Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Abschließende Betrachtung:

Die Synthese des innermenschlichen und des kosmischen Aspektes der moralischen Problematik


(S261)   Wir haben in diesem Buche gezeigt, wie im Verlaufe des irdischen Menschheitswerdens die Auseinandersetzung mit Gut und Böse stufenweise zur Sache des einzelnen Menschen wird. Wir suchten ersichtlich zu machen, wie in diesem Prozeß die stufenweise Entwicklung der menschlichen Freiheit zum Ausdruck kommt. Wir legten des weiteren dar, wie gleichzeitig damit der Umfang der moralischen Verantwortung des Einzelmenschen sich stufenweise erweitert, und zwar in doppeltem Sinne. Es geschieht dies einerseits in der Weise, daß dieser verantwortlich wird für sein Verhalten nicht nur als einzelner Mensch (zu andern einzelnen Menschen oder zu einer begrenzten Gemeinschaft), sondern auch als Glied der gesamten Menschheit, ja als Herr über die Erdennatur. Andererseits geschieht es derart, daß seine Verantwortlichkeit sich nicht mehr nur bezieht auf sein Verhalten gegenüber moralischen Geboten, die von entsprechenden Autoritäten gegeben werden, sondern auch auf sein eigenes, selbständiges Produzieren von moralischen Zielsetzungen, ja zuletzt sogar auf seine individuelle Beziehung zu den kosmischen Mächten des Guten und des Bösen. In dieser schrittweisen Erweiterung seiner Verantwortungssphäre wiederum kommt zum Ausdruck die stufenweise Ausprägung, man könnte auch sagen: Verinnerlichung seines Individualitäts-Charakters vom Leiblichen durch das Seelische hindurch ins Geistige hinein.
   Im Hinblick auf die letzte Stufe seiner Verantwortungs- bzw. Individualitätsentwicklung haben wir sodann die Wirksamkeit der kosmischen Mächte des Guten und Bösen in ihren geschichtlichen Metamorphosen und zuletzt in ihrer charakteristischen Gegenwartsgestalt geschildert. Dabei trat zutage, daß sie hierbei eine fortschreitende Steigerung erfährt. Im Zusammenhang hiermit wiesen wir allerdings auch darauf hin, daß diese Mächte nicht an sich selbst gut oder böse sind, sondern nur in ihrem Verhältnis zum Menschen so erscheinen, genauer gesagt: durch die Art, wie sie sich am Fortgang des Prozesses der Menschwerdung beteiligen. Und auch in dieser Beziehung erweisen sie sich als nicht absolut, sondern nur relativ böse. Das heißt, daß sie auch (S262) ihre positiven Aufgaben haben. Und das Böse, das sie verursachen, kommt nur davon her, daß sie ihr Wirken über die Grenzen auszudehnen streben, in denen es berechtigt ist. Dies wäre gar nicht möglich, wenn das Menschheitswerden gleichsam geradlinig verliefe und daher immer nur derselben Triebkräfte bedürfte. Dadurch aber, daß es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Richtungen sich bewegt, ist die Möglichkeit von solchen Grenzüberschreitungen gegeben. An sich aber, vom Kosmos, von "Gott" her gesehen, sind die verschiedenen Mächte des Guten und des Bösen nur die Ausführer der verschiedenen Aufgaben, welche der Gang des Menschenwerdens mit sich bringt. Wodurch entsteht nun aber die Tendenz der Mächte des "Bösen", die Grenzen ihrer berechtigten Wirksamkeit zu überschreiten und diese dadurch vom Guten ins Böse zu wenden? Die Antwort auf diese Frage liegt in der von uns bereits erwähnten Tatsache, daß der Unterschied von Gut und Böse seine Wurzel in der menschlichen Freiheitsentwicklung hat. Diese Entwicklung bewirkt nämlich, daß der Mensch in zunehmendem Maße die Möglichkeit erlangt, sich in einer Weise zu verhalten, die den Bedingungen seiner Menschwerdung widerspricht. Durch ein solches Verhalten aber gewährt er jener Tendenz Raum, ja ruft sie erst eigentlich hervor. Da nun aber seine Entwicklung zur Freiheit einen Bestandteil seiner Menschwerdung bildet, so bedeutet ein den Bedingungen der letzteren widerstreitendes Verhalten immer auch die Preisgabe seiner Freiheit. Und zum Wesen der Freiheit gehört nun eben einmal - worauf wir schon früher hingewiesen haben - das Paradoxon, sich selbst preisgeben zu können. Damit charakterisiert sich das Böse auch dadurch, daß es in der Preisgabe der menschlichen Freiheit seinen Ausdruck findet. Diese Preisgabe stellt gleichsam den Kontakt zwischen ihm und dem Menschen her. Umgekehrt wird das Gute im Verlaufe der Menschwerdung immer entschiedener mit der Ausreifung und Selbstbehauptung der menschlichen Freiheit identisch. Und so ist es - wie die Verbindung des Menschen mit Luzifer oder Ahriman sein irgendwie geartetes Unfreiwerden bedeutet - umgekehrt für den Christus bezeichnend, daß sein Wirken sich dem Menschen nicht aufdrängt, sondern von diesem nur in voller Freiheit ergriffen werden kann, ja daß er, wenn der Mensch seine Kraft in sich aufnimmt, diesen erst im vollen Sinne sich selber schenkt.
   In diesen Tatbeständen liegt die Antwort auf eine Frage, die nach all den vorangehenden Ausführungen vielleicht noch offen bleiben konnte, zumal da wir in  der Einleitung gegen die ältere religiös-mythologische Geschichtsbetrachtung den Einwand erhoben hatten, daß, wenn in ihrem Sinne von kosmischen Mächten des Guten und des Bösen gesprochen wird, die in der Geschichte um den Menschen miteinander kämpfen, der Mensch seine Freiheit verliere und zum bloßen Schauplatz ihres Kampfes werde. Es ist die Frage, (S263) ob nicht für die Art, wie wir in diesem Buche von solchen Mächten gesprochen haben, dasselbe gelte. Wer unsere Darstellung im rechten Sinne verstanden hat, wird nicht zu dieser Meinung kommen können. Denn in dieser Darstellung bleibt der Gegensatz von Gut und Böse durchaus beim Menschen. Dieser wird von der Verantwortung für die Entscheidung zwischen ihnen nicht entlastet. Gut und Böse werden nicht auf die kosmischen Mächte als solche projiziert. Diese sind an sich selbst weder das eine noch das andere. Sie sind in ihrem eigenen Wesen mit diesen Begriffen nicht zu fassen. Es wird von ihnen sozusagen nur in der Sprache der Menschen gesprochen, wenn sie als "gut" und "böse" bezeichnet werden. Hierin liegt der entscheidende Unterschied gegenüber den älteren religiös-mythologischen Geschichtsbildern. Man könnte diesen Unterschied auch so charakterisieren, daß die hier gegebene Darstellung von einem anthropozentrischen Gesichtspunkt aus entworfen ist, während jene älteren Geschichtsbilder alle theozentrisch orientiert waren. Diese ihre Anthropozentrik begründet ihren spezifisch modernen Charakter und damit ihre Verwandtschaft mit dem allgemeinen modernen Geschichtsdenken, ja mit einem eigentlich geschichtlichen Denken überhaupt. Denn wirkliche "Geschichte" ist nur da vorhanden, wo sie vom Menschen gemacht und verantwortet wird.
   Wozu aber dann, so könnte man fragen, der ganze "Apparat" von mit- und gegeneinander wirkenden kosmischen Mächten des "Guten" und "Bösen", wie er hier "konstruiert" wurde? Weil - so wäre hierauf zu antworten - die gegenwärtige Entwicklungssituation der Menschheit einer Erweiterung und Vertiefung unseres Menschenbildes verlangt, wenn die Menschheit die Probleme, vor die sie sich heute gestellt sieht, soll bemeistern können. Denn nur dadurch, daß sein Bild bis in jene Elemente seines Wesens hinein erweitert wird, mit denen er in die Wirkenssphäre kosmischer Mächte hineinragt, ergeben sich konkrete, inhaltsvolle Orientierungen für die Bewältigung der Aufgaben, die dem Menschen für die Zukunft erwachsen sind. Wenn eine solche Erweiterung in neuer, wahrhaft zeitgemäßer Form erfolgt, wird seine Freiheit und seine Verantwortlichkeit in keiner Weise herabgemindert. Im Gegenteil: sie werden erst in ihrer ganzen Größe, aber zugleich auch erst in bestimmter Konturierung sichtbar.
   In einer Abhandlung über "Das Radikal Böse bei Kant" (abgedruckt in dem Sammelband "Rechenschaft und Ausblick", München 1951,S90ff) hat in jüngster Zeit auch Karl Jaspers im Anschluß an Kants Schrift "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" wieder in scharfbetonter Weise die Auffassung vertreten, daß Gut und Böse in der menschlichen Freiheit ihre Wurzel haben. Daraus folgt für ihn, daß das Böse "weder in einer naturalistischen noch in einer psychologischen noch in einer metaphysisch-spekulativen Dimension" liege. "Alle Betrachtungen des Bösen in der Welt, in (S264) psychologischen Erörterungen, in metaphysischer Spekulation sind wie Ablenkungen". Damit der Mensch aber nicht sich ablenken lasse von der moralischen Verantwortung, die er ausschließlich selbst trägt, durch sein innerstes, intelligibles Wesen, welches der Grund seiner Freiheit ist, hat ihm - so meint Jaspers in Übereinstimmung mit Kant - die Gottheit sich selbst verborgen. "Daß das Sein der Transzendenz durch kein Wissen und keine direkte Erfahrung, durch keine schließende Erkenntnis, durch kein Erlebnis und durch keine Mystik zu erreichen ist, das ist selbst wie ein Sprechen der Gottheit, aber eine indirekte Sprache. Denn würde uns hier Wissen zuteil, so würde unsere Freiheit gelähmt. Es ist, als ob die Gottheit das uns Höchste - das aus sich selber Sein der Freiheit - schaffen wollte, aber, um es möglich zu machen, sich selbst verbergen mußte." Anschließend zitiert Jaspers entsprechende Sätze aus Kants genannter Schrift. Wäre Gott nicht verborgen - so heißt es in dieser -, "würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen... Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene getan werden." Aber es "würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht... geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen... würde gar nicht existieren. Das Verhalten der Menschen... würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, so wie im Marionettenspiel alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde. Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir mit aller Anstrengung unserer Vernunft nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken und klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn die Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt, so kann wahrhaft sittliche Gesinnung stattfinden... Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben..., daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ."
   Diese Auffassung hat unzweifelhaft ihre Berechtigung gegenüber den religiös-mythologischen Weltbildern, die innerhalb der vorchristlich-heidnischen Kulturen bestanden haben und in einzelnen ihrer Teile mit in das religiöse Weltbild des Christentums eingegangen sind. denn diese entstanden, wie wir an früherer Stelle ausführten, dadurch, daß Luzifer zwar das Denken in der menschlichen Seele entzündete, es aber seinem Inhalte nach ausfüllte mit Vorstellungen, die teils als Erbschaft des im "Paradies" noch genossenen Umgangs mit der Gottheit sich in der Menschheit erhalten hatten, teil als Ergebnis der Erfahrung der göttlich-geistigen Welt, die einzelne Wenige durch die (S265) Initiation in den Mysterien noch erlangten, in ihr lebten. Es war dies ein kosmisch-kosmogonisch-astrologisches Weistum, das sich auch auf das Wirken von göttlichen Mächten des Guten und des Bösen bezog. Es hatte aber die Eigentümlichkeit, daß es dem Menschen eine innere moralische Verantwortung zu empfinden verunmöglichte. Denn die kosmischen Mächte erschienen durch den Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Sternensphären, in dem sie innerhalb dieser Weltbilder standen, als eine Art geistiger Naturgewalten, und der Mensch lediglich als einer der Schauplätze, auf denen sie sich auswirken, oder als eines der Werkzeuge, dessen sie sich für ihr Wirken bedienen. Die Angehörigen jener Kulturen erwecken daher in ihren geschichtlichen Taten nicht nur den Eindruck von Marionetten übermenschlich-göttlicher Mächte, sondern sie fühlten sich auch selbst als solche. Es ist darum bezeichnend, daß zum Beispiel in Indonesien die Darstellung der Geschehnisse uralter mythischer Legenden, wie sie im Mahabharata und Ramajana erzählt werden, durch Marionettenfiguren im dortigen Kulturleben bis auf den heutigen Tag eine bedeutende Rolle spielt. Und es stimmt damit überein, daß den Völkern des fernen Ostens noch heute der Begriff der "Sünde" als einer vom Menschen zu verantwortenden moralischen Schuld fremd ist.
   Prototypisch für alle diese heidnischen Weltbilder, soweit in ihnen von kosmischen Mächten des Guten und Bösen die Rede war, ist die Zarathustra-Lehre des alten Persien. Denn in keinem andern von ihnen nahm die Entgegensetzung eines guten und eines bösen kosmischen Prinzips eine so zentrale Stellung ein wie in der Lehre von dem lichten Ormuzd und dem finsteren Ahriman. Aber gerade der Zarathustrismus war zugleich im extremsten Sinne des Wortes eine Kosmosophie. Und so erschienen die beiden genannten Antipoden mit allem verwoben, was auch in der äußeren Natur als Gegensatz erscheint wie Licht und Finsternis, Leben und Tod, Ordnung und Chaos. Ein ganz Ähnliches gilt auch vom Gegensatz von Yang und Yin im chinesischen Taoismus. In alle diese Weltbilder leuchtete gleichsam noch ein letztere Schein des Geisteslichtes hinein, in welchem die Menschheit in der Urzeit, im "Paradiese" gelebt hatte, in welchem sie den Unterschied von Gut und Böse im eigentlichen, menschlichen Sinne noch nicht gekannt hatte.
   Dieser ganzen heidnisch-luziferischen Weisheitswelt stellte sich in vorchristlicher Zeit als schärfster Gegensatz die hebräisch-jahvistische Gesetzeswelt entgegen, die der Mosaismus repräsentiert (Siehe auch unsere Ausführungen hierüber im zweiten Band S177f-7. Wiederholung + Einmaligkeit). Für sie ist das urzeitlich-paradiesische Dasein durch den Sündenfall ein endgültig vergangenes, und sie läßt in Gestalt ihrer Volksreligion noch einmal mit stärkster Kraft die Verhältnisse aufleben, die sich in der (atlantischen) Vorgeschichte herausgebildet hatten, da der Umgang mit der göttlichen Welt der Menschheit im allgemeinen (S266) verloren gegangen und ersetzt worden war durch Lehren und Gebote, welche ihr durch einzelne auserwählte Führer als Sprachrohre (Oracula) der Götter zukamen. Die Kehrseite dieses Verlustes der einstigen "Uroffenbarung" aber bildete die Geburt der menschlichen Einzelpersönlichkeit und einer ihr zugehörigen Sphäre der moralischen Verantwortlichkeit: der Verantwortung nämlich für ihr Verhalten gegenüber dem Gesetz vom Sinai. Und so wurde das alte Hebräertum durch diese Gesetzgebung in der Menschheitsgeschichte zum eigentlichen Begründer des Bewußtseins, oder vielleicht besser: des Gefühls der sittlichen Verantwortlichkeit des Einzelnen, damit aber auch der Empfindung einer moralischen Schuld, die der Mensch auf sich laden kann, ja der menschlichen Sündhaftigkeit überhaupt. In keiner der vorchristlichen Religionen spielen die Begriffe von Sünde, Schuld, Strafe und Vergebung eine so zentrale Rolle wie in der hebräischen. Und hierin liegt auch der Grund, warum die mosaische Genesis, indem sie bei der Schilderung von Paradies und Sündenfall von einem Gebote spricht, das Gott dem Menschen gegeben und das dieser übertreten habe, sich einer Darstellungsweise bedient, die später zur Fehlinterpretation dieses Geschehens Veranlassung gab. Denn es wurde durch diese Darstellungsweise in der Tat in die urzeitlichen Verhältnisse etwas hineinprojiziert, was erst für die vorgeschichtlichen Gültigkeit erlangte.
   Wir haben nun schon im ersten Teil dieses Buches ausgeführt. daß Kant, wenn er auch an Stelle des äußeren Gesetzes des Dekalogs das innere Gesetz des kategorischen Imperativs setzte, dennoch den Mosaismus sozusagen auf höherer Stufe erneuert hat. Er findet die Neigung zum Bösen im Menschen vor und bezeichnet sie als das "Radikal-Böse", weil sich ihr Ursprung, dem Erkennen unerreichbar, in der Wurzel der menschlichen Selbstheit gleichsam verliert. In der Legende vom Sündenfall erblickt er eine sinnbildliche Deutung dieser Grundtatsache des Seelenlebens. Auf der andern Seite findet er für die innere Umwandlung des Willens, für jene "einzige unwandelbare Entschließung", welche der kategorische Imperativ von uns fordert, ein Gleichnis in dem, was das Christentum die "innere Wiedergeburt" des Menschen nennt. Aber die Frage nach der Möglichkeit dieser Wiedergeburt geht für ihn gleichfalls über die Reichweite unseres Erkennens hinaus. Diese Möglichkeit kann lediglich Gegenstand unserer Hoffnung sein, da der kategorische Imperativ diese innere Umwandlung von uns verlangt. Dasselbe gilt auch von einem "höheren Beistand", einer "höheren Mitwirkung, welche ergänzt, was nicht in unserem Vermögen liegt", - kurz: von dem, was das Christentum "Gnade" nennt. Denn - so interpretiert Jaspers - "Gnade als ein Wißbares, Gnade gar als irgendeine zeitliche Erfahrung, auf die ich mich berufen oder verlassen würde, würde den Anspruch schwächen an die Freiheit des Menschen, zu tun, was ihm möglich ist, und jedem Sollen mit einem Bewußtsein seines(S267)Könnens zu antworten". Um der menschlichen Freiheit willen betont also Kant und ebenso auch Jaspers nach rückwärts und vorwärts aufs schärfste die Grenzen, die menschlichem Wissen, menschlicher Erfahrung gezogen sind. Der Inhalt der christlichen Religion ist ihnen nur eine Verbildlichung dessen, was der Mensch erwarten, erhoffen darf, - aber nicht die Kunde von einem Faktum, das Inhalt unmittelbarer menschlicher Erfahrung, menschlichen Wissens werden könnte. Die gestehen dem Menschen als Möglichkeit nicht zu, was Paulus im Galaterbrief in den Sätzen ausspricht (Kap.1): "Ich tue euch aber kund, liebe Brüder, daß das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht menschlich ist. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi. Denn ihr habt ja wohl gehört meinen Wandel weiland im Judentum, wie ich über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgte und eiferte über die Maßen um das väterliche Gesetz. Da es aber Gott wohlgefiel, der mich von meiner Mutter Leibe an hat ausgesondert und berufen durch seine Gnade, daß er seinen Sohn offenbarte in mir...", und (Kap.2): "Ich bin aber durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt. Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir."
   Paulus, der zuvor "über die Maßen um das väterliche Gesetz geeifert und die Gemeinde Gottes verfolgt" hatte, erlebte bei Damaskus den Auferstandenen als eine ins Erdendasein eingezogene kosmisch-göttliche Wesenheit und erfuhr dadurch jene innere Verwandlung seines Wesens, die ihn zum machtvollsten Verkündiger jener Gottes-Tat werden ließ. Er büßte dadurch aber von seiner Freiheit nichts ein, sondern erfuhr im Gegenteil, wie erst durch jene Gottes-Tat der Mensch in dem Sinne zur vollen Freiheit erhoben worden ist, daß er jetzt in seinem eigenen Innern das Gute als eine das Böse überwindende Kraft finden kann. "Darum, ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden" (2.Kor.17).
   So wurde durch das Christusereignis der einstige Gegensatz zwischen Heidentum und Judentum überwunden. Dieses Ereignis machte wieder möglich, von einer - allerdings menschgewordenen - kosmischen Macht des Guten aus einer neuen geistigen Erfahrung heraus zu sprechen. Und darum, weil diese Macht Mensch geworden, wurde durch solches Sprechen die Freiheit und Verantwortung des Menschen nicht beeinträchtigt, sondern gewann im Gegenteil einen neuen Sinn, eine noch höhere Bedeutung. Und gerade Paulus, der vom ehemaligen "Eiferer um das väterliche Gesetz" der Juden durch eine solche Erfahrung zum Heidenapostel wurde, verkörpert als geschichtliche Erscheinung gewissermaßen diese Überwindung. Was aber Paulus als eine "Frühgeburt" - auch im historischen Sinne - vor Damaskus erlebte, das wird, so führten wir in diesem Buche aus, im Verlaufe unseres Zeitalters für eine immer größere Zahl von Menschen zur Möglichkeit und Notwendigkeit. Und so stellt sich für (S268) unsere Zeit auch die Aufgabe einer Erneuerung jener Versöhnung von Heidentum und Judentum auf höherer Stufe. Das bedeutet, daß die Menschheit sich der Welt kosmischer Mächte in neuer Art für ihre Erfahrung erschließen muß. Weil ihr das heute dadurch möglich wird, daß der Christus, der in sie eingezogen ist, nun in jedem ihrer Glieder als die Kraft aufleben kann, die ihm erst seine volle Freiheit und damit sein volles Menschentum schenkt, darum wird sie dadurch nicht unfrei und büßt nichts von ihrer moralischen Verantwortlichkeit ein.
   Als ein Symptom dafür, daß diese Forderung sich heute für sie stellt, führten wir in der Einleitung die von Alfred Weber in seiner letzten Schrift entwickelte Geschichtsauffassung an. Dieser zufolge haben uns die Ereignisse unseres Jahrhunderts eine neue "Transzendenz-Erfahrung" zuteil werden lassen, für welche das Walten von zwar objektiven, aber im Menschen und durch den Menschen wirkenden, das heißt "immanent-transzendenten" Mächten im geschichtlichen Geschehen offenbar geworden und dadurch "der Weg in diese versunken gewesene, aber uralte menschliche Daseins-Sicht wieder gebahnt worden" ist. Freilich ist es, nach Weber, heute nicht mehr möglich, daß "wir irgend etwas von den mythologisierenden oder magistischen Perzeptionsformen übernehmen, die nach unserer Bewußtseinsstufe ein für alle Mal für uns überholt sind. Übereifrige Romanciers und Literaten" - um diese seine Worte nochmals zu zitieren -, "die in dieser unserer neuen Lage ganze Dämonologien entwickeln, sind weit entfernt, das Neu-Alte in der der Gegenwart adäquaten Form wiederzubeleben. Sie schaden der neu sich bildenden Erkenntnis, weil sie sie in die Nähe eines abergläubischen Obskurantismus bringen, mit der sie ganz und gar nichts zu tun hat. Dieses Erkenntnis ist vielmehr in ihrem Wesen nüchtern, einfach Tatsachen, die ihr unleugbar scheinen, konstatierend. Und sie versucht und muß versuchen, in einfachster, gar nicht mythologisierender oder mystifizierender Sprache durch Gebrauch der allergewöhnlichsten Alltagslogik, diese Tatsachen ins Bewußtsein zu heben, und sie, soweit es geht, innerlich nach ihrem Wesen mit uns und unter sich zu verbinden."
   In äußerst vorsichtiger, ja zaghafter Weise, gleichsam wie stammelnd versuchte demgemäß Weber die von ihm gemeinten "Mächte" zu charakterisieren. Denn er war sich wohl bewußt, daß diese "in dem modernen wissenschaftlich empirischen 'Erfahrungsbereich' keine Unterkunft finden." Er würde daher auch gegenüber der in diesem Buche gegebenen Darstellung, wenn er sie noch hätte kennenlernen können, vermutlich zu dem Urteil gekommen sein, daß sie, weil sie "eine ganze Dämonologie entwickelt" und sie "in die Nähe eines abergläubischen Obskurantismus bringt", der "neu sich bildenden Erkenntnis schade". Daß allen "Dämonologien" äußerste Reserve, ja Skepsis entgegengebracht wird, hat zweifellos seine absolute Berechtigung. Kann aber, wer über die hier gegebene Darstellung unbefangen und gerecht zur (S269) urteilen sich bemüht, ihr wirklich abstreiten, daß auch sie einen Versuch darstellt, "in einfachster, gar nicht mythologisierender oder mystifizierender Sprache durch Gebrauch der allergewöhnlichsten Alltagslogik, diese Tatsachen ins Bewußtsein zu heben und sie, soweit es geht, innerlich nach ihrem Wesen mit uns und unter sich zu verbinden?" Sie geht nur eben in dieser Bewußtmachung wesentlich weiter, weil sie aus den Quellen einer modernen Initiationserkenntnis schöpft, die Weber nicht für sich in Anspruch nimmt. Aber die Geltendmachung dieser Initiationserkenntnis ist sowohl erkenntnistheoretisch und methodologisch als auch geistesentwicklungsgeschichtliche wohl begründet, wenn auch die Denkgewohnheiten und Vorurteile heutiger Wissenschaftlichkeit noch vielen Vertretern der letzteren es schwer, ja unmöglich machen, diese Begründung anzuerkennen. Abgesehen davon aber steht die hier entworfene Darstellung mit der von Weber gegebenen Charakteristik der Welt der "Mächte" im völligsten Einklang; sie erweitert, vertieft und vervollständigt sie nur.
   Die Synthese des innermenschlichen und des kosmischen Aspekts der moralischen Problematik, wie sie im Sinne der hier gegebenen Darstellung gemeint ist, wird freilich nur recht verstanden und verwirklicht werden, wenn sie sich in sich selbst in einer bestimmten Gliederung darlebt, - in einer Gliederung, die wir von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus schon in dem Kapitel über die drei Sphären der moralischen Verantwortung charakterisiert haben.
   Den einen Pol dieses gegliederten Ganzen bildet das Verhältnis der menschlichen Individualität zu den kosmischen Mächten des Guten und Bösen in ihrer gegenwärtigen Konfiguration. Wir befinden uns hier im innerlichsten Bezirk des menschlichen Erlebens. Es ist die Sphäre wahrer Esoterik. Wir erwähnten bereits, daß, wenn diese Mächte als "gute" und "böse" bezeichnet werden, dies nur "menschliche" Benennungen derselben sind, die ihr ureigenstes Wesen nicht treffen. Diese Benennungen dürfen daher gerade hier am allerwenigsten in einem menschlich engen, etwa gar philiströsen Sinne verstanden werden, wenn sie ihre Eignung zur Bezeichnung dieser Mächte nicht völlig verlieren sollen. Und mit dem Gebrauch dieser Benennungen darf auch nicht die Empfindung oder Haltung der Antipathie, der Furcht, des Hasses, der Flucht oder der Bekämpfung verbunden werden, die wir dem menschlich Bösen entgegenzubringen gewohnt sind. Es muß ihnen gegenüber vielmehr ein Verhältnis entwickelt werden, das der Stellung entspricht, welche sie im ganzen Weltzusammenhang einnehmen. Sie müssen im kosmisch-moralischen Sinn in analoger Weise als wirkende Kräfte betrachtet und - wenn der Ausdruck erlaubt ist - behandelt werden, wie im irdisch-natürlichen Sinne etwa die Schwerkraft oder die vier "Elemente" als wirkende Kräfte gehandhabt werden. Dem Wirken der Schwerkraft in allen physischen Körpern verdanken wir die ganze gesetzmäßige Anordnung der Dinge im Raume bzw. auf der Erdoberfläche. (S270) Aber dieselbe Schwerkraft kann unter Umständen auch großen Schaden verursachen, wenn zerbrechliche Körper zu Boden fallen oder wir selbst durch einen Fehltritt in die Tiefe stürzen. Von einem der "Elemente" sagt Schiller im "Lied von der Glocke":

 


Wohltätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht,
Und was er bildet, was er schafft,
Das dankt er dieser Himmelskraft.
Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eigenen Spur,
Die freie Tochter der Natur..."

 


   Ebenso leisten auch die kosmischen Mächte des "Bösen", zur rechten Zeit in rechter Weise gehandhabt, zur Entfaltung des menschlichen Lebens unentbehrliche Dienste. Setzt sich der Mensch aber zu ihnen in unrechte Beziehung, so richten sie furchtbarsten moralischen Schaden an. Sein Streben wird dahin gehen müssen, ein Zusammenleben und -wirken mit ihnen zu entwickeln, das in jeder Lebenssituation sich richtig zu ihnen zu verhalten vermag. In diese Sinne wird sich für die Zukunft ebenso die Ausbildung einer "moralischen Technik" als Aufgabe stellen, wie die Menschheit in den letzten Jahrhunderten in bezug auf ihr Verhältnis zu den Naturkräften eine physische Technik ausgebildet hat.
   Am entgegengesetzten Pol der moralischen Problematik steht das äußere Leben, wie es mit seinen Anforderungen und Pflichten jeden einzelnen Menschen unmittelbar umgibt. Es stellt den exoterischen Bereich seines Daseins dar. Hier werden - wie schon in dem genannten früheren Kapitel ausgeführt - auch weiterhin die Gebote ihre Gültigkeit behalten, die für das bloß persönliche Leben zuerst durch den mosaischen Dekalog formuliert worden sind, wenn sie auch heute im je eigenen Gewissen verankert sind. Vermöge der moralischen Phantasie werden sie aus dem inneren esoterischen Erleben heraus immer wieder neu und der jeweiligen Individualität und Lebenssituation gemäß produziert und konkretisiert werden können.
   Ein Wesentliches wird ferner darin liegen, daß trotz der Synthese der beiden Aspekte die Grenzen beachtet werden, die sie voneinander trennen. Ebenso wie es unstatthaft ist, Empfindungen, die der Sphäre des persönlichen Lebens und des Verhältnisses zu anderen menschlichen Persönlichkeiten entstammten, in die Beziehung zu den kosmischen Mächten hineinzutragen, wirkt es auch verhängnisvoll, wenn Charakteristiken, die von der Beziehung zu den kosmischen Mächten hergenommen sind, zur moralischen Verherrlichung oder (S271) Verurteilung von Menschen in ihrem persönlichen Leben verwendet werden. Diese beiden Sphären müssen voneinander getrennt gehalten werden, wenn das menschliche Leben nicht chaotisiert werden soll.
   Zwischen ihnen liegt schließlich als vermittelnde und ausgleichende dritte jener Bereich, den wir als denjenigen der menschheitlichen Verantwortung charakterisiert haben, die sich auf die Gestaltung des geschichtlich-sozialen, des allgemeinen Menschheitslebens bezieht. Hier gilt es, geschichtliche Zielsetzungen, soziale Ideen zu entwickeln, die einerseits von "unten" her: aus den Erfahrungen in das Walten der kosmischen Mächte gewonnen werden. Dadurch kann für diese Zielsetzungen wahrhaft menschliche Orientierung, unabhängig von persönlichen oder Gruppeninteressen, und zugleich wahrhaft menschliche Gesinnung, unabhängig von religiöser oder weltanschaulicher Dogmatik, errungen werden.
   Nur durch solche Gliederungen ihrer moralischen Aufgabenbereiche werden Mensch und Menschheit auf ihrem Entwicklungsweg in die Zukunft hinein in rechter Art fortschreiten können.