Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Erster Teil, Zweites Kapitel:

Die mit der Freiheitsentwicklung verbundenen Wandlungen des Verhältnisses zu Gut und Böse in geschichtlicher Zeit

I.

Vorchristliche Ära


(S50)   Wenden wir uns nun der dritten Hauptphase der irdischen Menschheitsentwicklung: der nachatlantisch-geschichtlichen zu, so haben wir zunächst an ein Grundgesetz dieser Entwicklung zu erinnern, das wir im ersten Band (III.4 Schichtung der Zeitsysteme, S203ff) als im Wesen der Zeit selbst begründet aufgewiesen haben. Dieses Gesetz besagt, daß die größte, hauptsächlichste zeitliche Gliederung der Menschheitsentwicklung sich in jedem einzelnen ihrer Glieder - in entsprechender Abwandlung - wiederfindet. Demgemäß gliedert sich auch die dritte, geschichtliche Hauptphase des Menschheitswerdens wieder in drei Abschnitte, deren zwei erste die Urzeit und die Vorgeschichte im Medium der Geschichte rekapitulieren; und erst ihr dritter und letzter bringt das Eigenwesen der geschichtlichen Entwicklung innerhalb derselben zur reinen und vollen Ausprägung.

   Fassen wir daher die Frühstadien der geschichtlichen Entwicklung ins Auge, so sehen wir in ihnen die verschiedenen Etappen des urzeitlichen Werdens im Elemente der Geschichte sich widerspiegeln. Das letztere hatte ja, wie wir im Vorangehenden geschildert haben, im "Sündenfall" und in der "Austreibung des Menschen aus dem Paradies" einen gewissen Abschluß gefunden. Entsprechend stoßen wir in einer bestimmten Zeit des geschichtlichen Werdens, in der diese Rekapitulation der Urzeit zu Ende geht, auf ein Geschehen, das wie eine Wiederholung des Sündenfalles, aber jetzt im Elemente der Geschichte, erscheint. Zumindest wird es im Alten Testament so geschildert, indem dieses auch an ihm wieder das in ihm enthaltene moralische Moment hervorhebt. Es handelt sich um den Verlust der ursprünglichen Einheit der menschlichen Sprache, die wir ja auch im Sinne der hier vertretenen Menschenwesenserkenntnis (I.2 Vorgeschichte und Sprache S38ff) geltend machen mußten. Wir brachten diesen Vorgang dort in Zusammenhang mit der Wandlung, die sich im Übergang zur Geschichte mit dem Verhältnis des Menschen zur Welt der Universalia vollzogen hat. Der mosaische Bericht bringt ihn in Verbindung mit

(S51) dem babylonischenTurmbau. Mit diesem sollte, seiner Darstellung zufolge, ein Bau errichtet werden, "des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen". In anderer Art zwar als im Paradies haben wir es aber doch auch hier mit einem Akte der Selbstüberhebung des Menschen zu tun, - mit dem Bestreben, "zu sein wie Gott". Und wiederum trifft ihn die Strafe des Herrn, indem dieser nun seine Sprache verwirrt, so daß die verschiedenen Völker, die gegenseitig ihre Sprache nicht mehr verstehen, sich "in alle Länder zerstreuen und aufhören mußten, die Stadt zu bauen". Es ist gewissermaßen die Austreibung der Menschheit aus dem Paradies der ihr von ihrem Ursprung her noch verbliebenen gemeinsamen Sprache. Nur verläuft diese Katastrophe nun im Elemente rein geschichtlicher Ereignisse; die außermenschliche Erdennatur oder gar der Kosmos wird nicht mehr in sie mit hineingerissen.

   Sehen wir aber von diesem speziellen Ereignis ab, so erweist sich als das wichtigste Charakteristikum der nachatlantisch-geschichtlichen Entwicklung, wie sie durch diejenigen Völker in Gang gebracht und weitergeführt wurde, die von der moralischen und physischen Verderbnis der späten Atlantis am wenigsten betroffen waren, daß noch durch lange Zeiten, ja bis gegen die Mitte der nachatlantischen Epoche an jener Zweiteilung der menschlichen Bevölkerung in die kleine Zahl der geistigen Führer und die große Masse der Geführten festgehalten wird, die das spezifische Merkmal der vorgeschichtlich-atlantischen Entwicklung gebildet hatte. Allüberall auf der Erde finden wir bis in die Blütezeit der griechisch-römischen Kultur hinein in der einen oder andern Form ein Mysterienwesen mit seinen Eingeweihten, die als die geistigen Führer der übrigen Menschheit deren ganzes Dasein durch eine moralisch-politische Gesetzgebung gestalten, die sie im Namen und Auftrag der Götter verkündigen, mit denen sie durch ihre Initiation in Verbindung kommen. Wir mögen nach Indien blicken, wo wir das "Gesetzbuch des Manu" finden, von dem sich die indische Kastenordnung herleitet, oder nach Persien, wo ein Zarathustra seine Lehre von dem lichten Ormuzd, dem Geist des Guten, und dem finsteren Ahriman, dem Geist des Bösen, verkündet und durch Ackerbau und Viehzucht die Macht des letzteren zu bekämpfen lehrt, oder nach Babylon auf die Gesetzgebung, die ein Hamurabi im Namen des Sonnengottes Schamasch erteilt, oder schließlich auf die Art, wie die Pharaonen des Nillandes, die Könige und Eingeweihte zugleich sind, dem ägyptischen Leben sein so eigentümliches Gepräge verleihen. Wir können aber auch daran denken, wie noch die geschichtliche Entwicklung des Griechentums bis weit in die historische Zeit hinein von dem delphischen Mysterienorakel gelent worden ist. Bekannt ist jedoch ebensowohl, wie auf dem Verrat der Mysteriengeheimnisse überall die schwersten Strafen standen und dadurch ein trennender Abgrund zwischen der übrigen Menschheit und ihrer geistigen Führung in jener Zeit klaffte.

(S52)    Die vom moralischen Aspekte weitaus wichtigste aller dieser großen Gesetzgebergestalten ist aber doch diejenige, die innerhalb jenes Volkes auftrat, das, wie schon erwähnt, am intensivsten unter allen die moralische Problematik des menschlichen Daseins erlebt hat: die Gestalt des Moses - hat doch die von ihm ausgegangene Moralgesetzgebung über die israelitische Religion hinaus auch innerhalb des Christentums und damit in der ganzen abendländischen Welt bis auf den heutigen Tag ihre Geltung in gewisser Weise behauptet! Wichtig ist aber Gestalt und Wirksamkeit des Moses ebensosehr aus dem Grunde, weil sie die allermarkanteste Rekapitulation vorgeschichtlich-atlantischer Menschheitsverhältnisse in geschichtlicher Zeit darstellt.

   Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, wie er auf dem Gipfel des Sinai-Berges unter Blitz und Donner aus der Hand Jehovas die Gesetzestafeln empfängt und sie seinem am Fuße des Berges seiner Verkündigung harrenden Volke bringt, und wir haben in archetypischer Form das Bild der in die wenigen geistigen Führer und die große Masse der Geführten zerspaltenen Menschheit der Vorgeschichte vor uns. Die Gesetzgebung des Moses ist auch dadurch prototypisch für den oben geschilderten Charakter vorgeschichtlicher Gebotsverkündigung, daß sie nicht bloß moralische Gebote im engsten Sinne, wie sie der Dekalog enthält, sondern darüber hinaus eine umfassende, in viele Hunderte von Vorschriften sich gliedernde Regelung des gesamten Lebens des israelitischen Volkes darstellt. Erinnern wir uns ferner daran, wie die Angehörigen dieses Volkes von den Lehren ihres Führers immer wieder abfallen und seine Gebote übertreten, und wie er dadurch immer wieder genötigt wird, sie zu strafen und zu züchtigen, so erscheint das Israelitentum hier wie der Repräsentant dessen, was in vorgeschichtlicher Zeit einmal die ganze Menschheit mit dem ihr innewohnenden Trieb zum Bösen gegenüber ihrer geistigen Führung als dem Vertreter des Guten gewesen war. Allerdings stellt sich das Israelitentum als das "auserwählte Volk", mit dem Gott seinen Bund geschlossen, und das er durch den von ihm beauftragten Führer in vierzigjähriger Wanderung aus der in Dekadenz versinkenden ägyptischen Kultur herausführt, zugleich auch wieder dar wie ein Bild der Erinnerung an jenen von der geistigen Führung der Menschheit auserwählten Teil der Erdenbevölkerung, er aus der ihrem Niedergang entgegengehenden Atlantis in jahrhundertelangen, die halbe Erde umkreisenden Wanderungen herausgeführt wurde, um an einer ganz anderen Stelle ihrer Oberfläche den Grundstein einer neuen Entwicklungsepoche zu legen. Und Moses als der Führer dieses auserwählten Volkes erscheint dann gleichsam als ein neuer Noah bzw. Manu. Vergegenwärtigen wir uns des weiteren, wie das israelitische Volk trockenen Fußes das Rote Meer durchschreitet, in dessen Fluten das ihm nachfolgende Heer der Ägypter versinkt, so ist damit ein Erinnerungsbild der in den Wogen der Sintflut versinkenden atlantischen Welt vor uns hingestellt.

(S53)    Mit all dem gewinnt aber auch das "Gelobte Land", dem die Israeliten als dem Ziel ihrer Wanderung entgegenstreben, erst seine volle sinnbildliche Bedeutung. (Und es ist ja eine schon in urchristlicher Zeit erkannte Wahrheit, daß alle Darstellungen des Alten Testaments neben ihrem historisch-pragmatischen noch einen zweiten, symbolischen Sinn haben.) Es ist nämlich dieses Gelobte Land nichts Geringeres als das Symbol dessen, war für die gesamte Menschheit die nachatlantisch-geschichtliche Entwicklung überhaupt bedeutet. Diese ist in der Tat für die Menschheit das "Gelobte Land". Denn wie für das Judentum erst in Palästina seine geschichtliche Mission zu ihrer Kulmination gelangen und dasjenige Ereignis eintreten sollte, dessen Vorbereitung recht eigentlich den Inhalt dieser Mission ausmachte, so sollte für die Menschheit als ganze ihre Erdenmission überhaupt erst in der nachatlantisch-geschichtlichen Entwicklung ihren Gipfelpunkt erreichen und jenes Geschehen eintreten, für welches alle früheren Phasen derselben nur die Vorbereitung bildeten. Und dieses entscheidende Neue, das der Menschheit ihre geschichtliche Entwicklung zu bringen bestimmt war, es sollte - und dies setzt dieser Beziehung von Urbild und Abbild gewissermaßen die Krone auf - gerade in dem Lande in Erscheinung treten, welches für das "auserwählte" Volk sein "Gelobtes Land" war. Hierin manifestiert sich die nicht nur sinnbildliche, sondern reale Bedeutung, die diesem Volk für das zukommt, was der Menschheit für ihre geschichtliche Entwicklung bestimmt war. Hierin liegt es auch begründet, daß das vorchristliche Judentum der eigentliche Begründer des geschichtlichen Bewußtseins geworden ist. Auf dem Wege seiner Sendung sollte dieses Volk aber eben in der mosaischen Gesetzgebung etwas wie ein Erbstück einer Vergangenheit eingepflanzt erhalten, die es als solche schon überwunden, gleichsam aus sich ausgeschieden hatte. Dieser Tatbestand bezeugt sich dadurch, daß die Sinai-Gesetzgebung in Arabien erfolgte, in dessen Mysterien Mose durch Yethro in Kadesch eingeweiht worden war, also im Lande der Ismaeliten, der Nachkommen des Sohnes der Magd, den Abraham samt seiner Mutter Hagar ausgestoßen hatte, bevor ihm von Sara Isaak, der Sohn der Verheißung, geboren wurde. In diesem Sinne besteht zwischen ihr und der in die Zukunft weisenden Mission des Israelitentums ein Gegensatz. "Die Sinai-Offenbarung", so schreibt Emil Bock in seinem "Paulus"-Buch (Stuttgart 1954,S78), "ist ein Arabismus innerhalb der israelitischen Geistesgeschichte. Sie stammt nicht einmal aus den geistigen Quellen, aus denen der Alte Bund als solcher hervorgegangen ist. In gewissem Sinne ist sie sogar eine Verfälschung des Ursprünglichen." Von daher wird in einem noch tieferen Sinne verständlich, warum Moses das Gelobte Land nurmehr aus der Ferne von Bergeshöhe aus erblicken, aber selbst nicht betreten konnte. Sein Wesen und Wirken war viel zu sehr Rekapitulation vorgeschichtlicher Vergangenheit, als daß er dazu in der Lage gewesen wäre. Und so ist es denn auch tief (S54) bezeichnend, daß mit seinem Namen der einzigartige Rückblick auf die gesamte Menschheitsvergangenheit bis zum Sündenfall, ja bis zur Weltschöpfung verbunden geblieben ist, der den Anfang des Alten Testaments bildet. Sein Volk in das Gelobte Land hineinzuführen, war erst seinem Nachfolger Josua bestimmt, der schon durch seinen Namen prophetisch auf jene Gestalt vorausdeutete, durch welche das Ereignis eingetreten ist, auf das die ganze israelitische Geschichte hinzielte. Und so verwandelt sich mit dem Übergang von Moses zu Josua die Geschichte des israelitischen Volkes überhaupt in der Art, daß, während sie bis dahin in ihren charakteristischen Zügen Rekapitulation vergangener Stufen des Menschheitswerdens war, von nun an die prophetisch auf die Zukunft weisenden Züge immer entschiedener hervortreten und ihren Verlauf bestimmten.


II. Christliche Ära

   In der Erscheinung Jesu Christi ist in der Tat jener neue Einschlag in die Menschheitsentwicklung erfolgt, durch den sie erst in vollem Sinne aus ihrer vorgeschichtlichen in ihre geschichtliche Phase übergeführt worden ist. Wir haben die Bedeutung dieses Ereignisses bereits in den beiden vorangegangenen Bänden von so verschiedenen Seiten her charakterisiert, daß wir uns hier mit einer kurzen Zusammenfassung derselben begnügen dürfen: Der weltschöpferische Logos, der zugleich der Geist der Gesamtmenschheit ist (im Unterschied von den Geistern der einzelnen Völker) und als der kosmische Repräsentant dessen angesehen werden muß, was den Menschen zum Menschen macht: des menschlichen "Ichs" - er zog durch die gottmenschliche Gestalt Jesu Christi in die Erdenmenschheit ein, um fortan in jedem einzelnen Menschen als dessen wahres, höheres Selbst aufleben zu können. Es ereignete sich hiermit bezüglich der Gesamtmenschheit dasselbe, was sich immer wieder mit jedem einzelnen Menschen ereignet, wenn er erwachsen wird. Zwar verbindet sich schon, wenn er geboren wird, ein menschliches Ich mit seinem Leibe. Aber es umwebt und umhüllt diesen in Kindheit und Jugend noch von außen, und erst im Laufe seines Heranwachsens zieht es in bestimmten Rhythmen stufenweise in ihn ein, um endlich um die Zeit seines Erwachsenseins vollständig Besitz von ihm zu ergreifen, so daß wir dann sagen können, es sei jetzt in vollem Sinne in der physischen Welt anwesend. In analoger Art hatte sich auch mit der Menschheit schon von der Zeit an, da im Lauf der Kosmogenie die Erde zur Erde im heutigen Sinne geworden war, und der Mensch auf ihr physisch in Erscheinung zu treten begonnen hatte, die (S55) göttlich-geistige Wesenheit verbunden, die gewissermaßen als das "Menschheits-Ich" bezeichnet werden kann. Aber sie war zunächst noch von außen her mit ihr verbunden, vom kosmischen Umkreis, insbesondere von der Sonne her wirkend. Daher - wie wir später noch genauer schildern werden - die Verehrung der Sonne oder des Mondes, dessen Licht ja geborgtes Sonnenlicht ist, die uns in irgendeiner Art in allen vorchristlichen Religionen entgegentritt. Erst im Laufe von Äonen kam diese Wesenheit stufenweise der Erde näher, und im Golgatha-Ereignis endlich zog sie völlig in die irdische Menschheit ein, so daß diese sie seither geistig in sich finden kann als das, was ihr ihr Menschentum garantiert.

   Dies alles bedeutet, daß Menschwerdung Christi - wie wir schon im ersten Band ausführten -, auch wenn sie das Mittelpunktsereignis der geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens darstellt, dennoch aus dieser allein nicht verstanden werden kann, sondern nur aus dem Ganzen des letzteren heraus. In dieser Bedeutung liegt es begründet, daß sie - wie es in der christlichen Religion ja auch immer, wenn auch bald nicht mehr mit zureichendem Verständnis, geschehen ist - zugleich als Ausgleichstat zu dem Sündenfallgeschehen aufgefaßt werden muß - erfolgte sie doch, gemäß der symmetrischen Struktur der Zeit, die wir im ersten Band begründeten (III.3 Struktur der Zeit), um ebensoviel nach der Mitte der irdischen Menschheitsentwicklung, wie jenes sich vor derselben abgespielt hatte. Diese Beziehung besteht, zufolge der christlichen Lehre, darin, daß sie der Menschheit die "Erlösung" von der "Erbsünde" gebracht habe, welche seit dem damaligen Fall auf dieser lastete. Und diese Erlösung kommt darin zum Ausdruck, daß durch die Golgatha-Tag die Bäume der Erkenntnis und des Lebens wieder vereinigt wurden, die mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies getrennt worden waren. Genauer gesagt: es wurden durch diese Tat die Kräfte des Lebensbaumes, die den Menschen als Einzelseelen entzogen und der im Mysterienwesen waltenden geistigen Menschheitsführung zur Verwaltung anvertraut worden waren, den Einzelmenschen als solchen zugänglich gemacht. Dies geschah in der Weise, daß, was in vorchristlicher Zeit als innere Verwandlung (durch Passion, mystischen Tod und Auferstehung) die Einzuweihenden im verborgenen Inneren der Mysterientempel nur in kultisch-symbolischer Form durchgemacht hatten, in Leben, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi vor aller Öffentlichkeit als geschichtliches Ereignis sich vollzog. Dadurch konnte die damalige palästinensisch-jerusalemitische Bevölkerung daran teilnehmen, und alle Nachgeborenen können durch die Evangelien davon erfahren und erlangen damit die Möglichkeit, es in der "Nachfolge Christi" als Einzelne im eignen Inneren in geringerem oder größerem Maße nachzuvollziehen. Damit aber kann anstelle der kollektiven Geistigkeit, die dem Einzelnen in der ehemaligen Mysterienführung von außen entgegengetreten war, die individuelle Geistigkeit treten, die dieser nun in (S56) seinem Innern als sein wahres, höheres Ich zu erwecken vermag. All dies dokumentierte sich bildhaft im Pfingstgeschehen, in welchem die feurigen Zungen des Geistes auf jeden einzelnen der Apostel herabkamen und die christliche Kirche als eine Gemeinschaft begründet wurde, die die gesamte Menschheit zu umfassen bestimmt ist. Diesem ganzen Geschehen war bereits in der Entwicklung der klassischen griechischen Kultur ein Vorspiel vorausgegangen. Denn durch die Entfaltung des Gedankenlebens, wie sie dort stattgefunden hatte, waren in der Philosophie von Thales und Heraklit bis Plato und Aristoteles Begriffe erbildet worden, die es möglich machten, ehemaliges, geheimes Mysterienwissen in Gedankenform zu gießen und damit zu veröffentlichen und für jedermann zugänglich zu machen. Und so hatte denn auch schon Aristoteles dem einzelnen Menschen in einer gewissen Weise einen individuellen Geist zuerkannt.

   Es hat die Wiedereinswerdung der beiden "Bäume" des weiteren aber auch zur Folge, daß der Mensch, der den Christus als sein höheres Selbst in seiner Seele erweckt, aus der Kraft des Lebensbaumes heraus, die er dadurch in sich findet, im Laufe seiner künftigen Inkarnationen den Tod, der mit der Vertreibung aus dem Paradies seinen Einzug in die Menschheit gehalten hatte, allmählich durch die Auferstehung überwinden kann, wie dies durch die Gestalt Jesu Christi im Ostergeschehen paradigmatisch und prophetisch vorgelebt worden ist. Und damit wird der Mensch als individueller sich zu jenem Daseinsniveau wiedererheben, das ihm als Mittler zwischen Geist und Natur ursprünglich bestimmt und als Gattung auch eigen gewesen, von dem er aber durch den Fall im Paradiese herabgesunken war.

   Als das Ausgleichsereignis zum Sündenfall, das alle diese Möglichkeiten begründet, muß darum auch das Christusgeschehen als ein kosmisches angesehen werden, wie ja auch jener ein solches gewesen war. Als ein solcher galt es der christlichen Religion auch immer, insofern sie in ihm die Menschwerdung eines göttlich-kosmischen Wesens erblickte. Und darum hat es ja auch den Grund dafür gelegt, daß nicht nur die Zerspaltung des Menschenwesens selbst, die der Sündenfall bewirkt, sondern auch der Riß zwischen geistiger und physischer Welt überhaupt, den er verursacht hatte, geheilt werden kann. Dies macht seine tiefste Bedeutung aus, daß es nicht nur dem Menschen selbst die Erlösung von der Erbsünde gebracht, sondern auch die Möglichkeit begründet hat, daß er als "Messias der Natur" (Novalis) auch die Erde, insofern er sie in seinen Sturz mithineingerissen hatte, dereinst miterlösen kann - worauf, nach Paulus, "die Kreatur mit Seufzen harret" (Röm8,19). Im Motiv des "Karfreitagszaubers", von dem die Konzeption seines "Parsifal" ihren Ausgang genommen hat, ist auch Richard Wagner dieser umfassendste Sinn des Golgatha-Ereignisses wie eine blitzartige Offenbarung aufgegangen.

(S57)   An dieser Stelle muß uns nun aber vor allem die Bedeutung interessieren, welche dem Christusereignis für den Fortgang der menschlichen Freiheitsentwicklung sowie für den weiteren Wandel des Verhältnisses des Menschen zu Gut und Böse zukommt. Diese Bedeutung liegt darin, daß der Mensch, der den Christus als sein höheres Ich in sich zur Wiedergeburt bringt, nicht mehr darauf angewiesen ist, von außen her durch Gebote von geistigen Führern, die ihm den Willen der göttlich-geistigen Welt verdolmetschen, zu erfahren, was das Gute ist, sondern dieses im eigenen Innern vernehmen kann: durch die Stimme seines Gewissens. Die Zeit der Gesetzes- oder Gebotsmoral ist also abgelaufen und abgelöst worden durch diejenige der Gewissensmoral. Dieser Tatbestand kam denn auch sogleich zum Ausdruck in der Fortbildung, welche der Gewissensbegriff durch Paulus erfahren hat. Paulus war ja die Persönlichkeit, die, ohne Christus im Leibe des Jesus erlebt und gekannt zu haben, in seinem Damaskus-Erlebnis als erster den Auferstandenen als geistig im Erdenwesen gegenwärtigen in solcher Art schaute, daß er von sich (Galaterbrief) sagen konnte: "Als es Gott gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren..", und des weiteren: "Ich bin aber durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt. Ich lebe, aber: doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir." Dieses Erlebnis hatte ihn aus dem das Christentum verfolgenden Saulus in dessen machtvollsten Verkünder verwandelt.

   Erlebnis und Begriff des Gewissens waren - worauf zuerst Rudolf Steiner hingewiesen und was inzwischen die philologische Forschung durch erschöpfende Belege erhärtet hat (Siehe Friedrich Zucker: Syneidesis-Conscientia, ein Versuch zur Geschichte des sittlichen Bewußtseins im griechischen und griechisch-römischen Altertum, Jena 1928) - erst verhältnismäßig kurze Zeit vor dem Christusereignis, nämlich im 5. Jahrhundert, in Griechenland entstanden, und zwar als Parallelerscheinung auf moralischem Gebiete zu der Entfaltung des Gedankenlebens, wie sie auf dem Erkenntnisgebiete in der griechischen Philosophie stattgefunden hatte. Und es hatte das Gewissen gerade nur dort entstehen können, weil die Kultur des Griechen- und des Römertums keine ihr von außen durch eine analoge Gestalt wie Moses zugekommene moralische Gesetzgebung kannte. Die mosaische Gesetzesmoral hatte in der Spätzeit des vorchristlichen Judentums zu einer weitgehenden Veräußerlichung der sittlichen Auffassungen geführt, die in der bloßen buchstäblichen Durchführung der Gesetzesvorschriften, gleichgültig in welcher Gesinnung diese erfolgte, schon die Erfüllung der moralischen Forderung sah. Die Abwesenheit einer solchen Gesetzesethik im griechisch-römischen Kulturkreis ermöglichte dort eine fortschreitende Verinnerlichung des moralischen Erlebens, die eben in der Entstehung des Gewissenserlebnisses sich dokumentierte. Dieses war anfänglich (S58) noch überwiegend auf die Vergangenheit, und zwar als innere Beurteilung namentlich von moralisch negativ zu bewertenden Handlungen bezogen. Was in älteren Zeiten einstmals außen als Bild verfolgender Rachegöttinnen (Erinnyen) geschaut worden war, hatte sich in das innere Erlebnis des "Gewissensbisses" verwandelt. Wie dieses mit der Entfaltung des Gedankenlebens zusammenhing, die in Griechenland stattfand, trat schließlich aufs deutlichste hervor in der Schule der Stoa, in welcher die Philosophie überhaupt sich wesentlich zur Moralphilosophie gestaltete und eine individualistische Ethik ausbildete, die sich am Ideal des "Weisen" orientierte. Sie faßte das Gewissen bereits in allgemeinerem Sinne als innere auf die Übung sittlicher Tugend gerichtete Gesinnung auf. Hierauf sich beziehend, versteht sie Paulus als das dem Menschen ins Innere geschriebene Gesetz, wenn er (Römerbrief) schreibt: "So die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz. Als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen..." Im Zusammenhang hiermit aber und darüber hinaus entwickelt er die umfassende Lehre vom ersten und zweiten Adam - vom Tode, der durch die Sünde des ersteren über die Menschheit gekommen, und von der Überwindung des Todes durch die Auferstehung, welche wir der Opfertat des letzteren verdanken - und in Verbindung damit die Lehre von den Zeitaltern des Gesetzes und der Gnade. Das Gesetz brachte den Menschen mit dem Erfühlen alles dessen, was seinen Geboten in ihrem Inneren widerstrebt, erst voll und ganz ihre Sündhaftigkeit zum Bewußtsein; der Glaube an Christus aber läßt uns der unverdienten Gnade innewerden, die uns durch ihn zuteilgeworden ist und die uns erst wahrhaft frei macht. Wie das Judentum der prototypische Repräsentant des Zeitalters der Gesetzesherrschaft war, so empfand Paulus in dem Gewissenserlebnis der Heiden wie in einer Morgenröte jene neue Ära sich ankündigen, deren Sonnenaufgang mit dem Erscheinen Christi erfolgte. Und darum fühlte er sich als derjenige, der als erster die Offenbarung des Auferstandenen in seinem Innern erlebt hatte und von diesem zu seinem Verkündiger berufen worden war, dazu bestimmt, das Evangelium besonders den Heiden zu bringen.

   Was durch das Christusereignis geschehen war und hinsichtlich seiner moralischen Bedeutung in der Lehrtätigkeit und Wirksamkeit des Paulus seine machtvollste Verkündigung gefunden hatte, wurde aber nur erst wie ein Same in den Ackerboden der Menschheitsentwicklung versenkt, und dieser brauchte seine in den Rhythmen der letzteren begründete Zeit, um aufzugehen. Diese Zeit kam erst mit dem Aufgang der dritten, im 15. Jahrhundert anbrechenden Hauptepoche des geschichtlichen Werdens heran, in welcher die Rekapitulation früherer Entwicklungsphasen zu Ende war und das eigenste Wesen (S59) der Geschichte erst voll in Erscheinung zu treten begann. Wir sehen daher in dieser Zeit die religiösen Reformationsbestrebungen sich geltend machen, die auf eine Erneuerung, eine Wiedergeburt des Christentums hinzielen. Denn wenn sie auch äußerlich durch die Entartung der mittelalterlichen Kirche veranlaßt wurden, so zeigte sich doch bald, daß diese Verfallserscheinungen nur der äußere Anlaß waren für das Durchbrechen von Impulsen, die aus viel größeren Tiefen des geschichtlichen Werdens heraus ans Licht drängten. Einer der hauptsächlichsten dieser Impulse, der in den Trägern der Reformation zwar von Anfang an wirkte - deutlich sichtbar vor allem im ersten Auftreten Luthers -, aber ihnen zunächst noch unbewußt, noch überdeckt von Vorstellungen, welche jener äußere Anlaß in den Vordergrund rückte, und der erst im Fortgange der Reformationsbewegung allmählich sich zur Bewußtheit durchrang, war die Forderung der Gewissensfreiheit. Mit vollem Bewußtsein wurde sie als solche erst vertreten in derjenigen Strömung des calvinistischen Puritanismus, die in England im 17. Jahrhundert als Independentismus durch Cromwell zum Siege geführt wurde und die sich selbst als die "Vollenderin der Reformation" betrachtete. Diese Forderung beinhaltete den Anspruch, im eigenen Gewissen die einzige Instanz anzuerkennen zu dürfen, die darüber zu entscheiden hat, was für den Einzelnen als Gut und Böse, als Wahrheit und Irrtum zu gelten habe. Im Verlauf der Glaubenskriege, die sich an die Reformationsbewegung anschlossen, ist, als eines ihrer wesentlichsten Ergebnisse, dann auch auf dem europäischen Kontinent dieses Postulat schrittweise zur Anerkennung gelangt in Form des Prinzips der religiösen Toleranz, das dem Mittelalter noch ganz unbekannt gewesen war. Vom Felde dieser religiösen Kämpfe her ist es schließlich auf in die Kataloge der politischen "Menschenrechte" übergegangen, wie sie zuerst in Nordamerika - in den Verfassungen der sich staatlich verselbständigenden ehemaligen englischen Kolonien - im 18. Jahrhundert formuliert worden sind.

   Was aber den Fortgang der Entwicklung auf dem rein moralischen Gebiete betrifft, so bildete einen weiteren Markstein auf ihrem Wege die von Immanuel Kant am Ende des 18. Jahrhunderts begründete Moralphilosophie, die auf das ganze 19. Jahrhundert weit über Mitteleuropa hinaus einen tiefwirkenden Einfluß ausgeübt hat. Kants Streben zielte dahin, anstelle einer heteronomen Moral, die den Inhalt des Guten von einer äußeren, als Beauftragter der göttlich-geistigen Welt auftretenden Autorität bezieht, in entschiedenster Weise eine autonome geltend zu machen, welche die Quelle des Guten in der Stimme des je eigenen Gewissens: in dem von ihm so genannten "kategorischen moralischen Imperativ" findet.

   Durch all das Angedeutete haben sich hinsichtlich des moralischen Lebens im Laufe der neuen Zeit Verhältnisse herausgebildet, die zusammenfassen folgendermaßen gekennzeichnet werden können:

(S60)    Der Gegensatz des Guten und Bösen, der in der Urzeit noch ein solcher von außermenschlich-kosmischen Mächten gewesen und in der Vorgeschichte zunächst in die Menschheit als ganze eingezogen war, hat sich jetzt in einen solchen verwandelt, der dem Innern des einzelnen Menschen angehört. Dieser findet nun, indem er in sich selbst hineinblickt, nicht nur den Hang zur Sünde, die Neigung zum Bösen, das heißt das, was Kant das "radikal Böse" nennt, weil sein Ursprung in dem liegt, was die Wurzel des menschlichen Einzelwesenseins bildet, sondern zugleich auch den Quell des Guten: in der Stimme seines Gewissens, im "moralischen Imperativ". Wie er beides in sich erlebt, hat zur selben Zeit, da Kant seine Moralphilosophie entwickelte, Goethe in seiner Faustdichtung den Helden derselben, in welchem er den Repräsentanten der modernen Menschheit dichterisch zu verkörpern suchte, in den bekannten Worten zum Ausdruck bringen lassen:

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen,

Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.

   Damit aber spielt sich jetzt auch die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse nicht mehr im Äußern, weder im Außermenschlich-Kosmischen noch zwischen verschiedenen Teilen der Menschheit ab, sondern im Innern jedes einzelnen Menschen. In welcher Art dies geschieht, zeigt sich, wenn ein Weiteres ins Auge gefaßt wird.

   Zugleich mit dieser Wandlung tritt nämlich auch eine neue, dritte Entwicklungsgestalt der Freiheit in Erscheinung. Denn wenn der moderne Mensch sein Handeln durch die Stimme seines Gewissens bestimmen läßt, in welcher sich sein wahres, höheres Ich kundgibt, hat er mit Recht die Empfindung, daß er sich in seinem Handeln im tiefsten Sinne des Wortes aus sich selbst heraus, das heißt aber: in Freiheit bestimmt. Und so wird das sittlich gute Handeln für ihn identisch mit dem freien Handeln. Das bedeutet, daß die Freiheit, die in ihrer ersten Entwicklungsgestalt identisch mit dem Bösen gewesen, in ihrer zweiten zur Fähigkeit der Wahl zwischen Gut und Böse geworden war, jetzt auf der dritten Stufe ihrer Entwicklung, identisch geworden ist mit dem Guten. Sie hat sich also im Lauf ihres Werdens in das völlige Gegenteil dessen verwandelt, was sie im Beginne desselben gewesen war. Hierin liegt der Grund dafür, warum sie, im Gegensatz zu früheren Epochen, in unserer Zeit so hoch geschätzt wird.

   Damit ist aber zugleich auch bestimmt, worin für den modernen Menshen das Böse besteht: er hat es in allem zu sehen, was ihn seiner Freiheit beraubt(S61) Und so gestaltet sich denn für ihn die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse in seiner Seele zum Kampfe zwischen dem, was ihn zum frei handelnden Wesen machen will, und dem, was ihn in Unfreiheit versetzen, in irgendeiner Art in Sklaverei, in Knechtschaft stoßen will.

   Ihre letzte, vollständige Ausprägung erhalten diese Verhältnisse aber erst durch folgenden Umstand: Genau so nämlich, wie während der Vorgeschichte in die zweite Entwicklungsgestalt der Freiheit (Fähigkeit der Wahl zwischen Gut und Böse) die erste (Freiheit als das Böse) nachklingend hineingewirkt hatte, so wirkt nun auch in die dritte (Freiheit als das Gute) die zweite nachklingend hinein. Dadurch besteht das "Gut"-Handeln für den modernen Menschen, genau genommen, nicht einfach in dem "freien" Handeln, sondern in dem "freien Wählen des freien Handelns". So paradox diese Charakteristik erscheinen mag, so drückt doch erst sie in exakter Weise die für den modernen Menschen gültige Sachlage aus. Sie weist nämlich darauf hin, daß die ihm zugeordnete, dritte Entwicklungsgestalt der Freiheit nicht etwas ist, was er immerfort von neuem in Freiheit wählen, was er wollen muß, damit es Wirklichkeit werde. Diejenige Gestalt der Freiheit, die der heutigen Entwicklungsstufe der Menschheit entspricht, ist in der Tat nicht eine Eigenschaft, die der Seele ohne weiteres zukommt, oder ein Zustand, in dem sie sich bereits befindet, sondern eine Möglichkeit, die der Mensch immer wieder von neuem erst verwirklichen muß, wenn sie ihm nicht immer wieder verlorengehen soll. Von ihr gilt das Faustwort:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muß.

   Und dies muß auch unmittelbar begreiflich erscheinen; denn diese Freiheit bedeutet ja das Sichbestimmen des Menschen aus seinem (im Gewissen vernehmbaren) wahren, höheren Ich heraus. Dieses Ich aber erwacht erst im Laufe des Lebens, genauer gesagt: muß erst erweckt werden; und wenn es einmal erweckt worden ist, hat es die Neigung, wieder "einzuschlafen". Es bedarf also einer immer wieder erneuten Erweckung. Und so bedeutet das "freie Wählen der Freiheit" mit andern Worten die täglich zu übende Aktivierung des höheren Ichs.

   Aus denselben Gründen läßt sich auch das Böse für den modernen Menschen nicht einfach mit dem identifizieren, was ihn im Handeln unfrei macht, sondern stellt sich, genau genommen, als das "freie Wählen der Unfreiheit" dar. Auch diese Formulierung, die zunächst nicht minder paradox erscheint, bezeichnet aber doch erst in zureichender Weise die nach dieser Richtung vorliegenden Verhältnisse. Denn zu der Vollreife, welche die menschliche Freiheit auf dieser Entwicklungsstufe erreicht, gehört nun einmal das Paradoxon, (S62) daß sie auch die Möglichkeit in sich schließt, die Freiheit zu verneinen und die Unfreiheit zu wählen. Sie wäre keine volle Freiheit, wenn sie den Menschen nicht auch vor diese Wahl stellte. (Anmerkung 8: Würde das Böse für den modernen Menschen lediglich mit Unfreiheit schlechthin gleichgesetzt - wozu die kantische Identifikation des guten mit dem freien Handeln verleiten könnte -, so entfiele seine moralische Verantwortlichkeit für dasselbe. Diese bleibt nur bestehen, wenn er ebenso wie die Freiheit auch die Unfreiheit frei zu wählen imstande ist. Vgl. hierzu die Ausführungen von Theodor Litt in seinem Buche "Mensch und Welt" 1948,S138ff). Was heißt aber, in die Sprache des Lebensverhaltens übersetzt, aus Freiheit die Unfreiheit wählen? Es heißt, jene ständige Aktivierung des höheren Ichs zu unterlassen, welche die Voraussetzung der Freiheit im heutigen Sinne bildet, und sich in innere Passivität versinken lassen. Die Beobachtung des modernen Lebens erweist mit hinlänglicher Deutlichkeit, daß alles, was man sich nach dieser Richtung zuschulden kommen läßt, sowohl den Einzelnen wie die Menschheit als ganze auf den Weg zum Bösen führt (Anmerkung 9: In diesem Tatbestand liegt auch die Auffassung des Widerspruchs, den man darin finden könnte, daß wir an einer Stelle behaupteten, der Mensch habe die volle Freiheit, die von dem Christusereignis ausgehenden Gnadenwirkungen anzunehmen oder von sich zu weisen, an einer anderen Stelle aber, der Menschheit sei erst durch dieses Ereignis die volle, d.h. die dritte Entwicklungsgestalt der Freiheit zuteil geworden, oder anders ausgedrückt: daß wir einmal erklärten, der Mensch habe die volle Freiheit, sich gegenüber dem Christusereignis in positivem oder negativem Sinne zu entscheiden, ein andermal, die Menschheit sei nich imstande gewesen, die Erbsünde aus Eigenem, ohne die Christustat, zu überwinden. Die Freiheit als die oben angedeutete Möglichkeit kommt als Gnadenwirkung der Christustat allen Menschen zu. Ob sie von dieser Möglichkeit im Sinne der Erweckung ihres höheren Ichs Gebrauch machen oder sie ungenützt verderben lassen, ist jedoch in ihre eigene Wahl gestellt.)

   Hierbei zeigt sich, daß auch für unsere Zeit ein zweifaches Böses unterschieden werden muß, allerdings in ganz anderer Bedeutung, als wir dies im vorangehenden Kapitel von dem vorgeschichtlich-atlantischen Menschen schilderten. Verfällt nämlich der moderne Mensch in innere Passivität, so setzt er sich einer zweifachen Gefahr des Freiheitsverlustes aus. Entweder es gewinnt die Welt seiner leiblichen Triebe und Begierden die Herrschaft über ihn, und er wird so zum Sklaven seiner sinnlichen Leidenschaften. Oder aber er unterwirft sich, um dieser Gefahr zu entgehen, auch als moderner Mensch noch moralischen Geboten, die er sich von außen durch eine Autorität geben läßt, welche er als bevollmächtigten Beauftragen der göttlich-geistigen Welt betrachtet. Auch in diesem Fall gibt er die Freiheit preis, die ihm als modernem Menschen eigentlich angemessen wäre, und dadurch wandelt sich, was auf einer früheren Stufe der Entwicklung einmal gut war, jetzt in Böses.

(S63)    Diese Duplizität des Bösen, wie sie für den modernen Menschen sich gestaltet, als erster erkannt zu haben, ist das Verdienst Schillers. Er hat damit, über Kant hinausführend, die für unsere Zeit in moralischer Beziehung bestehende Situation erstmals in voll zureichender Art charakterisiert. Denn Kant hatte, wenn er auch eine autonome, auf den im Innern vernehmbaren kategorischen Imperativ begründete Moral geltend machte, das im Gewissen sich kundgebende höhere, "intelligible" Ich des Menschen doch noch als ein gleichsam über dem niederen, "empirischen" Ich Schwebendes, mit diesem schlechterdings Unvereinbaren gefaßt und dadurch innerhalb des einzelnen Menschen eine analoge Zweiheit statuiert, wie sie einstmals in vor- und frühgeschichtlicher Zeit innerhalb der Menschheit bestanden hatte in der Gegensätzlichkeit zwischen der geistigen Führung und der großen Masse der Einzelnen. Und wie damals das moralische Verhalten für den Einzelnen gleichbedeutend war mit dem Unterwerfen seines Eigenwillens unter den in den Geboten der Mysterienlehrer zum Ausdruck kommenden Willen der Götter - so faßt auch Kant das Gute in dem Sinne auf, daß das niedere, empirische Ich seine selbstsüchtigen Neigungen dem im kategorischen Imperativ sich manifestierenden Pflichtgebot des höheren, intelligiblen Ichs unterwirft. Zwischen Pflicht und Neigung besteht für ihn ein unüberbrückbarer Gegensatz; daher kann das Gute nur durch die bedingungslose Unterordnung der letzteren unter die erstere zustandekommen. Es ist dies der vielberedete Rigorismus der Kantschen Ethik. Da nun ferner der empirische Mensch sich als ein bestimmter Einzelner erlebt, dessen egoistische Wünsche sich auf seine Person beziehen, der intelligible Mensch aber, weil er in der Sicht Kants gleichsam noch unverkörpert über dem empirischen schwebt, diesem nicht als ein individuelles, sondern als ein allgemeines Wesen erscheint, darum äußert sich, nach Kant, auch die Gewissensstimme in jener allgemeinen Forderung an den empirischen Menschen, sich so zu verhalten, daß die Maxime seines Handelns zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden könne. So nimmt Kant innerhalb der modernen Geistesgeschichte eine analoge Stellung ein, wie sie Moses in der vorchristlichen zukommt (8. Geschichtliche Urphänomen S227ff). In dem von diesem angeführten Auszug der Israeliten aus Ägypten bildete sich zwar der Übergang der Menschheit von der atlantisch-vorgeschichtlichen zur nachatlantisch-geschichtlichen Entwicklungsphase ab; in seiner Gesetzgebung lebte aber dennoch die atlantisch-vorgeschichtliche Art der Moralbegründung wie in einer Rekapitulation nochmals auf. Kant brachte in seiner Moralphilosophie zwar die für die nachchristliche Menschheit der neueren Zeit charakteristische Situation aufs entschiedenste zur Geltung, ließ aber innerhalb derselben doch noch einmal, wie in einer auf den Einzelmenschen übertragenen Nachbildung, die (S64) vorgeschichtlich-gesetzhafte Art der Moralbegründung aufleben, die der vollen Inkarnation des Menschheits-Ichs voranging.

   Ihm gegenüber hat Schiller in seiner Schrift über "Anmut und Würde" und besonders in seinen "Briefen über die ästhetische Erziehung" gezeigt, daß von wahrer Freiheit im modernen Sinne (und damit von echtem Menschentum) solange nicht die Rede sein könne, als das Geistige noch gleichsam unverkörpert als ein allgemeines über dem einzelnen Menschen schwebt und von oben oder außen durch die Stimme des Gewissens nur in ihm sich kundgibt; denn denn bleibt dem sinnlich-irdischen Menschen keine andere Wahl, als durch Auslöschung seines Eigenwillens sich ihm unterzuordnen - falls das Gute geschehen soll. Dieses so über dem Menschen schwebende Geistige wird sich auch immer seine "Stellvertreter" auf Erden suchen, die in seinem Namen allgemeine Gesetze aufstellen oder sich eine Herrschaft anmaßen, durch welche die freie Selbstbestimmung des Einzelnen verunmöglicht wird. Es ist dies die eine Form der Unfreiheit; ihr steht als die entgegengesetzte jene gegenüber, die dann zustandekommt, wenn der Mensch sich seiner sinnlichen Natur und ihren Trieben ausliefert. In "Anmut und Würde" illustriert Schiller die beiden durch folgenden Vergleich: "Das erste dieser Verhältnisse erinnert an eine Monarchie, wo die strenge Aufsicht der Herrschers jede freie Regung im Zaun hält; das zweite an eine wilde Ochlokratie, wo der Bürger durch Aufkündigung des Gehorsams gegen den rechtmäßigen Oberherrn so wenig frei als die menschliche Bildung durch Unterdrückung der moralischen Selbsttätigkeit schön wird, vielmehr nur dem brutaleren Despotismus der untersten Klassen anheimfällt." In den ästhetischen Briefen bezeichnet er die erstere Art der Unfreiheit - im Blick auf die orientalischen Kulturen, die sowohl in älterer wie auch in neuerer Zeit die geschichtlichen Repräsentanten derselben darstellen, setzt sich doch in ihren politischen Verfassungen immer wieder das Prinzip eines irgendwie gearteten monarchischen Despotismus durch - als Barbarei. Die letztere dagegen bezeichnet er als Wildheit - im Hinblick auf den "wilden Westen", in welchem sich in neuerer Zeit eine Zivilisation entwickelt hat, deren demokratisch-liberalistische Gesellschaftsordnung weitgehend zur bloßen Spielregel geworden ist, die ein schrankenloses Sichausleben des materiellen Egoismus der Einzelnen ermöglicht.

   Zur Erlangung der vollen Freiheit ist im Sinne Schillers also ein Zweifaches nötig: erstens, daß das Geistige oder das höhere Ich des Menschen sich völlig in diesem verkörpert und sich dadurch in dessen individuelles Ich verwandelt. Hierdurch wird die eine Art der Unfreiheit: die Unterdrückung des sinnlichen Menschen, überwunden. Der zweite Schritt aber besteht darin, daß der im Innern auferweckte, zum eignen Ich gewordene Geist des Menschen dessen leibliche Natur verwandelt, so daß das Niedere in ihr seine Übermacht

(S65) über ihn verliert. Dadurch entringt sich der Mensch der anderen Art der Unfreiheit: der Versklavung seines geistigen Wesens durch seine Sinnlichkeit.

   Wir haben im vorangehenden gezeigt, daß die Voraussetzung für diese zweifache Wandlung dadurch geschaffen wurde, daß in Christus das ehemals kosmisch-göttliche Menschheits-Ich auf die Erde herabgestiegen und Mensch geworden ist, das heißt sich mit einem Erdenleib verbunden hat. In "Anmut und Würde" kennzeichnet Schiller den Weg des Menschen zur vollen Freiheit, noch in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Kant, in einer Weise, in der, wenn auch nicht erwähnt, aber doch leise anklingt, was auf Golgatha geschehen: "So gewiß ich nämlich überzeugt bins - und eben darum weil ich es bin -, daß der Anteil der Neigung an einer freien Handlung für die reine Pflichtmäßigkeit dieser Handlung nichts beweist, so glaube ich eben daraus folgern zu können, daß die sittliche Vollkommenheit des Menschen gerade nur aus diesem Anteil seiner Neigung an seinem moralischen Handeln erhellen kann. Der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. Nicht Tugenden, sondern die Tugend ist seine Vorschrift, und Tugend ist nichts anderes als eine Neigung zu der Pflicht. Wie sehr also auch Handlungen aus Neigung und Handlungen aus Pflicht in objektivem Sinne einander entgegenstehen, so ist dies doch in subjektivem Sinne nicht also, und der Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen. Nicht um sie wie eine Last wegzuwerfen oder wie eine grobe Hülle von sich abzustreifen, nein, um sie aufs innigste mit seinem höheren Selbst zu vereinbaren, ist seiner reinen Geisternatur eine sinnliche beigestellt. Dadurch schon, daß sie ihn zum vernünftig sinnlichen Wesen, das ist zum Menschen machte, kündigte ihm die Natur die Verpflichtung an, nicht zu trennen, was sie verbunden hat, auch in den reinsten Äußerungen seines göttlichen Teiles den sinnlichen nicht hinter sich zu lassen und den Triumph des einen nicht auf Unterdrückung des andern zu gründen. Erst alsdann, wenn sie aus seiner gesamten Menschheit als die vereinigte Wirkung beider Prinzipien hervorquillt, wenn sie ihm zur Natur geworden ist, ist seine sittliche Denkart geborgen; denn solange der sittliche Geist noch Gewalt anwendet, so muß der Naturtrieb ihm noch Macht entgegenzusetzen haben. Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden.

   In dem Gedicht "Das Ideal und das Leben", in welchem Schiller seine Freiheitslehre in poetischer Form dargestellt hat, wird dieser Freiheitsweg des Menschen nochmals in ähnlicher Art charakterisiert, aber in Bildern, in denen jener Anklang deutlicher vernehmbar wird:

(S66)

"Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,

Und sie steigt von ihrem Weltenthron.

Des Gesetzes strenge Fessel bindet

Nur den Sklavensinn, der es verschmäht;

Mit des Menschen Widerstand verschwindet

Auch des Gottes Majestät."


Vollständige Fassung (aus:www.literaturwelt.com/):

Ewigklar und spiegelrein und eben
Fließt das zephirleichte Leben
Im Olymp den Seligen dahin.
Monde wechseln und Geschlechter fliehen;
Ihrer Götterjugend Rosen blühen
Wandellos im ewigen Ruin.
Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden
Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl;
Auf der Stirn des hohen Uraniden
Leuchtet ihr vermählter Strahl.

Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen,
Frei sein in des Todes Reichen,
Brechet nicht von seines Gartens Frucht!
An dem Scheine mag der Blick sich weiden;
Des Genusses wandelbare Freuden
Rächet schleunig der Begierde Flucht.
Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet,
Wehrt die Rückkehr Ceres' Tochter nicht;
Nach dem Apfel greift sie, und es bindet
Ewig sie des Orkus Pflicht.

Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen
Wandelt oben in des Lichtes Fluren,
Göttlich unter Göttern, die Gestalt.
Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch!
Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben
In des Ideales Reich!

Jugendlich, von allen Erdenmalen
Frei, in der Vollendung Strahlen
Schwebet hier der Menschheit Götterbild,
Wie des Lebens schweigende Phantome
Glänzend wandeln an dem stygschen Strome,
Wie sie stand im himmlischen Gefild,
Ehe noch zum traurgen Sarkophage
Die Unsterbliche herunterstieg.
Wenn im Leben noch des Kampfes Waage
Schwankt, erscheinet hier der Sieg.

Nicht vom Kampf die Glieder zu entstricken,
Den Erschöpften zu erquicken,
Wehet hier des Sieges duftger Kranz.
Mächtig, selbst wenn eure Sehnen ruhten,
Reißt das Leben euch in seine Fluten,
Euch die Zeit in ihren Wirbeltanz.
Aber sinkt des Mutes kühner Flügel
Bei der Schranken peinlichem Gefühl,
Dann erblicket von der Schönheit Hügel
Freudig das erflogne Ziel.

Wenn es gilt, zu herrschen und zu schirmen,
Kämpfer gegen Kämpfer stürmen
Auf des Glückes, auf des Ruhmes Bahn,
Da mag Kühnheit sich an Kraft zerschlagen,
Und mit krachendem Getös die Wagen
Sich vermengen auf bestäubtem Plan.
Mut allein kann hier den Dank erringen,
Der am Ziel des Hippodromes winkt,
Nur der Starke wird das Schicksal zwingen,
Wenn der Schwächling untersinkt.

Aber der, von Klippen eingeschlossen,
Wild und schäumend sich ergossen,
Sanft und eben rinnt des Lebens Fluß
Durch der Schönheit stille Schattenlande,
Und auf seiner Wellen Silberrande
Malt Aurora sich und Hesperus.
Aufgelöst in zarter Wechselliebe,
In der Anmut freiem Bund vereint,
Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe,
Und verschwunden ist der Feind.

Wenn, das Tote bildend zu beseelen,
Mit dem Stoff sich zu vermählen,
Tatenvoll der Genius entbrennt,
Da, da spanne sich des Fleißes Nerve,
Und beharrlich ringend unterwerfe
Der Gedanke sich das Element.
Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet,
Rauscht der Wahrheit tief versteckter Born;
Nur des Meißels schwerem Schlag erweichet
Sich des Marmors sprödes Korn.

Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück.
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.
Alle Zweifel, alle Kämpfe schweigen
In des Sieges hoher Sicherheit;
Ausgestoßen hat es jeden Zeugen
Menschlicher Bedürftigkeit.

Wenn ihr in der Menschheit traurger Blöße
Steht vor des Gesetzes Größe,
Wenn dem Heiligen die Schuld sich naht,
Da erblasse vor der Wahrheit Strahle
Eure Tugend, vor dem Ideale
Fliehe mutlos die beschämte Tat.
Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen;
Über diesen grauenvollen Schlund
Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,
Und kein Anker findet Grund.

Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entflohn,
Und der ewge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen;
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht;
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.

Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen,
Wenn dort Priams Sohn der Schlangen
Sich erwehrt mit namenlosem Schmerz,
Da empöre sich der Mensch! Es schlage
An des Himmels Wölbung seine Klage
Und zerreiße euer fühlend Herz!
Der Natur furchtbare Stimme siege,
Und der Freude Wange werde bleich,
Und der heilgen Sympathie erliege
Das Unsterbliche in euch!

Aber in den heitern Regionen,
Wo die reinen Formen wohnen,
Rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr.
Hier darf Schmerz die Seele nicht durchschneiden,
Keine Träne fließt hier mehr dem Leiden,
Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.
Lieblich, wie der Iris Farbenfeuer
Auf der Donnerwolke duftgem Tau,
Schimmert durch der Wehmut düstern Schleier
Hier der Ruhe heitres Blau.

Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte,
Ging in ewigem Gefechte
Einst Alcid des Lebens schwere Bahn,
Rang mit Hydern und umarmt' den Leuen,
Stürzte sich, die Freunde zu befreien,
Lebend in des Totenschiffers Kahn.
Alle Plagen, alle Erdenlasten
Wälzt der unversöhnten Göttin List
Auf die willgen Schultern des Verhaßten,
Bis sein Lauf geendigt ist -

Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,
Flammend sich vom Menschen scheidet
Und des Äthers leichte Lüfte trinkt.
Froh des neuen, ungewohnten Schwebens,
Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens
Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.
Des Olympus Harmonien empfangen
Den Verklärten in Kronions Saal,
Und die Göttin mit den Rosenwangen
Reicht ihm lächelnd den Pokal.

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   Angesichts dieser Freiheitslehre, in der deutlich sichtbar der Same aufzugehen begann, der durch die Christus-Tat in den Boden der Menschheitsentwicklung versenkt worden ist, kann es nicht wundern, daß sich Schiller auch als Geschichtsphilosoph ein Verständnis errungen hat für die wirkliche Bedeutung, die dem Christusereignis für das moralische Leben der Menschheit zukommt, speziell auch in seinem Verhältnis zur mosaischen Gesetzesethik, die in Kants Moralphilosophie in verwandelter Gestalt noch einmal auflebte. Zeugnis hierfür legen die Sätze ab aus seinem Brief an Goethe vom 17. August 1795: "Hält man sich an den eigentlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Er ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion." Und wie sehr Schiller auch als Mensch von diesem Geiste des Christentums durchdrungen war, bezeugte Goethe in einem Brief an Zelter (1831) mit den Worten: "Eben diese Christustendenz war Schiller eingeboren; er berührte nichts Gemeines, ohne es zu veredeln."

   Gerade die Schillersche Freiheitslehre läßt das Geheimnis der dritten, voll ausgereiften Gestalt der Freiheit, in der diese identisch mit dem Guten wird, noch von einer andern Seite her ins Licht treten. Sie zeigt nämlich abermals, daß diese Gestalt der Freiheit nicht eine fertig vorhandene Tatsache, sondern ein Strebensziel darstellt, zu dem der Mensch immer nur auf dem Wege sein kann, um dessen Erreichung er sich täglich von neuem bemühen muß. Und sie erweist andererseits, daß dasjenige Gute, das die Freiheit auf ihrer dritten Entwicklungsstufe darstellt, nicht ein solches ist, das lediglich "gewählt" wird als die eine von zwei Möglichkeiten, hinter denen objektive, letztlich kosmische Wirklichkeiten stehen. Vielmehr ist die Verwirklichung dieses Guten gleichbedeutend mit der Verwandlung des Bösen, durch welche das letztere als solches verschwindet. Dieses Gute entsteht nur in dem Maße, als das Böse verwandelt wird. Und umgekehrt: in dem Maße, als es verwirklicht wird, verschwindet das Böse als jene zweifache Unfreiheit, als das es sich für den modernen Menschen erweist. Diese Auffassung von Gut und Böse wurde innerhalb des Christentums zum erstenmal vom Manichäismus vertreten. (S67) Dessen Mission bezeugt sich dadurch als diejenige der Vorbereitung und Vorverkündigung der Verhältnisse und Aufgaben, die sich erst in unsrer Zeit für die Menschheit herauszubilden begonnen haben.

   Daß auf dieser Stufe der menschlichen Entwicklung ein bloßes Wählen zwischen Gut und Böse, oder anders ausgedrückt: die Auffassung des Guten als der einen von zwei Möglichkeiten des Wählens nicht mehr genügt, erhellt ja auch schon aus dem oben bereits aufgewiesenen Umstand, daß das Sichunterwerfen unter ein von außen  gegebenes Gebot, das auf der vorangehenden Stufe das Gute darstellte, sich inzwischen in ein Böses verwandelt hat. Daher würde die Wahl zwischen diesem und dem Sichausliefern an die niedere egoistische Triebwelt heute nur eine solche sein zwischen zwei entgegengesetzten Übeln. In der Tat hat man es auch überall da, wo aus dem Festhalten an dieser älteren Entwicklungsgestalt der Freiheit bzw. von Gut und Böse die Menschen heute zur Wahl, zur Entscheidung aufgefordert werden zwischen einem angeblich Guten und einem angeblich Bösen, in Wirklichkeit immer mit irgendwelchen Abwandlungen jener älteren Gestalten von Gut und Böse, und das heißt mit für unsere Zeit falschen Alternativen zu tun, mögen diese nun lauten: Freiheit - Gemeinschaft, Kapitalismus - Sozialismus, Individualismus - Universalismus oder wie immer. Entscheidungen zwischen diesen Gegensätzen, wie immer sie auch fallen mögen, führen daher nicht zum wirklichen "Heil" der Menschheit, sondern nur zu verschiedenen Arten von Übeln.

   Gewiß verlangt das Gute im heutigen Sinne - wie oben schon angedeutet - auch ein freies Wählen: nämlich der Aktivierung des höheren Ichs, der Erweckung des Geistes im Menschen. Aber damit ist das Gute, um das es hierbei geht, noch nicht erreicht. Dies geschieht vielmehr erst in dem Maße, als das Böse (die zweifache Unfreiheit) verwandelt wird. Hierbei enthüllt sich, daß nicht nur die Freiheit auf dieser dritten Stufe zur Frucht ausreift, sondern auch die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, das heißt: daß diese hier in ihr entscheidendes Stadium eintritt. Hier geht es nämlich nicht mehr nur um ein Wählen zwischen Gut und Böse, das im Laufe des Lebens immer wieder von neuem als Forderung an den Menschen herantritt und - gemäß seiner Wahlfreiheit - einmal so, einmal anders ausfallen kann. Das Böse vielmehr, das der Mensch dadurch "wählt", daß er die Aktivierung seines höheren Ichs unterläßt und in innere Passivität versinkt, vermindert von Mal zu Mal die Möglichkeit, die Fähigkeit zu solcher Aktivierung und läßt ihn immer mehr dem Bösen verfallen. Es geht jetzt also um die endgültige Entscheidung in dieser Auseinandersetzung. So wird nun hier in einem tieferen Sinne verständlich, warum wir in der Einleitung die Auseinandersetzung mit Gut und Böse speziell der geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens, die in ihrem gegenwärtigen Abschnitte kulminiert, zugeordnet haben. Genau genommen tritt diese Auseinandersetzung in dieser Zeit in die Phase ihrer (S68) Entscheidung ein, gegenüber welcher das, was in der Urzeit und Vorgeschichte geschehen, nur Vorstufe und Vorbereitung bedeutete. Entschieden aber wird darüber, ob die je betreffenden Menschen das Böse in sich überwinden oder ihm endgültig verfallen. Diese Tatsache ist gemeint, wenn Christus im Neuen Testament erklärt, daß dem Menschen alle Sünden vergeben werden können, nur eine einzige nicht: nämlich diejenige wider den Heiligen Geist (Ev.Mark.3,29). Denn bei der gegenwärtigen Phase der Auseinandersetzung mit Gut und Böse geht es, wie gezeigt, mit der Erweckung des höheren Ichs um die Entwicklung des Geistes im Menschen, welche die eigentliche Aufgabe der ganzen nachatlantisch-geschichtlichen Epoche darstellt. Wer diese durch innere Passivität verabsäumt, der fällt dem Bösen - für den Rest der Erdenentwicklung - endgültig anheim. Diese Entscheidung bringt daher - wie in einem späteren Kapitel noch genauer darzulegen sein wird - unvermeidlicherweise eine Scheidung zwischen den Menschen mit sich. Und weil die Möglichkeit für die Überwindung des Bösen durch das Christusereignis begründet worden ist, darum wird diese Entscheidung und die mit ihr verbundene Scheidung dadurch bestimmt sein, ob die je betreffenden Menschen den geistigen Samen, der durch dieses Ereignis in die Erdenmenschheit versenkt wurde, im Verlauf der Geschichte, und das heißt in der Folge ihrer Verkörperungen, in sich haben aufgehen lassen oder nicht. Aus diesem Grund ist im Evangelium von dem am Jüngsten Tage stattfindenden Weltgericht die Rede, durch welches die Menschheit wird geschieden werden in diejenigen, welche den Christus in sich aufgenommen und dadurch das Böse in sich überwunden haben, und in jene, die ihn von sich gestoßen und dadurch endgültig dem Bösen verfallen sind. Diese Scheidung kommt in Wahrheit mit dem Ende der Geschichte nur zum Abschluß: ihr Vollzug gehört der ganzen nachchristlichen Ära der Geschichte an.

   Man kann daher auch - wie es Rudolf Steiner einmal getan hat - diejenige Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, die in der geschichtlichen Phase des Menschheitswerdens sich vollzieht, ihrer positiven Aufgabe nach als den Prozeß der Sündenerhebung bezeichnen, so wie jene, die in der urzeitlichen Phase sich abgespielt hat, ihrem Ergebnis nach den Sündenfall bedeutete. Und man kann schließlich, wenn man den Ausdruck "Auseinander-Setzung" im wörtlichen Sinne als "Trennung" versteht, die drei Auseinandersetzungen mit dem Gegensatz von Gut und Böse, die den drei Hauptphasen der irdischen Menschheitsentwicklung entsprechen, auch so charakterisieren, daß die erste, urzeitliche eine Auseinander-Setzung mit dem Guten war - denn durch sie ist der Mensch vom Guten abgefallen. Die zweite, vorgeschichtliche war eine Auseinander-Setzung mit Gut und Böse; denn bei ihr handelte es (S69) sich um ein immer wieder erneutes Wählen zwischen beiden, das bald so, bald anders ausfiel. Die dritte, geschichtliche schließlich stellt eine Auseinander-Setzung mit dem Bösen dar; denn ihr Ziel ist die Überwindung desselben.


III. Gegenwart

   Die im vorangehenden geschilderten, das moralische Leben betreffenden Verhältnisse hatten sich im Laufe der letzten vier Jahrhunderte dergestalt auskristallisiert, daß die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten des Guten und Gefahren des Bösen am Ende des 19. Jahrhunderts sich in drei weltgeschichtlichen Erscheinungen paradigmatisch verkörperten.

   Die erste dieser Erscheinungen war die Verkündigung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes in Sachen des Glaubens und der Sitten durch das vatikanische Konzil von 1870. In ihr kam eine Entwicklung zum Abschluß, die innerhalb der römisch-katholischen Kirche schon seit mehr als einem Jahrtausend eingesetzt und insbesondere seit dem tridentinischen Konzil in entschiedener Weise die Richtung auf dieses Ziel hin eingeschlagen hatte. Durch sie wurde in der Epoche, in welcher die geschichtliche Entwicklung der Menschheit ihrer Kulmination entgegenging, als Glaubensverpflichtung für die Angehörigen der katholischen Kirche dem Oberhaupt derselben eine Stellung und Funktion zugesprochen, wie sie in Wirklichkeit und deshalb ohne Glaubenszwang für die Masse der Menschen in vorgeschichtlicher und auch noch in frühgeschichtlicher Zeit die Eingeweihten des Orakel- und Mysterienstätten eingenommen und ausgeübt hatten. Denn diese waren durch ihre Initiation zur Erfahrung der geistigen Welt, zum Umgang mit den Göttern gelangt und konnten dadurch den Willen der letzteren in ihren religiösen Lehren und moralischen Geboten ihren Mitmenschen übermitteln. Sie wurden deshalb ganz selbstverständlich als die irdischen "Stellvertreter" der Götter und als unfehlbare Autoritäten angesehen, deren religiösen und moralischen Verkündigungen gegenüber nichts anderes in Betracht kommen konnte als die unbedingte Unterwerfung. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wurde diese Stufe des moralischen Lebens überwunden durch jene, die sich schon im Griechentum ankündigte, in entscheidender Weise aber durch das Christusereignis fundiert wurde, und die sich dadurch kennzeichnet, daß der einzelne Mensch in seiner Seele ein höhere geistiges Ich erwecken und durch dieses in seinem Innern, vermöge seines intellektuellen und moralischen Gewissens, finden kann, was als Wahrheit und als sittlich Gutes zu gelten hat. Diese neue Stufe gelangt schließlich in unserer Zeit, in welcher die Geschichte ihren Gipfelpunkt erreicht, zur vollständigen Ausprägung. Indem gerade in dieser Zeit (S70) das Infallibilitätsdogma dem Repräsentanten einer äußeren Institution als dem "Stellvertreter Christi" in schroffster Form die Stellung eines unfehlbaren Mittlers zwischen der göttlichen Welt und der Menschheit zuerkannte, wurde damit die Zielsetzung, die der menschlichen Geistesentwicklung für diese Epoche erwachsen ist, der schärfste Kampf angesagt. Der - oben geschilderten - dritten Entwicklungsgestalt der Freiheit, die in unserer Zeit zur vollen Ausbildung gelangen soll, wurde der mächtigste Gegenimpuls entgegengestellt, der dahin zielt, die Menschheit auf der vorangehenden zweiten Entwicklungsstufe der Freiheit festzuhalten oder sie zu dieser zurückzuführen. Und es geschah dies gerade im Namen jener religiösen Verkündigung, durch welche die dieser früheren Entwicklungsstufe entsprechende Zweiteilung der Menschheit in die geistige Führung und die Masse der Einzelnen entscheidend überwunden worden ist. Damit ist die eine, durch Schiller als "Barbarei" bezeichnete Art der Unfreiheit noch einmal in schärfster Ausprägung zum Prinzip der Lebensgestaltung erhoben worden. Die Wirkungen dieser Kriegserklärung an die Ziele der modernen Geistesentwicklung sind nicht ausgeblieben. Nicht nur hat die katholische Kirche seither einen damals von niemand für möglich gehaltenen Aufstieg zu neuer geistiger Weltmachtstellung erlebt - auch auf nicht-kirchlichem Felde sind die Wirkungen der damals eingeleiteten Aktion in Erscheinung getreten. Ohne sie hätten im 20. Jahrhundert wohl kaum jene verschiedenen politischen Diktaturen errichtet werden können, deren Begründer als gottgesandte und deshalb unfehlbare "Führer" sich haben verehren lassen, und deren Parteiprogramme die Gültigkeit von unveränderlichen Glaubensdogmen für sich Anspruch genommen haben und nehmen. Von Adolf Hitler berichtet Hermann Rauschning in seinen "Gesprächen mit Hitler" (Wien 1941,S225) den Ausspruch: "Vor allem habe ich von dem Jesuitenorden gelernt. Übrigens tat das Lenin auch, soviel ich mich erinnere. Etwas Großartigeres als die hierarchische Ordnung der katholischen Kirche hat es bisher auf der Welt noch nicht gegeben. Ich habe vieles unmittelbar auf die Ordnung meiner Partei übertragen. Fast zweitausend Jahre Bestand unter den wechselnden Schicksalen, das will etwas bedeuten." Selbstverständlich soll damit nicht behauptet werden, daß diese Diktaturen nicht auch noch aus anderen Wurzel erwachsen sind. Diese autoritären religiösen und politischen Systeme bilden die eine der Haupterscheinungen, die dem Leben und der Geschichte der Menschheit in unserem Jahrhundert das Gepräge verliehen und jenes Böse und jenes Unheil verursacht haben, welches dieses Jahrhundert mit sich gebracht hat (C.G.Jung schreibt in "Gegenwart und Zukunft" <S21>: "Es ist vorderhand noch nicht abzusehen, was für Folgen eine allgemeine Erkenntnis vom fatalen Parallelismus der kirchlichen mit der marxistischen Staatsreligion zeitigen könnte. Der Absolutsheitsanspruch der von Menschen vertretenen civitas Dei ist der 'Göttlichkeit' des Staats auf der andern Seite leider nur zu ähnlich, und die moralische Schlußfolgerung, welche ein Ignatius von Loyola aus der Autorität der Kirche zieht <'der Zweck heiligt die Mittel'>, antizipiert die Lüge als staatspolitisches Instrument in einer nur zu gefährlichen Weise. Beide schließlich fordern unbedingte Unterwerfung im Glauben und beschneiden damit die Freiheit des Menschen, der eine die Freiheit vor Gott und der andere die vor dem Staat, womit dem Individuum das Grab geschaufelt wird."


(S71)   Die andere, entgegengesetzte Erscheinung vom Ende des 19. Jahrhunderts haben wir im literarischen Werke Friedrich Nietzsches zu sehen - denn auch diese Gestalt kommt weltgeschichtlicher Rang zu. Nietzsche war wohl diejenige Persönlichkeit, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts am intensivsten unter allen ihren Zeitgenossen den Aufgang einer neuen Ära, die Herausbildung einer neuen Entwicklungsgestalt des moralischen Lebens empfand - und zwar eben jener Gestalt, die durch die vollste sittliche Autonomie des einzelnen Menschen gekennzeichnet ist. Er fühlte sich geradezu zum Verkünder dieses neuen Zeitalters der moralischen Entwicklung berufen. Mit der Geste des Propheten verkündete er daher in der Gestalt eines neuen Zarathustra diesen Umschwung der Zeiten, der das "Zerbrechen der alten Tafeln" und das Aufstellen von neuen erfordere. Ja, er war sich auch bewußt, daß bei diesem Umschwung dasjenige, was bisher als "gut" gegolten hatte: die Befolgung von durch äußere Autoritäten gegebenen Geboten, sich in "Böses" verwandle, das heißt also, daß eine "Umwertung aller Werte" stattfinden müsse. Durch all dies fühlte er sich in den schärfsten Gegensatz versetzt zu jener Strömung des modernen Lebens, die in der Verkündigung des Infallibilitätsdogmas ihren extremsten Ausdruck gefunden, aber in dem Wirken der katholischen Kirche überhaupt ihren hervorragendsten Repräsentanten hatte. Da nun aber die letztere sich für den einzig legitimen Vertreter und den eigentlichen Bannerträger des Christentums ausgab und ausgibt, wurde Nietzsche zu dem tragischen Irrtum verleitet, diese dem Fortgang der Menschheitsentwicklung widerstreitende Richtung habe tatsächlich im Christentum ihre Wurzel, und dies hatte zur Folge, daß er zum leidenschaftlichsten Gegner des Christentums wurde, der bis dahin in Europa wohl jemals aufgetreten war.

   Nietzsche empfand sogar auch aufs entschiedenste, daß der Mensch auf der bisherigen Stufe seiner inneren Entwicklung noch nicht das volle Recht hat, sich in moralischer Beziehung ganz auf sich selbst zu gründen, sondern dieses Recht erst dann erwirbt, wenn er einen höheren Menschen, seinen "Genius", in seinem Innern erweckt. In großartig-hinreißender Darstellung brachte er diese Überzeugung noch in seiner "unzeitgemäßen Betrachtung": "Schopenhauer als Erzieher", zum Ausdruck. In diesem Punkte ereignete sich nun aber (S72) die andere tragische Wendung seines Lebens. In der Mitte seiner dreißiger Jahre geriet er völlig in den Bann der modernen naturwissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung, die in dem Siegeszug der darwinistischen Evolutionstheorie damals ihre größten Triumphe feierte. Dadurch pervertierte sich in seiner Vorstellungswelt das Ideal des im Innern zu erweckenden höheren Menschen in den Begriff des "Übermenschen", der auf dem Wege der äußeren, physischen Züchtung ebenso aus dem Menschen hervorzugehen habe, wie - nach Darwin - die Entwicklung der Lebewesen auf dem Wege der natürlichen Zuchtwahl von den primitivsten Organismen bis zum Menschen heraufgeführt hat. "Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch", heißt es im "Zarathustra". Damit aber, daß sie so als Ziel einer äußern Entwicklung aufgefaßt wurde, verlor die Idee des Übermenschen jede wesenhafte innere Bestimmung. Und so konnte Nietzsche sie in dem genannten Werke, in dem er sie in Verbindung mit der Umwertung aller Werte verkündigte, nur in hymnischen Lyrismen besingen, vermochte ihr aber keinen begrifflichen Inhalt zu verleihen. Diese Leerheit des Übermenschenbegriffs aber hatte - nach dem Gesetze des horror vacui - zur Folge, daß dieser in sich hineinsaugte, was in der niederen, sinnlichen Natur des Menschen als Ichsucht, als Egoismus lebt; und indem diese nun in jenen geistigen Hohlraum hineinströmte und dadurch zu etwas "Höherem" gleichsam aufgeblasen wurde, entstand daraus das, was Nietzsche nunmehr als das Grundprinzip der "neuen Moral" verkündigte, was aber in Wahrheit die Wurzel des Bösen schlechthin darstellt: der rücksichts- und schrankenlose Wille zur Macht. Nietzsche vermochte sich denn auch nicht darüber zu täuschen, daß er damit den nackten Immoralismus oder moralischen Nihilismus proklamierte. Aber er betrachtete diesen als die unausweichliche Konsequenz der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung, zumal angesichts des zugleich mit ihr immer stärker durchbrechenden Individualismus der neueren Menschheit; und so glaubte er, nur durch diesen Nihilismus hindurch werde sich der Weg zu einer neuen, freischöpferischen Sinngebung des Lebens finden lassen.

   In Wahrheit handelte es sich hier darum, daß die andere, in der Übermacht der sinnlichen Natur des Menschen begründete Art der Unfreiheit, die Schiller als die "Wildheit" bezeichnet hatte, zum Durchbruch kam und zum Lebensprinzip erhoben wurde. Wie in dem erstgeschilderten Falle der Infallibilitätserklärung nur ihren zugespitztesten Ausdruck fand die eine in der modernen Menschheit tatsächlich vorhandene und wirksame Form des Bösen, so eben im Fall Nietzsches die entgegengesetzte. Denn in der Zeit, da diese sein neues Evangelium verkündete, nahm in der neueren Geschichte das Zeitalter des Imperialismus seinen Anfang, in welchem die großen politisch-wirtschaftlichen Mächte, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, zum Kampfe um die Weltherrschaft antraten; als dessen treibende Kraft enthüllte (S73) sich aber bald immer deutlicher der moralische Nihilismus. Dieser Kampf um die Weltherrschaft ist die andere Haupterscheinung, die der Geschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert das Signum aufgedrückt und die ungeheuren Tragödien verursacht hat, die sich während desselben abgespielt haben. Denn er hat die Menschheit bereits zwei Weltkriege gekostet, in die zum erstenmal die Bevölkerungen aller Erdteile hineingerissen wurden. Und nachdem in diesen alle anderen Aspiranten auf die Weltherrschaft ausgeschaltet worden sind außer den zwei mächtigsten, droht er, wenn er sich im bisherigen Stile fortsetzt, die Menschheit in einen dritten zu stürzen, der - angesichts der ihr heute zur Verfügung stehenden Zerstörungsmittel - nur mit ihrer Selbstvernichtung enden könnte.


   Die dritte weltgeschichtliche Erscheinung von der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts, in der Mitte zwischen den beiden stehend, ist Rudolf Steiner, der Schöpfer der Anthroposophie. Angeregt durch die Schillersche Freiheitslehre entwickelte er in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in vollendeter Klarheit und Bestimmtheit jenen Freiheitsbegriff, den wir im vorangehenden als die dritte Entwicklungsgestalt der Freiheit geschildert haben, in welcher sie mit dem Guten identisch wird. In seiner 1894 erschienen "Philosophie der Freiheit" hat dieser seine dokumentarische literarische Darstellung gefunden. Steiner selbst bezeichnete den darin vertretenen moralphilosophischen Standpunkt als "ethischen Individualismus". Dieser sieht in dem "menschlichen Individuum den Quell aller Sittlichkeit und Mittelpunkt des Erdenlebens". "Auf dieser Stufe der Sittlichkeit" - so heißt es da weiter (Kap.IX) - "kann von allgemeinen Sittlichkeitsbegriffen (Normen, Gesetzen) nur insofern die Rede sein, als sich diese aus der Verallgemeinerung der individuellen Antriebe ergeben. Allgemeine Normen setzen immer konkrete Tatsachen voraus, aus denen sie abgeleitet werden können. Durch das menschliche Handeln werden aber Tatsachen erst geschaffen...

   Will man erfassen, wodurch eine Handlung des Menschen dessen sittlichem Wollen entspringt, so muß man zunächst auf das Verhältnis dieses Wollens zu der Handlung sehen. Man muß zunächst Handlungen ins Auge fassen, bei denen dieses Verhältnis das Bestimmende ist. Wenn ich oder ein anderer später über eine solche Handlung nachdenken, kann es herauskommen, welche Sittlichkeitsmaximen bei derselben in Betracht kommen. Während ich handle, bewegt mich die Sittlichkeitsmaxime, insofern sie intuitiv in mir leben kann; sie ist verbunden mit der Liebe zur dem Objekt, das ich durch meine Handlung verwirklichen will. Ich frage keinen Menschen und auch keine Regel: soll ich diese Handlung ausführen, sondern ich führe sie aus, sobald ich die Idee davon gefaßt habe. Nur dadurch ist sie meine Handlung. Wer nur handelt, weil er bestimmte sittliche Normen anerkennt, dessen Handlung ist das Ergebnis der in seinem Moralkodex stehenden Prinzipien. Er ist bloß der Vollstrecker. (S74) Er ist ein höherer Automat. Werfet einen Anlaß zum Handeln in sein Bewußtsein, und alsbald setzt sich das Räderwerk seiner Moralprinzipien in Bewegung und läuft in gesetzmäßiger Weise ab, um eine christliche, humane, ihm selbstlos geltende oder eine Handlung des kulturgeschichtlichen Fortschritts zu vollbringen. Nur wenn ich meiner Liebe zu dem Objekte folge, dann bin ich es selbst, der handelt. Ich handle auf dieser Stufe der Sittlichkeit nicht, weil ich einen Herrn über mich anerkenne, nicht die äußere Autorität, nicht eine sogenannte innere Stimme. Ich erkenne kein äußeres Prinzip meines Handelns an, weil ich in mir selbst den Grund des Handelns, die Liebe zur Handlung gefunden habe. Ich prüfe nicht verstandesmäßig, ob meine Handlung gut oder böse ist, ich vollziehe sie, weil ich sie liebe. Sie wird 'gut', wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erfassenden Weltzusammenhang drinnen steht; 'böse', wenn das nicht der Fall ist. Ich frage mich auch nicht: wie würde ein anderer Mensch in meinem Falle handeln, sondern ich handle, wie ich, diese besondere Individualität, zu wollen mich veranlaßt sehe. Nicht das allgemein Übliche, die allgemeine Sitte, eine allgemein-menschliche Maxime, eine sittliche Norm leitet mich in unmittelbarer Art, sondern meine Liebe zur Tat. Ich fühle keinen Zwang, nicht den Zwang der Natur, die mich bei meinen Trieben leitet, nicht den Zwang der sittlichen Gebote, sondern ich will einfach ausführen, was in mir liegt."

   Wie die so verstandene Freiheit und Moralität zu früheren Entwicklungsgestalten derselben, auch zu der noch durch Kant repräsentierten sich verhält, kennzeichnen folgende Sätze: "Die Handlung aus Freiheit schließt die sittlichen Gesetze nicht etwa aus, sondern ein; sie erweist sich nur als höherstehend gegenüber derjenigen, die nur von diesen Gesetzen diktiert ist. Warum sollte meine Handlung denn weniger dem Gesamtwohle dienen, wenn ich sie aus Liebe getan habe, als dann, wenn ich sie nur aus dem Grunde vollbracht habe, weil dem Gesamtwohle zu dienen ich als Pflicht empfinde? Das bloße Pflichtgefühl schließt die Freiheit aus, weil es das Individuelle nicht anerkennen will, sondern Unterwerfung des letzteren unter eine allgemeine Norm fordert. Die Freiheit des Handelns ist nur denkbar vom Standpunkte des ethischen Individualismus aus...

   Der Standpunkt der freien Sittlichkeit behauptet also nicht, daß der freie Geist die einzige Gestalt ist, in der ein Mensch existieren kann. Sie sieht in der freien Geistigkeit nur das letzte Entwicklungsstadium des Menschen. Damit ist nicht geleugnet, daß das Handeln nach Normen als Entwicklungsstufe seine Berechtigung habe. Es kann nur nicht als absoluter Sittlichkeitsstandpunkt anerkannt werden. Der freie Geist aber überwindet die Normen in dem Sinne, daß er nicht nur Gebote als Motive empfindet, sondern sein Handeln nach seinen Impulsen (Intuitionen) einrichtet." Und das Verhältnis speziell zur Kantschen Ethik wird durch folgende Gegenüberstellung charakterisiert: (S75) "Wenn Kant von der Pflicht sagt: 'Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, der du ein Gesetz aufstellst..., vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im Geheimen ihm entgegenwirken', so erwidert der Mensch aus dem Bewußtsein des freien Geistes: 'Freiheit! du freundlicher menschlicher Name, der du alles sittlich Beliebte, was mein Menschentum am meisten würdigt, in dir fassest, und mich zu niemandes Diener machst, der du nicht bloß ein Gesetz aufstellst, sondern abwartest, was meine sittliche Liebe selbst als Gesetz erkennen wird, weil sie jedem nur auferzwungenen Gesetze gegenüber sich unfrei fühlt'".

   Es wird freilich auch ausdrücklich betont, daß die so aufgefaßte Freiheit nicht etwas ist, was der Mensch auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung als Tatsache in sich vorfindet, sondern etwas, das er immer wieder "in Freiheit wählen", das heißt durch innere Aktivierung anstreben muß, zu dem hin er immer nur unterwegs sein kann. "Aus Handlungen der Freiheit und der Unfreiheit setzt sich unser Leben zusammen. Wir können aber den Begriff des Menschen nicht zu Ende denken, ohne auf den freien Geist als die reinste Ausprägung der menschlichen Natur zu kommen. Wahrhaft Menschen sind wir doch nur, insofern wir frei sind. Das ist ein Ideal, werden viele sagen. Ohne Zweifel, aber ein solches, das sich in unserer Wesenheit als reales Element an die Oberfläche arbeitet... Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen."

   Diese Freiheitslehre und Moralauffassung erscheint zunächst derjenigen Nietzsches aufs innigste verwandt; und in einer bestimmten Beziehung ist sie es auch. Sie unterscheidet sich jedoch von dieser in einem entscheidenden Punkt: Was Steiner in den zitierten Zusammenhängen die Individualität des Menschen nennt, ist stets als das zu verstehen, was wir im vorangehenden als dessen "wahres, höheres Ich" bezeichnet haben. Während der Begriff dieses Ichs, dessen Erweckung den Menschen allererst zur sittlichen Autonomie berechtigt, bei Nietzsche aber leer blieb und deshalb den egoistischen Machtwillen des niederen menschlichen Selbstes als Inhalt in sich hereinsog, erscheint er bei Steiner in seinem Wesen genau bestimmt. Er beinhaltet das höhere Ich, aber nicht mehr - wie bei Kant - als ein allgemeines, intelligibles Ich gleichsam noch unverkörpert über dem empirischen schwebend, sondern in diesem inkarniert und individualisiert. "Die Summe der in uns wirksamen Ideen, der reale Inhalt unserer Intuitionen, macht das aus, was bei aller Allgemeinheit der Ideenwelt in jedem Menschen individuell geartet ist. Insofern dieser intuitive Inhalt auf das Handeln geht, ist er der Sittlichkeitsgehalt des Individuums... Daß die Tat des Verbrechers, daß das Böse in gleichem Sinne ein Ausleben der Individualität genannt wird, wie die Verkörperung reiner (S76) Intuitionen, ist nur möglich, wenn die blinden Triebe zur menschlichen Individualität gezählt werden. Aber der blinde Trieb, der zum Verbrechen treibt, kommt nicht aus Intuition und gehört nicht zum Individuellen des Menschen, sondern zum Allgemeinsten in ihm, zu dem, was bei allen Individuen in gleichem Maße geltend ist und aus dem sich der Mensch durch sein Individuelles herausarbeitet. Das Individuelle in mir ist nicht mein Organismus mit seinen Trieben und Gefühlen, sondern das ist die einige Ideenwelt, die in diesem Organismus aufleuchtet. Meine Triebe, Instinkte und Leidenschaften begründen nichts weiter in mir, als daß ich zur allgemeinen Gattung Mensch gehöre; der Umstand, daß sich ein Ideelles in diesen Trieben, Leidenschaften und Gefühlen auf eine besondere Art auslebt, begründet meine Individualität. Durch meine Instinkte, Triebe bin ich ein Mensch, von denen zwölf ein Dutzend machen; durch die besondere Form der Idee, durch die ich mich innerhalb des Dutzend als Ich bezeichne, bin ich Individuum."

   Ja es wird von Steiner seine Freiheitslehre in seiner "Philosophie der Freiheit" überhaupt erst in deren zweitem Teil entwickelt, nachdem er ihr im ersten Teil die Darstellung vorangeschickt hat, wie das wahre Ich im Menschen zum Bewußtsein erweckt werden kann. Nach den oben zitierten Sätzen - aber auch nach allem, was wir in den beiden vorangehenden Bänden dieses Werkes über die geschichtliche Phase des Menschheitswerdens ausgeführt haben - kann es nicht überraschen, wodurch diese Erweckung bewerkstelligt werden kann. Denn wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die eigenste Errungenschaft der geschichtlichen Entwicklung in der Fähigkeit des Denkens (als des Bildens von Allgemeinbegriffen) bestehe, und daß in dieser Errungenschaft die Individualisierung des in der Vorgeschichte noch kollektiv gearteten Geistigen zum Ausdruck komme. In seinem Denken kommt in der Tat die Betätigung seines individualisierten Geistes, das heißt seines wahren Ichs im Seelenleben des heutigen Menschen zur Erscheinung. Die überpersönlich-übersubjektive Gültigkeit seine Begriffe ist das Zeugnis hierfür. Denn das wahre, höhere Ich des Menschen ist über dessen Subjektivität erhaben, es hat universell-menschheitlichen Charakter. Nun besteht aber die merkwürdige Tatsache, daß in unser Alltagsbewußtsein nur die Erzeugnisse unseres Denkens, die Begriffe eintreten, nicht aber die Denktätigkeit als solche. Sie bleibt im Hintergrund. Weil sich der Mensch ihres Wesens nicht bewußt ist, darum geschieht es, daß er sie so oft durch Einmischung seiner Gefühle, Affekte, Emotionen verunreinigt und verfälscht und sich dadurch auch mit seinem Denken in seine Subjektivität einspinnt, in der er berechtigterweise nur mit seinen Gefühlen und Empfindungen leben sollte. Vermag er nun aber seine Denktätigkeit in ihrem reinen, eigenen Wesen - durch meditative Verstärkung derselben - sich ins Bewußtsein zu heben und zu erleben, so erweckt er damit sein wahres Ich erst zum Bewußtsein seiner selbst. Dieser Prozeß (S77) der Bewußtwerdung seines Ichs, oder der Inkarnation desselben im Elemente seines Bewußtseins, kann durch die Pflege eines entsprechenden meditativen Lebens immer weiter getrieben werden. Auf diesem Wege erwirbt sich der Mensch die Fähigkeit, durch moralische Intuition sittliche Ideale zu konzipieren und diese Ideale, die zunächst allgemeinen Inhalt haben, vermöge moralischer Phantasie so zu Vorstellungen zu konkretisieren, daß sie je nach den Forderungen, welche bestimmte Lebenssituationen ihm stellen, in Wirklichkeit umgesetzt werden können. Was bisher nur in allgemeinen Imperativen sich kundgebende Stimme des Gewissens war, verwandelt sich also auf diesem Wege in die Fähigkeiten der moralischen Intuition und der moralischen Phantasie. Daher heißt es in Kap. XII der "Philosophie der Freiheit": "Der freie Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die aus dem Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt sind... Konkrete Vorstellungen aus der Summe seiner Ideen heraus produziert der Mensch zunächst durch die Phantasie. Was der freie Geist nötig hat, um seine Ideen zu verwirklichen, um sich durchzusetzen, ist also die moralische Phantasie. Sie ist die Quelle für das Handeln den freien Geistes." Mit dem Begriff dieser "moralischen Phantasie", wie ihn Steiner hier im Gesamtzusammenhang mit dem von ihm aufgewiesenen Weg zur Erweckung und Entfaltung des höheren Ichs im Menschen geltend machte, wurde hinsichtlich der Entwicklung der Gewissenskraft in der menschlichen Seele seit der Zeit, da Paulus das im Griechentum entstandene, dort aber noch auf die Vergangenheit und auf moralisch negative Taten gerichtete Gewissenserlebnis ins Positive wendete und auf die Zukunft bezog, der bedeutungsvollste Fortschritt errungen.

   Um einerseits die Verwandtschaft, andererseits die radikale Verschiedenheit seiner Freiheits- und Moralphilosophie von derjenigen Nietzsches darzustellen, schrieb Steiner unmittelbar nach Vollendung seiner "Philosophie der Freiheit" ein Buch über Nietzsche (Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895), in welchem er die Bedeutung von dessen geistigem Ringen im Kampfe mit den reaktionären Tendenzen seines Zeitalters auseinandersetzte. So stark er hierbei das in die Zukunft Weisende der Nietzscheschen Ideen hervorhob, so scharf betonte er auch die Unzulänglichkeit derselben, ja den Abweg, auf den Nietzsche geraten, und faßte den Unterschied zwischen dessen Lehre und seiner eigenen schon in der Vorrede in die Worte zusammen: "Erst derjenige Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern für das Handeln zu schaffen, in meiner 'Philosophie der Freiheit' die 'moralische Phantasie' genannt. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muß notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber anderseits ist es auch eine unbedingte Notwendigkeit, daß dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung (S78) eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der 'dionysische' Mensch kein Knecht des 'Herkommens' oder des 'jenseitigen Willens', aber er ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte."

   Rudolf Steiners weiterer Geistesweg bestand darin, daß er sich in die durch das Erleben der Denktätigkeit erweckte Welt des höheren Ichs immer tiefer und umfassender einlebte. Die Pflege der Meditation wurd für ihn immer mehr zu einer geistigen Lebensnotwendigkeit. Dadurch entfaltete sich dieses höhere Ich, das er so für sein Bewußtsein gleichsam zur Geburt gebracht hatte, zu einem von der Leiblichkeit unabhängig sich erweisenden "höheren, übersinnlichen Menschen". Dieser Prozeß kulminierte am Ende seiner dreißiger Jahre darin, daß das Erleben dieses seines höheren Menschen, in dessen Geburt ja der Same vollständig aufging, der durch das Christusereignis in die Erdenmenschheit gesät worden war, sich für ihn ausweitete zu einer rein übersinnlichen Erfahrung des Christuswesens und seines Eintrittes in das Erdendasein durch den Tod auf Golgatha. Es erneuerte sich für Rudolf Steiner also in gewisser Weise das Damaskus-Erlebnis des Paulus. So konnte er in seiner Selbstbiographie von diesem Zentralerlebnis auf seinem inneren Entwicklungswege schreiben: "Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelenentwicklung an." Aus dieser geistigen Schau des Christus heraus konnte er der Christosophie, zu der Paulus auf Grund des Damaskus-Erlebnisses die ersten Fundamente gelegt hatte, die seit damals bedeutendste Weiterentwicklung und Ausgestaltung verleihen - schon in seinem unmittelbar nach der Jahrhundertwende erschienenen Buche "Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums", vor allem aber in seinen später gehaltenen zahlreichen Vortragszyklen, die das Christuswesen und das Christentum zum Gegenstand haben. Soweit dies das Thema dieses Buches erfordert, wird einiges aus ihr in den folgenden Kapiteln desselben zur Darstellung gelangen. Diese Christosophie bildet aber in gewisser Weise nur das Herzstück dessen, was Steiner seit eben dieser Zeit als "Anthroposophie" zu vertreten begann. Diese ist nichts anderes als das Ganze desjenigen, was sich durch die volle Geburt des "höheren Menschen" an Anschauungen über das Wesen des Menschen überhaupt und sein Werden im Zusammenhange mit dem Weltenwerden ergibt. Und so konnte Steiner ihr Wesen einmal, auf eine Anfrage für einen Artikel für das englische Oxford Dictionary, in dem Satz zusammenfassen: "Anthroposophy is a knowledge produced by the Higher Self in man" (Anthroposophie ist eine Wissenschaft, die vom höheren Selbst im Menschen hervorgebracht wird).

   Da es in diesem Werk ja zentral um die Problematik der Geschichte geht, so sei zum Abschlusse dieses Kapitels - durch ein Zitat eines zeitgenössischen Philosophen - noch auf den Zusammenhang hingedeutet, der zwischen der (S79) hier geschilderten, unserer Epoche entsprechenden Entwicklungsgestalt des Moralischen bzw. der Freiheit und der Auffassung von der Geschichte als solcher besteht, die sich in neuerer Zeit herausgebildet hat. Wir zeigten im zweiten Band (Hans E. Lauer: Geschichte II S18ff), wie die Kulmination, die das geschichtliche Werden gerade in unserer Epoche erreicht, auch darin sich manifestiert, daß im modernen Historismus die Auffassung auftrat, die geschichtliche Betrachtungsweise sei für alle menschlichen Dinge überhaupt die allein angemessene. Unter der geschichtlichen Betrachtungsweise aber verstand der Historismus die Betonung der absoluten Einmaligkeit aller geschichtlichen Erscheinungen und Ereignisse, und das hieß: die Betonung der bloß relativen Gültigkeit aller angeblich ewigen allgemeinen Normen, seien sie moralischer oder erkenntnismäßiger Art. Wir schilderten auch, wie unter dem Eindruck der nihilistisch-existentialistischen Konsequenzen, die aus dieser Auffassung gezogen wurden, in unserem 20. Jahrhundert die absolute Einmaligkeit der Einzelerscheinungen wieder verneint wird, um Raum zu gewinnen für die Re-Inthronisierung überzeitlich gültiger allgemeiner Normen. Gegen solche Bestrebungen (Löwith, Krüger) hat kürzlich Theodor Litt (Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins, Heidelberg 1956) den Historismus verteidigt, indem er zeigte, daß nicht dieser die überlieferten "ewigen" Normen gestürzt habe, sondern daß das tatsächlich erfolgte Versiegen von deren Geltungskraft in ihm nur zum Ausdrucke kam und von ihm konstatiert wurde. Ihm fehle außerdem, recht verstanden, keineswegs der Sinn für das Allgemeine, nur sehe er es im Individuellen als solchen. Und gerade darin liege die eigentliche Würde des Menschen, die eben erst in neuerer Zeit voll ins Bewußtsein getreten sei: daß die menschliche Individualität nicht ein bloß "Einzelnes" ist, das äußerlich unter ein "Allgemeines" subsumiert werden kann, sondern in sich selbst, allerdings in je individueller Gestalt, ein Allgemein-Universelles offenbart. Litt faßt seine Ausführungen am Schlusse in Sätze zusammen, die zeigen, wie deutlich er sich des Unterschiedes zwischen einer älteren und der modernen Entwicklungsgestalt des Moralischen, aber auch der Bedeutung der letzteren für das Selbstverständnis des Menschen bewußt ist:

   "Es ist zuzugeben, daß, wenn die... Reflexion einmal ihre Stimmer erhoben hat, dem Menschen ein gut Teil von jener Lebenssicherheit verloren geht, deren er sich erfreuen durfte, solange der Glaube an die Alleingeltung der über ihm waltenden Lebensnormen unerschüttert war. Vielleicht würde diese Verlust dem von ihm Betroffenen eher tragbar erscheinen, wenn er die Gegenrechnung aufmachen, das heißt sich vergegenwärtigen wollte, welcher Preis gezahlt werden mußte, damit traditionsgebundene Zeiten von den ihn quälenden Zweifeln so gänzlich verschont bleiben konnten. Wie viele Taten haarsträubenden Aberwitzes, wie viele Exzesse mörderischer Grausamkeit sind mit kaltem Blut, ja mit dem besten Gewissen von der Welt verübt worden, (S80) weil die Hüter der gemeinsamen Ordnung der Normen kundig zu sein glaubten, denen das jeweils zu beurteilende Verhalten nur subsumiert zu werden brauchte, damit es sich als fluchwürdiges Verbrechen enthülle - weil sie sich im Besitz des 'Maßstabs' fühlten, der Gut und Böse haarscharf voneinander trennte! Hekatomben sind auf den Altären des Molochs hingeschlachtet worden, der sich in Gestalt des Subsumptions-Allgemeinen etablierte, und noch heute deutet nichts darauf hin, daß man ihm fürderhin die Tribute verweigern werde...

   Wenn wir sehen, wie heftig sich der Mensch dagegen sträubt, sich einen Sachverhalt einzugestehen, wider dessen Anerkennung mit stichhaltigen Gründen anzugehen unmöglich ist, dann erkennen wir in dem Protest gegen den 'Relativismus' die Äußerung einer Schwäche, die davor zurückscheut, die Gefährdung auf sich zu nehmen, die mit dem Verzicht auf die eindeutigen Normen und die gebrauchsfertigen 'Maßstäbe' unfraglich verbunden ist. Solange sie in unangefochtener Geltung standen, so lange mochte es dem Menschen fraglich erscheinen, ob er die Willensenergien aufzubringen imstande sei, deren es zur Erfüllung des durch die Normen Geforderten bedurfte. Nicht fraglich aber konnte es ihm sein, was er zu tun habe, um sich der Norm entsprechend zu verhalten. Was es an Gewissensnot gab, das erschöpfte sich in der Zerknirschung über den vor der Forderung versagenden Willen - nicht konnte sie aus solchen Zweifeln entspringen, die sich auf das Geforderte selbst bezogen. Zu entscheiden hatte sich der Mensch, wenn es galt, zwischen Erfüllung und Nichterfüllung der Normen zu wählen. Aber entschieden war bereits durch den Ausspruch der Norm, das ist ohne sein Zutun, worin die Erfüllung zu bestehen hatte.

   Es versteht sich leicht, welche Erschütterung der Mensch verspürt, wenn es ihm aufgeht. daß bei Zulassung der neu entdeckten Wahrheit die Notwendigkeit der verantwortlichen Entscheidung nicht erst dann an ihn herantritt, wenn zwischen Befolgung und Nichtbefolgung des Gebotenen zu wählen ist, sondern ihn schon in Gestalt der Frage überkommt, was denn eigentlich das Gebotene sei. Die Möglichkeit des Strauchelns ist damit gleichsam eine Stufe zurückverlegt. Es ist ein Rückhalt verschwunden, dessen Unantastbarkeit selbst für den Fehlenden etwas Beruhigendes hatte. In diesem Wanken des Grundes liegt das Bestürzende der Erkenntnis, daß es unmöglich ist, sich über das Wie des zu Tuenden durch Subsumption der Lage unter eine allgemeine Norm, durch Messung des Gegebenen an einem allgemeinen Maßstabe unterrichten zu lassen. Wie sollte es anders sein, als daß der Mensch im Vertrauen zu dem bewährten Kompaß erschüttert, sich wie in den Weiten eines unbekannten Ozeans verloren vorkommt. - Und doch heißt es die Lebensbilanz nur von der Sollensseite her sehen, wenn man hier nicht mehr bemerken will als die Einbuße an Standfestigkeit und Daseinsvertrauen. Was diesem Minus (S81) als Gewinn gegenübersteht, das ist, so scheint mir, die Bestätigung seiner selbst, die der Mensch dann erfährt, wenn er den ganzen Umfang der Verantwortung überschaut, mit er der, der Demiurg der Geschichte, sich gerade aus dem Grunde gesegnet fühlen darf, weil er nicht beordert ist, ein seinem Dafürhalten entrücktes Musterbild durch eine Serie gleichförmiger Nachbilder zu repräsentieren, sondern eine auf seine Helferschaft angewiesene Forderung zu einem Kosmos eigentümlicher Gestalten zu konkretisieren. Das ist ein Auftrag, der schwindeln machen kann - in mehr als einem Sinne des Wortes. Was er an möglichen Verfehlungen und Verkehrungen in sich trägt, das wissen wir Heutige nur zu gut. Aber es gibt Wagnisse, denen ausweichen zu wollen dem Verrat am eigenen Lebenssinn gleichkäme."

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