in einem logisch widerspruchslos aufgebauten philosophischen System schon deshalb nicht die Wahrheit zu erblicken, weil ihrer Meinung nach die Welt selbst keineswegs von Widersprüchen frei ist. Der erste Einwand gegen die Wahrheit eines philosophischen Systems liegt daher für sie schon in dem widerspruchslosen logischen Aufbau desselben. Aus dieser Empfindung heraus hat ein späterer Vertreter dieser Strömung, Nietzsche, einmal den Ausspruch getan, dass in jedem Streben nach philosophischer Systematik ein Stück Unehrlichkeit drinnenstecke. Und in der Tat, man könnte unzählige Beispiele dafür anführen, wie der schönen Gliederung ihres Systems zuliebe von solchen philosophischen Systematikern manche Tatsachen, die nicht in dasselbe hineinpassten, entweder nicht berücksichtigt oder gewaltsam umgedeutet worden sind.
Wenn man daher Nietzsche mit diesem von ihm gegenüber den Systematikern erhobenen Vorwurf weitgehend recht geben muss, so muss man aber doch auch sagen, dass dieser selbe Vorwurf die andere Strömung, aus er heraus er gemacht wird, oftmals in nicht minderem Grade, wenn auch in anderer Richtung, triff. In welchem Sinne das der Fall ist, sieht man deutlich, wenn man diese Strömung in der dekadenten Gestalt betrachtet, in der sie gerade heute vielfach auftritt. Denn unsere Zeit in nun einmal eine Niedergangsepoche in bezug auf alles, was traditionelle, früher einmal großartig und bedeutend gewesene, Gestaltungen des (S108) geistigen Strebens sind. Und so treten uns auch die beiden charakterisierten Weltanschauungsströmungen gegenwärtig fast ausschließlich in dekadenter Gestalt entgegen. Wie zahlreich sind doch heute auf der einen Seite die Menschen, die sich als unermüdlich strebende Wahrheitssucher gebärden, von denen man aber doch die Empfindung hat, es könnte ihnen nichts Unangenehmeres passieren, als wenn sie bei diesem "Suchen" einmal der Wahrheit wirklich begegneten. Sie suchen nicht mehr, um etwas zu finden, sondern um des Suchens willen, das ihnen Selbstzweck geworden ist. Sie wollen sich - wie die schöne Redensart lautet - "auf nichts festlegen, sondern sich stets für alles offenhalten". Dieses "Sich-nicht-festlegen-Wollen" ist aber in Wirklichkeit nichts anderes als die Ohnmacht, konkrete Wahrheiten, die ihnen da oder dort begegnen, aus der inneren Kraft ihrer Seele heraus als solche zu erleben und zu begreifen; und ihr "Sich-stets-Offen-halten" nichts anderes als ein Herumplätschern in leeren Phrasen, ein haltloses Herumflattern über den Konkretheiten in einem geistig leren Raume. So liegt die Unehrlichkeit auf diese Seite darin, dass man sich als Suchender gebärdet nach etwas, was man zu finden doch entweder peinlichst vermeidet oder nicht die Kraft hat.
Aber auch um die Strömung der Weltanschauungssystematiker ist es in dieser Zeit des Niederganges nicht besser bestellt. Ihre Vertreter stellen sich heute meistens als Menschen dar, die auf irgendeine alleinseligmachende Weltanschauung eingeschworen sind - es kann dies ebensogut eine religiöse wie philosophische oder naturwissenschaftliche sein. Für sie erübrigt sich jegliches Bemühen um Beantwortung der Daseinsrätsel; denn diese sind nach ihrer Meinung durch ihre Weltanschauung "ja schon längst" gelöst; für ein jedes derselben hält diese eine fertige Antwort bereit. Und so ist es eigentlich mehr die Bequemlichkeit als die Unehrlichkeit, was einem von dieser Seite entgegentritt.
Diese beiden Seelenhaltungen in bezug auf Weltanschauungsfragen sind heute viel weiter verbreitet, als man vielleicht glauben möchte. Wer durch sein Schicksal in die Lage versetzt ist, oftmals (S109) über Weltanschauungsfragen zu diskutieren, der kann schon sagen, dass es heute geradezu eine Seltenheit ist,wenn man bei solchen Diskussionen Menschen antrifft, die sich nicht entweder auf die eine oder die andere der geschilderten typischen Arten verhalten. In diese Lage, oftmals sich über Weltanschauungsfragen zu unterhalten, kommt man ja aber besonders als Anthroposoph.
Der Leser könnte nun fragen, wie sich denn Anthroposophie zu diesen beiden Weltanschauungsarten verhalte, bzw. welcher von ihnen sie angehöre. Wir wollen unsere Meinung hierüber vorerst nicht selber aussprechen, sondern zunächst nur darstellen, wie aus ihnen heraus bei Diskussionen über die Anthroposophie auf diese in der Regel reagiert wird. Der Leser wird hieraus dann selber das Verhältnis der Anthroposophie zu ihnen ersehen können. Da muss nun gesagt werden, dass dieses Reagieren in typischen Einwänden besteht, die sich so oft wiederholen, dass man geradezu behaupten darf, sie seien die hauptsächlichsten Widerstände, die sich dem Eindringen der Anthroposophie in unsere Zeit in den Weg stellen. Vorausgeschickt sei - als äußerliche Charakteristik der Anthroposophie - nur so viel, dass diese einerseits eine Summe von Richtlinien und Anweisungen darstellt, durch deren Ausführung der Mensch aus seinem Seelenleben gewisse für gewöhnlich in diesem unentwickelt schlummernde, höhere Erkenntniskräfte herausholen kann, die ihn tiefer in die Hintergründe sowohl der äußeren Naturerscheinungen als auch seines eigenen Wesens hineinschauen lassen - und dass sie anderseits eine Summe von Erkenntnissen zum Inhalte hat, die mittels solcher höherer Erkenntnisfähigkeiten gewonnen sind. Spricht man nun in diesem Sinne von Anthroposophie, dass man einerseits die Wege zu höheren Erkenntnissen charakterisiert, anderseits einige solcher Erkenntnisse beispielsweise anführt, so lautet die eine Art von Einwänden, die einem dann gewöhnlich entgegenkommen, etwa in der folgenden Weise: Du hast uns nun einen umständlichen Vortrag über höhere Erkenntnis gehalten. Sage uns jetzt aber einmal kurz und bündig: Was ist also die Anschauung der Anthroposophie? Was sagt sie also über den (S110) letzten Zweck unseres Daseins? Behauptet sie nun also einen Pantheismus oder einen Monotheismus? usw. usw. Und wenn man dann erwidert: Die Antworten auf solche Fragen können nicht in einer kurzen Formel gegeben werden, sondern nur in Gestalt einer Summe von konkreten, inhaltvollen Erkenntnissen - Erkenntnissen, die zudem, je weiter man auf dem Pfad der Erkenntnis gelangt, immer umfassendere, reichere Gestalt bekommen - so fahren solche Kritiker, indem sie sich nun auf das Sprichwort berufen, dass der Wahrheit Siegel die Einfachheit sei, mit ihren Einwänden in der Regel so fort: Eine Anschauung, die nicht auf eine einfache, dem gemeinen Menschenverstand unmittelbar einleuchtende, schlagwortartige Formel gebracht werden kann, die ist auch nicht auf eine gesunde Art zustande gekommen. Sie kann nur die Ausgeburt eines krankhaft übersteigerten Erkenntnistriebes sein, der sich in ein Vorstellungslabyrinth verirrt hat, aus dem er nicht mehr den Rückweg auf den gesunden Boden des Alltagsbewußtseins findet. Eine solche Anschauung wird daher auch für die breiten Schichten der Menschheit - aus ihrem gesunden Instinkt heraus - niemals Gemeingut werden können. Außerdem aber müsste eine Weltanschauung, nach der wir uns in dem Leben sollen richten können, in das wir nun einmal hineingestellt sind, vor allen Dingen so beschaffen sein, dass sie auch von demselben Bewusstsein gefunden werden kann, mit dem wir im Alltag drinnenstehen. Denn müssten wir uns aus dem gewöhnlichen Dasein innerlich gleichsam erst herausheben, um uns auf die Suche nach der Wahrheit zu machen, so könnten wir, bevor wie sie finden, inzwischen selbst dem Leben verloren gehen, anstatt sie für das Leben zu gewinnen.
Es ist dann mit solchen Kritikern in der Regel nicht weiter zu diskutieren; denn sie haben bereits erkannt, dass die Anthroposophie nicht etwas ist, das ihnen auf eine bessere Art als ihre eigene Weltanschauung geben könnte, was sie nun einmal wollen: schlagwortartig festgeprägte Antworten auf die Welträtsel, die man, ohne sich aus seinem Alltagsbewusstsein erheben zu müssen, (S111) hinnehmen kann. Sie sehen daher keinen Grund, sich weiter auf die Sache einzulassen oder sie gar gegen ihre bisherige Anschauung einzutauschen.
Nicht erfolgreicher pflegen aber auch die Diskussionen zu enden, die man mit der anderen Art von Kritikern zu führen hat. Von dieser Seite wird eingewendet: Mit dieser Anthroposophie tritt also wieder ein neues Dogma auf, wie es früher das religiöse, in der neueren Zeit das naturwissenschaftliche gegeben hat. Ehemals behauptete die Kirche die alleinseligmachende Wahrheit zu besitzen, jetzt behaupten es die Anthroposophen. Galt jener der Papst, so gilt diesen Rudolf Steiner als unfehlbar. Was er geschrieben und gesagt hat, soll die Antworten auf alle Welträtsel enthalten. Wie verdächtig harmonisch aber in diesen Darstellunngen die verschiedensten Welterscheinungen zusammengeordnet werden! Wie alles z.B. in bestimmte, immer wiederkehrende Zahlenverhältnisse systematisiert wird! Für den Anthroposophen muss im Grunde jedes selbständige, lebendige Erkenntnisstreben aufhören. Ein geistig lebendiger Mensch aber kann sich doch unmöglich auf dem Faulbett einer solchen, alle Welträtsel mit fertigen Lösungen beantwortenden Weltanschauung zur Ruhe legen.
Solche Kritiker lassen sich dann nicht darauf ein, wenn man versucht, irgendein Ergebnis der anthroposophischen Forschung ohne Berufung auf eine Autorität, rein aus den Tatsachen heraus in seiner Wahrheit zu begründen. Das hiesse für sie ja schon, sich auf eine bestimmte Erklärung "festlegen". Sie aber wollen sich doch ihre geistige "Unabhängigkeit" und "Lebendigkeit" bewahren.
Man kann hieraus schon empfinden, in welchem Verhältnis Anthroposophie zu diesen beiden Weltanschauungsarten steht. Um dieses Verhältnis aber in völliger Klarheit und Exaktheit kennzeichnen zu können, ist es notwendig, zunächst zu erfassen, was eigentlich in diesem doppelgestaltigen Auftreten des Weltanschauungsstreben in der modernen Menschheit zugrunde liegt. Es sind diese beiden Arten des Philosophierens in so deutlicher Ausprägung, wie wir schon bemerkten, ja erst seit dem Beginne (S112) des neueren Geisteslebens zu beobachten. Warum waren sie früher nicht vorhanden?
Der tiefgreifende Umschwung, der sich im europäischen Geistesleben im 15. und 16. Jahrhundert vollzogen hat, kann nicht hergeleitet werden von Veränderungen äußerer Verhältnisse, nicht einmal von den neuen Erkenntnissen, Entdeckungen und Erfindungen, die damals gemacht worden sind. Diese letzteren müssen umgekehrt begriffen werden aus einer Veränderung der menschlichen Organisation heraus, welche die Richtung des menschlichen Erkennens und Erlebens erst so veränderte, dass die neuen Entdeckungen, Ideen, Verhältnisse möglich wurden. Denn der Mensch bleibt keineswegs, wie eine materialistische Anschauung unserer Zeit glaubt, im Laufe der Geschichte immer derselbe. Seine gesamte Organisation ist vielmehr in einer fortwährenden Metamorphose und Entwicklung begriffen, die durch lange Zeiträume hindurch beinahe unmerklich fortschreitet, dann aber wieder wie in einem Sprung eine lange vorbereitete neue Gestaltung zum Durchbruch bringt. Eine solche lang herangereifte Umgestaltung der menschlichen Organisation ist im Beginne der neueren Zeit zum Abschluss gekommen. Und sie bildet die wahre Ursache des ganz neuen Charakters, den das menschliche Geistes- und Zivilisationsleben seit diesem Zeitalter angenommen hat.
Man kann den Charakter dieser Neugestaltung ganz genau bezeichnen. Allerdings erscheint eine solche Bezeichnung heute noch vielen paradox. Aber eine unbefangene Betrachtung der Tatsachen kann sie doch als einleuchtend empfinden. Der Teil seiner Organisation, durch den der Mensch als erkennender sich betätigt, ist im Beginne der neueren Zeit aus einem organischen zu einem unorganischen geworden. In seiner Erkenntnisorganisation trägt der moderne Mensch seither etwas wie einen toten, leichnamartigen Einschluss innerhalb seiner lebendigen Gesamtorganisation. Man blicke, um sich diesen Vorgang zu veranschaulichen, auf einen analogen Vorgang hin, der sich in der äußeren Natur abgespielt hat: Von der Kohle, die wir heute in den Tiefen der Erde finden, wissen (S113) wir, dass sie den Überrest bildet einer in Urzeiten der Erdentwicklung vorhanden gewesenen üppige Vegetation. Was einstmals ein Lebendiges war, ist zu einem Toten, Mineralischen geworden. Im Innern der menschlichen Organisation ist mit den Erkenntniskräften ein Ähnliches vor sich gegangen und zum Abschlusse gekommen im Beginne der neueren Zeit. Das menschliche Erkennen war noch im Mittelalter, von früheren Epochen ganz zu schweigen, etwas unvergleichlich viel Lebendigeres, Regsameres, als es in unserer Zeit geworden ist. Man bekommt daher durch die Darstellungen der Philosophiegeschichte, die vom Standpunkte des heutigen "toten" Denkens aus geschrieben sind, keineswegs ein zutreffendes Bild von dem wirklichen Charakter der älteren Philosophie.
Durch dieses erstorbene Denken wurde es der modernen Menschheit zum erstenmal möglich, in die Gesetzmässigkeit der äußeren toten Natur einzudringen. Auf diesem Gebiete liegen ja die hauptsächlichsten und bleibenden Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft. Und damit ist auch erst die Entstehung der modernen Technik möglich geworden. Man meint oftmals, es habe nur an der "Dummheit" oder am "Aberglauben" gelegen, dass die Menschheit erst nach so langen Jahrtausenden ihrer Geschichte zur modernen Naturwissenschaft und Technik gelangt sei. In Wirklichkeit liegt die Ursache aber darin, dass sie mit ihrem früheren lebendigen Denken noch nicht imstande war, eine mechanisch-maschinelle Wirksamkeit zu begreifen, sondern erst von dem Zeitpunkte an, da ihr eigenes Erkennen in mechanisch-maschineller Art zu verlaufen begann. Das ist eben seit dem 15., 16. Jahrhundert der Fall. Wir sehen in der modernen Zivilisation ja auch die Kehrseite dieser Tatsache: in der Erscheinung, dass dieses mechanistische Denken in gleicher Weise auf alle Gebiete des natürlichen und menschlichen Daseins angewendet wird. Die mechanistischen Theorien der modernen Biologie, der modernen Soziologie sind dadurch entstanden. Die modernen Staatsmechanismen sind ein Ausdruck dafür. Auf künstlerischem Gebiet: (S114) das mechanische Konstruieren, das an die Stelle des ursprünglich-lebendigen Schaffens getreten ist - endlich auf philosophischem Gebiete die starren, toten Weltanschauungssysteme. Damit aber haben wir nun in exakter Weise die Ursache bezeichnet für die eingangs geschilderten beiden Gestaltungen, in denen philosophisches Streben in der neueren Zeit erscheint. Denn wie dasjenige, was auf der einen Seite auftritt als das Streben nach unveränderlichen, endgültigen philosophischen Systemen, nichts anderes ist als der Ausdruck des Erstorbenseins der menschlichen Erkenntnisorganisation, haben wir soeben gesehen. Ein nicht weniger deutlicher Beweis für diese Tatsache ist aber auch die andere Weltanschauungsströmung. In ihren Vertretern lebt mehr oder weniger unbewußt die Empfindung, daß eine bestimmte Weltanschauung ergreifen soviel bedeute wie ein Totes ergreifen Mit Recht; denn ein wirklicher Inhalt kann für das moderne Erkennen nur ein Totes werden. Was nun aber das Verhalten dieser letzteren Denker bestimmt, ist im Grunde die Furcht vor diesem unausweichlichen Tode. Aber da nun einmal der moderne Mensch mit seinem toten Denken nur die Wahl hat, entweder einen toten oder gar keinen Erkenntnisinhalt zu ergreifen, so kommt es eben, dass diese Denker überhaupt zu keinem wirklichen Weltanschauungsimpuls gelangen, sondern im Leeren herumflattern.
Freilich hat das Ersterben ihres Erkenntniswesens der modernen Menschheit noch ein Anderes gebracht, das ebenfalls betrachtet werden mus, wenn man zu einem umfassenden Verständnis des neueren Geisteslebens gelangen will. Man schaue, um dieses zu begreifen, wieder auf die Kohle hin. Wodurch unterscheidet sie sich von jener einstmaligen Vegetation, aus der sie entstanden ist? Oder allgemeiner gefragt: Wodurch unterscheidet sich in der Natur draußen das Unorganisch-Mineralische vom Organisch-Lebendigen? Man braucht nur darauf hinzuschauen, wie die Pflanzenwelt ihr Leben entfaltet im Rhythmus der Jahreszeiten, welcher ja zustande kommt durch das wechselnde Verhältnis der Erde zur Sonne, ja zur ganzen Sternenwelt, und man wird die Behauptung (S115) anerkennen können, daß die Organismen als diejenigen Erdengebilde definiert werden dürfen, welche ihre Gestaltung durch die Wirkungen empfangen, die aus dem Kosmos auf die Erde hereinstrahlen. Man sucht die Kräfte, die im Lebendigen wirken, vergeblich, solange man sie im Irdischen sucht. Sie sind im Kosmos draußen, zunächst in Sonne und Mond, im weiteren aber in der ganzen planetarischen und zodiakalen Welt. Das Unorganische jedoch ist dasjenige, was aus dieser kosmischen Wirksamkeit herausgefallen ist, was nurmehr durch die Kräfte der Erde bestimmt wird.
Dieselbe Charakteristik ist nun auch gültig, insofern Organisches und Unorganisches innerhalb des Menschen auftritt. Solange sein Erkenntnisvermögen noch ein lebendiges Wesen war, wirkten in ihm die Kräfte der kosmischen Geistwelt. Wie diese draußen die pflanzlichen Gestaltungen bestimmen, so bestimmten sie in ihm die Gestaltung seiner Vorstellungen und Begriffe. Davon hatte der ältere Mensch auch ein deutliches Bewußtsein. Er erlebte die Begriffe nicht als seine eigenen Hervorbringungen, sondern als die sich ihm offenbarenden Gedanken der Götter. Das war selbst noch bis ins Mittelalter so. Und das kam ja auch zum Ausdruck darin, daß es in diesen Zeiten persönliche, individuelle Weltanschauungen noch nicht gab, sondern nur individuelle Spiegelungen einer allgemeinsamen, umfassenden Weltanschauung, die in Wirklichkeit gedacht wurde von denselben geistig-kosmischen Wesenheiten, von denen die menschliche Organisation als ein lebendiges Wesen auch in ihren übrigen Teilen die für das betreffende Zeitalter charakteristische Gestaltung empfing.
Durch seine Umwandlung in ein anorganisches Wesen ist auch das menschliche Erkennen aus der Wirksamkeit dieser kosmischen Kräfte herausgefallen. Dadurch aber hat der Mensch die Möglichkeit bekommen, sein eigenes Wesen in sein Erkennen hineinzugießen. Er ist im Erkennen frei geworden. Und dadurch hat sich nun der andere fundamentale Unterschied zwischen dem Weltanschauungsstreben selbst noch des Mittelalters und demjenigen der neueren Zeit herausgebildet: An die Stelle einer (S116) einheitlich-gemeinsamen, durch Jahrhunderte lebendig sich fortentwickelnden Weltanschauung treten jetzt ebenso viele individuelle Weltanschauungen auf wie Denker. Denn das Erkennen wird jetzt zum Ausdruck der einzelnen menschlichen Persönlichkeit. Freilich, so mannigfaltig, ja widersprechend diese einzelnen Weltanschauungen untereinander sind, eines haben sie gemeinsam: sie sind alle im wesentlichen starre, tote Systeme, gegenüber denen nur die Möglichkeit der Anhängerschaft oder Gegnerschaft besteht, nicht aber diejenige einer echten lebendigen Weiterbildung.
Und hiermit haben wir nun die Grundlage gewonnen, auf welcher wir die geistesgeschichtliche Stellung der Anthroposophie und ihr Verhältnis zu den beiden geschilderten philosophischen Verhaltungsweisen genau bezeichnen können. Sie ist nämlich nichts Geringeres als die Wiedererweckerin des erstorbenen Erkenntniswesens zu einem neuen Leben. Eine solche Wiedererweckung ist im geschichtlichen Werdegang der Menschheit eben durchaus möglich. Dadurch unterscheidet sich diese von den äußeren Naturreichen. Was in den letzteren einmal dem Tode verfallen ist, kann aus sich selbst nicht mehr lebendig werden. Der Mensch aber vermag, was in einem Teile seiner Wesenheit sich mineralisiert hat, aus seinem Gesamtwesen heraus wieder zu verlebendigen, weil jedem Abstieg in seinem äußeren Wesen ein Aufstieg in seinem inneren, eine Verstärkung seines Geistig-Seelischen parallel geht. Das Ersterben seiner Erkenntnisorganisation hat dem Menschen das volle Erleben seines individuellen Wesens gebracht, freilich zunächst innerhalb des toten irdischen Erkennens. Aus der Kraft dieses erwachten Individuellen heraus kann er nun sein Erkennen wieder beleben. Dies hat Rudolf Steiner in seinen philosophischen Schriften getan, mit denen er sein anthroposophisches Wirken einleitete. Und dies bezeichnet auf den Charakter und das Ziel der Übungen, welche den anthroposophischen Erkenntnisweg ausmachen.
Durch diese Wiederbelebung öffnet sich aber das Erkennen wieder den aus der geistig-kosmischen Welt einstrahlenden (S117) Wirkungen. Ja, es ist beides im Grunde eines und dasselbe. Die erstere wäre eine bloße Phrase, wenn sie nicht durch das letztere zum Ausdruck käme. So wird verständlich, warum Anthroposophie als die Wiedererweckerin des Erkennens zu einem neuen Leben zugleich eine Wissenschaft von der übersinnlichen Welt geworden ist. Durch das belebte Erkennen kommt der Mensch eben wieder in Verbindung mit den Kräften und Wesenheiten der geistigen Welt, mit denen er im Beginne der neueren Zeit den letzten Zusammenhang verloren hatte.
Freilich ist diese neue Verbindung von anderer Art, als es die alte gewesen war. Diese war eine unfreie, jene wird eine freie. Ehemals konnte der Mensch in seinem Denken, weil in diesem die Götter dachten, sein eigenes Wesen noch nicht betätigen und erleben. In instinktiver Art, ohne sein besonderes Zutun erhielt er sein Wissen von den Göttern geschenkt. Nachdem dieser alte Verkehr mit den Göttern aufgehört hatte, lernte er sein eigenes Wesen zunächst im toten, geistentfremdeten Erkennen betätigen und erleben. Dieses Wesen erschien ihm dadurch selbst als ein bloß irdisches. Weckt er nun sein Erkennen aus der Kraft seiner Individualität heraus zu neuem Leben auf, dann nimmt er einerseits jetzt in freier, bewußter Art die Inspirationen der göttlich-geistigen Weesen entgegen. Andererseits bleibt ihm sein Selbsterleben erhalten; allerdings wandelt sich dieses. Er erkennt nämlich jetzt, daß sein Selbst seinem ureigenen Wesen nach ein geistiges, der geistigen Welt angehöriges ist, und daß er bisher nur dessen irdischen Ausdruck erlebt hat. So gelangt er also, indem er die fortschreitende Belebung seines Erkennens der geistigen Welt gleichsam als Gefäß entgegenbringt, in das sie ihre Offenbarungen hineingießen kann, einerseits zu einem freien Erleben dieser äußeren, geistigen Welt, andrerseits zum Erleben seines wahren Selbst als einer im Geiste wurzelnden Wesenheit.
Dadurch aber verschmelzen die beiden charakterisierten Verhaltungsweisen, in die sich das moderne Weltanschauungsstreben gespalten hat, hier wieder in eins. Auf der (S118) einen Seite schließen sich die Erkenntnisse, die der Mensch im geistigen Verkehr mit den Wesenheiten der Geistwelt von diesen empfängt, immer mehr zu einem systematischen Ganzen zusammen. Aber diese Systematik ist nun nicht eine von ihm künstlich-gewaltsam konstruierte, sondern eine solche, die sich, weil sie die Systematik der Welt selber ist, in dem Maße von selbst herstellt, als die Offenbarungen sich mehren, die dem Menschen von den geistigen Weltwesen zufließen. Hierzu aber muss er in fortwährender beweglicher Entwicklung immer weitere Teile seines Erkennens dem Tode entreißen und zu immer vollerem Leben erwecken. Damit ist aber die Sache auch schon von der anderen Seite berührt: Es ist das Erkenntnisleben, in das der Mensch hineinwächst, ein unablässiges Sichverlebendigen, ein Erklimmen immer neuer Höhen des Erkennens. Aber ein Aufsteigen, das nicht über die wirklichen Erkenntnisse hinwegflattert, sondern von einer konkreten inhaltvollen Einsicht zur andern sich erhebt.
Damit aber stellt sich für die Seele zugleich noch ein Drittes und Bedeutsamstes ein: ein Verständnis für das wahre Wesen des Erkennens selber. Indem dem Menschen in dem Maße, als er sein Erkenntniswesen zu lebendiger Entfaltung zu bringen vermag, immer weitere Erkenntnisse zuteil werden, wird ihm klar, daß der Sinn des Erkenntnisstrebens nicht darin liegen kann, die sinnlichen Welträtsel auf irgendeinem Punkte der Entwicklung durch eine fertige, abgeschlossene Lösung zu beantworten, aber auch nicht darin: nach einer Antwort immer nur zu streben, ohne sie in der endlichen Zeit jemals finden zu können - sondern daß jeder Stufe der Entwicklung bestimmte Erkenntnisse entsprechen, und dass daher die Aufgabe des Menschen als eines erkennenden Wesens darin liegt, auf jeder Stufe seines Werdens die Kraft aufzubringen, sich diejenigen Erkenntnisse zu erringen, die dieser Stufe angemessen sind und die er auf ihr braucht. Wie der Mensch auch leiblich sich weder in einem bestimmten Augenblick ein für allemal satt essen, noch aber auf die Dauer leben könnte, wenn (S119) er von dem Quantum Nahrung, das sein Organismus benötigt. immer nur einen Bruchteil bekäme, sondern jeden Tag von neuem soviel essen muss, wie sein Organismus nach dieser Zeit immer wieder braucht - so kommt es für ihn auch geistig darauf an, an jedem neuen Seelentag, d.h. auf jeder neuen Stufe seiner innern Entwicklung diejenigen Erkenntnisse zu gewinnen, die seinem jeweiligen Reifezustand, seiner jeweiligen Stellung innerhalb des Weltganzen entsprechen. Goethe hat diese wahre Aufgabe des menschlichen Erkennens in dem schönen Worte gekennzeichnet: "Keinne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Aussenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige." Und Rudolf Steiner hat den wahren Sinn des Erkennens mit dem nicht weniger schönen Worte bezeichnet: "Die Wahrheit erkennen, heißt in der Wahrheit leben." Ja, darauf muß es demjenigen ankommen, der den Sinn des Erkennens erfasst hat: danach zu streben, daß er immerfort in der Wahrheit leben kann, d.h. an jedem Tage seines Lebens sich diejenigen Erkenntnisse zu erringen, die sein jeweiliges Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umwelt zum Ausdruck bringen.
Das ist es im Grunde, was die Anthroposophie möchte, daß jeder Einzelne durch sie gewinne. Das ist es aber auch, was sie für die Menschheit als ganze zu erreichen sucht. Denn auch für die Menschheitsentwicklung gilt, daß sie weder in irgendeinem Zeitalter einmal die ganze Wahrheit in einer endgültigen Form findet, noch auch nach ihr wie nach einem unendlich fernen Ziele immer nur hinstrebt, sondern in jeder Epoche muß sie sich die Wahrheit in einer ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe angemessenen Gestalt neu erobern. Diese verschiedenen Gestalten aber widerlegen sich gegenseitig nicht, sondern ergänzen einander zu einem Gesamtbilde der Wahrheit, von welchem jede eben nur gleichsam ein bestimmtes Teilstück besonders beleuchtet. Goethes Wort könnte hierfür so umgeprägt werden: "Vermag die Menschheit in irgendeinem Zeitalter ihr Verhältnis zu sich selbst und zur Welt zu erfassen, so darf sie's Wahrheit heißen: und so kann jedes (S120) Zeitalter aber seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige."
Daß die Menschheit sich dessen voll bewußt werde, daß sie wieder in der Wahrheit leben lerne, das möchte Anthroposophie bewirken. Sie will es dadurch bewirken, daß sie ihr jene Erkenntnisse vermittelt, welche die Menschheit heute braucht. Denn daß die Menschheit in unserer Zeit neuer Erkenntnisse bedarf, das kündigt der Zerfall deutlich an. Denn immer, wenn eine Gestalt des Lebendigen welkt, ist dies ein Zeichen, daß eine neue in die Sichtbarkeit treten will. Der Kelch muß abfallen, damit die Blüte sich entfalte; wenn die Blüte welkt, dann reift die Frucht. Der Niedergang, in welchem wir heute das traditionelle Geistesleben sehen, ist ein Zeichen dafür, daß eine neue Epoche der Geistesentwicklung anbrechen will, daß neue Erkenntnisse in das Menschheitsbewußtsein aufgenommen werden wollen. Anthroposophie will mit den Anschauungen, die sie verkündigt, nicht eine endgültige Lösung der Welträtsel bringen, auch nicht eine Weltanschauung für Auserwählte, die nur durch Zurückziehung vom Leben erlangt werden kann, sondern diejenigen Erkenntnisse, nach denen sich die Menschen, wenn sie nur die in ihnen lebenden Fragen und Sehnsuchten recht verstehen, heute sehnen. Wer nicht in abstrakten Theorien befangen ist, sondern mit unvoreingenommenem Sinn hören kann, was eigentlich aus den Sehnsuchten der Gegenwart spricht, der wird aber vernehmen können, daß das Bedürfnis herausklingt, die geistige Welt wieder im seelischen Erleben zu ergreifen, sich selbst als eine in dieser geistigen Welt wurzelnde Wesenheit zu erkennen. Diesen konkreten Bedürfnissen will Anthroposophie gerecht werden. Sie will dadurch der Menschheit darüber hinaus auf den Weg verhelfen, auch fernerhin sich aus eigener Kraft im Leben in der Wahrheit zu erhalten.