Anthroposophie        =           Dreigliederung

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Christus, der Enthüller der antiken Mysterien

Symbole, Gleichnisse und Zeichen in den Evangelien

   Der Christus Jesus ist der große Enthüller der antiken Mysterien. Nicht in dem Sinne, daß er sie >als Perlen den Säuen< vorwirft und sie entweiht, sondern indem er sie erfüllt. Ohne das Verständnis der vorchristlichen Mysterien bleibt die Opfertat auf Golgatha in ihrem tiefsten Wesen unverständlich. Denn sie bring die alten Mysterien zu ihrer Erfüllung. Darum bezeichnete sie Rudolf Steiner als >das Mysterium von Golgatha<.

  Was erstrebte der Schüler der alten Mysterien, wenn er sich Prüfungen unterwarf und den Weg des Hades beschritt? Er erstrebte die Erweckung des in ihm verborgenen geistigen Menschen. Dadurch erlebte der Myste seine Vergottung: >Der Eingeweihte wurde durch die empfangenen Weihen selbst ein Glied jener magischen Kette, er selber ein Kabire, aufgenommen in den unzerreißbaren Zusammenhang, und, wie die alten Inschriften sich ausdrücken; dem Heere der oberen Götter gesellt<, sagt Schelling in der >Philosophie der Offenbarung<. Diese Erweckung des Göttlichen im Menschen, die bisher nur im abgeschlossenen Tempelbezirk, verborgen vor den Augen der profanen Menge, in geheimnisvoller Weise sich vollzog, wird jetzt, vierzig Tage vor Ostern, an einem Jünger durch den Christus Jesus selbst vorgenommen. Dieser Jünger ist derjenige, den >der Herr liebte<, Lazarus, hinter dem sich der Verfasser des Johannesevangeliums verbirgt. Es wird gerade in unserer Zeit viel darüber debattiert, weshalb die Juden Jesus zum Tode verurteilten. Man findet keine glaubwürdige Ursache für diese Verurteilung und schiebt sie deshalb dem römischen Prokurator, Pontius Pilatus, zu. Dieser verurteilte ihn als einen politischen Rebellen, der sich gegen Rom aufgelehnt habe, um die Macht der Römer abzuschütteln und Israel zu befreien. Der Tod auf Golgatha war also, wie Bultmann und sein Kreis es behaupten, ein >Mißverständnis<, ein bedauerlicher Irrtum, der mit dem Leben und der Mission Jesu nichts zu tun gehabt hat!

  Wie blind der moderne Intellekt geworden ist für die geistigen Werte und Hintergründe, geht gerade aus diesem Urteil hervor. Würde man die Evangelien nur richtig lesen, so wie man religiöse Urkunden lesen muß, die aus okkulten Hintergründden hervorgegangen sind, so könnte man jene Stelle nicht übersehen, in der der Grund zur Verurteilung Jesu deutlich angegeben ist. Diese Stelle findet sich unmittelbar nach der Erweckung des Lazarus. Als die Pharisäer von dieser Erweckung hören, versammelt sich der Hohe Rat und beschließt seinen Tod: >Von dem Tage an ratschlagten sie, wie sie ihn töteten. Jesus aber wandelte nicht mehr frei unter den Juden, sondern zog sich in eine Gegend nahe der Wüste zurück...< (11,53/54).

  Der Hohe Rat der Juden beschließt seinen Tod, weil er einen Mysterieverrat begangen hat, als welcher die Auferweckung des Lazarus betrachtet wurde. Darauf stand in alten Zeiten die Todesstrafe. Dieser Beschluß wird also kurz vor Ostern gefaßt.

  Daß wir es in der Totenerweckung des Lazarus mit einem Mysterienvollzug zu tun haben, geht schon aus den Worten hervor, welche der Christus Jesus über die Art seiner Krankheit sagt: >Diese Krankheit führt nicht zum Tode, sie soll das Göttliche in ihm zur Offenbarung bringen, auf daß der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde!< (11,4).

  Darum hat Jesus Lazarus lieb, weil er ihm in seiner seelischen Reife am nächsten steht. Darum kann er an ihm diese Tat der Seelenverwandlung vollbringen, die früher nur im abgeschlossenen Tempelbezirk möglich war: >An Lazarus hat Jesus im Sinne uralter Traditionen das große Wunder der Lebensverwandlung vollbracht. Damit ist das Christentum an die Mysterien angeknüpft. Lazarus war durch den Christus Jesus selbst ein Eingeweihter geworden. Er war aber zugleich der erste christliche und von dem Christus Jesus selbst Eingeweihte. Er war durch seine Einweihung fähig geworden, zu erkennen, daß das in ihm lebendig gewordene >Wort< in dem Christus Jesus Person geworden war, daß also in sinnlicher Persönlichkeitserscheinung in seinem Erwecker dasselbe vor ihm stand, was geistig in ihm offenbar geworden war< (31. Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums).

  Mysterienklänge sind es also, die hier im Johannesevangelium angeschlagen werden, für alle diejenigen vernehmlich, die noch ein Wissen von diesen Zusammenhängen besaßen. Der Logos, den Plato als die Weltenseele erschaute, die am Weltenleib gekreuzigt ist, sie ist in einem Menschen Fleisch geworden >und hat unter uns gewohnt<. Der Verfasser des Johannesevangeliums kann diese Worte sagen aus ureigenster Erfahrung, weil er sie selbst in seiner Auferweckung aus dem Felsengrab von Bethanien erlebt hat.

  Wird durch die Lazaruserweckung das Geheimnis der antiken Mysterien in das Christentum aufgenommen, so werden die Mysterien des Altertums selber zu ihrer Erfüllung und damit zu ihrem Abschluß gebracht. Dies geschieht durch den Opfertod auf Golgatha. Wenn die christliche Tradition von einem >stellvertretenden Tod< spricht, so ist damit auf dieses Mysterium hingewiesen: Der Christus stirbt nicht, um eine Einweihung für sich durchzumachen, sondern für die Menschheit. Die Stufen, die diesem Tod vorangehen, sind die Passionsstufen, wie sie der Myste in den antiken Tempeln als Prüfungsweg durchzumachen hatte. Je stärker aber das Band wurde, das den Menschen mit dem physischen Leib verband, um so schwerer war der Einweihungstod für den einzelnen noch möglich. Eine >Mysteriendämmerung< breitete sich um die Zeitenwende als Stimmung der Trauer, des Zweifels und der Unsicherheit über die antike Mysterienwelt aus. Das Band, das bis dahin die Menschheit mit den geistigen Welten verbunden hatte, drohte zu zerreißen. Wie sollte die Menschheit ohne diese Verbindung mit den göttlichen Welten ihren weiteren Erdenweg gehen?

  Da vollzog sich das Mysterium auf Golgatha als historische Tatsache auf dem Schauplatz der Weltgeschichte. Wie sehr in diese Vorgänge überall Mysterienanklänge hineinspielen, geht aus der Darstellung des Johannesevangeliums hervor, wo Pilatus den Dornengekrönten, mit dem Purpurmantel bekleidet, dem Volk vorführt und die Worte spricht: >Ecce homo!< - Siehe, der Mensch! - Das war eine Stufe auf dem alten Mysterienweg: der dornengekrönte, gegeißelte Mensch, der den Weg zu seiner Vollendung beschreitet. In der Villa di Misteri in Pompeji findet man noch ähnliche Szenen in den Wandgemälden dargestellt. Und sollte Pilatus, der Römer, wenn nicht selbst eingeweiht, so doch nicht Kenntnis besessen haben von diesen Mysterienhandlungen und sie hier mit der überlegenen Ironie des Römers den Juden zur Schau gestellt haben? - Mit Hilfe des wissenden Römers und im Grunde gegen seinen Willen vollzieht sich das Mysteriendrama. Immer wenn es ins Stocken gerät, greift der Verurteilte selber ein, um es zu seiner Vollendung zu bringen. Das letzte Wort am Kreuz besagt, daß das Ziel erreicht ist: >Es ist vollbracht!< - Es ist das Ziel der Mysterien (telestos), wonach die Eingeweihten sich >Telestes< nannten, diejenigen, welche das Ziel erreicht hatten.

  Von diesem Blickpunkt wird das Mysterium von Golgatha zu einem Ersatz für die alten Mysterien, die in dieser Art nicht mehr vollzogen werden konnten. Durch den Hinblick zum aufgerichteten Kreuz auf Golgatha und das Miterleben der Passionsstufen sollte in Zukunft der Mensch das Erlebnis des mystischen Todes und der Auferstehung in sich nacherleben können: >An die STelle der vielen Mysterien sollte das eine, das Ur-Mysterium, das christliche, treten. Jesus, in dem der Logos Fleisch geworden, sollte der Initiator einer ganzen Menschheit werden. Nicht Absonderung Erwählter, sondern Zusammenschluß aller sollte stattfinden. Nach Maßgabe seiner Reife sollte jeder ein Myste werden können. Allen erklingt die Botschaft; wer ein Ohr hat, sie zu hören, der eilt herbei, ihre Geheimnisse zu vernehmen. Die Stimme des Herzens soll bei jedem einzelnen entscheiden. 

  Nicht hineingeführt in die Mysterientempel soll dieser oder jener werden, sondern zu allen sollte das Wort gesprochen werden; der eine vermag es dann weniger stark, der andere stärker zu hören. Dem Dämon, dem Engel in der eigenen Brust des Menschen, wird anheimgegeben, wie weit er eingeweiht werden kann. Die ganze Welt ist ein Mysterientempel. Nicht nur jene sollen selig werden, die in den besonderen Mysterientempeln die wunderbaren Verrichtungen schauen, die ihnen eine Gewähr geben sollten für das Ewige, sondern >Selig sind, die nicht schauen und doch glauben<. Mögen sie auch zunächst im Finstern tappen, vielleicht kommt doch noch das Licht zu ihnen. Keinem soll etwas vorenthalten werden; jedem soll der Weg offenstehen.< (31. Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums).

  Wenn in Kreisen der römischen Kirche heute ein Zurückgehen auf die Quellen des Urchristentums angestrebt wird, um von dorther zu einer Erneuerung des Christentums zu gelangen, so wird man diese Mysterienhintergründe nicht übersehen dürfen, die durch mannigfaltige Symbole noch ins Urchristentums hineinragen. Wie stark das ganze Johannesevangelium auf diesen Mysterienhintergründen beruht, geht schon aus der Begegnung mit Nathanael hervor, gleich im 1.Kapitel, den der Christus >unter dem  Feigenbaum< sitzen sah, bevor ihn Philippus rief, worauf der anfangs Zweifelnde in das Bekenntnis ausbricht: >Du bist der König in Israel< (1,49). Mit diesem Motiv kommen wir nun zu den eigentlichen Zeichen und Symbolen in den Evangelien.

 

Symbole, Gleichnisse und Zeichen in den Evangelien

  Auch im Neuen Testament kann man drei Stufen unterscheiden:  

1. die eigentlichen Symbole, die deutlich einen okkulten Hintergrund verraten;  

2. die Gleichnisworte mit einem bildhaft-imaginativen Charakter;  

3. die Zeichen, auch >Wunder< genannt, die in dieser Art gegenüber dem Alten Testament etwas ganz Neues darstellen. Denn hier verbindet sich ein okkulter Mysterienvorgang, der sich oft auch in Zahlenwerten ausspricht, mit einem realen physischen Geschehen, wodurch der >Mythos< in einer irdischen Tat seine Erfüllung findet.

  Als typisches Symbol der ersten Stufe kann das Symbol des >Feigenbaumes< angesehen werden, das sich in allen Evangelien findet. Doch in welcher Art? Während der Feigenbaum bei Matthäus und Markus (21.+22.Kap) als wirklicher Baum in der Sinneswelt erscheint, den der Christus Jesus verflucht, weil er keine Feigen daran findet: >Nun esse von dir niemand eine Frucht ewiglich!< (Markus 11,14), tritt er im Lukasevangelium in einem Gleichnis auf (13,6). Es ist das Gleichnis vom Weingärtner, der einen Feigenbaum in seinem Weinberg pflanzte. Da er aber keine Frucht daran findet, sagt er zu seinem Knecht: >Siehe, ich bin drei Jahre lang alle Jahre gekommen und habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaume und finde keine. Haue ihn ab!< Worauf der Knecht ihm noch eine Schonzeit geben will: >Herr, laß ihn noch dieses Jahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn, ob er noch Frucht bringt.<

  Der sprituelle Hintergrund offenbart sich am deutlichsten bei Johannes in der Nathanael-Begegnung. Und zugleich die weltoffene Haltung, die den Feigenbaum als Symbol der alten Einweihung nicht ablehnt wie die synoptischen Evangelien, sondern aufnimmt in die christlichen Mysterien. Man sieht daraus, wie verschieden die Blickrichtung der einzelnen Evangelisten ist und damit auch ihr Weg.

  Das >Sitzen unter dem Feigen- oder Bodhibaum<, unter dem auch Buddha seine Erleuchtung empfing, ist ein uraltes Symbol der alten Mysterien. Ein ähnliches Symbol, worauf der Christus weist, ist das des Jonas im Bauch des Walfisches: eine Bild für die Einweihung, wie es sich auch in der Kalewala findet: >Da sagte er zu ihnen: Dies ist eine arge Art; sie  begehrt ein Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona ein Zeichen war den Niniviten, also wird des Menschen Sohn sein ein Zeichen diesem Geschlecht< (Luk.11,29-30).

Jonas, dem Bauche des Walfisches entsteigend, ist ein altes Mysterienbild. Hier führt die Einweihung zum Erleben des Christus (Jung: Psychologie und Alchimie) Rascher Zürich S464


  Zu dieser Stufe gehört auch das Symbol der Fische, das bei den >sieben Zeichen< im Johannesevangelium auftaucht, und der Taube (bei der Jordan-Taufe), worin sich das Bild des Geistes offenbart, der auf Christus herniederschwebt. Es sind Bilder hellseherischer Wahrnehmungen, welche zu den Ursymbolen der Mysterientradition gehören.

  Zu den Realsymbolen, die wie Zeichen in der Sinneswelt auftreten, gehört auch das Symbol der Eselin mit ihrem Füllen, das Jesus den Jüngern weist beim Einzug in Jerusalem: >Gehen hin in den Flecken, der vor euch liegt, und alsbald werdet ihr eine Eselin angebunden finden mit einem Füllen: löset sie los und führet sie zu mir!< (Matthäus 21,2). - Auf alten Kalendern findet man noch das Zeichen des Krebses (die einwickelnde und auswickelnde Spirale) durch das bild einer Eselin mit ihrem Jungen dargestellt. Es ist der Sprung von einer Generation zur nächsten, der ja im Krebszeichen durch die beiden Spiralen veranschaulicht wird. Es ist das Zeichen der Wende, die hier als Wendezeichen sich ankündigt und durch die Christustat vollzogen wird. In solcher Art ist vielfach in den Evangelien die verschwiegene Sprache uralte Symbole hineingeheimnißt, die durch die Christustat erfüllt werden.

  Wenn wir hier von >Realsymbolen< sprechen, so sind damit Symbole gemeint, die nicht als künstliche Figuren oder Zeichen auftreten, sondern durch die natürliche Schöpfung selbst gegeben sind, welche aber vom Evangelisten bei seiner Schilderung so gebraucht werden, daß ihre okkulte Bedeutung sich aus der ganzen Komposition ergibt. Sie stehen nich zufällig da: es ist daher wichtig, ob Jesus >auf dem Berge< oder >auf dem Meere< ist. Man kann verfolgen, daß immer, wenn eine Reise übers Meer gemacht wird, eine Zäsur gegeben ist, womit eine inner Entwicklungsperiode im Leben der Jünger sich abschließt und eine neue beginnt, wie ich es besonders in meinen Evangelienbüchern über das Lukas- und das Markusevangelium nachgewiesen habe.

  Dies gilt auch von der Menschwerdung Christi. Sie vollzieht sich in drei Schritten, die in der symbolischen Zeichensprache der Evangelien wiedergegeben sind. Der erste Schritt, den das Christuswesen bei der Taufe am Jordan vollzieht, ist der Schritt vom Meer aufs Land. Wenn die Alten vom >Okeanos< sprachen, der die Erde rings umgibt, so war diese Vorstellung weniger primitiv, als sich der heutige Mensch denkt. Denn die Elemente wurden damals nicht nur physisch vorgestellt, sondern zugleich in ihrer elementarisch-geistigen Wesenheit erlebt. Auf dem Meere wird die Seele geweitet, sie ist näher mit dem Kosmischen verbunden als auf dem Lande. Daher berichtet Markus, daß die Gleichnisreden in ihrem bildhaften Charakter meist vom See aus gesprochen werden. So zieht die kosmische Christuswesenheit bei der Taufe aus dem Bereich der ätherischen Bildekräfte (>Meer<), in die irdischen Hüllen des Jesus von Nazareth und vertausch die kosmische Himmelsheimat mit der festen Erde.

  Die neue Heimat, die der Christus Jesus nach der Taufe sich erwählt, ist Kapernaum, die Stadt am Meere. Sein Auge bleibt aufs Meer gerichtet als Bild seiner kosmischen Heimat. Der weitere Schritt führt vom Meeresgestande auf den Berg. Hier findet die Berufung der Zwölf und ihre Einsetzung statt: die Neuordnung des Schicksalskreises, die fortan auf diesen zwölf Säulen beruht. Damit wird die alte Gattungsordnung der zwölf Stämme Israels durch die neue Ordnung ersetzt, welche durch die Repräsentanten des Ich von den zwölf Jüngern getragen wird. So wie der Mensch auf dem Meere im Element der ätherischen Bildekräfte sich aus seinen festen irdischen Leibeszusammenhängen lockert und es ihm leichter wird, in das imaginative Bild-Erleben einzutauchen, so fühlt er auf Bergeshöhen den Wind der Weiten und erhebt sich zur Sphäre der Inspiaration. Der >Geisteswind< erfaßt uns und hebt uns über uns hinaus.

  Darauf folgt der vierte Schritt: der Schritt ins Haus. >Und sie kamen nach Hause...< (Markus 3,20). Und was geschieht hier? Die Seinen halten ihn von Sinnen! >Und die Seinen gingen hin, um ihn zu sich zu nehmen; sie sagten: Er ist von Sinnen!< - Der vom Berg herabkommende Menschensohn, dessen Geist sich mächtig entfaltet hat und mit der Kraft der Schöpfergeister (Exusiai) wirkt, er wird von den Seinen als von Sinnen bezeichnet. Die bürgerliche Ordnung der Menschen und Verwandten nimmt ihn nicht auf. Die Dämonen erkennen ihn, die elementaren Naturgewalten hören seine Stimme... die nächsten Anverwandten halten ihn für verrückt! Rudolf Steiner hat diesen Schritt >ins Haus< in seinen Vorträgen über das Markusevangelium folgendermaßen gedeutet: >Una am schwersten haben es die okkulten Kräfte, wenn man bei sich ist, in seinem eigenen Hause, gleichgültig, ob man schließlich allein zu Hause ist oder ob die Angehörigen dabei sind. Denn während es bei einem Menschen, der längere Zeit am See gelebt hat, verhältnismäßig leicht ist... zu glauben, daß er durch den Schleier der Körperlichkeit Imagination hat und während es leichter ist bei einem Menschen, der in den Bergen lebt, daran zu glauben, daß er höher hinaufsteigt, so hat man bei einem Menschen, der zu Hause ist, bloß das Gefühl, daß er außer seinem Leibe ist, daß er >von Sinnen< ist. Nicht daß er die okkulten Kräfte nicht entwickeln könnte, aber es stimmt nicht zu seiner Umgebung, es scheint in bezug auf die Umgebung nicht so natürlich zu sein wie in den entsprechenden anderen Fällen, am See oder auf dem Berge<.

  In der Tat lassen sich drei, beziehungsweise vier Stufen auf dem Individuationsweg unterscheiden. Es sind die Stufen von Meer, Land und Berg, bis in Haus. Auf der ersten Stufe des Meeres ruht der Einzelne noch geborgen in den Blutsbindungen seines Volkes und seiner Familie. Der zweite Schritt löst ihn aus diesen Bindungen, je mehr das selbstänidge Ich in ihm erwacht. So kommt er immer mehr in die Heimatlosigkeit, in die Einsamkeit, in die >Wüste<. Es liegt im Wesen des Christusprinzips, daß es den Menschen nicht nur aus den alten Gattungsbindungen löst, sondern ihm zugleich die Kraft gibt, in eine höhere Gemeinschaft zu erwachen. Diese neue Gemeinschaft wird nicht vom Blut, sondern vom Geist aus gebildet: Im Pfingserlebnis steht es als das hehre Ziel der Menschheitsentwicklung vor uns. Was als höhere Wahrheit einströmt in die Jünger und ihre Herzen entflammt: das ist das geistige Band, das jeden über sich selbst hinausführt und mit dem Geist verbindet. Aus der gemeinsamen Erkenntnis der Wahrheit wölbt sich der Tempel des neuen Bruderbundes im Zeichen des Heiligen Geistes. Dies ist ein >Berg-Erlebnis<.

  Liest man die Evangelien vor diesem Hintergrund, so bemerkt man erst, wie feinsinnig die Komposition ist und wie manches sich aus diesen >Realsymbolen< der Umgebung ergibt, was den Gang der Handlung verdeutlichen kann. Man wird bei diesem Studium mit der Zeit auch aufmerksam auf das eigene Leben mit seinen verschwiegenen Hintergründen und seinen >Schicksalskulissen<, die auch eine okkulte Sprache zu reden beginnen...

  Dasselbe imaginative Bildelement durchzieht die Gleichnisreden, von welchen Lukas allein 21 in drei Kompositionsfiguren erzählt (32. Fred Poeppig: Das Lukasevangelium, Die Kommenden Freiburg). Zunächst ein Wort über den Bildcharakter der Gleichnisse. Der Christus antwortet auf die Frage der Jünger: >Warum sprichst du zu ihnen (dem Volk) in Gleichnissen?< mit den folgenden Worten: >Ihr habt die Gabe, die Mysterien vom Reiche der Himmel denkend zu verstehen. Sie haben diese Gabe nicht. Dem, der sie hat, wird durch den Gedanken gegeben, so daß er die Fülle hat. Dem, der sie nicht hat, wird durch den Gedanken auch das genommen, was er hat. Deshalb spreche ich in Bildern zu ihnen; denn sie haben Augen und sehen doch nicht; sie haben Ohren und hören doch nicht; die Kraft des gedanklichen Verstehens besitzen sie nicht... Das Herz der Menschen ist stumpf geworden... Erst wenn sie die Richtung ihres Lebens umkehren, kann ich sie heilen.< (Matthäus 13,10-15 Übersetzung nach Lic.Bock).

  Noch heute begegnet man in Asien Menschen mit einem alten instinktiven Bildwahrnehmen, weshalb sich der Orientale gern in Bildern ausdrückt. Im Volke lebte zur Zeit Christi noch eine solche abklingende Bilderwelt, an die sich die Gleichnisbilder wenden. Was als tieferer Inhalt in diesen Bildern lebte, das klang weiter in den Seelen nach und offenbarte sich im nächtlichen Traumgesicht in seiner tieferen Wahrheit. Der Gedanke hingegen vertreibt das hellseherische Bild-Erleben. Aus diesem Grunde wachten die Mysterienhüter streng über die Geheimhaltung der Mysteriengeheimnisse, da sie den Unvorbereiteten nur in Verwirrung bringen mußten. An ihnen erfüllte sich das Wort: >Wer da nicht hat, dem wird auch das noch genommen, was er hat!< -

  Die Gleichnisbilder sollten das traumhaft in den Seelen schlummernde Bildelement ansprechen, wie es in den ätherischen Lebenskräften vorhanden ist, um die Menschen zu erwecken. Daher enthalten sie so viele Bilder von den sprossenden Lebenskräften - wie das vom Sämann, vom Senfkorn, vom Feigenbaum, vom Weinberg, vom guten und vom schlechten Baum. Es sind die Wachstumskräfte, die mit diesen Gleichnisbildern angeregt werden sollen. Die Seele ist der Mutterschoß, der die Samenkörner empfängt, um neue Frucht zu gebären. Auch in diesen Bildern offenbaren sich Urbilder des schöpferisch-geistigen Lebens, die in der Seele lange noch nachklingen.