Anhang I
"Das umgekehrte biogenetische Grundgesetz"
oder
"Historiogenetische Grundgesetz"
„Gedanken und seelisches Ringen soll eine allgemeine Angelegenheit werden, nicht mehr diejenige von Fachgelehrten“
12.3.1920
Den im Folgenden behandelten öffentlichen Vortrag hat Rudolf Steiner am 12.3.1920 in Stuttgart im Gustav-Siegle-Haus gehalten, wo er auch seine Vorschläge zur sozialen Neugestaltung oft vor einem großen Publikum vorgetragen hat. Im Rudolf-Steiner-Verlag ist er erstmalig 2005 herausgegeben worden (GA335) mit dem Titel:
„Die Geschichte der Menschheit im Lichte der Geisteswissenschaft“
Der Geschichtsphilosoph Hans Erhard Lauer hat ihn behandelt in seinem Werk "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung“, das dieser Webseite im Wesentlichen zugrundeliegt. (Bd.I-III, 1956-58)
1.) Das biogenetische Grundgesetz, das von Ernst Haeckel gefunden wurde, ist allgemein anerkannt und besagt, dass die biologischen Entwicklungsstufen, die die Lebewesen von den niederen bis zu den höheren Gattungen durchgemacht haben (Phylogenese), wiederholt werden in der embryonalen Entwicklung des einzelnen Menschen (Ontogenese), und zwar in einer kurz gerafften, rudimentären Form. Dasselbe Gesetz hat Rudolf Steiner gefunden für die geistige Entwicklung des Menschen, wo es aber zeitlich umgekehrt zur Geltung kommt.
Die leibliche Entwicklung des Menschen ist eingebettet in die menschheitliche Entwicklung. Am Beginn des Lebens wirkt das biogenetische Grundgesetz in der leiblichen Entwicklung. In der 2. Lebenshälfte wirkt Zukünftiges rudimentär im „umgekehrten biogenetischen Grundgesetz“ in der geistigen Entwicklung des Menschen. (Hier ist die umgekehrte Parabel zu denken)
Dazu sei aus Rudolf Steiners Notizbuch zu diesem Vortrag angeführt:
„Den Leib lernen wir erkennen durch seinen Zusammenhang mit der Naturgrundlage“
Die Anthroposophie bezieht in der Rudolf Steiner eigenen ganzheitlichen Betrachtungsweise aber auch die seelisch-geistige Realität des Menschen mit ein. So lautet es in dem Notizbuch zu diesem Vortrag (Anhang von GA 335):
„Den Menschengeist lernen wir erkennen durch seinen Zusammenhang mit der Geistwesenheit der Welt“
Und schließlich heißt es:
"Was im Menschen als Geist gefunden wird beim Unterseelischen, ist Vergangenheit, was beim Überseelischen, ist Zukunft“
Heute würde man das vielleicht Unter- und Überbewusstes nennen.
Wie der Geistesforscher die Geistwesenheit der Welt erforscht, dazu findet man an zahlreichen Stellen in Rudolf Steiners Werk Ausführungen, allen voran in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10). Da Rudolf Steiner von der Naturwissenschaft ausgegangen war, wurde es ihm möglich, die spirituelle Weltsicht mit moderner Wissenschaftlichkeit zu begründen und auszubauen. Bei seinen Forschungen hat er sich durchgehend an die naturwissenschaftliche Methode gehalten (s.a.das Motto der „Philosophie der Freiheit“ GA 4).
In einer dichtgedrängten und rudimentären Art kommt also überseelisch/überbewußt zur Wirkung, was seine Ursache in der Zukunft hat. Wie kann dies konkreter verstanden werden? Welche Zusammenhänge kommen dabei in Betracht? Dies sei im Folgenden nach verschiedenen Gesichtspunkten, die zu einem ansatzweisen Verständnis führen können, skizzenhaft behandelt.
2. Welt und Mensch
Die irdische Entwicklung verläuft nicht nur in materieller Form, sie wird impulsiert und gestaltet von geistigen Impulsen, die den höheren Hierarchien des Kosmos zu verdanken sind, wie Rudolf Steiner ausführt. Der Verlauf stellt sich dabei weitgehend in Siebenerschritten dar. Steiner hat sie soweit wie möglich beschrieben (GA13). Die sieben Schöpfungstage der biblischen Genesis werden dabei verständlich und dem modernen Menschen nachvollziehbar (GA 22).
Als Bild für die Struktur der Geschichte eignet sich zunächst die Kurve: Es ist eine irdische und eine geistige Entwicklungskurve zu unterscheiden. In 3 Abschnitten stellt hier die zunächst aufsteigende biologische Kurve die Körper/Leibesentwicklung dar, die andere Kurve die seelisch-geistige Entwicklung, die spiegelbildlich sich dem Irdischen zunächst annähert. So entsteht auch in der mittleren Durchdringungsphase nach den ur- und vorgeschichtlichen Entwicklungen der Leibesgestalt und Sprachbefähigung die eigentliche Geschichte des vernunftbegabten Menschen, so wie in der biografischen Entwicklung im mittleren Lebensalter die Persönlichkeit sich ausformt. Biografisch ist es die Zeit von 21-42 Jahren (GA9;R.Treichler: „Entwicklung der Seele im Lebenslauf“; O`Neil: „Der Lebenslauf“).
Leibbildung Vergeistigung
Kindheit Erwachsener Greis
21 Persönlichkeit 42
Ur-/Vorgeschichte Geschichte Zukunft
Lemurien/Atlantis Nachatlantisch
Hier sind zwei gegenläufige Parabeln zu denken, die sich überschneiden
Legt man die Entwicklungszahl 7 zugrunde, dann ergibt sich, dass Mensch und Erde eine aufsteigende Entwicklung durchmachen, die in 3 vorbereitenden Stufen verläuft, ihren Höhepunkt in der 4. Stufe (Schnittmenge) hat und in weiteren 3 Schritten ihrer körperlichen Degeneration bzw. ihrer Vergeistigung entgegengeht. In den ersten vier Stufen entwickelt sich nach Ignaz Paul Troxler (1780-1856):
„Die Welt muß aus dem Menschen erklärt werden“…
„In bezug auf das Weltall und Gott bilden die Erde und die Menschheit ein Gesamtganzes, in welchem der Körper durch die Erde, der Leib durch die Pflanzenwelt, die Seele durch das Tierreich und der Geist durch die Menschheit dargestellt wird“
Leib: Steiner nennt diese Vierheit: Physis, Lebensleib, Seelenleib +'Ich'.
Der Lebensleib eignet auch der Pflanze, der Seelenleib dem Tier; das 'Ich' ist die Bezeichnungsform für die Vernunft-Entelechie des Menschen. Steiner weist auf die Sonderstellung dieses Wortes, weil es nie als Bezeichnung für den Menschen von außen an sein Ohr dringen kann. Es ist in der Schöpfung das höchste Glied. "Das 'Ich' erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es sich verbindet" (GA9, S44)
Seele:
Die Sinneseindrücke des Seelenleibes sind vorübergehend, Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn“.
In der Empfindungsseele bekommen sie Dauer, vorher sind sie vorübergehend. In ihr bilden sich Erinnerungsfähigkeit und das Gedächtnis weiter.
Die Verstandes-und Gemütsseele strukturiert und verinnerlicht das Leben.
Die Bewusstseinsseele dagegen berührt die Grenze zu dem Wesentlichen der sinnlichen und geistigen Eindrücke, durchdringt sie aber noch nicht.
-.-
„Das "Ich" leuchtet auf in der Seele, die ihrerseits auf den Leibesbildungen aufbaut. Die bewußte Arbeit an den Leibern führt zu zukünftigen geistigen Bildungen der menschlichen Wesenheit. (GA 99,S36)
Geist: Diese "Arbeit an den Leibern" geschieht bei der Entwicklung der geistigen Wesenglieder.
Im „Geistselbst" wird der Mensch den Inhalt des Seelenleibes individualisieren und beherrschen.
Im „Lebensgeist“ werden die Lebensprozesse individualisiert. Novalis:
„Der vollkommenste Mensch beherrscht alle Konstitutionen samt ihren Veränderungen“
Dasselbe geschieht dann in der Zukunft sogar mit der Struktur der Physis im „Geistesmenschen“.
Die Ideale Wahrheit, Schönheit und Güte lassen die Eigenschaften der geistigen Wesensglieder heute schon ahnen. So eignen dem Menschen zunächst neun Wesensglieder. Durch die im Folgenden skizzierte Durchdringung ergeben sich
7 Wesensglieder
Leibliche Wesensglieder: 1. - 2. - 3.
Geistige Wesensglieder: 4. - 5. - 6. - 7.
1.Physis 2.Lebensleib 3.Seelenleib 4.'Ich' 5.Geistselbst 6.Lebensgeist 7.Geistesmensch
0-7 7-14 14-21 21-42 42-49 49-56 56-63
Seelische Wesensglieder:
Empfindungsseele 21-28 1. 2. 3. Bewusstseinsseele 35-42
Verstandes- 28-35 Gemütsseele
Eine vertikale Symmetrieachse zeigt die Entsprechungen der 3 leiblichen und 3 geistigen Wesensglieder, das vierte steht ohne Spiegelung in der Mitte. Die horizontale Symmetrieachse zeigt dann die zeitgleichen Entsprechungen in der Entwicklung von Geist und Leib. (GA 9+13)
3a) Zeitverlauf
Die verschiedenen Geschichtsanschauungen bilden unterschiedliche Vorstellungen über den Geschichtsverlauf: Geläufig ist die Vorstellung vom linearen Verlauf, von Urknall bis zum sogenannten Wärmetod, wo alles wieder in gleichförmiger Auflösung vergeht.(Pfeil, von links nach rechts)
Auch bei dem Kirchenvater Augustinus findet sich diese lineare Vorstellung, beginnend mit den sieben Schöpfungstagen, bis zum Jüngsten Gericht als dem Endpunkt des von ihm gedachten Kampfes zwischen dem Gottesstaat und dem weltlichen Reich.
Aus der indischen Anschauung kommt die Kreislaufvorstellung der Zeit. Nietzsche hat den Zeitverlauf so gesehen, ihn aber gleichzeitig als die„ ewige Wiederkehr des Gleichen“ gegeisselt. Sie gilt eigentlich nur für das Geschehen und kennt das Naturgeschehen und kennt keine Einmaligkeiten, wie sie im Geschichtsverlauf durch den Menschen auftreten. (Kreis)
Beide Anschauungen können in dem Bild der Kurve mit einer ab- und aufsteigenden Linie verstanden werden.
Rudolf Steiner ist auch hier eine fundamentale Entdeckung zu verdanken: der Doppelstrom der Zeit: Zeit fließt aus der Vergangenheit und aus der Zukunft in die Gegenwart herein (GA124; Beiträge zur Rudolf-Steiner-Ausgabe-Nr.49/50). So kann z.B. der Merkurstab in folgender Lesart herangezogen werden:(Doppelte Kurvenlinie, symmetrisch).
Aus der Vergangenheit Kommendes wird mit Zukünftigem konfrontiert, beides durchdringt sich in der Begegnung, es entsteht eine Spannung und schaukelt sich quasi hoch - jetzt – in der Gegenwart – entsteht ein Neues aus der Polarität und ihrer Steigerung. Goethes Begriff der „Antizipation“ gehört hierher. Auch die Zukunftsforschung von Robert Jungk hat diesen Ansatz, wenn auch nicht goetheanistisch. Beim Christentum steht das Jahr 0 in der Mitte und beinhaltet eigentlich schon diese Anschauung:
Vorchristlich - 0 - Nachchristlich
3b) Zeitmaß
Wir sind es gewohnt, in den unvorstellbaren Jahrmillionen nach den Zeitbestimmungsmethoden der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu denken, die vom heutigen Verlauf der Zeit extrapolieren in die Vergangenheit und Zukunft. Dabei weiß man heute, dass z.B. der Mond sich von der Erde gelöst hat oder aus ihr ausgeschieden wurde. Es muß sich dabei der Zeitverlauf geändert haben, denn dieser resultiert aus den Verhältnissen der Himmelskörper zueinander, der Umdrehung der Erde um sich selbst (Tag/Nacht) und ihrer Umlaufszeit um die Sonne (Jahr). Hier sind Korrekturen angebracht, durch welche die Entwicklung wieder vorstellbar und nachvollziehbar wird.
(GA13, Dankmar Bosse:„Die gemeinsame Entwicklung von Erde und Mensch“, S 35-42)
In derselben Weise ist unser Planetensystem mit der Sonne als Zentralgestirn zu bedenken. Die Sonne mit den Sphären von Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur und Mond stellt wiederum eine Siebenheit dar, die mit der Entwicklung der Erde und noch früheren Zeitveränderungen zusammengesehen werden kann. Uranus, Neptun und Pluto waren zu Steiners Zeiten noch nicht bekannt. (s.GA 13)
Die Orientierung an dem „Platonischen Weltenjahr“ hilft weiter. Dieses ergibt sich aus dem Sonnenstand auf dem Hintergrund des Tierkreises. In 25.920 Jahren wird dabei rückläufig der ganze Tierkreis von unserem Sonnensystem durchlaufen, für ein Tierkreisbild ergibt das astronomisch einen Zeitraum von ± 2160 Jahren, der dem Zeitraum einer Kulturepoche entspricht. Auch hier gilt die Entwicklungszahl 7 auf dem Hintergrund der räumlichen Zahl 12 des Tierkreises. In unserem nachatlantischen Zeitraum sind es 7 Epochen, in denen 7 Wesensglieder des Menschen sich weiterentwickeln:(Immer die hauptsächlichen Kulturräume fungieren als Namengeber der Epoche)
1.) Indisch (Krebs) – 7227vC.; Lebensleib
2.) Persisch (Zwillinge) – 5067vC.; Seelenleib
3.) Ägyptisch (Stier) – 2907 vC.; Empfindungsseele
4.) Griechisch-lateinisch (Widder) – 747 vC.; Verstandesseele
5.) Beginn der Neuzeit (Fische) – 1413 nC.; Bewusstseinsseele
6.) künftig (Wassermann) – 3573 nC.; Geistselbst
7.) künftig (Steinbock) – 5733 nC. Lebensgeist (R.Steiner, GA 13)
Unsere jetzigen Erd- und Zeitverhältnisse dürften nur innerhalb dieser Zeiträume des platonischen Jahres zutreffen. Vorher und nachher sind andere Verhältnisse anzunehmen. (G.Wachsmuth: „Werdegang der Menschheit“)
Auf dem Globus bildet das Nacheinander der Kulturen eine sich einwickelnde Spirale, die infolge der größeren Ausdehnung der Erde in der atlantischen und lemurischen Zeit dreidimensional vorzustellen ist. (S.v.Gleich: „Der Mensch der Eiszeit und Atlantis“)
4.) Strukturbilder der Geschichte
Die Entfaltung der geistigen Wesensglieder kommt heute noch nicht zu einem Abschluß. Das besagt das „umgekehrte biogenetische Grundgesetz“. Die Abstammungskräfte könnten allein, da sie sich in absteigender Entwicklung befinden, im Alter nur zum Verfall der Leiblichkeit des Menschen führen. Die Auferstehung in der religiösen Anschauung kann zum Schlüssel des Verständnisses werden: Die Christuskraft wirkt verwandelnd, ausgehend von der Mitte der Erdentwicklung und dabei Vergangenes und Zukünftiges integrierend. In der 'Ich'-Präsenz des einzelnen Menschen bewirkt sie, dass die vergängliche Daseinsform der körperlich-leiblichen Wesensglieder Anteil an einer geistigen Daseinsform bekommt. Geist kennt aber nur Verwandlung, keinen Tod. Diese geistige Kraft kann dort am stärksten vorgestellt werden, wo die Entfernung zu ihrem Zentrum am größten ist. (Das besagt auch das Bild von Christus als dem „guten Hirten“; s.a.Tolstois „Auferstehung“). Das heißt nichts weniger, als dass in ferner Zukunft auch der Mensch unsterblich werden wird durch die Arbeit des 'Ich' und damit der Verwandlung der natürlichen Vorgaben. In der Mitte der Menschheitsentwicklung ist das vorbildlich und wegbereitend geschehen, wo der Christus aus dem geistigen Lebensstrom diese Verwandlung des kreatürlichen Menschen realisiert hat. Auf dem Isenheimer Altar des Matthias Grünewald ist dargestellt, wie der Täufer auf den Gekreuzigten mit den Worten hinweist: „Er muß wachsen, ich muß abnehmen“ (Joh.3/30). Die Begegnung und Durchdringung alter und neuer Kräfte hat hier Vorbildcharakter. So ist ein diagonales Strukturbild der Geschichte auch religiös zu begründen. Paulus: „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unsterblich“. Er spricht auch vom Alten und vom Neuen Adam (Kor.1,42+45). Durch deren Begegnung konnte sich der Christus inkarnieren (GA148, Emil Bock„Kindheit+Jugend Jesu“).
Dies alles kann auch im Merkurstab gesehen werden, der zusätzlich das trinitarische Geschehen verbildlichen kann. So begründet sich die symmetrische Struktur der Geschichte.
Legt man als Strukturbild nun ein Kreuz zugrunde, dann beginnt beim Schnittpunkt der geschichtlichen Entwicklung die Arbeit des „Ich“ an den Leibern. Der Schnittpunkt wird nun aber nicht verschoben, sondern ausgeweitet, in Lebensringen stufenweise Physis, Leben, Seele und Geist umfassend, und so auch Vergangenheit und Zukunft, Form und Materie verbindend.
Im Bild ergibt sich das irische Hochkreuz, das sich so auch als Strukturbild der Geschichte darstellt. (Das irische Hochkreuz ist beim Schnittpunkt der Horizontalen und Vertikalen Balken mit einem Kreis versehen, der wachsend, d.h. immer größer werdend vorgestellt werden kann):
Ein zentrales Motto von Rudolf Steiner lautet: (GA 257, 30.1.23)
"Anthroposophie beginnt mit Wissenschaft, belebt ihre Vorstellungen künstlerisch und endigt mit Religion".
5a) Das soziologische Grundgesetz
Rudolf Steiner formuliert das Gesetz soziologischer Entwicklung folgendermaßen (GA 31):
„Die Menschheit strebt im Anfang der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen“.
Er weist aber auf die soziale Befähigung des Menschen, ausgehend von der Frage, wie dann noch ein Zusammenleben der Menschen möglich ist:(„Philosophie der Freiheit“, Kap.9)
…. „Läge nicht in der menschlichen Wesenheit der Urgrund zur Verträglichkeit, man würde sie ihr durch keine äußeren Gesetze einimpfen! Nur weil die menschlichen Individuen eines Geistes sind, können sie sich auch nebeneinander ausleben.“ …
Steiner grenzt bekanntlich den „Ethischen Individualismus" ab vom „Radikalen Individualismus“, der Verträglichkeit schwer macht (GA39).
Heute halten sich kollektive und individuelle Kräfte die Waage. Doch herrscht Spannung, Auseinandersetzung und Krise. Harmonie scheint noch nicht möglich. Jeder befindet sich auch selbst in seiner biographischen Entwicklung in dem Spannungsfeld und Widerstreit dieser Kräfte, dabei sind Entscheidungsqualitäten und Entschlusskräfte gefordert. Die alten Strukturen im Seelischen und Sozialen wirken tonangebend weiter im Sinne des Beharrungsvermögens und der Trägheit der Masse. Die Summe der geistigen Potenzen der Menschheit beträgt dabei aber zu allen Zeiten 100%, wenn auch in unterschiedlicher Verteilung auf Kollektiv und Individuum. Hier kann erst zutreffend von der Erhaltung der Kraft gesprochen werden. Es entsteht dabei aber ein Zuwachs, der nicht in Zahlen auszudrücken ist. In Richard Wagners "Nibelungenring" wird deutlich, wo selbst der Gottheit Grenzen gesetzt sind: Wotan kann den freien Menschen - Siegfried - nicht schaffen. Dieser wäre sonst nur Kreatur. Der freie Mensch ist der Zuwachs im Kosmos, der sich einem nur berechnenden Geist entzieht. Diese "Schöpfung aus dem Nichts" beginnt aber im Denken, wofür das Krebszeichen ein Bild sein kann (zwei ineinandergreifende Spiralen).
„Freie“ und Versklavte gab es früher, heute sind es die Verdienenden gegenüber den Prekariern, den Geringverdienenden. Soll aber das deklarierte Menschenrecht auf Leben verwirklicht sein, bedarf es der existentiellen Absicherung mit einem Grundeinkommen. Das wird von vielen Seiten gefordert. Andernfalls bleibt im Rechtlich-Sozialen eine Schichtung bestehen und verschärft sich noch weiter mit sozial-darwinistischer Prägung. Die Geschichte hat den Menschen aber sicher nicht mit wirtschaftlichen Gütern reichlich eingedeckt, damit er jetzt von rechtswegen nichts mit dieser neuzeitlichen Freisetzung von Arbeit anfangen kann und darf. (Götz Werner: „Einkommen für alle“)
Die Gesellschaft will organisch gestaltet sein. Dies stellt sich „in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft dar“.(GA23)
1.) Das erste Glied des sozialen Lebens urständet im ägyptischen Zeitraum mit der priesterköniglichen Kultur in der Theokratie.(GA305)
2.) In Griechenland kam hinzu die Demokratie im Rechtsleben. Der Kampf zwischen Papst und Kaiser im Mittelalter stellt die Suche nach dem richtigen Verhältnis in dieser Zweigliederung dar.
3.) Heute bildet sich die Technokratie auf dem Feld von Produktion, Handel und Konsum. Denn Wirtschaften heißt heute, die Naturwissenschaften in Produktion und Dienstleistung technisch anzuwenden.
zu 1.:Kultur orientiert sich an der Vergangenheit und am Übersinnlichen.
zu 2.:Das rechtliche Miteinander in der jeweiligen Gegenwart ist Sache des Staates.
zu 3.:In der Wirtschaft wird die Erde und ihre Stoffe bearbeitet. Dies weist in die Zukunft, denn diese Prozesse sind nie final und ziehen immer Folgen nach sich. Die moderne Technik arbeitet dabei zunehmend mit untersinnlichen Kräften.(GA93)
Die Wirtschaft ist das jüngste Glied des Sozialen Organismus, sie agiert heute neoliberalistisch. Sozialkooperative Brüderlichkeit ist verdrängt durch den sogenannten freien Wettbewerb. Die Globalisierung optimiert Produktion und Handel grenzüberschreitend und weltweit, die Nachfrage ist dabei nicht mehr regulativ. Auch das Geldvolumen hat sich von seiner Bindung an das Gütervolumen gelöst, und so entstand eine Wucherung im Sozialen Organismus, der infolge dieses dysfunktional neoliberalen Wirtschaftens eine Fehlgeburt darstellt (s.a. Rohen: „Die funktionale Struktur von Mensch und Gesellschaft).
Die Therapie ist die klare organisch-funktionelle Zuordnung der Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu den entsprechenden Bereichen Kultur, Staat und Wirtschaft. Nur so ist in Zukunft eine entfilzte und gesund gegliederte Gesellschaft zu bilden. Selbst die internationalen Beziehungen sind gegliedert gestaltbar, denn Kultur- und Wirtschaftsräume und Staatsgebiete sind nicht deckungsgleich. Der Einheitsstaat ist auch hier nicht mehr sach- und zeitgemäß. (GA 23,Kap.IV)
Das Kreuz mit sich erweiternden Ringen ist wieder als Strukturbild zutreffend. In der alten Ständeordnung wirkte der Mensch nur in einem Teil des Ganzen,im Lehr-, Wehr-oder Nährstand. Heute greift er aber in alle Bereiche der Gesellschaft: Kultur, Staat und Wirtschaft selbst ein und erweitert so seinen Handlungsraum. Dem jungen Menschen wollte Goethe in der „pädagogischen Provinz“ das Empfinden ermöglichen für die 3-fache Ehrfurcht gegenüber Oben, Unten und Mitte. Schulisch soll nach Steiner ein generelles Empfinden veranlagt werden für das Wesen eines Organismus: er kann immer nur ganzheitlich, und dabei gegliedert verstanden und gehandhabt werden.
6.) Das Jüngerwerden der Menschheit im Lauf der Geschichte
(GA 176)
Das Wirken der menschlichen Entwicklungskräfte hat 2 Höhepunkte:
1. Im Anfang, wo die kollektive Entwicklung den Menschen bis in das Alter mit seelisch-geistigen Kräften durchwirkt, und
2. am Ende, wo dieses die individuelle Leistung des Menschen sein wird. Heute, in der ungefähren Mitte der ganzen Entwicklung kommt die zukünftige Entwicklungshöhe nur rudimentär, entsprechend dem umgekehrten biogenetischen Grundgesetz, zur Erscheinung. Aber auch die einstmalige geistige Entwicklungshöhe wird heute nur noch eingeschränkt erreicht, denn die früher wirkenden Entwicklungskräfte werden immer schwächer und versiegen in immer früherem Lebensalter.
(Die folgende Aufstellung stellt auch graphisch eine absteigende Linie dar, ihr wird unter 7. eine aufsteigende Linie gegenübergestellt)
In der 1. Kulturepoche (Indien)
reichten diese Kräfte bis 56,
in der 2. Epoche(Persien) bis 49,
in der 3. (Ägypten, Babylonien,) bis 42,
in der 4. mittleren griechisch-lateinischen bis 35,
wo durch das Christusgeschehen in der Mitte der ganzen Menschheitsentwicklung ihre eigentliche Sinngebung liegt;
in der 5., jetzigen Epoche geht das dann nur noch bis 28 Jahre.
(Hier ist eine absteigende Linie in der Aufzählung zu sehen)
Im Jahr 2000 trägt die integrierte leiblich-seelisch-geistige Entwicklung bis 26 -1/2, nach diesem Lebensalter muß die Biographie initiativ gestaltet werden.
Mit „Keep-smiling“ im Jugendlichkeits- und Vitalitätswahn des modernen Menschen wird oft zugedeckt, dass die seelisch-geistige Entwicklung zu stagnieren begonnen hat. Alter gepaart mit Weisheit und Güte kommt auch wirklich nicht von selbst! Aber zumindest bis zur Reife der „Bewusstseins-Seele“ wird die Entwicklung durch die gesellschaftlichen Strukturen abverlangt, denn die ganze Menschheit befindet sich im Bewusstseinsseelenzeitalter, auch in den Entwicklungsländern, zu denen die modernen Gesellschaftsstrukturen heute vordringen. Aber die zeitgemäße Entwicklung stellt sich nicht von selbst ein und ergibt im Korsett von Sachzwängen nur ein Zerrbild der möglichen, damit verbundenen Freiheitsentwicklung, nämlich den Egoismus. Dieser, im Verbund mit sozialdarwinistischer Begründung, blockiert alle konstruktiven sozialen und biographischen Entwicklungen. Die Erwachsenenbildung in kultureller, sozialer, hygienischer, biografischer und medizinischer Hinsicht erhält in diesem Zusammenhang geschichtlich eine wachsende Bedeutung.
Für die Pädagogik ergibt sich mehr und mehr die Aufgabe, den Heranwachsenden mit Impulsen und Möglichkeiten einer selbständigen Entwicklung auszurüsten, um ihn vor einer frühzeitigen Verhärtung zu bewahren. In der künftigen 6.+7. Kulturepoche wird diese Entwicklung dazu führen, dass sogar zur gesunden leiblichen Entwicklung die je eigenen geistigen Kräfte aufgewendet und eingesetzt werden müssen. (H.E.Lauer wirkte viele Jahre als Lehrer für Geschichte)
7.) Reïnkarnation als Lebensgesetz der Geschichte (GA9,2.Kap.)
Wird in Zukunft die aufsteigende individuelle Entwicklung in der Lage sein, die Entwicklungsdefizite der absteigenden kollektiven Linie aufzuwiegen? Die Kollektivität hatte im Anfang einen hohen Rang. Kann eine solche Höhe erreicht werden durch individuelles Streben, wenn jeder Mensch bei 0 anfängt? Wiederverkörperung bringt mit sich, daß die Erträgnisse der kollektiven Entwicklung nicht verloren gehen. Jeder bringt seine individuellen Errungenschaften individualisiert in eine neue Inkarnation mit. So nehmen individuelle Fähigkeiten im selben Maße zu, wie die kollektiven und die Vererbungsströme nachlassen. Daraus wird auch deutlich, daß Rassenideale am Defizit festhalten, sie können dieses aber nur zusätzlich bis zur Abgründigkeit potenzieren. (Bader/Ravagli: "Rassenideale = Niedergang").
Den Pulsschlag der irdischen Sukzession der Geschichte bildet das Generationsalter von 30 Jahren (GA180). Denken, Fühlen und Wollen konstituieren den Wandel, indem das Geschehen sich entsprechend metamorphosiert. "Was du heute denkst, wirst du morgen tun" (Tolstoi, Sartre u.a.). Darin kann der Atemzug der Geschichte gesucht werden, der dann etwa ein Jahrhundert umspannt. So z.B. kam nach dem idealistischen Anfang des 19. Jahrhunderts der Materialismus im Denken, um die Jahrhundertwende der Fortschrittsglaube und das illusionäre Hochgefühl, dann die anschließenden deprimierenden wirtschaftlichen und kriegerischen Entwicklungen. In den Zeiten nach dem Krieg etablierte sich der Materialismus in den Lebensverhältnissen noch weiter. Seither zieht der Sozialdarwinismus seit der Beendigung des Kalten Krieges nun global mit dem "Kampf der Kulturen" (Samuel P.Huntington) seine Kreise.
Was konstruktiv die Generation der 68er als Alternative zu dieser Entwicklung wollten, kann im Keim um 1900 gesehen werden, wo Rudolf Steiner an einem wichtigsten historischen Knotenpunkt eine ganzheitliche, spirituelle Bewegung ins Leben gerufen hat, die im weiteren sich auch im historischen Verlauf manifestiert.(aufsteigende Linie; GA133 zum Ablauf des KaliYuga; G.Wachsmuth: „Rudolf Steiners Erdenleben“; K.Heyer: „Aus meinem Leben“)
Was dagegen in der geistig-historischen Kontinuität sich ergibt, hängt mit prägnanten Zeitpunkten zusammen, in denen sich bedeutende Individualitäten mit ihren Impulsen reïnkarnieren. Das Auf und Ab der Geschichte verhält sich hier wie Wellentäler und Wellenberge. (GA185) in diesen Zeitpunkten spiegeln sich auch Zukunft und Vergangenheit, des weiteren die Metamorphose von Gedanke, Gefühl und Wille; von geistigem Impuls und irdischer Reflexion.
(GA 224, 24.6.23; Tradowsky:„Kaspar Hauser“)
Von konfessioneller Seite wird oft eingewendet, daß der Gedanke der Reinkarnation eine fatalistische Lebenseinstellung fördere. Das trifft sicher für orientalische Anschauungen der Seelenwanderung zu. Die europäische Reinkarnationslehre Rudolf Steiners sieht dagegen in jeder Inkarnation ihre einmalige, unwiederholbare An-"Gelegenheit", die eine Sache der Geist-Entelechie des Menschen ist. Hier sind die Kirchen gefordert, besonders wegen des trichotomischen Wesens des Menschen aus Leib, Seele und Geist, welch letzteren sie dem Menschen in seinem Wesen wie im Einvernehmen mit der Materialismus der Neuzeit bisher nicht zugestehen wollten (Lauer: "Anthroposophie und die Zukunft des Christentums" 2007)
Nachbemerkungen:
7 Rahmenbedingungen der Entwicklung sind behandelt worden, die für das „umgekehrte biogenetische Grundgesetz“ relevant sind. Hans Erhard Lauer behandelt diese in 3 Bänden. Daraus ist klar, daß die hier vorgelegten Gedanken nur aphoristischer bzw. schematischer Art sein können. Dazu sind zahlreiche andere Autoren hinzugezogen worden, und auch eigene Gedanken, die sich ergaben. Der Aufbau der Geschichte kann aber zusätzlich auch betrachtet werden als die Wesensstruktur eines makrokosmischen Wesens, des Zeitgeistes. Dann kann die Bedeutung und der Stellenwert einer Geschichtsphilosophie erhellen: Nur wer die Vergangenheit kennt und die Gegenwart versteht, kann auch zureichende Leitbilder für die Zukunft formen. Zusammenhänge können bei einem schematischen Bild aber auch deutlicher werden. Selbst für die Deutung der „Okkulten (verborgenen) Schrift“ und der „Akasha-Chronik“ (GA11) wäre dies hilfreich. Dabei würde sich beim Übergang von der, der sinnlichen Forschung übergeordneten Erkenntnisstufe Imagination zur Inspiration auch herausstellen, dass die geistige Forschung Rudolf Steiners nicht auf die äußerlichen Hinterlassenschaften der vergangenen Entwicklung angewiesen ist, um Aussagen über frühe Vergangenheiten zu machen, was unter materialistischem Paradigma selbstverständlich negiert wird. (Steiner GA12; H.Zander:Anthroposophie)
Ich meine, dass in dem hier zugrundeliegenden Vortrag auch ein Thema enthalten ist, das in seiner Bedeutung auch für die Biographiearbeit bisher nicht behandelt wurde. Wolf-Ulrich Klünker weist daraufhin, dass bei der Seelenschädigung, die unsere Zeit vielfach mit sich bringt, therapeutisch unter Hinzuziehung des Geistselbst, des ersten geistigen Wesensgliedes, Heilung eingeleitet werden kann („Die Antwort der Seele“ 2007). Geistselbst-Qualitäten stehen heute aber allgemein nicht zur Verfügung, auch wenn in der New-Age-Bewegung das Wassermannzeitalter schon propagiert wird. Erst in diesem wird die Entwicklung des Geistselbst allgemein die Verhältnisse prägen, wie zu unserer Zeit die der Bewusstseinsseele. Hier entsteht eine große Verpflichtung und Verantwortung für die Anthroposophische Arbeit, sonst werden Verfrühungen provoziert, die künftige sozialkonstruktivere Entwicklungen nicht nur vorwegnehmen, sondern dadurch auch behindern oder sogar verunmöglichen können, was in der Geschichte schon einmal insinuiert war. Denn alles in der Geschichte hat seine Zeit. Der moralische Aspekt der Geschichte, die Frage nach Gut und Böse ist hier aber im wesentlichen nicht berührt worden und bedürfte einer eigenen Abhandlung.
(GA182, Heinz-Herbert Schöffler: Die Akademie von Ghondischapur).
New-Age-mäßig gepflegtes „positives Denken“ erweist sich aus dieser Perspektive oft als Gefühlsaktionismus, mit dem sich aber auch egoistische Interessen beschönigend verfolgen lassen. Für das Gegenüber ist er hauptsächlich im Mitfühlen und Mitgerissenwerden erlebbar, das in Wirklichkeit unfrei macht. Die so entstehende Unfreiheit ist sowohl bei einer Verfrühung der Geistselbstkultur die Begleiterscheinung wie auch bei einer retardierenden Unterordnung des denkenden Menschen unter Glaubensdogmen und Gruppenzwänge, die sich immer schönfärbend und sozial begründet darstellen lassen. Zwar hat jede Epoche ihre Einseitigkeiten, aber auch die nur in ihr auftretenden Möglichkeiten. Und diese gipfeln in unserer materialistischen Zeit durchaus in der Entfaltung der Freiheit des Menschen. In bezug auf die hier behandelte spirituelle Entwicklung sei daher zum Schluß auf einen rosenkreuzerischen Ausspruch hingewiesen:
„Die Letzten werden die Ersten sein!“
Auf mitdenkende und damit freie Zeitgenossen und Weggefährten kam es Rudolf Steiner im Sinne des Eingangszitates an. (Zu Rudolf Steiner: "Geschichte im Lichte der Geisteswissenschaft" im Kasten links oben anklicken, Anhang 3)
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