Zweiter Teil, Zweites Kapitel:
Geschichtliche Epochen
A. Frühgeschichte. Nördliche und südliche Strömung
(S137) Gemäß dem schon wiederholt hervorgehobenen Grundgesetz des Welten-Menschen-Werdens, daß in der Struktur jeder seiner Hauptphasen seine Gesamtgliederung sich abbildet, kommt es in der Zeit, da die geschichtliche Ära sich in ihrer Eigenart auszuprägen beginnt, das heißt in den Jahrtausenden, da die Grundlagen für das Aufblühen der ersten geschichtlichen Hochkulturen geschaffen werden, zunächst zu einer Rekapitulation der urzeitlichen Entwicklungsvorgänge, als des "Sündenfallgeschehens", aber jetzt im Medium geschichtlicher Prozesse. Wir erwähnten schon an früherer Stelle, wie diese Wiederholung in dem, was im Alten Testament als Turmbau von Babel und darauffolgende Sprachenverwirrung geschildert wird, ihren Ausdruck findet. Wieder erscheint in dieser Schilderung das "Ihr werdet sein wie Gott", das schon beim paradiesischen Sündenfall als Motiv der Verführung gewirkt hatte, als Triebkraft auch bei dem Turmbau, der bis in den Himmel reichen sollte. Jetzt aber wird die Menschheit zur Strafe aus dem Paradies der einheitlichen Ursprache, in dem sie bis dahin noch gelebt hatte, verstoßen in die "Sündhaftigkeit" des Voneinander-Gesondertseins der verschiedenen Sprachgemeinschaften.
Wir haben nun schon im ersten Bande (S69ff) dargestellt, wie dieser Verlust der Ursprache darauf beruht, daß aus dem vorrationalen geistigen Erleben des vorgeschichtlichen Menschen das Denken sich herausbildet als das Vermögen, aus den Sinneserscheinungen allgemeine Begriffe abzuziehen, das ja die spezifisch geschichtliche Errungenschaft der Menschheit ausmacht. Damit erschließt sich uns der kosmisch-moralische Aspekt dieses Vorgangs. Wieder nämlich, wie schon beim urzeitlichen Sündenfall, haben wir es hierbei zu tun mit einem Eingreifen der luziferischen Macht in die menschliche Entwicklung. Hierdurch kommt es jetzt zu dem, wozu durch jene "vergeistigende" Umgestaltung des menschlichen Hauptes, die Luzifer beim ursprünglichen Sündenfall bewirkt hatte, der Grund gelegt worden war: zur Entfaltung des (S138) Denkens auf der einen, der Sinneswahrnehmung auf der andern Seite. Diese beiden Fähigkeiten beginnen sich aus dem früheren einheitlichen sinnlich-geistigen Erleben, an das Entstehung und Bestand der Ursprache gebunden war, herauszudifferenzieren. Zwar kommt für diese Epoche zunächst nur eben der Beginn dieser Entwicklung in Betracht. Wesentlich ist aber nicht, was auf diesem Wege damals schon erreicht wird, sondern der Impuls, der in dieser Entwicklung wirkt. Und dieser Impuls zielt dahin, den Menschen auch von jener Verbindung mit der geistigen Welt bzw. mit den "guten" Göttern noch loszureißen, in der er durch die Ursprache bzw. das ihre entsprechende sinnlich-geistige Erleben noch gestanden hatte. Wieder also handelte es sich um einen Anstoß zur Verselbständigung des Menschen, jetzt auf geistiger, wie ehemals auf seelischer Ebene. Denn das Denken wird der Erzieher der Menschheit zur Freiheit im Geiste. Und so betätigt sich Luzifer abermals als Freiheitsbringer.
Diese erneute Durchdringung der Menschheit mit luziferischen Impulsen setzt schon im Aufdämmern der geschichtlichen Ära ein, verstärkt sich dann bis zu einem Kulminationspunkt, der im Beginne des 3. Jahrtausends v.Chr. liegt, um von da an allmählich abzuklingen. Jener Kulminationspunkt aber ist dadurch bezeichnet, daß, nach der Darstellung Rudolf Steiners, die luziferische Wesenheit selbst im damaligen China in einer menschlich-irdischen Verkörperung erschien (Siehe Rudolf Steiner: Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage, III.Band, 5.Vortrag vom 1.11.1919. Sigismund von Gleich, <Ur-Offenbarung und Heils-Erwartung in Alt-China, Blätter für Anthroposophie 1951,S285ff> glaubt den Träger dieser Verkörperung Luzifers in dem Rebellen Tschi-Jö zu erkennen, der gegen den "Gelben Kaiser" Hoang-Ti sich erhob und von ihm nach jahrelangem Kampfe besiegt und getötet wurde, und den bereits das chinesische Geschichtsbuch Schu-King als Inkarnation des Drachen bezeichnete). In dieser "Menschwerdung" - ebenso wie auch in den später folgenden Inkarnationen Christi und der ahrimanischen Wesenheit, von denen im weiteren Verlauf dieser Darstellung zu sprechen sein wird - kommt, vom Blickpunkt dieser kosmischen Mächte her gesehen, jene "Vermenschlichung" von Gut und Böse zum Ausdruck, die die geschichtliche Phase des Menschheitswerdens überhaupt kennzeichnet. Daß die Menschwerdung Luzifers gerade in dem oben genannten Gebiete erfolgte, war dadurch bedingt, daß auch ein anderes Moment des einstigen Sündenfalls, nur eben in entsprechender Metamorphose, jetzt, im Aufgang der Geschichte, in Erscheinung trat.
Wir erwähnten im vorigen Kapitel, wie der auf "Vergeistigung" der menschlichen Leiblichkeit zielende Einfluß Luzifers nicht das Ganze, sondern nur einen Teil derselben: das Haupt, habe ergreifen können, und wie in Gegenwirkung dazu Jahve - als Repräsentant der guten Mächte - den Gegenpol (S139) des Hauptes: den unteren Menschen, in der entgegengesetzten Richtung: nach einer stärkeren Erden- und Materie-Verwandtschaft hin, umgebildet habe. So wurde der menschlichen Leiblichkeit eine bestimmte Polarität aufgeprägt, aber diese Prägung betraf, da ja das Werden der Menschheit bis in die Atlantis hinein im Zeichen ihrer leiblichen Entwicklung stand, die menschliche Leiblichkeit überhaupt, das heißt die Leiber aller Menschen. Auch jetzt, während der geschichtlichen Ära, machte sich der luziferische Einfluß wiederum nur in einem Teile bemerkbar, aber nicht der menschlichen Leiblichkeit, sondern der Menschheit als geschichtlicher Lebensgemeinschaft. Und im Gegensatze dazu wurde, wie wir sogleich sehen werden, wiederum ein anderer Teil derselben in eine entgegengesetzte Entwicklungsrichtung hineingezogen. So entsteht, wie durch den urzeitlichen Sündenfall in der menschlichen Leibesorganisation eine Polarität veranlagt worden war, also durch den frühgeschichtlichen "Sündenfall" in der Menschheit als "Geschichtskörper" eine analoge Gegensätzlichkeit. Sie bildet sich in der Zeit heraus, die dem Aufgang der ersten geschichtlichen Hochkulturen unmittelbar vorangeht, also etwa zwischen dem 7. und 5. vorchristlichen Jahrtausend, und findet ihren Ausdruck in der Art, wie der in dieser Epoche (Neolithikum) erfolgte Übergang der Menschheit von der Jäger- und Sammlerstufe zu Ackerbau und Viehzucht sich auswirkt.
Wir wiesen schon im ersten Bande (S210ff) darauf hin, wie diesem Übergang ein geistiger Impuls zugrunde liegt, der ausging von jener großen menschheitlichen Führergestalt, die in der mythischen Erinnerung des Landes, in dessen Umkreis dieser Übergang erfolgte, als Zarathustra fortgelebt hat. Es hatte ja in den Völkerschaften, die aus der untergehenden Atlantis in jahrhundertelangen Wanderungen von West nach Ost annähernd die halbe Erde umkreist hatten, durch diese Wanderzüge ein Verjüngungsprozeß stattgefunden, und dieser hatte zur Folge, daß in den allerersten Anfängen der nachatlantisch-geschichtlichen Ära frühirdische Entwicklungsstadien der Menschheit sich in die nun entstehende Bewußtseinsgestaltung hineinprojizierten. Zarathustra lenkte durch den Anstoß zu Ackerbau und Viehzucht das Bewußtsein der in die Geschichte eintretenden Menschheit in solcher Weise auf die Erde hin, daß sie sich mit dieser tätig-willensmäßig verbinden konnte und sie dereinst durchgeistigend zu verwandeln fähig werden kann. In Auswirkung dieses Impulses entstand aber bald eine Differenzierung, die äußerlich darin zum Ausdruck kam, daß neben der gemischten bäuerlichen Wirtschaft in allen Abstufungen bis zur einseitigsten Spezialisierung sich Hirtentum (Viehzüchter) und Pflanzertum (Ackerbauer) herausbildeten. Gewiß erklärt sich diese Differenzierung zwanglos auch aus den Bedingungen, unter denen diese neue Form des Lebens und Wirtschaftens sich damals entfaltete. Die fruchtbaren großen Stromtäler Ost-, Süd-, West-Asiens und Nordafrikas begünstigten die Entwicklung des Pflanzertums, die Steppen- und Weidegebiete (S140) Innerasiens diejenige des Hirtentums. Und aus denselben Bedingungen läßt sich auch alles andere ableiten, was in diesen beiden Strömungen als Gestaltung des geistigen und materiellen Lebens sich ausbildete, so insbesondere das Seßhaftwerden auf der einen und das Nomadentum auf der andern Seite. Dennoch erweisen sich diese beiden Strömungen, nach dem ganzen Umfang ihres Sichdarlebens betrachtet, so deutlich als im Medium des geschichtlich-sozialen Werdens erscheinende Erneuerung jener Polarität, die in Urzeiten in der Folge des Sündenfalls in der menschlichen Leiblichkeit als solcher entstanden war, daß sie auch von diesem Gesichtspunkte aus gekennzeichnet werden müssen. Im Alten Testament wird auf diese Beziehung dadurch hingedeutet, daß von den beiden Söhnen der Stammeltern der Menschheit, zwischen denen es zum Zwiespalt kommt, der eine (Kain) als Ackersmann, der andere (Abel) als Hirte bezeichnet wird. Und, so gesehen, enthüllen diese Strömungen noch ein Tiefere: nämlich, inwiefern die geschichtliche Entwicklung ein moralisch zu verstehender Prozeß ist, oder inwiefern an ihrer Gestaltung kosmisch-moralische Mächte beteiligt sind. Eben diese Charakteristik derselben stellten wir schon im ersten Bande (S213ff) in Aussicht; hier ist nun der Ort, die dort gegebene Schilderung durch sie zu vervollständigen.
Fassen wir zunächst denjenigen Teil der Menschheit ins Auge, der von der luziferischen Einwirkung durchdrungen wurde. Seine Angehörigen erlebten das Erwachen des Denkens und der sinnlichen Wahrnehmung, das die Folge davon war, als den Aufstieg zu einer höheren Stufe des Bewußtseins. Und ein solcher war es auch. Denn das frühere, einheitlich sinnlich-geistige Erleben war, außer in anderer Hinsicht, auch in dieser dem Träumen verwandt, daß es nur von dämmerhafter Helligkeit war. Jetzt, mit dem Erwachen des Denkens, wurde es erst "Tag" im menschlichen Bewußtsein. Dieses Erwachen war das "Wachwerden" schlechthin. Die Angehörigen dieser Menschheitsströmung fühlten sich daher in einem geistig-geschichtlichen Prozeß drinnenstehen, der wesenhaft verwandt ist mit dem Geschehen, das sich allmorgendlich beim Übergang vom Schlaf und Traum zum Wachen abspielt und das sich daher jeden Morgen mit ihnen als Einzelnen wiederholte. Sie hatten darum die Empfindung, daß der Schwerpunkt des menschlich-seelischen Erlebens überhaupt, der früher im Träumen gelegen hatte, nun sich ins Wachen verlagert habe. Da nun zugleich mit dem morgendlichen Erwachen des Menschen auch seine irdische Umgebung täglich sich von neuem erhellt, so empfand er hier die Macht, die ihn aus dem Dämmerdunkel des Träumens zum Tagesbewußtsein erwachen läßt, als identisch mit derjenigen, welche die irdische Umgebung allmorgendlich aus der Finsternis der Nacht in die Helligkeit des Tages heraustreten läßt: nämlich mit der Sonne, wie sie dann für seine Sinne am Himmel erstrahlt. Und so empfand er die Gottheit, von der er sich und seine mitmenschliche Umwelt in besonderem Maße durchdrungen und impulsiert fühlte, nicht nur (S141) als "Lichtbringer" überhaupt (Luzifer), sondern zugleich auch als den Geist der "Sonne", welche die Welt für die Sinne erleuchtet und sie aus dem Schlafe der Nacht und des Todes immer wieder zum Leben erweckt.
Nun zielt ja aber, wie schon erwähnt, das Streben Luzifers letztlich dahin, den Menschen der Erde zu entreißen, ihn zu vergeistigen und in eine Welt zurückzuführen, in der das, was eine frühere Entwicklungsgestalt der Erde war, sich gegenüber dem Kosmos noch nicht in solchem Maße verselbständigt hatte wie ihre jetzige, sondern noch ein bloßes Glied in seinem Lebenszusammenhang gewesen war. Hierin liegt der Grund, warum das erwachende Denken nun zunächst doch alles das ergreift und zum Gegenstand seines Verarbeitens macht, was sich aus dem früheren traumartigen Erleben an erinnerndem Wissen über die Weltvergangenheit erhalten hat. Und so entsteht in diesem Teile der Menschheit eine spirituelle Kosmologie, die zugleich den Charakter einer Kosmogenie und einer Astrologie trägt und die den Menschen als ein Geschöpf des ganzen Weltalls und als Wirkensfeld der aus allen Weltenweiten und Sternensphären in ihn einstrahlenden Kräfte erscheinen läßt. Und so sind auch die Gottheiten, die hier verehrt werden, durchwegs solche des Himmels, vor allem der Sonne.
Das Rückwärtsgewandte des luziferischen Wesens kommt in dieser Menschheitsströmung aber auch darin zum Ausdruck, daß sie - trotz der von ihr gepflegten kosmologisch-astrologischen Weisheit - in ihrer äußeren kulturellen Entwicklung, im Vergleich mit der entgegengesetzten Strömung, zunächst zurückbleibt, in einzelnen ihrer Teile sogar in solchem Maße, daß diese ein gewisse Primitivität des kulturellen Lebens überhaupt nicht mehr zu überwinden vermögen. Mit diesem Zurückbleiben ist aber zugleich die Bewahrung einer gewissen Kindlichkeit der Seele verknüpft. Das bedeutet, daß die betreffenden Bevölkerungen durch lange Zeit hindurch Kräfte unverbraucht und in plastischer Bildsamkeit in sich bewahren, durch die sie später Träger einer weit in die Zukunft hineinführenden Entwicklung werden können. Mit dieser unverdorbenen Kindlichkeit hängt es auch zusammen, daß diese Bevölkerungen in allem, was das geschlechtliche Leben betrifft, sich durch Reinheit und Keuschheit auszeichnen.
In all dem Geschilderten liegt es begründet, daß diese Menschheitsströmung eine besondere Beziehung zum Tier entwickelt, das ja in gewissem Sinne eine Erinnerung an die alte Mondenstufe darstellt. Und so werden ihre Angehörigen in der Zeit, da Ackerbau und Viehzucht aufkommen, also etwa im 6. Jahrtausend, soweit sie nich überhaupt auf der Jägerstufe zurückbleiben, zu den Repräsentanten des Hirten- und Nomadentums. Wir finden sie also, im Verhältnis zu der entgegengesetzten Strömung, in nördlicheren Gebieten, in den weiten Steppenräumen Innerasiens und Osteuropas. Da der Übergang zu dieser neuen Lebensform
für sie eine stärkere Bindung an die Erde mit (S142) sich bringt, tritt dadurch wieder die andere Seite des luziferischen Impulses, der sie beseelt, hervor: die Tendenz, den Menschen von der Götterführung zu befreien und auf sich selbst zu stellen. Dies hat zur Folge, daß in sozialer Hinsicht hier der Mann ein Übergewicht über die Frau erlangt. Denn im Manne macht sich mehr das Persönlich-Individuelle, in der Frau mehr das Gattungsmäßige geltend. Und er repräsentiert mehr die Kraft des Willens, sie dagegen die Fähigkeit der Phantasie. So bildet sich innerhalb des Hirtentums eine vaterrechtliche Sozialordnung aus (Patriarchat). (Selbstverständlich ist dies, von einem andern Gesichtspunkt gesehen, auch durch das Viehzüchtertum als solches bedingt). Je nach der Größe der Herden, die er besitzt, bemessen sich Macht und Ansehen ihres Herrn. Und dieser männliche Grundcharakter bedingt es, daß auch die Götter, die innerhalb dieser Kulturströmung verehrt werden - es sind dies ja, wie schon erwähnt, durchwegs solche des Himmels, der Sonne, der Sterne -, in der Auffassung dieser Völker dem männlichen Geschlechte angehören. Sie sind gleichsam kosmische Patriarchen, "Himmelsväter", wie es die Bezeichnungen Jupiter, Zeus, Dyaus Pitar usf., die ihnen Völker dieser Herkunft gegeben haben, auch zum Ausdruck bringen. Es wird von ihnen überhaupt der Himmel, zumal die Sonne, als das väterlich-zeugende Element erlebt gegenüber der Erde als dem mütterlich-empfangenden und gebärenden. Ihre Verehrung gilt aber vornehmlich den himmlischen Vätern.
Die männliche Wesensart dieser Kulturströmung verleiht ihr des weiteren auch einen kriegerisch-kämpferischen Charakter. Wanderhirten sind zugleich Kriegerhirten; denn mit der Betreuung der Herden ist immer auch Streit um die Weideplätze, Kampf gegen Räuber und wilde Tiere verbunden. Und durch diese Gesamthaltung ist die Art bedingt, wie sich die Angehörigen dieser Strömung zu dem verhalten, was ihnen von ihrer geistigen Führung als das Böse bezeichnet wird. So wie ihnen als "gut" all das erscheint, was hell, licht, klar, sonnenhaft, himmelverwandt ist, im Seelischen als Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Mut sich darlebt, so all das als "böse", was dunkel, unrein, ungeordnet, irdisch ist und seelisch als Verlogenheit, Feigheit, Heimtücke sich erweist. Als der Herr dieses Bösen wird da, wo der von Zarathustra ausgegangene Impuls in den nördlichen Völkern sich auswirkte, der finstere Ahriman bezeichnet. Es ist die Wesenheit, von der wir bei der Besprechung der atlantischen Entwicklung zu erwähnen hatten, daß sie von der Erde her gegen das Ende derselben gleichsam die Nachfolge Jahves angetreten habe im Wirken durch die Blutskräfte, durch welche dieser die Menschheit damals an die Erde gebunden hatte. Die verderbliche Wirksamkeit dieses Wesens sahen und empfanden besonders die Angehörigen der nördlichen Strömung da, wo sie sich forterhalten hatte in Überresten der atlantischen Bevölkerung, die von ihr angesteckt waren und in denen sie sich auch jetzt noch in Praktiken (S143) niederer Magie äußerte. Dieses Böse auf jede Weise zu bekämpfen und zu bekriegen, wurde ihnen von ihrer geistigen Führung als ihre Pflicht gelehrt. Und so meldet die Sage (Überliefert in den Erzählungen des Epos "Schahname" des Firdusi) von einem jahrhundertelangen Krieg, der zwischen den Iraniern als den Vertretern des neuen Bewußtseinslichtes und den Turaniern als den Bewahrern einer aus der Atlantis überkommenen dekadenten Magie in frühgeschichtlicher Zeit geführt wurde. Im Kampfe mit der chaotisierend-zerstörerischen Macht Ahrimans fühlten sich diese nördlichen Völker aber auch immer stehen, wenn sie wilde Tiere zähmten und züchteten, oder wenn sie - insoweit sie später auch Ackerbau trieben - die Wildnis rodeten und den Boden durch Bebauung kultivierten. Dieser Kampf galt - so kann man ihn auch, seinem positiven Ziele nach, charakterisieren - der Ausbreitung des Herrschaftsbereichs des Lichtgottes der Sonne, des Ormuzd, der ihnen der Quell des Guten war. Und das war er in gewissem Sinne auch. Denn wir wiesen schon weiter oben darauf hin, daß die "Bosheit" Luzifers nur eine relative war. Diese relative Bosheit kann aber ebensogut als relative "Güte" aufgefaßt werden, insofern nämlich der Freiheitsimpuls, dem er zur Geburt verholfen hatte, im prinzipiellen gesehen, doch auf der Linie des Fortschrittes der Menschheitsentwicklung lag. Und gerade in der neuen Konstellation, die mit dem Aufgang der nachatlantischen Ära eingetreten war, diente seine Erneuerung abermals dem Menschheitsfortschritte. Und so offenbarte sich im Lichte Ormuzds, des Sonnengottes, den dieser Teil der Menschheit verehrte, nicht nur Luzifer, sondern ein höheres, umfassenderes Gutes, das aber damals noch nicht unmittelbar selbst in Erscheinung trat, sondern sich Luzifers als seines Werkzeuges bediente.
Wenden wir uns nun der entgegengesetzten Strömung zu, so haben wir es da mit derjenigen zu tun, die in der Zeit des sich differenzierenden Hirten- und Pflanzertums das letztere repräsentiert und als solches in mehr südlich gelegenen Gegenden: in den großen Stromtälern und Ebenen der asiatisch-afrikanischen Randgebiete mit der Bearbeitung des Bodens als erste zur Seßhaftigkeit übergeht. In gewissem Sinne darf gesagt werden, daß in ihr die Jahvewesenheit eine erneuerte Wirksamkeit entfaltet. Dadurch läßt die Wendung zur Erde schlechthin, die Zarathustra bewirkt hatte, hier die Anfänge des Ackerbaues entstehen. Damit erneuert sich hier auch in gewisser Weise jene starke Bindung an die Erde durch die Blutskräfte, die Jahve schon einmal herbeigeführt hatte. Dies hat zur Folge, daß Denken und sinnliches Wahrnehmen hier in geringerem Maße erwachen, vielmehr ein traumartiges sinnlich-geistiges Erleben fortwaltet, in dem Mythos und Magie beheimatet sind. Und des weiteren ist dadurch bedingt, daß der Ich-Impuls hier noch nicht als ein persönlich-individueller, sondern als ein gruppenhaft-kollektiver wirkt. (S144) Das alles findet seinen zusammenfassenden Ausdruck darin, daß diese Pflanzervölker eine auf die Frau hingeordnete, mutterrechtliche Sozialordnung ausbilden. Die Frau ist nicht nur die vornehmliche Hegerin und Pflegerin der Pflanzen, sie ist die Repräsentantin des im Blute durch die Generationen rinnenden Lebens überhaupt, und damit das Sinnbild der Erde selbst, welche die aus der Himmelsumarmung empfangenen Samen in ihrem Schoße reifen läßt, bis sie sie in ihren mannigfachen Geschöpfen zur Geburt bringt. Und in dieser Kraft des Empfangens und Gebärens wird hier vor allem das Göttliche erlebt und verehrt. Dieses erscheint daher hier in weiblicher Gestalt: in den mannigfaltigen Ausgestaltungen, welche das Motiv der Magna Mater, der Erden-Mutter-Gottheit, innerhalb der Völker dieser Strömung findet. Und wie die Religion der Hirtenvölker eine solche vornehmlich der Sonne und damit des Tages war, so diejenige dieser Pflanzervölker eine solche auch des Mondes oder der Nacht. Auch hierin dokumentierte sich der Einfluß Jahves, der in ihr wirkte.
Die Annahme fester Wohnsitze nun hat zur Folge, daß auf der Linie dieser Menschheitsströmung zunächst der Fortschritt in der äußeren Kulturentwicklung sich vollzieht. Hausbau, Töpferei, erste Anfänge der Metallbearbeitung (Kupfer, Bronze), dörfliche Gemeinschaftsbildungen und früheste Keime staatsartiger Verbindungen finden wir da. Der Umstand, daß es Erdengottheiten sind, denen religiöse Verehrung entgegengebracht wird, bedingt es, daß hier auch zuerst Tempel als Wohnhäuser der Götter errichtet, aber Höhlen, Grotten und künstlich geschaffene unterirdische Felsenheiligtümer als Kultstätten verwendet werden. Der weibliche Grundcharakter dieser Strömung, aber auch die Bedingungen, die im Ackerbau als solchem liegen, bringen es mit sich, daß nicht der Krieg, sondern der Friede das charakteristische Element ihres Lebens bildet. Und wo wurde ja auch durch die historische Forschung schon darauf hingewiesen, daß ihre mutterrechtliche Ordnung zutreffender als "Mutterfriede" bezeichnet würde (Hans Schreuer: Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte Böhmens, 1902). Nicht um die Ausübung von Macht und Herrschaft wie bei den Stammeshäuptern der Kriegerhirten ging es da, sondern um Hingabe und Dienst am Leben und Gedeihen der mütterlichen Gaben der Erde.
Diese Gesinnung bestimmte auch die Haltung, die gegenüber dem eingenommen wurde, was hier als das Böse galt. Es war das jenes egoistische Streben nach Freiheit, Selbständigkeit, Eigenpersönlichkeit, das dem Menschen durch Luzifer eingepflanzt worden war. Dieses führte ja dazu, daß der Mensch im inneren Erleben nurmehr sich selbst fand als den Erzeuger seiner Gedanken uns sich dadurch abgeschnürt erfuhr von dem Göttlichen, das in tieferen Schichten seines Wesens in seinem Blute wirkte und ihn mit seinen (S145) Blutsverwandten zu Glieder einer umfassenderen, gottdurchdrungenen Volksleiblichkeit machte. Jenes Böse ließ ihn daher zum Rebellen gegen diese Blutszusammengehörigkeit werden. Weil es aber nicht, wie das ahrimanische, von außen, von der Erde her den Menschen ergriff, sondern gleichsam von innen her unmittelbar in seine Seele sich einnistete, darum blieb ihm gegenüber nicht anderes übrig, als es zu meiden, sich seiner Wirkung zu entziehen durch Unterlassung all der Handlungen, die den Menschen in seine Wirksamkeit verstricken. Daraus erklärt sich schon hier, warum später in der mosaischen Gesetzgebung, die ja auch aus der Inspiration Jahves erflossen ist, im wesentlichen zum Ausdruck gebracht wurde, was der Mensch zu unterlassen habe.
So stehen sich in frühgeschichtlicher Zeit zwei Strömungen gegenüber, die sich zueinander ähnlich verhalten, wie im menschlichen Leibe der obere und der untere Mensch. Und mit ihnen erweist sich ein zweifaches, entgegengesetzt geartetes kosmisches Gutes und Böses am Fortgange des Menschheitswerdens beteiligt. Die Relativität, die wir diesem Guten und Bösen zusprechen, bezeugt sich objektiv darin, daß ihnen diese Qualitäten jeweils nur für einen Teil der Menschheit eignen, während für den entgegengesetzten Teil die umgekehrten gelten. Die ahrimanische Wirksamkeit findet in dieser frühgeschichtlichen Zeit zunächst noch keinen neuen Angriffspunkt. Soweit sie vorhanden ist, setzt sich ihre alte, aus der Atlantis herstammende Art fort. Und diese ihre Wirkung ist es, gegen die sich in der Hauptsache die kämpferische Verneinung von seiten der nördlichen Völker richtet. Aus demselben Grunde tritt in den südlichen Völkern Jahves erneuerte Wirksamkeit wieder in Reinheit in kraft. Und dies kommt darin zum Ausdruck, daß sie sich der weiblich-mütterlichen Kräfte als ihres Werkzeugs bedient. Luzifer auf der andern Seite erweist sich wieder nur teilweise als böse: als der Erreger der Selbstsucht, als welcher er von den südlichen Völkern erfahren wird. Aber als der Erwecker der Freiheit, der er zugleich ist, bezeugt er sich, für die nördlichen Völker, zu gleicher Zeit als die Kraft des Guten.
Nun schreitet die Entwicklung der äußeren Kultur, wie schon bemerkt, zunächst auf der Linie des Pflanzertums fort. Dieser Umstand, sowie der andere, daß diese Strömung durch ihre Seßhaftigkeit deutlichere Spuren ihres Daseins hinterlassen hat als die nomadischen Hirtenvölker, hat im 19. Jahrhundert, da die mutterrechtliche Kultur zuerst wiederentdeckt wurde (Bachofen, McLennan, L.H.Morgan), zunächst zu der irrtümlichen Meinung verleitet, daß diese eine bestimmte Stufe darstelle, welche die Menschheitsentwicklung schlechthin auf ihrem Gange durchschritten habe. Erst die Forschungen unseres Jahrhunderts (W.Schmidt) haben das gleichzeitige Vorhandensein der vaterrechtlichen Hirtenströmung festgestellt und damit zur Erkenntnis geführt, daß diese, wenn auch zunächst hinter der ersteren zurückbleibend, dennoch eine Parallel- bzw. die Gegenerscheinung zu jener (S146)
bildete. Nun aber konnten die mutterrechtlich lebenden Pflanzer aus sich allein die kulturelle Entwicklung doch nur bis zu einem bestimmten Punkte führen; von da ab trat bei ihnen immer wieder die Tendenz zur Verweichlichung, zur physischen und moralischen Entartung, zur Degeneration hervor, - während umgekehrt die Hirtenvölker gleichsam nicht reif, nicht erwachsen, nicht im kulturellen Sinne produktiv zu werden vermochten.
Ein weiterer Fortschritt konnte nur dadurch zustandekommen, daß sich beide miteinander verschmolzen, gewissermaßen "vermählten". Denn zugleich war in ihrer Differenzierung im Medium der geschichtlich-kulturellen Entwicklung derselbe Prozeß wieder aufgetreten, der sich im Elemente der leiblichen Entwicklung infolge des urzeitlichen Sündenfalles als die Trennung der Geschlechter ereignet hatte. Und wie seitdem das leibliche Leben sich nur fortpflanzen kann durch die Verbindung von Mann und Frau, so vermochte sich nun auch die geistig-geschichtliche Entwicklung der Menschheit nur fortzusetzen durch die Verbindung der beiden Strömungen: der männlichen und der weiblichen (Siehe zu diesem ganzen und dem folgenden Kapitel auch wieder die Darstellung von Alexander Rüstow in "Ortsbestimmung der Gegenwart, Band I: Ursprung der Herrschaft" 1950).
B. Erste Hochkulturen
Diese Verbindung ist denn auch in mehreren Stufenschritten zustandegekommen. Nach einigen vorbereitenden Vorgängen dieser Art, durch welche das Pflanzertum sich zum Vollbauerntum entwickelte, kam es dann etwa um die Mitte des 4. Jahrtausends zu jener entscheidenden Verschmelzung dieser beiden Strömungen, denen die ersten Hochkulturen Ägyptens, Mesopotamiens, Indiens und Chinas ihre Entstehung verdanken. Diese Verschmelzung trat dadurch ein, daß in verschiedenen Wellen aus dem Innern Asiens nach Osten, Süden und Westen kriegerische Nomaden hervorbrachen und in jahrhundertelangen Kämpfen sich zu Herren über die Pflanzenvölker machten. Die "Vermählung" beider war also zunächst keineswegs eine friedliche, sondern im Gegenteil eine höchst gewaltsame und blutige. Wir haben im ersten Bande (S260ff) in Anlehnung an eine Darstellung Rudolf Steiners gezeigt, wie in diesen Kämpfen dennoch ein Austausch und Ausgleich von Kräften der Jugend und des Alters, des Lebens und des Bewußtseins, sich vollzog. Das äußere Ergebnis dieser "Überlagerung" (A.Rüstow) war die Entstehung einer (S147) geschichteten Gesellschaft (Kastenordnung); anders ausgedrückt: des Herrschaftsstystems als sozialen Strukturprinzips. Die Funktion des Herrschens fiel den Eroberern zu; indem sie dadurch von der Nahrungsbeschaffung befreit wurden und die Kulturerrungenschaften der Unterworfenen übernahmen und mit ihren in dieser Hinsicht noch unverbrauchten Jugendkräften weiterführten, bildeten sich aus ihren Reihen die zwei oberen Stände der Priester ("Seelenhirten") und der Krieger bzw. Könige heraus. Im Zusammenhang damit entstanden die ersten staatlichen Imperien. Das Dienen kam den Besiegten zu; aus ihnen gingen die zwei unteren Stände der Ackerbauer, der Handwerker und Händler hervor. Sie kamen dadurch in den Genuß einer staatlichen Ordnung und eines militärischen Schutzes gegen Bedrohung von außen. Als Zentren der politischen Macht und der geistig-religiösen Kultur entstanden die ersten großen Städte (Memphis, Theben, Babylon, Ninive u.a). Mit dieser Verschmelzung ging Hand in Hand eine solche der beiderseitigen Religionen. Diese kam darin zum Ausdruck, daß die ersten Hochkulturen alle in irgendeiner Art sowohl himmlische wie irdische, männliche wie weibliche Gottheiten verehren. Auch zeigen sie alle eine Verbindung oder ein Nebeneinander von vater- und von mutterrechtlichen Prinzipien. Für unseren gegenwärtigen Zweck bedürfen alle diese Verhältnisse keiner weiter in Einzelheiten hineingehenden Schilderungen. Es genügt vielmehr, folgende Momente hervorzuheben: Wie aus der Verbindung von Mann und Frau nicht der Mensch an sich, sondern doch immer wieder Knaben und Mädchen hervorgehen, so führte auch die Verschmelzung der beiden geschichtlichen Strömungen im allgemeinen keineswegs zu einer Synthese, in der beide in vollem Gleichgewicht standen oder gar in ihrem Sondersein aufgehoben waren. Vielmehr erlangte je nach den geographischen und klimatischen Bedingungen, die in den Gebieten herrschten, in denen sich eine solche Verschmelzung vollzog, auf die Dauer in mannigfaltigster Abwandlung die eine oder die andere von ihnen das Übergewicht. Ein Land wie die beidseitig von Wüsten eingeschlossene Stromoase Ägypten, die für damalige Verhältnisse von ihrer Umwelt fast völlig isoliert und daher vor Bedrohung von außen weitgehend gesichert war, außerdem aber von üppigster Fruchtbarkeit des Ackerbodens, ließ naturgemäß die friedlichen, der Pflege des kulturellen Lebens zugewandten Kräfte zu den bestimmendsten seiner Geschichte werden. Ein Ähnliches gilt in Asien für den indischen Subkontinent. Ein Gebiet dagegen wie Mesopotamien, das eine ausgesprochene Durchgangszone für Völkerbewegungen nach allen Himmelsrichtungen darstellte, bedurfte, um sich kulturell entfalten zu können, starker politischer und militärischer Machtentfaltung und ließ dadurch unvermeidlich, besonders in gebirgigeren Assyrien, die kriegerischen Elemente die Oberhand gewinnen. Und in diesen Ungleichgewichtsverhältnissen lag gerade das, was geschichtliche Bewegung und Wandlung begünstigte. Dagegen zog (S148) der Umstand, daß in China, im "Reich der Mitte", die beiden Elemente zu einer so eigen- und einzigartig ausgeglichenen Einheit sich verschmolzen, mit einen Grund dafür gebildet haben, daß seine kulturelle Entwicklung verhältnismäßig früh in einen Zustand der Stagnation überging (Siehe hierzu Julius Schmidhauser: Mnemosyne, Heidelberg 1954).
Zum zweiten ist zu bemerken, daß auf jene erste Welle von Hirtenzügen, durch welche die ersten Hochkulturen begründet wurden, im Laufe der nächsten Jahrtausende immer wieder neue folgten, von denen nur diejenigen, die etwa um 2000 und um 1200 v.Chr. sich in die großen Kulturgebiete vom Mittelmeer bis nach Indien ergossen, als die bedeutendsten hier noch erwähnt werden sollen. Da durch sie bereits "überlagerte" Gesellschaften noch weitere Male von Nomadenstämmen überschichtet wurden, gewann das vaterrechtliche Hirtenelement ganz allgemein immer mehr die Oberhand über das mutterrechtliche Pflanzerelement, - und hierin liegt der Grund dafür, daß das letztere, wenigstens aus den Bereichen, in denen die Kulturentwicklung ihre hauptsächlichsten weiteren Fortschritte machte, allmählich ganz verdrängt worden ist.
Obwohl die Hirtenstämme bei ihrem Einbruch in die verschiedenen Kulturgebiete auf einer viel tieferen Kulturstufe standen als die seßhaften Bevölkerungen, die sie sich untertan machten, wurden sie doch immer mehr die eigentlichen Träger des Kulturfortschrittes, erstens weil sie noch frischere Lebenskräfte mitbrachten, zweitens weil sie die Repräsentanten des erwachenden Gedankenlebens waren, welches zur vollen Entfaltung zu bringen die zentrale Mission des geschichtlichen Werdens bildet. Die verschiedenen Stufen in dieser Entwicklung des Denkens und das heißt zugleich in der Erhellung des Bewußtseins, die sie bis in die Gegenwart herein durchlaufen haben, finden einen symbolischen Ausdruck in der Zucht und Verwendungsart der Tiere, mit denen sie sich verbanden. Bei denjenigen Hirtenstämmen, welche die ersten Hochkulturen mitbegründet hatten, war noch die Zucht des Rindes im Mittelpunkt gestanden. Daher die große Rolle, welche das Rind in Kulturs und Kunst der betreffenden Kulturen spielte und in Indien noch heute spielt. Die zweite Welle von Kriegerhirten, die um 2000 sich bis nach Ägypten einerseits (Hyksos), nach China andererseits ergießt, bringt bereits das Pferd mit, aber zunächst noch als Zugtier; es sind die sogenannten "Streitwagenvölker". Ihnen gehören auch die Indo-Arier und Iranier an. Die dritte, die dann u.a. zur Begründung der klassischen Kultur der Griechen und Römer führte, besteht schließlich aus Reitervölkern. Welche Bedeutung die Pferdezucht zum Beispiel für die Griechen und Römer besaß, geht ebenso aus der griechischen Kunst (Parthenonfries) wie etwa aus der Vielzahl von Personennamen hervor, die aus Verbindungen mit dem Worte "Hippos" bestehen. Seither wurde (S149) in Europa das Pferd bzw. der Reiter (Ritter) geradezu zum Symbol des Herrschertums und ist es bis in die jüngste Vergangenheit geblieben. Wenn schließlich in den letzten hundert Jahren die "Pferdekräfte" durch Dampfmaschinen und Benzinmotoren als Vehikel der räumlichen Fortbewegung abgelöst worden sind, so drückt die Dreiheit: Rind, Pferd, Motor bildhaft den Durchgang der Menschheit durch jene drei Stufen der Seelen- und Bewußtseinsentwicklung aus, die wir im zweiten Band in der von Rudolf Steiner geprägten Terminologie als Empfindungs-, Verstandes- und Bewußtseinsseele geschildert haben.
C. Mittelmeerantike
Wir lassen hier die Fortsetzung der fernöstlichen Hochkulturen aus dem Auge, weil der nächste Fortschritt der menschlichen Bewußtseinsentwicklung nicht in ihren Gebieten sich in paradigmatischer Weise vollzogen hat. Der Fortgang von den ersten Hochkulturen Vorderasiens zur Mittelmeerantike bedeutet nicht nur die allmähliche völlige Verdrängung der mutterrechtlichen Lebensordnung durch die vaterrechtliche, sondern zugleich doch auch eine noch weitergehende, innigere Durchdringung der beiden Element, als sie in jenen älteren Kulturen stattgefunden hatte. Die erstere spielte sich mehr an der Oberfläche, die letztere in der Tiefe des geschichtlichen Lebens ab. Hatte sich einstmals die Verschmelzung mehr im Medium des Blutes vollzogen, so vollzieht sie sich jetzt mehr in demjenigen des Geistes. Von einer Blutmischung schritt sie zu einer gegenseitigen geistigen Durchdringung fort. In Rom zeigt sich diese Tatsache mehr auf wirtschaftlich-politischem, in Hellas unmittelbar im geistig-kulturellen Felde. Dort tritt uns, wenigstens in der Zeit des Aufstiegs und der Blüte, eine hervorstechende Synthese von Bauerntum und mit Herrscherbegabung ausgestattetem Kriegertum entgegen - hier als charakteristische Eigentümlichkeit die Verbindung der olympisch-apollinischen Götterwelt mit der chthonisch-dionysischen - mit all den Auswirkungen, die sie - wie Nietzsche in seiner "Geburt der Tragödie" geschildert hat - für die Kunst, insbesondere für die Entstehung des Dramas gezeitigt hat.
Wieder in anderer Art erscheint die Durchdringung der beiden Strömungen in dem dritten Volke dieses Kulturraumes, das zu einer weltgeschichtlichen Mission berufen war: im Israelitentum. Auf der einen Seite bildete auch es das Paternitätsprinzip im strengsten Sinne aus, und die Anfänge seiner Geschichte zeigen deutlich seine Herkunft aus der nördlichen Hirtenströmung. War doch sein Stammvater Abraham, der zudem auch als der (S150) Begründer der Mathematik gilt, aus Ur in Chaldäa, das dieser Strömung angehörte, ausgewandert. Andererseits aber trägt die mosaische Gesetzgebung, die den Einzelnen mit einzigartiger Strenge in den Blutszusammenhang seines Volkes eingliedert, ausgeprägte Wesenszüge der südlichen Strömung. War Moses doch auch, bevor er sein Volk aus Ägypten herausführte, der Einweihung die die dortigen Mysterien teilhaftig geworden. Und so wird in der mit seinem Namen verbundenen Genesis bezeichnenderweise Luzifer, die Schlange, als die Macht des Bösen charakterisiert, die den Menschen im Paradiese zur Sünde verführte. Wie es, andererseits, Jahve, der Schutz- und Schirmherr der Blutszusammenhänge, ist, der mit dem israelitischen Volk einen besonderen Bund schließt. Freilich kommt in all dem auch jene Erneuerung atlantisch-vorgeschichtlicher Verhältnisse zum Ausdruck, auf die wir schon an früherer Stelle hingewiesen haben, und die der israelitischen Geschichte und Kultur überhaupt ihre eigenste Note verleiht. Ihre Mittellage aber zwischen nördlicher und südlicher Strömung, genauer: ihr Hin- und Herschwingen zwischen beiden offenbart auch ihr äußerer Schicksalsgang, - führt dieser das Volk doch in seiner Frühzeit für viele Generationen nach Ägypten, etwa ein Jahrtausend später dagegen ins Exil nach Assyrien und nach Babylon, aus dem überhaupt nur der an den letzteren Ort verschlagene Teil des Volkes zurückkehrt.
Zu den angedeuteten Grundanlagen dieser Völker kommt hinzu, daß die griechisch-römische Kultur in der Zeit, da sie ihre volle Ausreifung erlangt hat, sich einerseits durch die Alexanderzüge, andererseits durch die Ausbreitung des römischen Reiches allmählich über den ganzen in diesem Teile der Welt bekannten "Erdkreis" ausdehnt. Es entsteht dadurch innerhalb des damals westlichen Teiles der Menschheit zum erstenmal ein Weltreich, welches schließlich das ehemalige Babylonien, Kleinasien, Ägypten, die ganze nordafrikanische Mittelmeerküste, Griechenland, Italien, Spanien, Gallien, einen großen Teil Mitteleuropas und das heutige England (ohne Schottland) umfaßt. Und innerhalb dieses Raumes, der äußerlich durch die römische Militärmacht und Staatsverwaltung zusammengehalten, innerlich von der hellenistischen Kultur durchdrungen und ausgefüllt wird, entsteht nun ein "Synkretismus" nicht nur der Religionen, sondern der Gesamtkulturen, die in den verschiedenen Ländern desselben beheimatet waren, - ein Synkretismus, der den einzelnen Menschen erstmals in eine nicht mehr volks- und blutsmäßig gebundene, sondern menschheitliche Kultur hineinstellt. Damit bildet sich erstmals ein Menschheitsbewußtsein heraus, wenn auch die "Menschheit", auf die es sich bezieht, nur einen Teil der Gesamtbevölkerung der Erde ausmacht. Und indem das römische Bürgerrecht stufenweise immer weiteren Teilen, unter Caracalla schließlich der gesamten Bevölkerung des Weltreiches verliehen wird, bricht sich erstmals auch der Begriff der Rechtsgleichheit aller Menschen in gewissem Maße Bahn. Mit der allgemeinen gegenseitigen Durchdringung (S151) der Kulturen und Kulte - insbesondere derjenigen, die den ehemals nördlichen und südlichen Strömungen entstammen - ist für den Einzelnen aber auch verknüpft, daß er sich nun einem mehrfachen, genauer: zweifachen Bösen ausgesetzt sieht, - sowohl jenem, das ihm die südlichen Religionen als das luziferische, wie auch demjenigen, das ihm die nördlichen als das ahrimanische in den verschiedensten Wirkensformen vor Augen stellen. Gewiß tritt dieser Umstand als solcher im allgemeinen nicht ins volle Bewußtsein ein, er bleibt im Halb- oder Unbewußten. Er wirkt sich nur in der Empfindung aus, bei den Göttern der je überkommenen Volksreligion nicht mehr in ausreichendem Maße Schutz und Hilfe gegenüber den moralischen Gefährdungen zu finden, denen man sich ausgesetzt fühlt. Daher entwickelt sich weitgehend der Brauch, gleichzeitig Götter verschiedenster Herkunft nebeneinander zu verehren. Und das römische "Pantheon" wurde gewiß auch nur errichtet, um durch Aufnahme verschiedenster Volksgätter in den römischen Götterkreis die geistigen Kräfte der betreffenden Völker der Erhaltung der römischen Herrschaft dienstbar zu machen, sondern auch aus der Empfindung heraus, daß nurmehr das "All der Götter" ein zureichendes Gegenstück sei zu der "allmenschlichen" Kultur, die sich herausgebildet hatte. Darüber hinaus aber lebten in der Spätantike in weitestem Umfang Mysterienkulte und Einweihungspraktiken verschiedensten Ursprungs wieder auf; denn eine stets zunehmende Zahl von Menschen glaubte, überhaupt nur auf dem Wege der Initiation der Verstrickung in die Netze des Bösen entkommen und das Heil der Seele erlangen zu können.
Aus den Volksgöttern hatte sich das "relativ Gute", das durch sie einstmals gewirkt hatte, in der Tat zurückgezogen, - und so blieb nur das "Böse", das sie auch in sich bargen, übrig. Sie verwandelten sich dadurch mehr und mehr in Dämonen. Es zeigte sich dies in der Art, wie während dieser Zeit die verschiedenen Volkskulturen als solche in Verfall gerieten. Die Völker nördlicher Herkunft, die als luziferisches Erbe den männlich-kriegerischen Geist in sich trugen, richteten sich in einem "Kampf aller gegen alle" weitgehend selbst zugrunde, - so die Stadtstaaten Griechenlands untereinander, bis sie unter das makedonische, später römische Joch gebeugt wurden. Die Römer zerfleischten sich selbst in blutigsten Parteikämpfen, die unter Marius und Sulla, Pompejus und Cäsar gipfelten, bis sie der Herrschaft der Cäsaren anheimfielen. Die Völker der südlichen Strömung dagegen erstarrten in einem Verfestigungsprozeß ihrer äußeren Lebensformen. Die ägyptische Kultur verwandelte sich im Lauf ihrer Geschichte gleichsam als ganze in eine Mumie, die von ihren Trägern durch viele Jahrhunderte unverändert konserviert bzw. immer wieder aufgefrischt wurde. An dieser ihrer Versteinerung war bereits der Reformversuch Echnatons gescheitert. Das Judentum verhärtete sich im blutsmäßigen Sichabschließen in seiner Nationalität. Wie (S152) bei den erstgenannten Völkern an Stelle Helios', Apollo's die luziferische Macht getreten war, so bei den letztgenannten an Stelle der Isis, Jahves die ahrimanische.
Von einem andern Gesichtspunkt aus können die Verhältnisse auch so charakterisiert werden: In gewisser Weise hatte sich die gesamte heidnische Welt in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten luziferisiert. Ihr stand allein das Judentum als Träger des Jahve-Impulses gegenüber, Dadurch konnte es zum Mutterschoße des Christentums werden. Kaum aber hatte es dessen Stifter geboren, so verschloß es sich ihm gegenüber, trachtete ihm - schon durch den bethlehemitischen Kindermord durch Herodes - nach dem Leben, stieß durch die Kreuzigung auf Golgatha ihn und seine Lehre völlig von sich und verwandelte sich in Ahasver, den "ewigen Juden", der für immer an seinen Leib und sein Blut und damit an die Erde gefesselt zu bleiben verdammt ist.
Kurz: die relativ guten Kräfte der bisherigen Entwicklung befanden sich im Verfall. Denn das Gute, das auf sie verteilt gewesen war und durch sie in gegensätzlicher Art bei den verschiedenen Teilen der Menschheit gewirkt hatte, schickte sich an, unmittelbar in Erscheinung zu treten und seinem ureigenen Wesen gemäß innerhalb der Menschheit zu wirken, als Geist der gesamten Menschheit, der das wahre "All der Götter" (Pantheon) repräsentiert, aber zugleich auch als das wahre, höhere Ich jedes einzelnen Menschen.
Dieses Ganzmenschliche und Gesamtmenschheitliche konnte allerdings nur in einer Gestalt erscheinen, welche das, was den Grundcharakter der Mittelmeerkultur überhaupt ausmachte: die völlig geistige Wiedereinswerdung der nördlich-männlichen und der südlich-weiblichen Strömung, in höchster Vollkommenheit verwirklichte und insofern im höchsten Sinn eine wahrhaft menschheitliche war. In der Gestalt Jesu war diese Bedingung erfüllt durch das Geheimnis ihres Werdens, auf das im Neuen Testament durch die zwei gänzlich verschiedenen Geburtsgeschichten und Geschlechtsregister des Matthäus- und des Lukasevangeliums hingedeutet wird, und das von Rudolf Steiner aus seiner Geistesforschung heraus enthüllt worden ist (Rudolf Steiner: Das Lukasevangelium). Hier ist nicht der Ort, auf seine Darstellung der Geschichte der "zwei Jesusknaben" im einzelnen einzugehen, die von Kritikern so oft lächerlich gemacht und mit den oberflächlichsten Einwänden zu widerlegen versucht wurde. Wir müssen uns auf die Bemerkung beschränken, daß für denjenigen, der sich ein Verständnis für die Bedeutung des Christusereignisses überhaupt erarbeitet hat, wie es zu erlangen heute auf Grund der Steinerschen Geistesforschung möglich ist, die Dinge, um die es sich hinsichtlich des angedeuteten Werdegeheimnisses der Jesus-Gestalt handelt, aus dem Gesamtbild des Christusgeschehens schlechterdings nicht wegzudenken sind. Sie gehören so wesentlich ("Nur gerade in den ersten drei Evangelien ist dieser klare Text, wie er in den Psalmen des Alten Testaments <Psalm 2,7> enthalten ist, als solle ein Schleier vor das Geheimnis gezogen werden, leise abgeändert. Wo das Wort im Neuen Testament sonst zitiert wird, in der Apostelgeschichte (13,33) und zweimal im Hebräerbrief (1,5 und 5,5), hat es die unverhüllte Gestalt, in der es den Geburtsvorgang bezeichnet, den es durch sein Ertönen bei der Jordantaufe begleitet." E.Bock: Die drei Jahre, S36). (S153) wie irgend eine anderer Zug desselben zu ihm hinzu. Denn durch sie sind in der Art, wie es aus dem gesamten Werdegang der Menschheit heraus bedingt war, von der menschlich-irdischen Seite her die Grundlagen geschaffen worden, ohne welche die Menschwerdung Christi nicht hätte stattfinden können (Siehe hierzu auch Emil Bock: Kindheit und Jugend Jesu, Stuttgart 1939). Im übrigen sei hier nur so viel angedeutet, daß die gegensätzliche Zweiheit, die in der Jesus-Gestalt zur Einheit geworden ist, in den Geburtsgeschichten ja auch dadurch charakterisiert wird, daß bei Matthäus die Geburt des Kindes dem Vater, bei Lukas der Mutter vorverkündigt wird, sowie daß im ersteren Fall auf die Geburt der bethlehemitische Kindermord und die Flucht nach Ägypten, also eine Auseinandersetzung mit den auf sie reagierenden Mächten des Bösen folgt, im letzteren dagegen die Botschaft vom Frieden auf Erden aus Engelsmunde erklingt und die ganze Erzählung in die Atmosphäre der Herzensinnigkeit, der Seelenwärme, der Liebe getaucht erscheint. Auch darf hier darauf hingewiesen werden, daß das apokryphe sogenannte Ägypter-Evangelium ebenfalls auf die in Rede stehenden Geheimnisse hindeutet, indem da gesagt wird, daß das Reich Gottes kommen werde, "wenn die zwei eins werden und das Auswendige wie das Inwendige und das Männliche mit dem Weiblichen, so daß es weder Männliches noch Weibliches gibt" (Edgar Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 2.Aufl.)
Durch die geheimnisvolle, vollkommene, einzigartige Einswerdung der zwei Hauptströmungen der vorchristlichen Menschheitsgeschichte, wie sie sich im Werden der Jesus-Persönlichkeit vollzogen hat, war in der Tat erst jenes menschliche Gefäß gebildet, in welches der Christusgeist als das wahre Menschheits-Ich einziehen konnte, wie es dann durch die Jordantaufe geschehen ist. Das letztere wiederum bedeutet, vom kosmischen Gesichtspunkt aus gesehen, den Akt, durch welchen der Vater-Gott den Sohnes-Gott als "Menschen-Sohn" zeugte bzw. durch den die Erdenmenschheit als jungfräuliche Mutter den Menschen-Sohn aus dem heiligen Geist empfing. Darum die Worte, die hier aus der Höhe erklingen: "Dies ist mein lieber Sohn, heute habe ich ihn gezeugt". ("Nur gerade in den ersten drei Evangelien ist dieser klare Text, wie er in den Psalmen des Alten Testaments <Psalm 2,7> enthalten ist, als solle ein Schleier vor das Geheimnis gezogen werden, leise abgeändert. Wo das Wort im Neuen Testament sonst zitiert wird, in der Apostelgeschichte (13,33) und zweimal im Hebräerbrief (1,5 und 5,5), hat es die unverhüllte Gestalt, in der es den Geburtsvorgang bezeichnet, den es durch sein Ertönen bei der Jordantaufe begleitet." E.Bock: Die drei Jahre, S36). Der imaginativen Schau des Geistesforschers stellt sich das Johanni-Geschehen in der Tat so dar, daß (S154) es die Trinität von himmlischem Geist-Vater, irdischer Stoff-Mutter und Menschen-Sohn offenbart (R.Steiner: Der Jahreslauf in vier kosmischen Imaginationen). In dieser Offenbarung treten zum letztenmal der Himmelsvater der ehemals nördlichen Strömung und die Erdenmutter (Magna Mater) der ehemals südlichen, aber nun sich vereinigend, im Bilde auf, um dem dieser Vereinigung entsprießenden Menschen-Sohn als dem neuen, von nun an bestimmenden Welt-Prinzip Platz zu machen (Schmidhauser: Mnemosyne).
Mit dem Erscheinen des Christuswesens im Erdenbereiche durch die Jordantaufe wurde bereits der Grund gelegt zu jenen ganz neuen Verhältnissen hinsichtlich Gut und Böse, von denen wir im ersten Teil dieses Buches, vom Gesichtspunkt der menschlichen Freiheitsentwicklung aus, schilderten, wie sie in unserer gegenwärtigen Epoche zur Reife gediehen sind. Hier sind sie nun vom Aspekte der kosmischen Mächte her darzustellen.
Es ist das Christusereignis ja das geschichtliche Urereignis - das Urphänomen unter den Phänomenen des geschichtlichen Lebens schlechthin. Darum tritt in ihm auch urbildlich zutage und in die Erscheinung, was seit jenem Zeitpunkt zwar für jeden Menschen gültig geworden, aber zunächst noch verborgen geblieben ist: Seither ist - im Prinzip - kein Mensch mehr bloßes Glied einer Teilströmung der Menschheit wie früher, sondern jeder ist unmittelbar ein Glied und Repräsentant der Gesamtmenschheit. Er ist es, weil er seither - im Prinzip - den Christus als sein höheres Ich in sich erwecken kann. Darum ist er jetzt als Einzelner nicht mehr nur der einen oder der anderen, sondern beiden Mächten des Bösen: der luziferischen wie der ahrimanischen, ausgesetzt, wie es früher nur die Menschheit in ihrer Gesamtheit war. Er wäre diesem zweifachen Ansturm des Bösen aus seiner bloß irdisch-menschlichen Persönlichkeit heraus, die er bis damals war, nicht gewachsen. Er kann ihm aber als Einzelner standhalten, weil ihm jetzt die Möglichkeit zuteil wurde, das Christuswesen als sein höheres Ich in sich zur Geburt zu bringen - wie es urbildlich die Jesusgestalt durch die Jordantaufe getan hat. Dieses Geheimnis enthüllt die Versuchungsgeschichte, wie sie in den Evangelien im unmittelbaren Anschluß an die Jordantaufe erzählt wird. Matthäus (4) und Lukas (4) berichten sie dem Inhalte nach gleich, doch in verschiedener Reihenfolge der Versuchungen. Rudolf Steiner stellt sie aus seiner geistigen Forschung heraus in folgender Weise dar (Aus der Akasha-Forschung. Das fünfte Evangelium, Dornach 1948 S63f):
Die erste Attacke erfolgt von seiten Luzifers, indem er Jesus von einem hohen Berg aus "alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit" zeigt und ihm die Herrschaft über sie anbietet, wenn er vor ihm niederfalle und ihn anbete. Er appelliert an Hochmut und Herrschbegierde; zugleich wird ersichtlich, daß (S155) es ihm letztlich nicht um die wirkliche Freiheit und Selbständigkeit des Menschen geht, sondern darum, ihn seiner Herrschaft zu unterwerfen. Die Antwort lautet: Du sollst Gott, deinen Herrn, anbeten und ihm allein dienen.
Die zweite Attacke wird von Luzifer und Ahriman gemeinsam ausgeführt. Jesus soll sich von der Zinne des Tempels hinunterstürzen; denn ihn als Sohn Gottes würden die Engel auf Händen tragen, auf daß er seinen Fuß nicht an einen Stein stoße. Luzifer will ihn dazu verleiten, seine Göttlichkeit und göttliche Macht zu demonstrieren und dadurch die Menschen zum Glauben an ihn zu zwingen. Ahriman packt ihn bei der Furcht und sucht ihm diese mit dem Hinweis auf seine Macht über die Natur auszureden. Jesus antwortet: Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.
Den dritten Angriff unternimmt Ahriman allein. Jesus soll aus Steinen Brot machen, das heißt seine göttliche Macht dazu mißbrauchen, die Menschen mit rein Irdischem satt zu machen, so daß sie der geistigen Welt ganz vergessen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, so lautet die Antwort, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.
In der plastischen Gruppe, die er für das erste Goetheanum in Dornach meißelte, hat Rudolf Steiner den in dieser Versuchungsgeschichte sich offenbarenden Grundtatbestand hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen der christlichen Ära zu Gut und Böse künstlerisch darzustellen versucht. Sie zeigt Christus als den Repräsentanten der Menschheit und damit jedes einzelnen Menschen in der Versuchung durch Luzifer und Ahriman - diese Versuchung bemeisternd nicht durch Kampf oder durch Flucht, sondern einfach durch die Haltung, in der er durch sie hindurchschreitet: Luzifer stürzt mit gebrochenen Flügeln aus der Höhe, Ahriman fesselt sich selbst im Geflecht der Goldadern in unterirdischer Höhle. Den Vertretern eines zweifachen, gegensätzlich gearteten, je relativen Bösen steht der Repräsentant des Guten gegenüber, das jetzt ein nicht mehr bloß relativ, sondern ein absolut Gutes bedeutet, weil es ein für alle Menschen und alle folgenden Zeiten gültiges geworden ist. Diese Verhältnisse kennzeichnen, vom Gesichtspunkt der kosmischen Mächte aus gesehen, die Beziehung des gegenwärtigen Menschen zu Gut und Böse, die wir in einem früheren Kapitel im Zusammenhang mit der Schillerschen Freiheitslehre charakterisierten als eine solche zu einem zweifachen, gegensätzlich gearteten Bösen, und zu einem Guten, das nicht bloß die Wahl des Gegenteils des Bösen, sondern die Verwandlung und damit die Überwindung des letzteren bedeutet.
D. Christentum
(S156) Die christliche Religion hat denn auch mit Recht die Gestalt Christi als des Repräsentanten des absolut Guten nicht nur in den Mittelpunkt ihrer Lehre und ihrer Verehrung gestellt, sondern zu deren fas ausschließlichem Gegenstand gemacht. Denn es galt zunächst vor allem, die Seelen ihrer Bekenner von den heidnischen Göttern, die zu Dämonen geworden waren, zu Christus hinzulenken als zu der Wesenheit, die ihnen der Erretter aus jeglicher Art des Bösen werden konnte. Aus welcher vorchristlichen Strömung sie auch herkamen: ob aus der hebräischen, persischen, griechischen, römischen oder germanischen - sie sollten in ihm denjenigen erkennen, der ihnen durch seine Menschwerdung und Opfertat das Heil zu bringen vermag, das die alten Götter nicht mehr zu gewähren imstande waren. Es kam daher zunächst darauf an, sie seelisch so innig wie möglich mit ihm zu verbinden. So war es denn auch sein Wesen und seine Bedeutung, um die sich die hauptsächlichsten dogmatischen Kontroversen in den ersten christlichen Jahrhunderten drehten: wie zum Beispiel die um die Frage seiner Wesensgleichheit oder bloßen Wesensähnlichkeit mit dem Vater, - um die Frage, wie sich seine zwei Naturen: die göttliche und die menschliche in ihm zueinander verhalten, - schließlich um die Frage, ob der heilige Geist vom Vater allein, oder auch vom Sohne ausgehe.
Gegenüber all dem trat die Frage nach dem Wesen des Bösen zunächst in den Hintergrund. Soweit sie aber die Seelen bewegte, wurde sie immer mehr im Sinne nur einer Richtung, also einseitig beantwortet. Es hatte dies darin seinen Grund, daß, wie schon in früheren Kapiteln erwähnt, innerhalb des Christentums bald wieder Haltungen und Auffassungen zur Herrschaft gelangten, die der vorchristlichen Zeit entsprachen. Dies kam auch darin zum Ausdruck, daß zwischen den beiden Strömungen, deren Verschmelzung erst die Entstehung des Christentums ermöglicht hatte, bald eine Spannung entstand, ja ein Kampf entbrannte. Hierbei aber erlangte die ehemals südliche Strömung die Oberhand und prägte der weiteren Entwicklung des Christentums ihren Stempel auf.
Zwar wirkte sich die ehemals nördliche Strömung innerhalb des Christentums darin aus, daß dieses in der römischen Kirche sich zu einem staatsartigen Gebilde ausgestaltete, als solches in gewisser Weise die Nachfolge des römischen Imperiums antrat und seit der Anerkennung und Herrschaftstellung, die ihr Konstantin und Theodosius verschafften, als "ecclesia militans" mit Gewalt dem Heidentum ein Ende bereitete und seine Heiligtümer zerstörte. Auch in der Geschichtsauffassung Augustins, die die Menschheitsgeschichte als einen dauernden Krieg betrachtet zwischen der civitas dei und der civitas terrena, das heißt zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis, wirkt (S157) die dieser Haltung zugrunde liegende Weltschau fort, - bildete doch gerade seine Seele in besonderem Maße ein Schlachtfeld, auf dem diese beiden Richtungen miteinander rangen und eine Zeitlang der Manichäismus die Herrschaft behauptete. Dennoch aber - und gerade seine Wendung zu seiner späteren Einstellung bildet ein hervorstechendes Beispiel hierfür - obsiegte zuletzt die ehemals südliche Richtung, wie sie in besonderer Art das Judentum repräsentiert hatte. Es zeigte sich dies fürs erste ganz allgemein darin, daß als die eigentlich vorbereitende Vorgeschichte des Christentums nicht die des Heiden-, sondern die des Judentums betrachtet wurde, - was in der Vereinigung des Alten Testamentes der Juden mit dem Neuen der Christen zum Ganzen der "Heiligen Schrift" seinen Ausdruck fand. Dies hatte in gewisser Weise auch seine volle Berechtigung, - war doch der Träger des Christuswesens seinem Leibe nach aus dem Judentum hervorgegangen. Und doch war es nur ein Teil der vollen Wahrheit; denn die Bedeutung des Christusereignisses wird gleichsam nur zur Hälfte verstanden, wenn man nicht auch sieht, wie in ihm das Mysterienwesen der heidnischen Völker seinen Abschluß gefunden und zugleich seine entscheidende Verwandlung erfahren hat, und wie innerhalb der heidnischen Welt dieses Mysterienwesen die andere wesentliche Vorbereitung des Erscheinen Christi bedeutete (Siehe Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums). Aber dieser Zusammenhang wurde immer mehr verwischt und verleugnet. Ein Julian Apostata, der durch seinen Zug nach Persien von da her ein tieferes Verständnis des Christentums zu gewinnen strebte, fiel durch Mörderhand. Sein letztes Wort "Du hast gesiegt, Galiläer!" bezieht sich nicht so sehr auf Christus als solchen, als vielmehr auf die Auffassung von Christus als dem Galiläer, die damit gesiegt hatte. Schon vorher aber hatte ein erbarmungsloser Ausrottungskrieg begonnen gegen den Manichäismus, welcher, der jüdischen Jahve-Strömung allerdings feindlich gegenüberstehend, vom gesamten Heidentum her, insbesondere aus altpersischen Vorstellungen heraus, das Christuswesen und Christusereignis zu verstehen suchte, darüber hinaus aber (wie schon früher erwähnt) die Lehre von der Verwandlung des Bösen verkündete, der die Menschheit erst in der Zukunft entgegenreifen sollte.
Die Vorherrschaft, welche die jüdisch-jahvistische Strömung innerhalb de Christentums allmählich erlangte, führte dazu, daß die Opfertat Christi einseitig als Erlösung von dem Bösen aufgefaßt wurde, das mit dem Sündenfall im Paradies durch Luzifer über die Menschheit gekommen war. Das Christusgeschehen wurde als Ausgleichstat also ausschließlich auf den luziferischen Sündenfall der Vergangenheit bezogen. Und da Luzifer das selbstsüchtige Freiheitsstreben (als die Wurzel aller Sündhaftigkeit) der Menschheit (S158) eingepflanzt hatte, so erblickte man das Wesentliche der christlichen Verkündigung im Gebot der Liebe, durch welche die Selbstsucht überwunden wird. Wiederum ist zuzugestehen, daß, was die Morallehre des Christentums betrifft, das Evangelium der Liebe zweifellos in ihrem Mittelpunkt steht. Aber das Christentum ist nicht eine bloße Morallehre; was es darüber hinaus noch ist, wird im Folgenden noch zur Sprache kommen. Hier sei zunächst nur auf alles das hingewiesen, was der von ihm ausgebildete und verwaltete Sakramentalismus mit dem in seinem Zentrum stehenden Messekultus bedeutet.
Mit der geschilderten Vereinseitigung des Christentums hängt es zusammen, daß innerhalb desselben schon früh das bezeichnenderweise in Ägypten entstandene Eremiten- und Mönchstum mit dem von ihm vertretenen Askese-Prinzip eine große Bedeutung erlangte und sich seit der Begründung des Benediktinerordens allmählich auch innerhalb Europas immer mehr ausbreitete. Gewiß bedeutete das Mönchswesen zeitweilig ein notwendiges ausgleichendes Gegengewicht gegen die weltlichen Machtbestrebungen und Herrschaftsansprüche der Päpste und Kirchenfürsten, aber in der zweiten Hälfte des Mittelalters, besonders unter dem fortwirkenden Einfluß des von Franz von Assisi ausgegangenen Impulses, nahm die weltflüchtige Mönchsgesinnung in solchem Maße überhand, daß christliche Frömmigkeit Wesenszüge und Lebensformen annahm, die sie derjenigen verwandt erscheinen ließen, die in Asien drüben der Buddhismus ausgebildet hatte. Es war die Zeit, in der auch die Marienverehrung immer weitere Verbreitung gewann und eine Mystik blühte, die in vielen ihrer Vertreter Züge einer verfeinerten Erotik aufwies.
In all dem kam ein Vorgang von außerordentlicher Bedeutung zum Ausdruck. Dieser liegt darin, daß seit dem Eintritt des Christusereignisses eine Überkreuzung in den Angriffspunkten des luziferischen und des ahrimanischen Einflusses auf die Menschheit sich vollzogen hatte. Die südliche Strömung hatte vordem den Einzelnen durch die auf Geschlecht und Blut begründete Liebe an die Blutsbande gefesselt - hatte ihn in seiner individuellen Organisation, von seinem "unteren" Menschen, vom Willenspol her ergriffen - hatte das luziferische Prinzip, das im Menschen die Selbstsucht erregt, ihn aber zugleich auch in einer erdflüchtigen Weise vergeistigt, als das Böse, zu Meidende bezeichnet. Jetzt verfiel sie selbst immer mehr dem Einfluß eben dieses Prinzips. Alles Fleischliche, Geschlechtliche, Sinnliche wurde da nun als sündhaft empfunden. Sein Blut selbst trieb nun den Menschen gleichsam dazu an, es durch Enthaltsamkeit aller Art zu läutern und zu vergeistigen. In den Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams, auf welche das christliche Mönchstum sich gründete - Gregor VII. dehnte den Zölibat dann auch auf das Weltpriestertum aus - lag ein Moment der Weltflucht, der Entsagung gegenüber all dem, was den Menschen an die Erde bindet und ihn auf dieser (S159) sich als ein freies, auf sich gestelltes Wesen erleben läßt. Die Richtung, in welche der Geist dieser Gelübde das religiöse Leben lenkte, begünstigte ein Streben nach moralischer Vervollkommnung und nach Erlangung des persönlichen Seelenheils, in welchem sich nur ein verfeinerter Egoismus auslebte. Wir wiesen schon an früherer Stelle darauf hin, welches Ausmaß gegen das Ende des Mittelalters dieses egoistische Heilsstreben erlangte und wie es zu jenen Entartungen des Ablaßwesens führte, die dann den Anlaß zum Ausbruch der Reformationsbewegung boten.
Dem stand ein geistiges Streben gegenüber, wie wir es bei den hervorragendsten Gestalten der mittelalterlichen Scholastik: Albertus Magnus und Thomas Aquinas finden. Wohl waren sich diese der Tatsache bewußt, daß das menschliche Denken eine Gabe Luzifers sei, das heißt daß in dieser Fähigkeit der Sündenfall fortwirke. Aber anstatt den Intellekt deshalb nun für unfähig zu erklären, die Wahrheit zu erkennen, bzw. eine "zweifache Wahrheit": eine solche des Denkens und eine solche der Offenbarung zu statuieren, wie es von nominalistischer Seite aus geschah, zielte ihr Streben darauf hin, das Denken Luzifer zu entreißen und zu durchchristen (Siehe Rudolf Steiner: Die Philosophie des Thomas von Aquino. Drei Vorträge), indem sie es im innigsten Zusammenhang und Zusammenklang mit einer religiös-mystischen Vertiefung zu halten sich bemühten. Dadurch bewahrten sie zugleich die letztere vor dem Abgleiten in erotische Schwüle und bloße Gefühlsschwärmerei. So vertraten sie die Lehre, daß das Denken, wenn es auch aus Eigenem die Inhalte der Offenbarung nicht finden könne, so doch mit diesen nicht im Widerspruch stehe, sondern mit der von ihm erlangbaren natürlichen Gottes- und Seelenerkenntnis den Glaubenswahrheiten den erkenntnismäßigen Unterbau schaffe. Allein diese "realistische" Richtung der Scholastik unterlag gegen das Ende des Mittelalters der "nominalistischen", und diese letztere wurde dann die erkenntnistheoretische Grundlage der modernen Naturwissenschaft, ja der modernen Wissenschaft überhaupt. Und damit nahm nun der Gegenprozeß zu der Luziferisierung der ehemals jahvistischen Strömung seinen Anfang: die Ahrimanisierung der ehemals luziferischen Strömung der Erkenntnis und der Freiheit.
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