Anhang III
Rudolf Steiner:
"Geschichte der Menschheit im Lichte der Geisteswissenschaft"
Vortrag vom 12.3.1920, Stuttgart, in GA 335, Hans-Erhard Lauer weist auf diesen Vortrag für das "Umgekehrte biogenetische Grundgesetz" bzw. "Historiogenetische Grundgesetz",
(siehe Hans Erhard Lauer: "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung" Band I-III, gelbe Markierung von kk hinzugefügt)
Sehr verehrte Anwesende!
Gedanken und seelisches Ringen, die vor verhältnismäßig noch kurzer Zeit die Angelegenheiten von einzelnen sich durch ihre besondere Bildung absondernden Menschen waren, sie müssen notwendigerweise durch die ganze Entwicklung der Menschheit in der Gegenwart heute eine allgemeine Angelegenheit werden. Von einer solchen allgemeinen Angelegenheit, die früher mehr oder weniger eine Gedankenangelegenheit einzelner weniger war, von dem Gewinnen eines Verhältnisses zu den Eigentümlichkeiten der einzelnen über die Erde hin lebenden Völker habe ich mir erlaubt, vorgestern hier zu sprechen. Heute möchte ich von einer anderen solchen Angelegenheit sprechen, ich möchte sprechen von dem, was unter dem Einfluß unserer notwendig nach Neuem strebenden Menschheit werden soll aus dem, was man Geschichte, Entwicklungsgeschichte der Menschheit in weitestem Sinne des Wortes nennen kann.
Als vor wirklich recht kurzer Zeit die Frage: Wie haben wir uns eigentlich zu der Menschheitsgeschichte zu stellen? noch mehr oder weniger eine Gelehrtensache war, hat der ausgezeichnete Kunstschriftsteller, Kunstdenker und Kunstbetrachter Hermann Grimm, den ich schon öfter hier in diesen Vorträgen zu erwähnen mir erlaubte, einen Ausspruch getan, der in einer gewissen Beziehung für die Bewertung gerade unserer heutigen Geschichtsbetrachtung außerordentlich bedeutsam ist. Hermann Grimm sagt, indem er charakterisieren will dasjenige, was man heute vielfach als Geschichte betrachtet, namentlich als Geschichte schreibt, die Menschheit fühle heute, daß sie mit dieser Geschichte einen viel zu großen Ballast mit sich schleppe.
Wenn wir auch gewiß bewundern müssen dasjenige, was in den letzten Jahrzehnten durch allerlei Ausgrabungen und Entdeckungen von äußeren Dokumenten der Menschheit sich geoffenbart hat, (S102:) so müssen wir doch sagen, das angesammelte Material, das notizenhaft angesammelte Material in der Geschichte, es entbehrt heute in der geschichtlichen Betrachtung der Menschheit der großen Gesichtspunkte.Und diese großen Gesichtspunkte sind es doch einzig und allein, welche der Geschichte einen Lebenswert geben können. Denn, wann hat die Geschichte einen Lebenswert für den Menschen? Sie hat ihn nur dann, wenn dasjenige, was in ihr gedacht werden kann, was in ihr angeschaut werden kann an vergangenen Menschheitsschicksalen und menschheitlichen Gestaltungen, ein Ergebnis liefern kann für unsere eigene Seele, etwas, was unser eigenes Gemüt erwärmt, damit aus diesem erwärmten Gemüt sich Kräfte entwickeln können, die geeignet sind, uns richtig in das Leben hineinzustellen. In dieser Beziehung müssen wir schon sagen, daß wir einen Ballast mitschleppen in unserer gegenwärtigen geschichtlichen Betrachtung und daß die großen Gesichtspunkte, die wir gerade heute brauchen gegenüber den brennendsten Bedürfnissen der Gegenwartsmenschheit fehlen.
Nicht, als ob die geschichtliche Betrachtung früherer Zeiten nicht in ihrer Art solche großen Gesichtspunkte gehabt hätte. Nicht, als ob wir nicht würdigen könnten, was es bedeutete für den jungen Mann, für das junge Mädchen, kennenzulernen die großen historischen Gestalten des Altertums und ihnen nachzueifern, zu bewahrheiten den Spruch, den der Dichter gebraucht: "Ein jeglicher muß seinen Helden wählen, dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet". Aber die Art und Weise, solche einzelne Gestalten als Vorbilder zu wählen, und das, was von ihnen erprobt ist, in den eigenen Willen aufzunehmen, das hing ja doch davon ab, daß man in einer Zeit lebte, in der lebendige Bewunderung ersprießen konnte für Persönlichkeiten und für rechtliche oder staatliche oder kirchliche Gestaltungen, die in jenen Zeiten blühten, aus denen wir heute doch heraus sind. Etwas radikal gesprochen könnte man sagen: Wie können sich heute in derselben Weise wie früher die jungen Menschen erwärmen für Alexander den Großen, da ihnen doch mehr oder weniger gleichgültig geworden ist so etwas, was Alexander der Große selber als sein Ideal betrachtet hat. Es (S103) mußte in früheren Zeiten eine große Masse der Menschheit hinschauen zu einzelnen, welche die Angelegenheiten dieser Menschheit innerhalb umfassender Reiche besorgten, die sie erobernd begründeten, damit die Geschichte in der alten Form mit ihren großen Gesichtspunkten auf diese Menschheit, namentlich auf den Willen der Menschen wirken konnte.
Das ist ja die bezeichnendste Tatsache der neueren Geschichte, daß teilnehmen müssen an allem öffentlichen Leben die Angehörigkeiten der breiten Massen der Menschheit, daß alles dasjenige, was überhaupt menschliches Antlitz trägt, herbeikommen will und die Angelegenheiten der Menschheit als die eigenen Angelegenheiten betrachten will. Das ist dasjenige, was schließlich als berechtigter demokratischer Geist durch unsere Gegenwart flutet. Menschen nehmen da teil an den großen öffentlichen Angelegenheiten des Lebens, denen das mehr oder weniger gleichgültig geworden oder wenigstens interesselos geworden ist, was die Angehörigen früherer Zeitalter begeistert hat. Da liegt vor allen Dingen der Punkt - weil sich die geistigen Interessen der Menschheit demokratisch über alle Menschen ausgebreitet haben -, da liegt der Punkt, wo die Notwendigkeit auftritt, zu einer neuen Art Geschichtsbetrachtung zu kommen. Und für denjenigen, der unbefangen die Ereignisse der Gegenwart wirklich auf sich wirken läßt, namentlich für denjenigen, der die Not der gegenwärtigen Zeit so recht empfinden kann, für den gehört unter die mancherlei anderen ideellen oder idealen Fragen, unter die großen geistigen Fragen der Gegenwart die: Wie bringen wir schon in dem Kinde und dann in dem jungen Menschen die Betrachtung unserer Vorfahren zu einer solchen Wirkung, zu einem solchen Erlebnis, daß der Wille gestählt werden kann, daß die Orientierung im Leben klargemacht werden kann gerade durch den Einfluß einer geschichtlichen Betrachtungsweise. So verwebt sich das, was uns als Mensch überhaupt interessiert - der Geist der Entwicklungsgeschichte unseres eigenen irdischen Geschlechts -, mit den großen Fragen der Erziehung, der Pädagogik, der Didaktik, und so verwebt sich im Grunde genommen alles wiederum mit der großen sozialen Frage der Gegenwart. (S104:) Und es handelt sich darum, daß wir ja, wie es vorgestern und in den Vorträgen der vorigen Woche gesagt worden ist, im Zeitalter des Intellektualismus leben, jenem Zeitalter, in dem der Verstand eine Hauptrolle spielt bei der Ordnung der menschlichen Angelegenheiten. Dieser menschliche Verstand ist in seiner Nüchternheit, seiner Trockenheit nicht geeignet gewesen, die Geschichte so zu schreiben, daß sie das wirklich werden kann, was sie im Sinne des eben Gesagten werden muß, wenn sie den rechten Wert für die Menschheit erhalten soll. Da gerade glaubt Geisteswissenschaft, das ihrige tun zu können auch zu einer Neubildung der geschichtlichen Betrachtungsweise.
Geisteswissenschaft geht ja davon aus, Erkenntnisse zu gewinnen durch die Steigerung des inneren Lebens des Menschen. Dasjenige, was unsere Erkenntnis und unsere anderen menschlichen Fähigkeiten im gewöhnlichen Leben sind, das soll durch Geisteswissenschaft ausgebildet werden zu einem höheren Schauen und zu einem durch dieses Schauen angeregten erhöhten Seelenleben, das soll so ausgebildet werden, wie die Fähigkeiten des Kindes ausgebildet werden von einer niedrigeren Stufe zu den Fähigkeiten des erwachsenen Menschen; aus dem Innern des menschlichen Wesens sollen aufsprießen die darin schlafenden Fähigkeiten. Ein erkraftetes Denken, ein in strenge Selbstzucht genommenes Wollen soll herausholen aus dem tiefsten Innern des Menschen Erkenntnis- und Schaukräfte, welche in jene geistigen Tiefen der Welt und des Menschendaseins hineinblicken können, von denen sie (ohne diese Fähigkeiten) höchstens eine Ahnung haben können.
Das ist das Eigentümliche dieser Geist-Erkenntnis, wie sie hier gemeint ist, daß sie den ganzen Menschen ergreift. Wenn wir uns sagen können, daß mit ihrem Streben nach Klarheit die intellektualistische Erkenntnis, die so groß geworden ist in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, nicht nur unser Erkenntnisleben beherrscht, sondern auch unsere Lebenspraxis, wenn wir uns sagen können, daß sie vorzugsweise etwas ist, was den menschlichen Kopf, das rein intellektuelle Gebiet des Menschen beansprucht, so müssen wir sagen, daß Geisteswissenschaft nicht weniger nach (S105:) voller Klarheit strebt, nach innerer Logik strebt, nach lichtvollen Begriffen strebt, daß aber diese Begriffe, weil sie aus zuvor geübtem Denken und zuvor geübtem Willen des Menschen hervorgehen, die Kräfte des ganzen Menschen in Anspruch nehmen. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, aus dunklen Gefühlen heraus schöpfen wollte, daß diese Geisteswissenschaft irgend etwas gemein haben wollte mit all den nebulosen, mystischen Strömungen, mit denen man sie so leicht verwechselt. Nein, ihr Weg soll ein solchen sein, daß sie über das Geistige klare Ideen und Erkenntnisse gewinnt von solcher Art, wie sie nur je klar und deutlich und exakt in der Naturwissenschaft angestrebt werden. Aber diese Ideen sollen aus einer solchen Entwicklung des menschlichen Seelenlebens ersprießen, daß sie - trotz ihrer Klarheit, trotz ihrer Exaktheit - durch ihre Kraft den ganzen Menschen erfüllen, den ganzen Menschen in Anspruch nehmen. Während wir in der Regelt nicht engagiert sind mit dem Gemüt und Gefühl, wenn wir die heutigen, naturwissenschaftlich formulierten Weltengesetze erkennen, während aus diesen naturwissenschaftlich formulierten Weltgesetzen wenig Antriebe für den Willen ersprießen, kann man sagen, daß dasjenige, was auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft erkannt wird über die Weltzusammenhänge, so recht das Gemüt des Menschen durchpulst und ihn zu einem anderen macht, daß sich das ergießt in den Willen, damit der Mensch sich orientiert und hineinstellt in die Lebenspraxis, damit er das einzelne tun kann in Übereinstimmung mit der großen Mission des Menschen auf der Erde.
Wenn man in einer richtigen Weise versteht, um was es sich dabei handelt - ich habe die Einzelheiten, wie der Mensch zu einer solchen Erkenntnis gelangt, gerade hier in diesen Vorträgen oftmals charakterisiert -, so wird man das folgende leicht einsehen können.Wenn man zunächst das einzelne Menschlich-Leibliche betrachtet, tut man es eigentlich nur durch eine Betrachtung des Gegenwärtigen. Betrachtet man die menschlichen Leibesglieder, laienhaft oder wissenschaftlich, so, wie der menschliche Leib sich präsentiert, so betrachten wir ihn eigentlich als etwas, was in der Gegenwart (S106:) dasteht, auch wenn dieser menschliche Leib in sich die Spuren seiner eigenen Vergangenheit trägt. Wir nehmen wenig Rücksicht, wenn wir einen Menschenleib noch so wissenschaftlich betrachten, auf dasjenige, was dieser Leib aus der Vergangenheit bewahrt. Rücken wir zum gewöhnlichen seelischen Leben vor, da wird es schon anders, da betrachten wir nicht bloß das Gegenwärtige im Menschen, da schauen wir als Mensch in unsere eigene Vergangenheit hinein, bis nahe zur Geburt hin. Da fassen wir alles gedächtnismäßig zusammen, was wir in der Hauptsache erlebt haben. Da müssen wir wissen, daß wir seelisch krank wären, wenn wir nicht könnten in gehöriger Weise ausdehnen unser Gedächtnis über unsere Erlebnisse. Da dehnen wir das Interesse vom gegenwärtigen Augenblick über unsere nächste Vergangenheit aus. Ja, wir dehnen es in anderer Weise aus dadurch, daß wir aus dieser Vergangenheit die Impulse und die Kräfte eben des Vergangenen für das Wirken in unserer Zukunft gewinnen wollen. Wir verbinden mit der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft. So ist ein gewisser Aufstieg in der Betrachtungsweise schon im gewöhnlichen Leben zu sehen, wenn wir von der Anschauung des Leiblichen hinaufsteigen zu den Erlebnissen des Seelischen.
Wenn wir nun innerhalb dieses Seelischen fortschreiten und uns so entwickeln, daß wir das Denken erkraften, vom Denken zum Schauen kommen, vom Willen zum innerlichen, geistigen Erleben, dann stellt sich noch etwas ganz anderes heraus. Wenn wir gewissermaßen unsere eigenen wenigen Jahrzehnte, die wir hier als Erdenmensch zu durchmessen haben, überschauen, indem wir auf unsere individuelle irdische Entwicklung vom Kinde bis zum erwachsenen Menschen hinblicken - überblicken unser Dasein im gewöhnlichen Seelenleben -, so tritt ein neues Element unseres ganzen Seins in unser Inneres herein, es tritt unsere eigene Vergangenheit in unser Gedächtnis. Wenn wir unseren Menschen weiter ausdehnen durch geistiges Erkennen, wenn wir über das gewöhnliche, irdische Erkennen hinaus uns entwickeln zum Anschauen des Geistigen, dann tritt der Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte der ganzen Menschheit in unsere Schau herein. So paradox (S107:) das vielen Angehörigen der gegenwärtigen Menschheit heute noch erscheint, so muß es doch gesagt werden: Viel wird davon abhängen für eine heilsame, gedeihliche seelisch-geistige Entwicklung in die Zukunft hinein, daß man das durchschaue, wie der Mensch - indem er einfach innerlich sein ganzes Menschliches ergreift, seine Kraft, seine Erkenntniskraft fortsetzt - eins wird mit der ganzen Menschheit. So wird das, was wird durch äußerliche Dokumente über die Geschichte erforschen können, ergänzt durch dasjenige, was wir innerlich durch unsere so eroberte Erkenntnis erkennen können: unseren Zusammenhang mit der ganzen Menschheit, als deren Glied wir uns dann erst recht fühlen.
Und hier liegt der Weg, den ich heute allerdings nur skizzenhaft andeuten kann: geisteswissenschaftlich zunächst zu einem umfassenden geschichtlichen Gesichtspunkte aufzusteigen, der dann weiterführen kann wie ein roter Faden durch die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. In der Naturwissenschaft, die ja, und zwar mit einem gewissen Recht, in der neueren Zeit vor allem auch das Leiblich-Physische des Menschen umfaßt, spricht man von dem sogenannten Biogenetischen Grundgesetz. Es ist berühmt geworden im Zusammenhang mit der Deszendenz-Betrachtung der neueren Zeit. Ich brauche es hier nur in wenigen Worten zu charakterisieren. Es besagt, daß der Mensch, während er sich vor seiner Geburt im Mutterleibe als Embryo entwickelt, wie wiederholend alle Stadien der Entwicklung durchmacht, welche sich darstellen in den einzelnen tierischen Formen. Die Entwicklung beginnt, indem der Mensch zuerst niederen Tieren ähnlich ist, indem er Fischform hat. Er entwickelt sich dann durch höhere Tierformen hindurch, bis er allmählich erst annimmt das menschliche Wesen, das dann das Licht der Welt erblickt. Man sagt dazu: Die Entwicklung des Menschen ist eine Wiederholung derjenigen physischen, den Tieren ähnlichen Formen, die der Mensch durchgemacht hat, bevor er seine heutige menschliche Gestalt angenommen hat. Die Entwicklung, die der Mensch von der Empfängnis bis zur Geburt durchmacht, ist eine kurze Wiederholung desjenigen, was der Mensch im Laufe von, wie man sagt, Jahrmillionen in seiner Formentwicklung durchgemacht hat. (S108:)Man hat nun versucht, mit einer äußeren Verstandesbetrachtung, man kann es nicht anders nennen, anzuknüpfen an dieses naturwissenschaftliche Ergebnis, über dessen größere oder geringere Berechtigung ich mich hier nicht ergehen will. Man hat auch versucht, das Geistig-Seelische, das Geschichtliche des Menschen in einer ähnlichen Weise zu betrachten. Man will dasjenige, was sich als Kultur der Gegenwart entwickelt, was den Menschen der Gegenwart als zivilisierten Menschen, als Menschen mit einer gewissen Bildung auszeichnet, so betrachten im Zusammenhang mit Vergangenem, wie man die embryonale Entwicklung im Zusammenhang mit Vergangenem betrachtet. Und man ist sogar dazu gekommen, nachforschen zu wollen, wie die Urkulturen gewissermaßen in der Kindheit des Menschen ihre besondere wiederholentliche Ausprägung gewinnen, wie dann, wenn der Mensch so weiter, bis er - nachdem er von der Geburt durch die Kindheit die früheren Epochen wiederholt hat -, sich heraufentwickelt zu dem, was er jetzt als ein in dieser Zeit lebender Mensch eigentlich ist.
Geisteswissenschaft ermöglicht eine gewisse Selbsterkenntnis des Menschen gerade dadurch, daß man durch seine geistigen Übungen, durch die Erkraftung der Seelenkräfte ein intimeres Urteil über den Menschen gewinnt, denn dadurch kann man den menschlichen Lebenslauf, wie er sich darbietet an uns selbst oder an anderen, genauer betrachten, als es der heutigen Oberflächlichkeit möglich ist oder als man es versucht in der heutigen Seelenwissenschaft oder dergleichen. Und da stellt sich dann heraus, daß der Mensch, wenn er durch Geisteswissenschaft zur Möglichkeit einer wahren Selbsterkenntnis vorrückt, durch diese Selbsterkenntnis eigentlich etwas anderes gewinnt, als man gewöhnlich heute noch voraussetzt. Diese Selbsterkenntnis durch Geisteswissenschaft liefert eigentlich viel Erstaunliches über die Kindheit; wenn auch nicht gerade mit den Methoden der Naturwissenschaft, aber aus dieser Geisteswissenschaft ist über die Perioden der Kindheit mancherlei außerordentlich Wichtiges zu sagen. Allein das ist gerade wichtig für die Erneuerung der Pädagogik, daß es nur bedarf einer genauen und (S109:) ehrlichen Anwendung der gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten, so wird man das sich entwickelnde Kind verstehen können und ein ordentlicher Lehrer und Erzieher dieses Kindes werden können, wenn man sich hier nach geisteswissenschaftlichen Prinzipien richtet, auch wenn selber nicht ein Schauen erworben hat. Man kann ein tüchtiger Lehrer sein im Sinne der Geisteswissenschaft, wenn man nur den ehrlichen Willen hat, intim auf die Entwicklung des Menschlichen im Kinde einzugehen, auch ohne schauen zu können.
Aber in bezug auf die älteren Daseinsstufen des individuellen Menschenlebens ist es nicht so. Das, was hier das wesentliche ist, wird man eigentlich erst gewahr, wenn man seine Erkenntnisfähigkeiten so erkraftet, wie es innerhalb der Geisteswissenschaft geschehen kann. Dann merkt man, daß ungefähr vom 30. Jahr des menschlichen Lebens an in dem Menschen innerliche Fähigkeiten schon da sind, aber kaum angedeutet; man merkt, daß sie gewissermaßen intim herauftreten in das Seelenleben aus unbekannten Tiefen, daß sie aber zunächst im gewöhnlichen Leben so schwach sich kundgeben, daß man sie nicht recht handhaben kann - sie sind so schwach, daß sie übertönt werden von dem, was durch die äußeren Angelegenheiten der Welt auf den Menschen einstürmt. Man muß schon recht intim beobachten, um zu sehen, was da im höheren Lebensalter des Menschen fortwährend im Seelenleben auftauchen will und sich ausnimmt nicht wie seine ursprüngliche Gestalt, sondern wie wenn es der Nachklang von etwas ganz anderem wäre, als es jetzt ist. Und sieht man genauer zu, so entdeckt man durch die geistige Anschauung etwas ganz Merkwürdiges: Will man die Naturgrundlage des Menschen betrachten in ihrem Zusammenhang mit den vorgeschichtlichen Formen, die der Mensch durchlaufen hat, dann muß man sogar auf die embryonale Entwicklung, auf die der Kindheit vorangehende Entwicklungsepoche des Menschen sehen, man muß an den Anfang des Lebens gehen. Will man aber die geschichtliche Entwicklung der Menschheit betrachten, dann muß man auf die Endjahre der individuellen menschlichen Entwicklung sehen. Dann muß man auf die intimen Fähig-(S110)keiten sehen, die heute im Innern der Seele wie durchhuschen, die gar nicht richtig herauskommen. Sie sind ebenso nur Rudimente, Andeutungen von etwas Vorhergegangenen und geschichtlich Vergangenem, wie heute die andeutenden Formen der embryonalen Entwicklung im Mutterleibe jene andeutenden Formen sind von dem, was entwicklungsgeschichtlich vergangen ist. Für die Naturentwicklung des Menschen muß man an den Anfang des Lebens gehen; für die geschichtliche Entwicklung muß man durch Schärfung der Erkenntniskräfte aus der Geisteswissenschaft sich den Blick aneignen für das Ende des menschlichen Lebens.
Sucht man zu durchdringen dasjenige, was einem, ich möchte sagen wie ein schwaches Abendrot im heutigen Menschentum entgegentritt, wann man die Dreißigerjahre überschritten hat, dann lernt man in diesen Schatten, die da aufhuschen im Seelenleben, das erkennen, was einem erst verständlich macht das andere, das herüberklingt aus längstvergangenen Zeiten der Menschheitsentwicklung. Man blickt dann auf das hin, was man vorzeitliche Kulturen nennt, ja man schärft sich sogar den Blick für das Vorhistorische, das nur seinen letzten Nachklang in dem Historischen aufgezeichnet hat; man läßt von der Vedanta-Philosophie der Inder, von den Veden den Blick zurückschweifen zu dem, wovon sie abstammen, abstammen müssen, denn sie zeigen sich nicht als Ursprungsprodukte, sondern als letzte Ergebnisse, und man lernt erkennen, worauf jenes merkwürdige Kraftelement beruht, das die uralte indische Kultur, diese erste Morgenröte einer Erdenkultur, durchströmt hat. Man findet eine Verwandschaft mit dem, was schattenhaft im menschlichen Alter lebt, zu dem, was damals in der Menschheit in Jugendfrische gelebt hat und die Kultur der Urzeiten besorgt hat. Man lernt dann nach und nach erkennen die geistige Umkehrung des biogenetischen Grundgesetzes in der Natur. Man lernt erkennen, wie in jenen alten Zeiten, in die man doch zurückgehen muß, wenn man die Entwicklungsgeschichte der Menschheit verstehen will, sich der Mensch bewahrte bis in sein höchstes Alter hinauf die leibliche Entwicklungsfähigkeit, mit der eine geistig-seelische Entwicklungsfähigkeit verbunden war. (S111) Wir machen heute in unserer Kindheit einen wichtigen Sprung, auch für unser Seelenleben, so um das siebente Jahr herum, wenn der Zahnwechsel eintritt, da ist eine wichtige Entwicklungsepoche des kindlichen Lebens abgeschlossen. Der Leib macht eine Metamorphose durch, und die geistig-seelische Entwicklung begleitet diese Metamorphose. Und wiederum, wenn die Geschlechtsreife eintritt, macht der Lei eine Metamorphose durch, aber auch die geistig-seelische Verfassung des Menschen begleitet diese leibliche Metamorphose. Der Mensch hat dasjenige, was er da geistig-seelisch entwickelt in diesen Lebensaltern, einfach dadurch, daß auch sein Leib diese Entwicklung durchmacht. Dann verschwindet für uns Menschen schon bald die Möglichkeit, solche Umwandlungen noch wahrzunehmen, solche Umwandlungen auch nur zuzugeben. Zwar ist sehr deutlich, daß wir noch eine Umwandlung durchmachen im Beginne der Zwanzigerjahre, sie ist aber schon intimer, jedoch noch deutlich vorhanden. Aber diejenige, die dann am Ende der Zwanzigerjahre eintritt, und gar diejenigen, die dann noch später eintreten, sie sind eigentlich nur schattenhaft vorhanden. Und nur derjenige der durch Geisteswissenschaft den Blick schärft, der merkt, wie diese Schatten der Umwandlungen aufsteigen, jene Umwandlungen, die aber vorhanden waren in voller Deutlichkeit in früheren Entwicklungsstadien der Menschheit. So wie wir heute nur noch in der Kindheit den Übergang durch den Zahnwechsel und durch die Geschlechtsreife leiblich und seelisch zugleich erleben, wie wir dadurch, daß wir natürliche Menschen sind, zugleich eine seelisch-geistige Entwicklung durchmachen und uns gleichsam als ganzer Mensch einig fühlen in unserer Entwicklung - während später sich unser Seelisch-Geistiges abtrennt und eigene Wege geht -, so hat der Mensch in früheren Entwicklungsepochen der Erde deutlich spürbar mit dem Leiblichen zusammengehende geistig-seelische Metamorphosen durchgemacht.
Und wenn wir das einmal erfaßt haben, wenn wir einmal erfaßt haben, wie der Mensch der ersten geschichtlichen Periode, die wir verfolgen können, auf der Erde ganz in seinem Leibe lebte, wie er das miterlebte bis ins höchste Alter hinein, was in seinem Leibe (S112:) war, dann verstehen wir, daß eine so gänzlich andere Sprache gesprochen wird in den ältesten Dokumenten, die von der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit sprechen. Dann verstehen wir auch die Frische, mit der Weisheitsvolles in diesen alten Dokumenten uns entgegentritt. Dann verstehen wir das, wie damals etwas Poetisches ausgegossen war über dasjenige, was wir heute nur in abstrakter Philosophie hervorbringen; dann verstehen wir, wie ein Konfuzius die höchsten Weisheitssprüche hervorbringt, wenn wir wissen, daß das, was wir nur in der Kindheit erleben, in jenen Zeitaltern auch dann erlebt worden ist, wenn das Haar schon beginnt grau zu werden. Der Mensch erlebte auch dann noch sein Leibliches mit. Er sprach nicht bloß aus einem mehr abstrakten Seelisch-Geistigen heraus, er sprach aus vollem Blute heraus die abstraktesten Angelegenheiten der Menschheit aus. Das ist es, was uns entgegenströmt nicht bloß aus den Schriften, was auch überliefert und von dem abgelauscht ist, was öffentliche Angelegenheiten dieser Urmenschheit war.
Und wir fühlen uns, wenn wir zurücksehen, als ein Glied dieser ganzen menschlichen Entwicklung, dieser Entwicklung der Menschheit, wir fühlen, was es heißen mußte, daß in diesen Zeiten der Mensch, trotzdem er alt wurde, Kind blieb, und alles das wie ein Kind erlebte, was man heute nüchtern, trocken im Alter erlebt. Man begreift, wie damals das ganze innere Seelenleben eine andere Färbung hatte, man begreift, daß das Zusammenleben der Menschen so geartet war, daß der kindliche, der jugendliche Mensch anders zum alten Menschen emporsah, als wir das heute können. Denn der jugendliche Mensch konnte sich sagen: Wenn ich selber alt werde, wird aus meinem Innern etwas emporquellen, was man nur erleben kann, wenn man alt wird; man kann sich freuen auf das Altwerden, denn dieses Altwerden gibt einem etwas an Freude, wozu man eben alt werden muß, um es zu erleben. Und man konnte auch in anderer Weise verehrend zum Alter aufschauen, als wenn man glaubt, daß das Alter nur das nüchterne abstrakte Äußere mache - wie man heute meist über das Alter denken zu müssen glaubt. Die ganze Stellung des Menschen zur Welt wird (S113:) dadurch eine andere. Und wir verstehen den ganzen Charakter der alten Zeiten innerlich, nicht bloß äußerlich trocken, wenn wir uns so einfühlen in die ersten Zeiten der Menschheitsentwicklung. Wir lernen dann verstehen, wie es eine erste Periode menschheitlicher Entwicklung gegeben hat, in der der Mensch so in seinem Leibe lebte, daß er seine leibliche Entwicklungsperiode zu gleicher Zeit als geistig-seelische Tatsache fühlte so, wie wir heute nur fühlen, wenn wir das Geistig-Seelische als solches erleben. Der Mensch fühlte aber da auch sich in vollem Einklang mit der Natur. Der Mensch jener alten Zeiten war noch nicht in die Möglichkeit versetzt, ein Materielles zu verachten, gering zu schätzen oder auch zu überschätzen, denn für ihn offenbarte sich alles Geistige noch im Materiellen. Er aß und trank, aber in dem, was er als Speise und Trank aufnahm, offenbarte sich ihm Geistiges. Er kannte nicht nur das Materielle. Er konnte, indem er die Früchte vom Baume nahm, im Genuß der Frucht sich sagen: Durch die Blüte, im ganzen Wachstum, in der Kraft des Baumes wirkt die Gottheit, sie schenkt mir die Frucht, die Gottheit ist unmittelbar mit mir in Beziehung, indem ich geistig-leiblich ein Verhältnis zur Welt eingehe. So empfand der Mensch der ersten Erdenepoche, wie er wirtschaftlich, wie er rechtlich, wie er geistig mit der Natur, mit dem anderen Menschen, mit dem Geistigen verbunden war. Er empfand den Gott als gegenwärtig auf der Erde, er empfand den Gott in allem, was sich ihm auch leiblich offenbarte - denn ein von der Materialität getrenntes geistiges Erleben kannte er noch nicht. Alles, was sich ihm irdisch-sinnlich darbot, erlebte er auch geistig; er richtete sich in seinen Einrichtungen nach dem, was sich ihm als Göttliches offenbarte. Die Einrichtungen, wenn man sie heute studieren könnte mit der äußeren Geschichtsbetrachtung - man kann es nur mit Geisteswissenschaft -, die Einrichtungen, die die Menschen damals trafen, man kann sie nur bezeichnen als Theophanie. Man kann sie nur so bezeichnen, daß man sagt: Durch alles dasjenige, was der Mensch so innerlich erlebte, war er sich und war ihm die Umwelt ein Geistiges, und was im Wirtschaftsleben geschah, war ihm nur ein Abglanz des Geistigen, wie ein Schattenbild des Geistigen.
(S114:). Es ist, ganz unrichtig für diese geisteswissenschaftliche Betrachtung, auf eine Urmenschheit zu blicken, die etwa tierisch auf der Erde gelebt hätte und aus tierischen Instinkten gelebt hätte, wie bessere Affen. Es ist durch Geisteswissenschaft klar, daß der Mensch allerdings ausgegangen ist von materiellstem Erleben, daß er aber dieses materiellste Erleben als geistig-göttlich empfunden hat, daß er alles Wirtschaftliche als Spiegelbild, als Abglanz des Geistig-Seelischen auch auf Erden eingerichtet hat. Vom geistigen Erleben, allerdings mit der Materie, ist der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte auf der Erde ausgegangen. Und zu etwas anderem ist er erst fortgeschritten, als es für ihn aufhörte, daß er im höheren Alter, in den Vierzigerjahren, sogar anfangs der Fünfzigerjahre noch wahrnehmen konnte die inneren seelisch-geistigen Metamorphosen im Zusammenklang mit dem alternden Leibe. Der Mensch wurde darauf beschränkt, schon in jüngeren Jahren abzuschließen sein Einheitsgefühl für das Geistig-Seelische und das Leibliche. Im vorangehenden Kulturzeitalter hat der Mensch noch bis in die Dreißigerjahre hinein, aber nicht mehr höher hinauf, empfunden den Einklang des Leiblichen mit dem Geistig-Seelischen. In der Mitte des Lebens empfand der Mensch noch, was es heißt, leiblich-geistig in die Dreißigerjahre zu kommen, dann hörte es auf, so wie heute das gewöhnliche Erleben für uns schon früher aufhört, wie wir schon früher alt werden, ohne daß wir das Altwerden auch wirklich innerlich mit dem Leibe miterlebend erfahren.
In diese zweite Periode der menschheitlichen Entwicklung - sie beginnt etwa mit dem 8. vorchristlichen Jahrhundert -, fällt noch hinein jenes wunderbare Volkstum, das einen so großen, einen so riesenhaften Einfluß gewonnen hat auf das ganze zivilisatorische Leben der neueren Zeit, es fällt hinein die Entwicklung des griechischen Volkstums. Derjenige, der heute nicht fühlen kann, wie im Grunde genommen doch dieses griechische Volkstum durchaus verschieden ist von dem unsrigen, der fühlt die Entwicklungsgeschichte der Menschheit nicht richtig. Oh, dieses griechische Volkstum! Man bereichert wirklich sein menschliches Leben, wenn man sich versetzen kann in die Art (S115:) und Weise, wie der Grieche, zwar nicht mehr wie der Urmensch bis ins höchste Alter hinauf jung blieb, wie er aber bis zur Mitte des Lebens sich als einheitlicher Mensch fühlte, wie er noch in den Dreißigerjahren einen seelisch-geistigen Zusammenhang mit dem Leiblichen verspürte, so wie wir es etwa bis zur Zeit der Geschlechtsreife erleben. Das, was da als Einheit in der griechischen Natur lebte und webte, das bildete die Grundlage für jene harmonische Kunst und für jenes Geistesschaffen der griechischen Kultur. Dieses, den Menschen noch im mittleren Lebensalter, im mittleren Daseinsalter so als eine Ganzheit, als eine innere Harmonie zu erleben, das machte es möglich, daß aus den alten Formen künstlerischen Schaffens, der Dramatik und des musikalischen Empfindens sich dasjenige entwickelte, was wir als Griechentum kennen. Wir lernen echt menschlich dieses Griechentum nur kennen, wenn wir vermögen, unseren Blick auf den einzelnen Griechen hinzulenken. Oh, dieser Grieche, er soll uns der Repräsentant sein dieser zweiten Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Er hat auch noch die Natur um sich herum anders gesehen als wirk. Dadurch, daß die Wachstumskräfte seines Seelisch-Geistigen noch in Anspruch genommen wurden bis in die Dreißigerjahre seines Lebens hinein, dadurch strömten diese Wachstumskräfte bis in seine Sinnesanschauung hinein. Und wer nachfühlen kann, was es heißt, im Menschenwesen wirken leiblich-physische Kräfte so, daß sie sich seelisch-geistig äußern bis in die Dreißigerjahre hinein, der wird sich sagen müssen: In die Sinne selbst hinein drängt sich eine andere Kraft, und dadurch ergibt sich eine andere Auffassung der sinnlichen Wirklichkeit. Auf diesem Wege lernt man sich einfühlen in die ganze Entwicklung der Menschheit, man lernt sich hineinempfinden in den einzelnen Menschen der Vorzeit. Man lernt fühlen, wie er anschaute die Umgebung so, daß die Natur mit all ihren Blüten, mit all ihren sonstigen Äußerungen, ja mit Sternen, Sonne und Mond, mit den Wolken und so weiter in allen Eindrucksnuancen anders auf ihn wirkte, als sie auf uns wirkt. Wenn man fühlend verfolgt, was da anders war im Griechen, kann man sich innerlich erkennend sagen: Der Grieche empfand lebhaft gerade das Helle (S116:) in seiner natürlichen Umgebung, alles dasjenige, was hervorstach, was leuchtete und glänzte. Wer da glaubt, daß der Grieche die Umgebung in derselben Weise sah, wie wir sie sehen, der hat keinen Sinn für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit, der betrachtet sie so etwa wie ein Vierzigjähriger, der da glaubt, daß das Kind die Umgebung schon ebenso sieht, wie er sie sieht. Aber der Grieche, der in der zweiten Epoche der Menschheitsentwicklung lebte, er sah die Natur um sich in großer Lebendigkeit. Er sah dasjenige, was leuchtet und glänzt, was unmittelbar zu dem Menschen sprach; er sah auch in anderen Menschen dasjenige, was von Mensch zu Mensch mehr aktiv ist, was von Mensch zu Mensch mehr das Leuchtende ist. Bis in die Gesichtsfarbe des anderen Menschen hat der Grieche seinen Mitmenschen anders gesehen, als wir ihn sehen. Das muß Geisteswissenschaft aus ihrem erkennenden Mitfühlen mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit sagen. Das wird durch äußere Betrachtung nicht etwa widerlegt, sondern voll bestätigt, wie man auch über diese Dinge streiten mag. Wer unbefangen betrachtet die griechische Literatur, dem muß auffallen, daß die Griechen eigentlich ein wirkliches Wort, um das Blau auszudrücken, nicht haben. Sie haben ein Wort, - Glaukos - mit dem bezeichneten sie die dunklen Haare und auch die dunkelgefärbten Augenbrauen gewisser Menschen, und mit demselben Ausdruck bezeichnen sie auch den blauen Stein Lapislazuli. Mit demselben Wort bezeichnen sie alles Blaue und Schwarze oder überhaupt Dunkle. Und ganz interessant ist auch, daß die Griechen ein Wort für grün haben - Chloros -, aber mit diesen Worten bezeichnen sie zu gleicher Zeit das gelbe Harz, den Honig und das Haar - wie blaublinde Menschen der Gegenwart nicht unterscheiden zwischen grün und gelb, so daß wir sagen können: Auch die äußere Geschichte bestätigt uns, daß der Grieche die hellen Farben durchaus als diejenigen sah, auf die es ihm ankam; und daß er für das Blau, für die dunkeln Farben überhaupt noch gar keine so starke Empfindung hatte, daß er diese Empfindung besonders aussprach. Da müssen wir sehen auf eine ganz andere (S117:) leiblich-seelische Konstitution des griechischen Menschen. Und das gibt uns eine Geschichtsbetrachtung, welche innerlich erkennen läßt den Gang des Fortschrittes über die Erde hin. Das führt uns in das Innere des Menschen hinein. Und wenn wir diesen Weg dann weitergehen und nur einmal solchen Gesichtspunkten gefolgt sind, dann wird man auch andere Angelegenheiten so betrachten. Dann wird man verstehen, warum die römischen Schriftsteller uns erzählen, daß die griechischen Maler nur mit vier Farben gemalt haben, mit Schwarz, Weiß, Rot, Gelb, und nichts davon erwähnen, daß sie auch in Blau gemalt haben. Vielleicht haben sie auch das gehabt, was wir als Blau sehen und die Fläche damit bedeckt, aber sie haben es nicht so genannt. Sie haben alles nur empfunden, insofern es hell und leuchtend und glänzend war. Das heißt, sie lebten mit ein Leben mit dem, was in der Natur kraftete, und sie kannten noch nicht das nachdenkliche Element. Denn man lernt erkennen, daß dieses nachdenkliche Element in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit erst heraufkommen kann, wenn nun auch die Dreißigerjahre aufhören, sich so auf den Menschen auszuwirken, daß er das Geistig-Seelische im Einklang noch vernimmt mit dem Leiblich-Physischen, wenn sozusagen dieses Einheitsgefühl, wo man als Mensch zu gleicher Zeit die Metamorphosen des Leiblich-Physischen und des Geistig-Seelischen empfindet, schon in den Zwanzigerjahre aufhört. Da entwickelt sich dann dasjenige, wofür vorzugsweise organisiert ist der Altersleib des Menschen, es entwickelt sich dann dasjenige, wo nur in Spuren, in Schatten heraufhuschen die Dinge, die in früheren Zeitaltern in voller Deutlichkeit vorhanden waren. Verfolgt man diese Dinge unbefangen, dann kommt man dazu zu sagen, daß im gegenwärtigen Zeitalter normalerweise diese Abhängigkeit des Geistig-Seeelischen vom Physisch-Leiblichen etwa im 26., 27. Jahr für den normalen Menschen aufhört, wenn der Mensch nicht selber etwas tut dadurch, daß er seine innere Entwicklung in die Hand nimmt, und daß dann nur dasjenige im menschlichen Innern auftritt, was durch Erziehung erst während der Kindheit in dieses menschliche Innere gelegt wird.
(S118:) Nun tritt etwas höchst Bedeutsames auf, wenn wir so die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrachten. Wir schauen zurück auf frühere Zeiten der Menschheitsentwicklung. Wir können es verstehen, daß man da mehr zufrieden war mit einer solchen Erziehung, in der der Mensch aufwuchs mit seiner Umgebung durch die natürlichen Verhältnisse des Nachahmens. Wir sehen die ganze tiefmenschliche Wichtigkeit des Erziehungs- und Unterrichtswesens erst in dieser dritten, "nachdenklichen" Epoche hervortreten. Wir lernen erkennen, wie wir drinnenstehen als Mensch in der Entwicklungsgeschichte der ganzen Menschheit, wir fühlen nicht mehr unser Verhältnis zur gesamten Menschheit als abstrakt. Wir fühlen unsere Mission in diesem bestimmten Zeitalter: indem wir ihm angehören, wissen wir, daß insbesondere zum Beispiel die Erziehungsaufgaben an das heutige Zeitalter der Menschen herantreten - die Erziehungsaufgaben, zu deren wichtigsten die soziale Frage gehört. In der ersten Epoche der Menschheit und im Nachklang in der zweiten Epoche konnte der Mensch in der Jugend sich sagen - er konnte das lernen aus den Stimmungen und Mitteilungen der Alten: Indem du heranwächst und älter wirst, wirst du das und das erfahren, was dir einfach durch deine leibliche Umwandlung erfahrbar wird im Alter. - In unserer Zeit muß dasjenige, wodurch der Mensch sein Alter ausfüllt, in seiner Jugend durch Erziehung und Unterricht keimhaft veranlagt werden. Und immer mehr und mehr rückt die Zeit heran - sie ist in hohem Grade schon da -, wo wir fühlen müssen die starke Verpflichtung, die Jugend so zu erziehen, daß durch das ganze spätere Alter hindurch der Mensch sich erinnern kann an das, was er erlernt hat während der Unterrichtsjahre. Weil einem das Leben in den elementaren Ereignissen nicht mehr selber das gibt, was in früheren Menschheitsepochen dem Menschen gegeben worden ist, muß das, was während der Unterrichtsjahre erlebt wird, ich möchte sagen zeitlich elastisch wirken können, so daß es freudig und erhebend und befeuernd und kraftend das ganze Leben bis zum Grauwerden durchtönen und durchleuchten kann. In (S119:) einer solchen Weise kann Geschichte Gesichtspunkte gewinnen, in einer solchen Weise kann Geschichte uns wiederum Erkenntnisse geben, die auch den Willen erkraften, die eine Orientierung im Leben geben können. Das ist es, worauf Geisteswissenschaft immer wieder und wiederum aufmerksam machen muß, daß sie dadurch, daß sie tiefer einzudringen versucht in das Leben und Dasein bis in diejenigen Regionen, wo sich dieses Leben und dieses Dasein als geistig enthüllt, auch unmittelbar ihre Dienste dem praktischen Leben leisten kann. Diejenige Geschichte, die bloß sich an das Äußerliche hält, sie wird nicht imstande sein, dem Menschen solche Weiten in der Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung zu geben, die zu gleicher Zeit in ihm Lebenskräfte werden. Sie gibt ihm auch nicht Ideen, welche ihm Aufklärung geben können über dasjenige, was in der Menschheitsentwicklung geschehen ist. Es ist merkwürdig, wenn man zum Beispiel hört, daß einer der größten Historiker der eben abgelaufenen Epoche, Ranke, immer im Zweifel darüber war, wie er die Gestalt des Christus Jesus in die Menschheitsgeschichte hineinstellen solle. Er war der Überzeugung, daß die Gestalt des Christus Jesus eigentlich bloß religiös zu betrachten sei, das heißt auf ein anderes Blatt der Betrachtung kommen müsse, als es die gewöhnliche Geschichtsbetrachtung ist. Er war nicht in der Lage, das Christus-Leben unter die die Geschichte konstruierenden Kräfte hineinzustellen. Herman Grimm versuchte diesen Mangel Rankes in einigen Andeutungen zu verbessern, aber es gelang ihm nicht, weil in diesem Punkte unter den heutigen Zeitverhältnissen nur etwas gelingen kann durch die geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise. Was ist denn der Mensch im Grunde genommen geworden dadurch, daß er ein <nachdenklicher> Mensch geworden ist, daß er sich hineinentwickelt hat seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in die nachdenkliche, in die intellektualistische Periode? Was ist er geworden dadurch, daß er sich hineinentwickelt hat in alles dasjenige, was auf dem Gebiet der Technik, was auf dem Gebiet des äußeren (S120:) Lebens und der äußeren Erkenntnisse aus dem Intellektualismus heraus kommt, allerdings als etwas Großes? In der ersten Epoche und zum großen Teil in der zweiten noch, wofür der Grieche uns der Repräsentant sein kann, da fühlte sich der Mensch als Glied der ganzen Welt, einfach dadurch, daß sein Leib ein Glied der ganzen Welt ist. Er sah den Blitz, er hatte eine instinktive Erkenntnis dafür, daß die Kraft, die im Blitz liegt, verwandt ist mit der Kraft, die im eigenen Gefühle lebt. Er fühlte sich im ganzen Weltendasein drinnen. Er war reich in seinem inneren Erleben, weil er im Grunde genommen sich als ein Glied der ganzen Welt fühlte, weil ihm dasjenige, was in ihm als Mensch lebte und webte, dasjenige war, was in der ganzen Welt lebte und webte. Sein eigenes Schicksal sah er im Gang der Sterne. Er konnte verfolgen nicht nur das, was in ihm naturgesetzlich war, bis in die fernsten Himmelshöhe, sondern auch das, was in ihm moralisch war, konnte er verfolgen bis in kosmische Weiten.
Wir heute haben andere Erfahrungen. Wir haben seit dem Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens in der dritten entwicklungsgeschichtlichen Epoche der Menschheit, in der wir nachdenkliche Menschen geworden sind, erlebt, daß wir gut rechnen können, mit Galileischer Großartigkeit, mit Brunoscher Einsicht hinaufschauend in die Sternenwelten. Aber wir tragen nichts aus ihnen herunter als mathematisch-mechanistische Formeln über Planeten und Sonnenlauf, und heute höchstens noch dasjenige, was uns die Spektralanalyse dazu sagt. Und hier auf dieser Erde sind wir einsam geworden. Wir wissen uns auf dieser Erde stehend, aber wir fühlen nichts mehr von einer Verwandtschaft mit den Sternenweiten. Wir können uns, wenn wir ehrlich innerhalb der neuzeitlichen Weltanschauung leben, nicht mehr als ein lebendiges Glied der Welt fühlen. Wir stehen einsam mit unserer Erde im Weltenraum; und über dasjenige, was nicht unsere Erde ist, rechnen wir nur. Können wir eigentlich, wenn wir ehrlich sind, dann noch den biblischen Glauben entwickeln, daß aus der Welt, die wir so errechnen, aus diesen Himmelshöhen heruntergestiegen sei der Christus, um im Leibe des Jesus von Nazareth (S121:)das wichtigste Ereignis, den Sinn der ganzen Erdenentwicklung zu vollbringen? Das, was die Menschheit sich erobert hat im Errechnen, im mechanistischen Erkennen, das ist dasjenige, was sie abgebracht hat vom geistigen Verstehen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit selber. Geisteswissenschaft erst wird wieder einen Sinn damit verbinden können, daß dasjenige, was in dem Jesus lebte, aus geistigen Höhen heruntergestiegen ist, daß da die große Ehe der Geisteswelt mit der irdischen Menschheit zum Heile menschlicher Fortentwicklung geschlossen worden ist. Daß das Mysterium von Golgatha ein Geistiges ist, das ist dasjenige was erst durch Geisteswissenschaft der Menschheit wiederum in voller Klarheit wird vor die Seele treten können. Und dann, wenn man so aus einer geisteswissenschaftlich erneuerten Anschauung heraus das Mysterium von Golgatha erlebt, dann, möchte man sagen, drängt sich aus der Geisteswissenschaft auch eine weitere, scheinbar nur nebensächliche menschheitlich-entwicklungsgeschichtliche Tatsache auf, die aber auf den, der sie empfinden kann in all ihrer Tiefe, erschütternd wirkt. Dann entdeckt man, indem man dieses Ihnen heute charakterisierte umgekehrte biogenetischer Grundgesetz anwendet, die Tatsache, die da besagt: Das, was heute der Mensch in der Altersepoche seiner individuellen Entwicklung durchlebt, das ist eine schattenhafte Andeutung desjenigen, was klar leiblich-seelisch erlebt worden ist von unseren Menschenvorfahren und heute nur noch in äußeren menschheitlichen Metamorphosen von früheren Entwicklungsepochen erlebt wird. Wie naturgemäß das Physische des Menschen auf der Embryonalstufe eine Wiederholung in Andeutungen desjenigen ist, was in der Vorfahrenschaft von den Menschen durch Jahrmillionen erlebt worden ist, so ist dasjenige, was heute im menschlichen Alter auftritt, eine schattenhafte Wiederholung desjenigen, was klar und deutlich innerlich vorhanden war in der Vormenschheit. Wir bringen unser gegenwärtiges Leben dadurch mit der Vorzeit in Zusammenhang.
Und wenn Sie mit den geisteswissenschaftlichen Methoden, die hier oftmals charakterisiert worden sind und die Sie in meinen (S122:)Büchern <Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>, <Geheimwissenschaft>, <Vom Menschenrätsel>, <Von Seelenrätseln> nachlesen können, diese Tatsachen verfolgen, so werden Sie sich sagen können, daß es durchaus durch innere Schau möglich ist, darauf zu kommen, wie in den vorchristlichen Zeiten die Menschen in dieser Weise entwicklungsfähig geblieben sind, das heißt innerlich erlebt haben auch geistig-seelisch das Leiblich-Physische bis hinauf über die Dreißigerjahre. Dann ging es immer weiter herunter, bis in unsere Zeit, die dritte Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, wo der Mensch erlebt das Geistig-Seelische mit dem Leiblich-Physischen zusammen nur noch bis in die Zwanzigerjahre hinein. Dazwischen liegt etwas, was ein wichtiger Übergang ist im menschlichen Leben. Der Mensch ist, indem er sich über die Erde hin entwicklungsgeschichtlich gestaltet hat, gewissermaßen heruntergestiegen aus dem jugendlich-kindhaften Erleben des Alterns in diejenigen Zeiten, wo er nur seinen Einheitsmenschen erlebt bis in die Dreißigerjahre hinein. Da zeigte sich ihm aus den Weltentiefen heraus diejenige Gestalt, die ihm vorlebte bis in diese Dreißigerjahre hinein dasjenige, was er nachleben soll, damit er in der Jugend die Kräfte aufnehmen könne, um ins Alter hineinzutragen das, was er so in der Jugend aufnimmt. Der Mensch kann in der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha nicht mehr durch die Naturentwicklung in das Alter hinein die Kräfte tragen, die er in diesem Alter braucht. Daher ist ihm dargestellt worden auf der Erde das auch nur bis in die Mitte des irdischen Lebens hingehende Christus Jesus-Leben, das dem Menschen bis ins 33.Jahr ein göttlich-menschliches Vorbild gegeben hat. Ergreift er die starken Kräfte dieses Vorbildes, so daß er erfassen kann im Innern: <Nicht ich, sondern der Christus in mir>, richten wir alle Erziehung, allen Unterricht so ein, daß er durchchristet ist, daß wir in der Jugend das Kind aufnehmen lassen die Kräfte, die dann, wie ich es angedeutet habe, wie zeitlich-elastisch in das höchste Alter sich hineinerstrecken können, durchchristen wir so den ganzen Menschen - dann arbeiten wir (S123:) an dem Fortschritt der Menschheit auf diesem Gebiet aus der Erkenntnis der menschlichen Entwicklungsgeschichte heraus. Und so wie ich auf einzelnen Gebieten zeigen konnte, daß das wirklich innerlich lebendige Verständnis der menschlichen Entwicklungsgeschichte wiederum Gesichtspunkte gibt aus der Geisteswissenschaft heraus, so wie das uns zeigen kann, was wir zu tun haben in unserem heutigen Zeitalter, so können wir es auch auf gewissen anderen Gebieten zeigen. Wir können darauf hinweisen, wie der Mensch durch seine leiblich-physische Entwicklung so geartet war, daß er im Materiellen das Göttliche erkannte. Was wir da als Erbschaft des Verhältnisses des Menschen zum Göttlichen bekommen haben, wirkt in uns fort; wir müssen es nur selbständig pflegen, denn heute will es selbständig sein. Es will als selbständiges Glied unseres sozialen Lebens gepflegt werden. In der zweiten Epoche der Menschheitsentwicklung, wo der Mensch nur noch das Leiblich-Physische mit dem Geistig-Seelischen in Einklang findet bis etwa in die Dreißigerjahre, die in der Mitte des irdischen Lebenslaufes liegen, in dieser zweiten Epoche werden insbesondere die instinktiven Kräfte des menschlichen Seelenlebens voll wach, jene instinktiven Kräfte des menschlichen Seelenlebens, welche sich zum Beispiel in den rechtsgestaltenden, in den staatsgestaltenden Faktoren des öffentlichen Lebens ausleben. Damit sehen wir in der zweiten Epoche der menschlichen Entwicklung die Keimanlagen gelegt zu dem, was wir als Recht wohl denken können, aber nicht nachdenklich, sondern instinktiv. Daher ist in allen Rechtsbegriffen immer etwas Strittiges, weil sie noch instinktiv in der zweiten Epoche entstanden sind. Die dritte Epoche, die mit der Mitte des 15. Jahrhunderts angebrochen ist - man kann das geschichtlich gut verfolgen -, diese dritte Epoche, in der wir noch jetzt drinnenleben, ist vorzugsweise eine nachdenkliche. Der Mensch zieht sich zurück vom Kosmos. Der Mensch zieht sich zurück von dem, womit sich der Mensch der ersten Epoche organisch verbunden gedacht hat. Der Mensch wird einsam auf der Erde, und dieses Einsamwerden im Geiste auf der Erde, das kehrt alles um. In der ersten menschlichen Epoche war (S124:)es, wo man das Geistig-Seelische als selbstverständlich die Welt durchflutend empfunden hat, wo man das Wirtschaftliche nur als Spiegelbild des Geistige-Seelischen empfunden hat. In unserer Epoche, wo der Mensch mit dem Geistig-Seelischen getrennt von dem Äußerlichen steht in den späteren Entwicklungsepochen des individuellen Lebens, wo er bloß bis in die Zwanzigerjahre herein als ganzer Mensch seinen Einklang fühlt mit der leiblich-physischen Entwicklung, in dieser Zeit wird das Wirtschaftsleben ausschlaggebend. In die Staatskonfiguration erstreckt sich das Wirtschaftsleben; das Wirtschaftsgebiet wird Staatswirtschaft, wird Imperium. Es wird dasjenige, was wir jetzt hervortreten sehen, was dann einseitige Methode wird im Marxismus, was da Theorie wird und so auftritt, als wenn das Wirtschaftsleben alles wäre und das geistige Leben, das einstmals alles war, von dem wirtschaftlichen Leben nur Spiegelbild wäre, also das geistige Leben nur Ideologie wäre. Weil wir uns durch unsere Naturentwicklung, durch die Entwicklungsgeschichte der Menschheit getrennt haben von dem Äußerlich-Leiblichen, weil das die normale Entwicklung der Menschennatur ist, muß der Mensch nun durch seine Kultur, durch seine Zivilisation den Einklang suchen zwischen dem, was sich getrennt hat: dem Geistigen, das er in seiner Selbständigkeit pflegen muß, weil es sich nicht mehr verbunden mit dem Materiellen zeigt, und dem Wirtschaftlichen, das er pflegen muß, damit er in richtiger Weise mit ihm kämpfen kann, damit er den Geist wieder hineintragen kann, der früher selbstverständlich drinnen war. Und in der Mitte muß er pflegen das Staatlich-Rechtliche als selbständiges Glied. Die Geschichte richtig erfaßt, innerlich angeschaut, gibt uns auch eine wahre soziale Einsicht für die Gegenwart. Sie lebt in dem, was wir heute hineinstellen wollen in den sozialen Organismus. Die Menschen sind hindurchgegangen durch diese Epochen, indem sie mehr oder weniger einseitig entwickelt haben die drei Glieder sozialen Organismus. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo wir aus dem Menschheitsbewußtsein heraus diese drei Glieder entwickeln müssen in Selbständigkeit, damit wir stark werden, diese drei Glieder, ein (S125:)selbständiges Geistesleben, ein selbständiges Rechts- oder Staatsleben, ein selbständiges Wirtschaftsleben, durch unsere innere Menschlichkeit miteinander zu verbinden. Das Griechentum, das im mittleren Lebensalter noch den Einklang hatte zwischen Geistig-Seelischem und Leiblich-Physischem, dieses Griechentum war noch dazu verurteilt, die Menschen äußerlich in Stände zu zerspalten, in Lehrstand, Wehrstand, Nährstand. Wir streben zu einer sozialen Gestaltung, wo nicht die Menschen in solche Gruppen gespalten sind, sondern wo das Leben dreifach gegliedert ist und jeder einzelne Mensch sich hineinlebt in jedes dieser drei Glieder, in jedem einzelnen Menschen zusammenwirken die drei Glieder. Das aber, meine verehrten Anwesenden, was im stärksten Sinn Veranlassung gibt, so die Dreiheit zu betrachten, das ist diejenige geschichtliche Betrachtung der Menschheit, welche neue Gesichtspunkte gewinnen läßt. Ich möchte sagen, in geistreicher Gelehrtenstube hat Hermann Grimm gefunden, wie die Geschichtstatsachen, die heute so zahlreich da sind, mitgeschleppt werden wie ein Ballast, wie die großen Gesichtspunkte fehlen. Ja, wie die Geschichte der letzten Jahre lehrt, brauchen wir solch große Gesichtspunkte, aber das, was bisher entsprossen ist aus menschlichem Denken und Empfinden, konnte nur von einzelnen durchlebt werden. An dieser Art Geschichte - wie Hermann Grimm sie darstellt - werden sich die zahlreichen Menschen, die aus den großen Massen herankommen, um teilzunehmen an öffentlichen Angelegenheiten, nicht erbauen können. Wenn wir aus geisteswissenschaftlicher Gesinnung heraus eine Menschheitsgeschichte begründen, durch die man sieht, wie der Mensch durch die Jahrtausende gehend einmal so, einmal so gefühlt hat, wenn man in der geschichtlichen Entwicklung lernt von dem, was jeder Mensch in sich erlebt, in sich erleben muß, um als gleicher sich zu empfinden mit allen anderen Menschen, dann werden wir eine Geschichte haben, wie sie unser Zeitalter braucht, wie sie das kommende Zeitalter brauchen wird: eine Geschichtsbetrachtung, die nicht bloß im Intellekt aufgeht, eine Geschichtsbetrachtung, die zwar durchaus aus klaren und objektiven Begriffen (S126:)schöpft, die aber hereindringt in das menschliche Leben, so daß die Erkenntnisse das Gemüt durchwärmen und das von der Erkenntnis durchwärmte Gemüt willensbildend ist. Und wenn man es empfindet, daß schließlich alles dasjenige, was zur sozialen Weiterentwicklung notwendig ist, nicht von Einrichtungen abhängt - denn diese hängen selbst von den Menschen ab-, sondern abhängen muß von Menschen, dann lechzt man danach, daß in den Menschen der starke Wille die Anlage zur starken Tat werde, damit die erkannten und als notwendig eingesehenen Einrichtungen auch getroffen werden können. Aber der Mensch, den wir brauchen, der schaffende, der einsichtige, der sich in der öffentlichen Welt richtig orientierende Mensch wird nur der sein, der seinen Willen, seine Taten durchglühen und durchleuchten kann - nicht mit toter, nicht mit intellektualistischer, nein, mit lebendiger, geisterfüllter Erkenntnis. Die wird ihm aber werden dann, wenn er sich fühlend erkennen kann als ein Glied der ganzen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, wenn er hinzeigen kann auf die Vergangenheit der Menschheit und daraus ihm ein Licht werden wird, das ihm leuchten wird, um zu arbeiten, um zu handeln, um zu wirken in die Zukunft hinein.
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