Erster Teil
3. Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg.
Die Bewegung für soziale Dreigliederung
Von der Zeit meines Militär- beziehungsweise Kriegsdienstes - Mitte August 1917 bis Dezember 1918 - wäre in anderer Hinsicht mancherlei zu erzählen; denn sie brachte für mich, wie man sich wohl denken kann, vielerlei, zum Teil seelisch stark und tief bewegende Erlebnisse mit sich. Von dem Gesichtspunkt aus, von dem dieser Lebensrückblick angestellt wird, kann ich sie jedoch weitgehend überspringen. Im ganzen genommen läßt sich von ihr sagen: es war, als hätte das Schicksal durch sie mir zwar einige Kostproben vom damaligen deutschen Militäär und vom Kriegsgeschehen vermitteln, im übrigen aber nich nur in eine möglichst kurze und glimpfliche Berührung mit dieser Welt bringen wollen. Den größten Teil dieser Zeit verbrachte ich in Lazaretten. Ich wurde der Infanterie zugeteilt und hatte zunächst eine 4 1/2 monatige Rekrutenausbildung in Ulm zu absolvieren. Im zweiten Monat erkrankte ich an einer Ruhr-Epidemie, die sich bei einer Manöverübung in unseren Reihen ausbreitete, und kam für eineinhalb Monate in ein Seuchenlazarett nach Reutlingen. Zu Weihnachten erfolgte unser Abtransport nach Nord-Frankreich, zunächst in die Etappe. Nach kurzer Zeit brach in unserem dortigen Lager eine Paratypus-Epidemie aus. Sie warf auch mich für zwei Monate aufs Krankenlager nieder, das ich in einem Lazarett in Charleville verbrachte. Ende März wurden wir dann bei der großen Frühjahrsoffensive eingesetzt, welche die Entscheidung des Krieges herbeiführen sollte. Im Laufe von 14 Tagen machten wir den siegreichen Durchbruch und Vormarsch mit, der die deutschen Heere noch einmal bis in die Nähe von Paris brachte. Am 16. April wurde ich durch ein Schrapnellgeschoß (S31) am rechten Oberschenkel schwer verletzt und in ein Lazarett nach Schlettstadt im Elsaß eingeliefert. Dort verblieb ich bis zum Ende des Krieges; denn da der Knochen zersplittert war, sonderte die Wunde immer wieder neue Splitter desselben ab, wodurch ihr Verheilen sehr in die Länge gezogen wurde.
Schon nach Charleville hatte ich mir von zu Hause anthroposophische Literatur schicken lassen; insbesondere waren es die "Rätsel der Philosophie", die ich dort während meiner Rekonvaleszenz nochmals gründlich durcharbeitete. Der mehr als halbjährige Aufenthalt in Schlettstadt vollends wurde zu einer Zeit intensiven Studiums teils von Schriften Steiners, teils verschiedenster anderer Literatur. Tiefen Eindruck machte mir vor allem Rathenaus kurz zuvor erschienenes Buch "Von kommenden Dingen". Es führte mich erstmals in die soziale Problematik der Zeit ein.
Hier sei nur noch einiger menschlicher Beziehungen gedacht, die sich in jener Zeit knüpften. Frau Senn hatte mir beim Abschied von Basel die Adressen einiger in Ulm wohnender Anthroposophen mitgegeben. So lernte ich dort das liebenswürdige Ehepaar Wolfer (Zeichenlehrer an einer Gewerbeschule) kennen, das mit großem Idealismus der Anthroposophie ergeben war und auf künstlerischem Gebiete in der durch sie gewiesenen Richtung arbeitete. Ich verlebte dort manche glücklichen Abende, von denen ich meist erst kurz vor dem Zapfenstreich in die Kaserne zurückkehrte. Auch war ich öfters bei Baronin von Malchus zu Besuch, die mich ebenfalls aufs freundlichste aufnahm. Fast 50 Jahre später trafen wir uns erst wieder in Ravensburg, wo ich in dem von ihr geleiteten Zweig Vorträge hielt. Ihr Gatte war während des Krieges Kommandeur des Regiments gewesen, zu dem ich dann im Felde versetzt wurde. Die wichtigste menschliche Begegnung jener Zeit aber war diejenige mit Anton Burg, die in Schlettstadt stattfand. Er war im dortigen Lazarett als Sanitätsunteroffizier beschäftigt, da er, ein paar Jahre älter als ich, Medizin studierte und in der Kindheit ein Auge verloren hatte. Ein Feuergeist, war er im höchsten Maße philosophisch interessiert und vielseitig belesen, und so stellte sich, als er auf meinem Nachttisch philosophische und anthroposophische Literatur liegen sah, sogleich eine enge Beziehung zwischen (S32) uns her. Ich machte ihn in der Folge mit der Anthroposophie näher bekannt, die er mit großem Interesse aufnahm, darüber hinaus aber führten wir unzählige Gespräche über philosophische Themen - neben vielen Späßen, die wir in seinem Büro mit seinen Dienstkollegen zusammen uns leisteten. Er war ein ausgesprochen "dialogischer" Denker. Seine Ideen entfalteten sich am intensivsten im mündlichen oder im brieflich-schriftlichen Gespräch. So galt denn auch sein Nachsinnen vornehmlich den Quellen, den Bedingungen und den Stufengraden geistigen Schöpfertums. Seine Gedankenentwicklungen hatten den Charakter von Begriffsdichtungen. In späteren Phasen seines Lebens verfaßte er denn auch bedeutende philosophische, aber auch lyrische Dichtungen, die hinsichtlich ihrer sprachlich-stilistischen Form zum Teil bemerkenswerte Neuschöpfungen darstellten. Seine Begabung war wohl in gleichem Maße eine dichterische wie eine denkerische. Er erschien mir zu einer bedeutenden Laufbahn berufen. Nach vieljährigem Studium brachte er es freilich nur zum Gymnasialprofessor, als welcher er allerdings seinen Schülern ein zu höchstem geistigem Aufschwung hinreißender Lehrer war. Eine ererbte Anlage zu depressiven Gemütszuständen, die sich in späteren Jahren in schweren psychischen Krisen auswirkten, ließ die literarische Ausgestaltung seiner Gedanken nicht über vielerlei und immer wieder neue Ansätze hinaus gedeihen. Wir trafen uns bald nach dem Kriege in Heidelberg wieder, wo wir eine Zeitlang beide studierten. Auch erlebten wir gemeinsam viele von den Vorträgen, die Rudolf Steiner in den Jahren nach dem Kriege in Stuttgart und Dornach hielt. Unsere Schicksalswege trennten sich dann, unsere Beziehung erhielt sich aber durchs Leben und intensivierte sich zuletzt wieder bis zu seinem vor mehr als einem Jahrzehnt erfolgten Tode.
Mein Vater war nach dem Kriege nicht mehr in die Schweiz zurückgekehrt, sondern hatte in Stuttgart eine neue Anstellung gefunden. Bald darnach übersiedelte auch meine Mutter dahin. So fügte es das Schicksal abermals, daß mein elterliches Heim an den Ort versetzt wurde, der zur selben Zeit der Mittelpunkt anthroposophischer Aktivitäten wurde. Es war dies mindestens seit dem Frühjahr 1919 der Fall, in welchem mit der Begründung des Bundes für soziale (S33) Dreigliederung von Stuttgart aus die Dreigliederungsbewegung mit starkem Elan vortragsmäßig und publizistisch in die deutsche Öffentlichkeit hineingestellt wurde. Im Herbst desselben Jahres erfolgte dort die Gründung der Freien Waldorfschule, im darauffolgenden Jahre diejenige der Aktiengesellschaft "Der kommende Tag", mit welcher der Keim einer assoziativen Gestaltung des Wirtschaftslebens (zunächst im Raume Württembergs) gelegt werden sollte. Zu ihren verschiedenen Unterabteilungen gehörten neben industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben auch ein Verlag und mehrere naturwissenschaftliche Forschungsinstitute. Im Sommer 1921 fand in Stuttgart der erste öffentliche Kongreß der anthroposophischen Bewegung statt. Ich hatte mich im Dezember 1918 an der Universität in Tübingen immatrikuliert, verbrachte aber den größten Teil meiner Zeit in Stuttgart und hörte fast sämtliche Vorträge, die Rudolf Steiner dort und in der Umgebung öffentlich, vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft und vor Arbeitern verschiedener industrieller Betriebe hielt. Denn noch einmal, mit ähnlicher Wirkung wie drei Jahre vorher, als ich mit der Anthroposophie bekannt geworden war, schlug jetzt wie ein zündender Blitz, der mir die Welt mit einem neuen Licht erhellte, in meine Seele die Idee der sozialen Dreigliederung ein, die Rudolf Steiner nun verkündete. Nur kam in diesem Fall, ihre Wirkung verstärkend, der Umstand noch hinzu, daß diese Idee hineingesprochen wurde in die Situation des militärischen, politischen und sozialen Zusammenbruchs Mitteleuropas, der mit dem Ende des Krieges erfolgt war, dessen Auswirkungen wir täglich erlebten, und der eine politische und soziale Neugestaltung als schlechthin unumgänglich notwendig erscheinen ließ. Die Idee der sozialen Dreigliederung erwies, daß diese Neugestaltung nur aus den Quellen der Anthroposophie kommen könne, das hieß aber: daß diese selbst zur Neuordnung des äußeren Lebens bis in die Sphäre der Wirtschaft hinein befähigt und berufen und damit auf dem Wege der sozialen Dreigliederung in ihrer Gesamtheit ihre geschichtliche Verwirklichung zu finden bestimmt sei. Und so brachte sie für mich, der ich nun von neuem und noch dringender vor der Notwendigkeit stand, mich für ein bestimmtes Studien- und Berufsfach (S34) zu entscheiden, die schon konkretere Ahnung mit sich, daß ich auf dem Boden des Dreigliederungsimpulses irgendwie eine praktisch-berufliche Tätigkeit zu suchen habe. So wollte ich mich denn, neben meinen Universitätsstudien, sogleich tätig in den Dienst der Dreigliederungsbewegung stellen. Dies führte zu meiner ersten persönlichen Begegnung mit Rudolf Steiner. Ich schrieb ihm nämlich schon bald nach seinen ersten Vorträgen über die soziale Dreigliederung einen Brief, in welchem ich ihn um ein persönliches Gespräch bat. Die Idee der sozialen Dreigliederung, so erklärte ich darin, erscheine mir als das Anthroposophischste, was er bisher gebracht habe; ich möchte mich darum ganz in den Dienst dieser Sache stellen und bitte ihn, in einem persönlichen Gespräch mir einen Rat darüber geben zu wollen. Am Schluß des nächsten öffentlichen Vortrages im Gustav-Siegle-Haus stellte ich mich ihm dann als den Schreiber dieses Briefes vor, und er bezeichnete mir Tag und Stunde, an dem ich mich in der Landhausstraße, wo er wohnte, einfinden möge.
Mit stark klopfendem Herzen und im vollen Bewußtsein der Bedeutung, welche dieses Gespräch für mich haben werde, erschien ich zur genannten Zeit im Hause der Landhausstraße. Man bedeutete mir, etwas zu warten, da Dr.Steiner noch nicht anwesend sei. Es dauerte aber nicht lange, da öffnete sich die Haustür, und ich sah vom ersten Stock aus, wo ich wartete, Rudolf Steiner langsam und müde wie ein uralter Mann die Treppe heraufsteigen, auf den Arm Marie Steiners gestützt. Oben angelangt, begrüßte er mich freundlich und bat mich, im roten Zimmer auf ihn zu warten. Nach kurzer Zeit kam er, wesentlich frischer aussehend, setzte sich mir gegenüber an den Tisch und hörte aufmerksam zu, als ich ihm über mich, meine Studien und meine Absichten erzählte und ihn zuletzt bat, mir zu raten.
Da ich erwähnt hatte, daß ich in Tübingen neben anderen Fächern auch Nationalökonomie zu studieren begonnen habe, fragte er mich zuerst, ob ich schon Werke von Karl Marx gelesen habe. Als ich dies verneinte, bemerkte er, das sei aber absolut nötig, wenn man auf sozialem Gebiete tätig sein wolle. Denn die Arbeiterschaft, beziehungsweise die sozialdemokratische Partei, die ja damals eine (S36) führende Stellung im deutschen Staatswesen erlangt hatte, bewege sich geistig ganz in den Denkgeleisen des Marxismus. Es sei aber notwendig, alle Begriffe, die Marx entwickelt habe: Arbeit, Wert, Mehrwert usw. von Grund auf umzubilden. Es müsse sein "Kapital" sozusagen gänzlich umgeschrieben werden. Er exemplifizierte mir dies an einigen Beispielen von marxistischen Begriffen.
Es gebe freilich noch einen anderen Weg - so erklärte er im weiteren Verlauf des Gesprächs -, die Idee der sozialen Dreigliederung zu begründen: ausgehend nämlich von der Volksseelenkunde, wie er sie in seinem Vortragszyklus über die "Mission einzelner Volksseelen" entwickelt habe. Während mir seine Bemerkungen über den Marxismus sofort einleuchteten, konnte ich mit denen über die Volksseelenlehr zunächst nichts anfangen. Erst viele Jahre später habe ich dann auch von da her die Möglichkeit gefunden, einen Zugang zum Impuls der sozialen Dreigliederung aufzuweisen (siehe mein Buch "Die Volksseelen Europas").
Schließlich aber meinte er - nachdem er mir noch einige Anweisungen für die Pflege meines persönlichen inneren Lebens gegeben hatte - : da ich Student sei, sei es doch wohl für mich das Nächstliegende, unter meinen Kommilitonen für die Anthroposophie beziehungsweise Dreigliederung etwas zu tun. Ich möge mich zunächst bemühen, unter ihnen solche zu finden, die dafür zu interessieren seien, um ihnen die Sache nahezubringen. Mit diesem Rat wurde ich von ihm entlassen.
In Befolgung desselben gelang es mir kurz darauf, in Tübingen etwa ein Dutzend Studenten zusammenzubringen, die Interesse dafür zeigten, die Anthroposophie kennenzulernen; und diesen hielt ich dann noch im Frühjahr 1919 meinen ersten Einführungskurs in die Anthroposophie.
Die Ausarbeitung dieses Einführungskurses war eine meiner hauptsächlichsten Tätigkeiten während des Frühsommers in Tübingen - eine andere bestand in dem gründlichen Durcharbeiten von Steiners Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in der Kürschnerschen Nationalliteratur, die ich mir von der dortigen Universitätsbibliothek auslieh. Denn ich war, wie schon erwähnt, verhältnismäßig wenig in Tübingen anwesend, so wohl ich mich (S36) auch in der von so vielen Erinnerungen an die große Zeit der deutschen Dichtung und Philosophie erfüllten, damals noch recht gemütlichen Stadt und ihrer lieblichen landschaftlichen Umgebung fühlte. Diese spärliche Anwesenheit hatte aber nicht nur darin ihren Grund, daß ich so viel wie möglich von den Vorträgen Steiners in Stuttgart hören wollte, sondern noch in einem andern Umstand. Die politischen Zustände waren damals auch in Süddeutschland sehr chaotische. Während in Paris die Friedensverhandlungen geführt wurden, die im Sommer 1919 mit der Versailler Diktat endeten, in Deutschland die Wahlen vorbereitet und abgehalten wurden zur verfassungsgebenden Nationalversammlung, die dann in Weimar zusammentrat, gab es in Württemberg Ende März einen 8tägigen Generalstreik mit Schießereien in Stuttgart; in München herrschte eine kommunistische Räteregierung. Als Freiwillige sich zu melden, um gegen diese Fehde zu ziehen, erging in der Osterzeit ein Aufruf an die Tübinger Studentenschaft, dem ein großer Teil derselben Folge leistete. Die Vorlesungen wurden für mehrere Wochen unterbrochen. So war eine Konzentration auf das Studium kaum möglich. Die hinter mir liegenden Kriegsereignisse, das aufregende und turbulente politische Tagesgeschehen ließen mich nicht zu der hierfür notwendigen inneren Ruhe kommen. Die Vorlesungen sagten mir nicht viel, obwohl ich, um mich zu orientieren, die verschiedenen Professoren anhörte. In der philosophischen Hauptvorlesung von Prof. Adickes schlief ich regelmäßig nach den ersten Minuten ein. Von der Philologie nahm ich entschiedenen Abschied und vertauschte sie mit der Nationalökonomie. Im Mittelpunkt stand nun Geschichte; in deutlicher Erinnerung ist mir denn auch die Vorlesung von Prof. Wahl über die Geschichte der deutschen Reformation geblieben, die mich anregte, zugleich die entsprechende Darstellung Rankes zu lesen. Ins Zentrum meiner Privatstudien rückte, im Anschluß an die erkenntnistheoretischen Schriften Steiners, mehr und mehr die Philosophie des deutschen Idealismus.
Außer bei dem Leiter der Tübinger Gruppe der Anthroposophischen Gesellschaft, Herrn Gewerbelehrer Rudolf Schenkel, war ich öfter bei Hermann Heisler zu Besuch, damals protestantischer (S37) Pfarrer in Tübingen, später Pfarrer der Christengemeinschaft. Er war ein hervorragender hinreißender Redner, nahm auch am politischen Geschehen lebhaften Anteil und hatte soeben ein Buch über die deutsche "Revolution" vom November 1918 erscheinen lassen. Bei ihm lernte ich eines Abends Dr. Roman Boos kennen, als dieser auf einer Reise durch Tübingen kam, die er zum Zwecke der Sammlung von Unterschriften für den Aufruf Rudolf Steiners "An das deutsche Volk und an die Kulturwelt" unternahm, mit welchem der Öffentlichkeit eine erste Skizze der Dreigliederungsidee vorgelegt werden sollte. Aus ihr erfuhr ich erstmals vom Vorhandensein solcher Intentionen. Im März 1919 erschien dieser Aufruf dann in vielen deutschen Tageszeitungen. Die kraftvolle, von innerer Energie geladene Persönlichkeit von Dr. Boos hinterließ in mir einen starken Eindruck.
Im Laufe des März hielt Pfarrer Heisler in einer von etwa 2000 Studenten besuchten Versammlung der Studentenschaft einen Vortrag über die neue politische Lage und die neuen politischen Aufgaben; er vermochte sie mit ihm derart zur Begeisterung hinzureißen, daß die Teilnehmer - obwohl sie größtenteils, als ehemalige Offiziere und Kriegsteilnehmer, national-konservativ gesinnt waren - zum Schluß einer von ihm formulierten Entschließung zustimmten, sich voll und ganz auf den Boden des neuen, republikanischen Staates stellen und an seinen politischen und sozialen Aufgaben postitiv mitarbeiten zu wollen. Anfang Juni - denn inzwischen war durch die Wirksamkeit Rudolf Steiners und seiner Mitarbeiter die Dreigliederungsidee in Württemberg zu einem in vielen Kreisen besprochenen Diskussionsthema geworden - erfolgte eine Einladung der sozialistischen Studentengruppe an Dr.Steiner zu einem öffentlichen Vortrag über die soziale Dreigliederung in Tübingen. Am 2. Juni fand dieser Vortrag im größten Saale der Universität statt, der von der Tübinger Bevölkerung, der Studentenschaft und einem Teil der Professorenschaft bis auf den letzten Platz besetzt war. Ich habe Rudolf Steiner niemals mit solcher Mühe und Anstrengung sprechen hören wie an diesem Abend. Es war, als kämpfte er mit allen seinen Kräften gegen einen Strom von an ihn heranbrandender Antipathie und Ablehnung. In (S38) der Tat erfolgten schon nach wenigen Worten der Einleitung Rufe der Ungeduld aus dem Saal: "Endlich zur Sache!" - und gegen Schluß des Vortrags wurde die Unruhe unter der Zuhörerschaft immer größer. In der sich anschließenden und bis gegen Mitternacht sich hinziehenden Aussprache traten zunächst mehrere Professoren auf und zerpflückten von verschiedensten Gesichtspunkten her die Ausführungen Steiners, die hernach zu Worte sich meldenden Studenten aber gingen zu verächtlichen Verhöhnungen und Beschimpfungen über; die zuletzt zu Worte kommenden Mitarbeiter Rudolf Steiners entkräfteten dann freilich die vorgebrachten Einwände und Argumente und wiesen die Unverschämtheiten der Studenten aufs schärfste zurück. Der Abend endete ohne irgend ein positives Ergebnis. Die Gegner der Dreigliederungsidee schienen aber damit noch nicht befriedigt. Wenige Tage darnach veranstaltete der sozialwissenschaftliche Verein eine Sitzung, die einer weiteren Aussprache über den "Fall Steiner" gewidmet war. Unter den verschiedenen Rednern, die sich da kritisch mit der Dreigliederungsidee auseinandersetzten, erklärte einer, man müsse nicht nur die Idee kennen, sondern auch den Mann, der sie vertrete. Anschließend gab er dann eine Biographie Steiners zum besten, die ein von Unwahrheiten und Entstellungen strotzendes Zerrbild seiner Persönlichkeit und seines Lebensganges vor die Zuhörer hinstellte. Mir riß nun die Geduld. Ich wußte nicht, wer der Redner gewesen war. Aber ich meldete mich zum Wort und erklärte, daß das von ihm entworfene Bild ein "von A bis Z vollkommen entstelltes" sei, und versuchte, es Punkt für Punkt richtigzustellen. Es erhob sich aber ein solcher Sturm der Entrüstung gegen mich - wegen meiner unerhörten Angriffs auf einen Professor!, denn ein solcher war mein Vorredner -, daß ich nicht zu Ende kommen konnte, sondern froh sein durfte, mit heiler Haut den Saal verlassen zu können.
Dieses Erlebnis machte das Maß der Enttäuschung voll, die mir die akademische Welt in Tübingen bereitet hatte. Und so beschloß ich denn, mein Studium im nächsten Semester an einem anderen Ort fortzusetzen. Mein älterer Bruder hatte nach seiner Rückkehr aus dem Feld in Heidelberg zu studieren begonnen. Ich hatte ihn im Frühjahr einmal dort besucht und in einem Kreise von für (S39) Anthroposophie sich interessierenden Studenten einen Vortrag gehalten, der gut aufgenommen wurde. Auch hatte ich dort Anton Burg wieder angetroffen. So entschied ich mich denn für Heidelberg.