Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material


Zur geistesgeschichtlichen Stellung der Anthroposophie


II.

   Eines von den Kennzeichen dafür, daß die von Rudolf Steiner begründete Anthroposophie eine erlösende, umwälzende menschheitliche Sendung für unser Zeitalter zu erfüllen hat, ist dieses, daß für eine Unsumme von Problemen und Rätselfragen, die sich in den letzten vier Jahrhunderten in einer Art, wie schon lange nicht mehr in der Geschichte der Menschheit, angesammelt, aufgehäuft, ja zuletzt gleichsam zusammengestaut haben, durch sie die Wege zu einer Beantwortung und Lösung eröffnet worden sind. Wir haben dies im ersten Teil dieses Aufsatzes für ein bestimmtes Problem gezeigt, für ein Dilemma, das sich in der neueren Zeit herausgebildet hatte in bezug auf die Stellung der Menschen zur Erkenntnis. Wir wollen dasselbe im folgenden für ein anderes Problem zeigen, das, von einem anderen Gesichtspunkt aus, ebenfalls als ein schwerwiegendes Dilemma aus der neueren Weltanschauungsentwicklung heraus entstanden ist und sich in der Gegenwart immer mehr zugespitzt hat.


   Der Gegensatz, auf den wir zunächst hinweisen wollen, ist im modernen Weltanschauungsleben in viel weiterem Umfange vorhanden, als es nach der folgenden Darstellung vielleicht scheinen könnte. Man kann aber, um ihn anschaulich zu charakterisieren, eben nur einzelne Erscheinungen herausgreifen, durch die er sich besonders scharf ausgeprägt hat. Was sich in diesen als Antagonismus ausspricht, hat jedoch, wie gesagt, viel allgemeinere Geltung und Verbreitung.


   Schauen wir zu diesem Behufe nach der einen Seite einmal auf die Hegelsche Philosophie hin. Man wird sie wohl richtig charakterisieren, wenn man ihr eine dreifache Überzeugung zugrunde liegen sieht; erstens diejenige, daß alle Erscheinungen des natürlichen und des menschlichen Daseins aus einer umfassenden Weltenweisheit oder Weltenvernünftigkeit heraus geboren seien, oder (S122) - wie Hegel es selbst ausdrückte: daß alles Wirkliche vernünftig sei. Zweitens, daß es deshalb des Menschen, als des vernunftbegabten Wesens, würdigste Aufgabe bilde, diese innere Vernünftigkeit aus allen Welterscheinungen kraft seiner eigenen Vernunft erkennend herauszuholen; drittens, daß, wenn ihm dies manchen Tatsachen gegenüber bisher noch nicht gelungen sei, dies nur davon herrühre, daß er seine Vernunft- oder Denkkraft noch nicht bis der ihr möglichen Energie entwickelt habe. Auf Grund dieser dreifachen Überzeugung hat es Hegel unternommen, zunächst eine Denktechnik auszubilden, von der man ja nun in der Tat behaupten darf, daß sie den höchsten Gipfel darstellt, den die Entwicklung des Denkens in der neueren Zeit erreicht hat. Diese Denktechnik ist die berühmte Hegelsche Dialektik. Wollte man die Art, wie Hegel durch diese dialektische Methode seine Weltanschauung ausgestaltet hat, durch einen Vergleich charakterisieren, so dürfte man nicht das für andere Weltanschauungen vielleicht erlaubte Bild eines Begriffsgebäudes gebrauchen, in welchem die einzelnen Begriffe gleich Bausteinen einer auf den anderen gefügt sind, sondern man müsste etwa das Bild eines Baumes verwenden, bei welchem aus einem zunächst kahlen Stamme lebendig herauswachsen Äste, Zweige, Blätter und Blüten. Von den Begriffen des Hegelschen Systems wird jeder folgende aus dem vorhergehenden durch eine organische Entfaltung hervorgetrieben. Durch diese lebendige Art der Begriffsentwicklung wurde es Hegel möglich, den Erscheinungen der Natur und der Geschichte in so umfassender Weise Vernünftigkeit abzugewinnen, das heißt das ganze Weltendasein in der Fülle seiner Tatsachen zu begreifen als Resultat einer einheitlichen Gedankenentwicklung, daß ihm in dieser Hinsicht kein anderer Philosoph der neueren Zeit verglichen werden kann. Und man kann nur die größte Bewunderung hegen für die Energie, mit der von ihm alle Gebiete des Daseins denkerisch durchdrungen und in einem einheitlichen Begriffskosmos eingegliedert worden sind. Das Hegelsche System hat denn auch auf die geistige Entwicklung des 19. Jahrhunderts einen (S123) unabsehbaren Einfluß ausgeübt, einerseits durch seine dialektische Methode, mittels welcher die Erscheinungen des geschichtlichen und sozialen Lebens - ich erwähne nur den Namen Karl Marx - nun viel tiefer und umfassender durchdacht werden konnten, als das früher möglich gewesen war; anderseits durch die weltfreudige, kulturbejahende Gesinnung, die sich aus seinem Grundgedanken ergab: daß alles Wirkliche vernünftig sei, also auch in irgendeinem Sinne als daseinsberechtigt müsse begriffen werden können.


   Aber die Hegelsche Philosophie hatte auch ihre Kehrseite, ihre Schattenseite, die zwar noch nicht eigentlich bei Hegel selbst, aber sogleich nach seinem Tode innerhalb seiner Schule in Erscheinung trat. Und zwar machte sich diese nach zwei Richtungen hin geltend. Auf der einen Seite nahm gerade dadurch, daß Hegel in so großartiger Weise alle Welterscheinungen in den Kosmos seiner dialektischen Gedankenentfaltung einverwoben hatte, und gewissermaßen gar nichts mehr übriggeblieben war, das nicht in dieses Gedankengewebe hineinverflochten worden war, die Welt einen traumhaft-unwirklichen Charakter an. Begreiflicherweise, kann man gerade auf Grund anthroposophischer Erkenntnisse sagen. denn die Begriffe unseres gewöhnlichen Bewußtseins - und um andere konnte es sich für Hegel ja noch nicht handeln! - sind ja keine Wirklichkeit, sondern nur unwirkliche Bilder von solchen. Da aber bei Hegel die sämtlichen Welterscheinungen als herausgesponnen erscheinen us dem Elemente einer solchen, wenn auch lebendigen, so doch unwirklichen Gedankenentfaltung, so bekamen sie selbst den Charakter des Unwirklichen. Die Welt verwandelte sich unversehens in einen zwar großartigen, aber doch bloßen Traum. Und dieses Traumhafte der Hegelschen Welt wurde zuerst empfunden an der Stelle, wo wir am stärksten das Erlebnis der Wirklichkeit haben: gegenüber dem menschlichen Ich. Mag all unser sinnliches Wahrnehmen, mag unser denken ein bloßes Träumen sein, in dem Augenblick, da wir uns als "Ich" erfassen, als "Ich" ansprechen, wissen wir, daß wir (S124) zu einer Wirklichkeit erwacht sind. Diesem Wirklichkeitserlebnis, das wir im Erfassen unseres "Ichs" haben, konnte die Hegelsche Philosophie nicht gerecht werden; für sie war das menschliche Ich ein Begriff unter Begriffen, das heißt im Grunde etwas Unwirkliches. Deshalb konnte sie auch die Rätsel nicht beantworten, die sich aus der Tatsache des sich selbst als Realität erlebenden Ichs ergeben. Das zeigte der Streit, der alsbald nach Hegels Tode innerhalb seiner Schule über die Frage ausbrach, ob Hegel die Unsterblichkeit der menschlichen Seele bejaht oder verneint habe. Dies konnte nämlich aus seinen Schriften nicht eindeutig entschieden werden. Die Unsterblichkeitsfrage konnte aber in Wirklichkeit vom Standpunkte seines Systems überhaupt nicht als Problem empfunden werden, da das Ich von ihm nicht als eine reale geistige Wesenheit erfaßt, sondern nur als ein Gedanke betrachtet werden konnte. Hegel selbst spürte die Unzulänglichkeit seiner Philosophie gegenüber dem Wirklichkeitserleben, welches das menschliche Ich in seiner Selbsterfassung hat, nicht(...).


   Mit diesem Charakter des Unwirklichen, den die Hegelsche Philosophie dem Dasein gab, hängt nun innig die andere Eigenschaft zusammen, in welcher ihre Schattenseite zum Ausdruck kam. Die Philosophie nahm nämlich dadurch unberechtigterweise eine Eigenschaft an, die dasjenige berechtigterweise annehmen darf, was es seinem Wesen nach mit einem Unwirklichen, bloß Scheinhaften zu tun hat, die Kunst: die Eigenschaft des Spielerischen. Schiller hat es in seinen ästhetischen Briefen so schön auseinandergesetzt, daß es die Kunst nur mit dem schönen Scheine, nicht mit der Wirklichkeit zu tun habe; daß daher der Mensch in der Kunst auch nur "spielen" dürfe, auch nur in der Kunst spielen dürfe. Indem die Hegelsche Philosophie (S125) die Welt zum Scheine entwirklichte, wurde die Philosophie zur  "Kunst", das Philosophieren zum "Spielen", das dialektische Denken zu einer artistischen Fähigkeit, durch deren virtuosenhafte Handhabung die Hegelianer nun allem und jedem, selbst dem wirklich Unvernünftigen, mit "doch" und "wenn", mit "einerseits" und "anderseits" schließlich einen Sinn abzugewinnen verstanden. Indem die Hegelsche Philosophie entwirklicht hatte, verlor sie selbst den Ernst, der nun einmal ein Element der Wirklichkeit ist.


   Was sich so als Schattenseiten der Hegelschen Philosophie gezeigt hatte, sind bis zu einem gewissen Grade die Schattenseiten aller einseitig auf das gedanklich-begriffliche Element hinorientierten Philosophien; sie traten aber gerade bei Hegel so stark in die Erscheinung, weil er dieses Prinzip zu der allergroßartigsten Ausbildung gebracht hatte. Aus eben diesem Grunde rief seine Weltanschauung nun auch - wie als eine Reaktion auf sie selbst - in unmittelbarer Folge die extremsten Repräsentanten der ihr entgegengesetzten Art des Philosophierens auf den Plan.


   Auch diese soll nun wiederum an diesen ihren hauptsächlichsten Vertretern veranschaulicht werden. Sie erfuhr die bedeutendsten Ausgestaltungen gerade nach den beiden Richtungen hin, in welchen die Hegelsche Philosophie ihre Schattenseiten gezeigt hatte: auf der einen Seite durch Max Stirner, auf der anderen durch den Dänen Sören Kierkegaard.


   Stirner empfand besonders das Unwirkliche des reinen Gedankenerlebens, wie es in der Hegelschen Philosophie so stark zur Geltung gekommen war. Diesem gegenüber betonte er die Wirklichkeit, die im Erleben des Ichs ergriffen wird. Ihm kamen, ob er nun in die Geistesgeschichte oder auf seine eigene Zeit hinblickte, die Menschen wie Träumer, man könnte auch sagen: wie Besessene vor. Besessene freilich von einer doppelten Art: Auf der einen Seite - und das sind mehr die Älteren - von Theorien, von Dogmen, von "fixen Ideen" Besessene, das heißt Menschen, die nicht zu sich selbst kommen, weil sie unter dem (S126) Zwang ihrer Theorien stehen. Auf der anderen Seite - das sind mehr die Neueren - von gedächtnismäßigem Wissen Besessene, das heißt Menschen, die nicht zu sich selbst kommen können, weil sie ihren Kopf beständig mit tausend Tatsachen und Daten angefüllt haben. Aus diesen beiden Arten von Besessenheit und Träumerei wollte er die Menschen wachrufen zum Erleben der Wirklichkeit im Erfassen des eigenen Ichs, und damit zum freien Besitzen und Beherrschen dessen, wovon sie bisher besessen und beherrscht waren. Dabei glaubte er jedoch darauf aufmerksam machen zu müssen, daß mit diesem Ich nicht etwa die allgemeine Idee des Ichs, sondern das wirkliche individuelle Ich jedes einzelnen Menschen gemeint sei. Dieses sein ureigenes Ich, das in jedem Einzelnen als etwas durchaus Einmaliges, Einzigartiges vorhanden sei, müsse der Mensch ergreifen; dann lebe er als freie Persönlichkeit, dann lebe er in der Wirklichkeit. Freilich: eben weil dieses wirkliche Ich jedes Menschen ein einzigartiges, unvergleichliches ist, könne es überhaupt nicht gedacht, und damit im Grunde auch nicht ausgesprochen werden. Denn mit dem Denken erfassen wir nur das Allgemeine; und sobald wir reden, sprechen wir Gedanken aus. Alles das müsse daher vor dem Ich Halt machen. Dieses lasse sich schlechterdings nur erleben, und auf dieses Erlebnis lasse sich gleichsam nur mit stummen Gebärden hindeuten. So wurde Stirner zum Ablehner aller in Gedanken sich bewegenden Philosophie.


   Man kann nun wiederum nur die grösste Bewunderung hegen für die Energie, mit der Stirner darauf hinweist, wie der Mensch im Erleben seines Ichs eine höhere Wirklichkeit ergreift als im Denken, wie er erst durch dieses Icherleben zur freien in sich selbst ruhenden Persönlichkeit wird. Und doch zeigt auch die Stirnersche Weltanschauung unverkennbar eine Schattenseite, die im Gegensatz zur Hegelschen vielleicht so charakterisiert werden kann: Die Hegelsche Philosophie gleicht einem Meere uferlosen Träumens, in dem man, nach welcher Seite man auch schwimmen mag, nirgends auf den festen Grund einer Wirklichkeit aufstößt. Die (S127) Weltanschauung Stirners dagegen kann empfunden werden wie ein fortwährendes Anstossen an die Wand einer Wirklichkeit, aber ohne daß diese durchstossen würde. Da er nämlich allen vorhandenen Geisteskräften des Menschen die Fähigkeit abspricht, diese Wand zu durchdringen, aber - wenn man von dem vagen "Erleben" absieht - keine neue, hierzu geeignete findet, so gleicht sein Philosophieren einem stumpfen und daher fruchtlosen Sichhineinbohrenwollen in die Wirklichkeit, das denn auch zuletzt unabstreitbar etwas (wie der Volksmund sagt) "Verbohrtes" bekommt.


   Hatte Stirner besonders den unwirklichen Charakter empfunden, den durch die Hegelsche Philosophie das Dasein bekam, so empfand Kierkegaard vor allem die unernste, spielerische Art, die das Philosophieren selbst dadurch annahm. Auch er stellte der unwirklichen Welt der Gedanken die Wirklichkeit des Lebens gegenüber. Er betone aber vor allem den Ernst dieses Lebens gegenüber dem spielerischen Jonglieren mit Begriffen, als das ihm alle Philosophie vorkam. Um zu zeigen, wie unendlich ferne nach seiner Meinung philosophische Theorien dem wirklichen Leben stehen, und wie gleichgültig es ist, was für ein Mensch irgendeine Philosophie hat, pflegt er in seinen Schriften, wenn er bestimmte Anschauungen vorträgt oder auch gegeneinander auftreten läßt, diese nicht als seine eigenen, sondern als diejenigen eines Dritten, Vierten, Fünften darzustellen. Und um den Ernst und die Wichtigkeit des Lebens gegenüber dem Wesenlosen philosophischen Theoretisierens hervorzuheben, prägte er den Begriff des "existierenden Denkers" als des Menschen, der weiß, daß es im Leben in erster Linie auf die Forderungen des Lebens selbst ankommt, und erst in zweiter Hinsicht auf die Philosophie. Dieser Ernst des Lebens kam für ihn nun aber vor allem in der folgenden Tatsache zum Ausdruck: der Mensch findet, wenn er sich durch seine Philosopheme die Empfindung für die Wirklichkeiten nicht vernebeln läßt, nach Kierkegaards Meinung auf dem tiefsten Grunde seiner Seele als Urgefühl seines Daseins das Gefühl seiner (S128) Sündhaftigkeit vor, das empfindungsmässige Wissen von der Tatsache des Sündenfalls, der Erbsünde. Er empfindet, daß er gegenüber der Gottheit in einer unabtragbaren Schuld lebt. Daß er nicht zu vollkommener Sündlosigkeit sich zu erheben vermag; daß er nicht imstande ist, gutzumachen, was er im Leben Böses verübt. Diesem durch keine Philosophie weder erfassbaren noch auch zu übertäubenden Urgefühl des Menschen steht nun gegenüber die gleichfalls durch keine menschliche Erkenntnis zu begreifende historische Tatsache der Erscheinung Christi als des Gottessohnes, der gekommen ist, um die Menschen von der Erbsünde zu befreien und mit Gott wieder zu versöhnen. Aus diesen beiden Tatsachen ergibt sich für den Menschen, der für die Wirklichkeit und den Ernst des Lebens erwacht ist, das heißt der erfaßt hat, daß es nicht um irgendeine allgemeine Idee, sondern um sein wirkliches, ganz konkretes Ich geht, als einzig mögliche Konsequenz diese: durch den Glauben an Christi Erlösungstat seine Versöhnung mit Gott, seine Rechtfertigung vor diesem zu suchen. Das ist das einzige, worauf es ihm fürder noch ankommen kann. Diesem Ziel aber können uns Philosophie, Kunst oder irgendeine andere kulturelle Betätigung nicht näherbringen, sondern höchstens untreu werden lassen; denn ihre Natur ist es geradezu, uns die wahre Sachlage des Lebens zu verschleiern. Und so wird Kierkegaard nicht nur wie Stirner zum Ablehner der Philosophie, sondern zum Verneiner alles kulturellen Schaffens im weitesten Umfange.


   Eine gewisse Vereinigung haben die Stirnersche und die Kierkegaardsche Weltanschauung gefunden in den Anschauungen, die den Inhalt eines im Jahre 1921 unter dem Titel "Das Wort und die geistigen Realitäten" erschienenen bedeutsamen Buches bilden. Dem Verfasser, Ferdinand Ebner, hat zwar diese Verschmelzung nicht als Ziel vorgeschwebt, sondern sich ungewollt als Resultat von Anschauungen ergeben, zu denen er von ganz selbständigen Ausgangspunkten her und auf ganz eigenen Wegen gelangt ist. Er untersucht als Philologe das Wesen der Sprache, (S129) und dieses Studium führt ihn zu den angedeuteten Anschauungen. Hier ist nicht der Ort, uns mit seinen Sprachuntersuchungen als solchen auseinanderzusetzen (Wir haben das getan in unserer Besprechung des Buches im Oktoberheft 1926 der "Österreichischen Blätter für freies Geistesleben"); wir wollen hier nur in Kürze wiedergeben, wie er durch sie zu de weltanschaulichen Konsequenzen gelangt, auf die es uns hier allein ankommt. Für ihn liegt der Ursprung und die Urtatsache des Sprechens in dem Dialog zwischen dem "Ich" und dem "Du". Hieraus ergibt sich ihm aber zugleich auch umgekehrt: "Ich" und "Du" haben - und zwar ursprünglich nur in der Bedeutung als zusammengehörige Gegenstücke - ihren Ursprung in der Sprache. Oder auch: die Sprache haben, ein "Ich" sein und in Beziehung zu einem "Du" stehen, ist ursprünglich und wesentlich eines und dasselbe, und nicht voneinander zu trennen. Das ursprüngliche "Du" nun des Menschen als des sprachbegabten oder "Ich"-Wesens war Gott. In seinem "paradiesischen" Zustand war daher alles Sprechen des Menschen ein Dialog mit der Gottheit. Von diesem Zustand aber ist er durch die Erbsünde abgefallen. Sein wahres "Du" ist ihm dadurch entschwunden und seither verborgen. Von dem ursprünglichen Ganzen ist nur die eine Hälfte, das "Ich" geblieben, als das Einsame, in sich Geschlossene, als das es heute erlebt wird. Genau betrachtet jedoch: ist dem Menschen auch sein "Ich" verlorengegangen. Denn sein heutiges Ich ist nicht mehr dasselbe wie das paradiesische. Wie sein wahres "Du" sich hinter den Erscheinungen der äußeren Natur verborgen hat, so ist sein wahres "Ich" in den unterbewussten Tiefen seiner Seele versunken. Und wie der Mensch in seinen heutigen Vorstellungen von der Welt nicht die wahre Wirklichkeit, sondern einen bloßen Schein hat, so hat er in seinem heutigen "Ich" nicht die Wirklichkeit des Ichs, sondern bloß die unwirkliche allgemeine Idee desselben. Er lebt heute nicht mehr in der Realität des Geistigen, sondern im Traum vom Geiste: Ein solches Träumen vom Geiste ist alles Philosophieren, künstlerische und sonstige kulturelle Schaffen. Aber wenn auch einerseits sein (S130) wahres Ich unterhalb seines gewöhnlichen Bewußtseins liegt, so ist es doch nur durch einen dünnen Schleier verdeckt, durch den es bei wirklicher Selbstbesinnung heraufstoßen und im Bewußtsein ergriffen werden kann. Und auf der anderen Seite hat sich sein wahres Du, die Gottheit, die seit dem Sündenfall sich ihm verborgen hatte, in der Fülle der Zeiten bereits wieder in ihrer Realität geoffenbart in der Erscheinung Christi und ihm so die Möglichkeit gegeben, den Zustand wiederherzustellen, in welchem er sich ursprünglich befunden hat. Aus dem lebendigen Glauben an Christi Erlösungstat kann der Mensch die Kraft empfangen, sein wahres Ich aus den Tiefen seiner Seele ins Erleben heraufzuheben, in welchem er dann auch wieder die Verbindung mit seinem wahren Du, der Gottheit, finden kann. Dies aber bedeutet für ihn zugleich ein Aufwachen aus dem Traum vom Geiste zu dessen Wirklichkeit. Ebner lehnt daher ebenfalls alle menschliche Kulturbetätigung al ein wesenloses, den Menschen über seine wahre Situation nur hinwegtäuschen wollendes Träumen ab, und betrachtet das durch den Glauben an Christus zu erreichende Aufwachen zur Realität des Geistes als das einzige Streben, dem sich der Mensch noch widmen kann, der die Wirklichkeit des Geistigen einmal an einem Zipfel im Erleben erfasst hat.


   Man sieht wohl schon aus dieser kurzen Inhaltsangabe, auf welch originellem Wege hier eine Vereinigung der Stirnerschen un der Kierkegaardschen Weltanschauung zustande gekommen ist (obwohl Ebner Stirners Namen kein einziges Mal nennt): Stirnerisch ist der Hinweis auf das wirkliche, konkrete Ich des Menschen, das vom Denken und dem in diesem Denken lebenden gewöhnlichen Bewußtsein nicht erfaßt werden kann, weil dieses nur im Traum von der allgemeinen Idee des Ichs webt. Sätze wie die folgenden könnten auch von Stirner geschrieben sein (S110): "Das Ich der Philosophie gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Das Ich, das in der Tatsache steckt, daß ich bin, und daß ich das von mir aussagen kann, ist etwas anderes als das Ich der philosophischen Spekulation und vor allem ist es etwas Wirkliches ... und sehr (S131) Konkretes. Der wirkliche Mensch: das bist du, das bin ich - diese simpelste aller Wahrheiten erfasst der Idealismus niemals. Das Ich 'ist' nicht, aber ich bin - das müsste erst einmal die Philosophie einsehen lernen und dann mag sie, wenn ihr die Lust nicht etwa schon gründlich vergangen ist, darangehen, ihr durchaus prekäres Geschäft zu betreiben. Das ist freilich viel verlangt von ihr. Bis jetzt hat sie es nur bis zum Verständnis der halben Wahrheit gebracht, nämlich, daß das Ich nicht ist. Um die andere Hälfte, die Tatsache, daß der einzelne bestimmte konkrete Mensch - nicht irgendeine abstrakte Idee des Menschen - von sich sagen kann 'Ich bin' und das durchaus persönlich und nicht anders meint, kümmert sie sich gar nicht. Mute ich es ihr zu, sich doch auch einmal damit zu beschäftigen, daß ich bin - ihr gegenüber kling diese Zumutung fast wie Anmaßung -; nun, dann wird sie wohl, von ihrem Standpunkte aus ja mit Recht, erwidern: 'Was kümmert sich die Philosophie um Dich und Deine Existenz? Sie hat Wichtigeres zu tun, sie muß die Probleme der Welt und des Lebens, des Seins und des Denkens endlich einmal zur Lösung bringen, und für Dich könnte sie sich nur interessieren, wenn Du das 'absolute Ich' wärest'. So oder ähnlich würde sie sagen. Ich aber darf dann auch - doch nicht mit weniger Recht? - entgegnen: 'Wenn es so ist, was kümmert mich dann die Philosophie? Ich habe Wichtigeres zu tun, ich muß existieren.' Das allerdings darf im letzten Grunde nicht anders als religiös verstanden werden, als der Imperativ, im Verhältnis zu Gott zu existieren". Kierkegaardisch ist anderseits - und hierauf deuten die letztangeführten Worte - die Vorstellung, daß das wirkliche, wahre Ich des Menschen, wenn es erlebt wird, zugleich in Beziehung zu der Gottheit erlebt wird - daß darin zugleich die Geschichte seines Abfalls und seiner Erlösung durch Christus erfahren wird. Allerdings muß Ebner, weil er mit Stirner das wahre, wirkliche Ich des Menschen als außer- oder oberhalb der Gedankensphäre liegend auffaßt, auch dessen reale Beziehung zur realen Gottheit als außerhalb des Vorstellungslebens liegend und daher auch mit (S132) der Vorstellungskraft nicht erfaßbar bezeichnen. So schreibt er (S191): "Gott als das wahre Du des Ichs ist keine Vorstellung... Die Beziehung des Ichs zum Du, in der das geistige Leben des Menschen seine Realität hat, liegt nicht in der Sphäre des Vorstellungslebens. Wo dieses sich in diese Beziehung einmengt, entwirklicht es das geistige Leben, entwirklicht es das Du zu einer Projektion des Ichs."


   Auch für diese Vorstellung - sie bildet de Kern der Ebnerschen Weltanschauung - kann man nun wiederum gerade auch vom Standpunkte der Anthroposophie, das vollste Verständnis haben. Denn es ist ja z.B. auch die Lehre der Anthroposophie, daß das wahre Ich des Menschen in Realität mit der göttlich-geistigen Welt verbunden ist im Schlafe, wenn das Vorstellungsleben ausgelöscht ist, dagegen in den Vorstellungen, die der Mensch sich im Wachzustand von der geistigen Welt macht, nicht deren Realität, sondern nur ihr unwirkliches und unzutreffendes Bild von ihm ergriffen wird.


   Anderseits muß man s aber doch an Ebners Ausführungen als eine Schattenseite, als einen Mangel bezeichnen, daß er - ebenso wie Stirner - auf die von ihm gemeinten Realitäten des geistigen Lebens doch nur mit stummer Gebärde hindeuten, an sie anstoßen, sic in sie hineinbohren, aber ihnen auch keinen konkreten Inhalt abgewinnen kann. Denn  auch er weist, indem er den Betätigungen des gewöhnlichen Bewußtseins die Fähigkeit abspricht, diese geistigen Realitäten zu erfassen, keine andere auf - wenn man wiederum von dem dem inhaltlosen "Erleben" absieht -, mit der sie nun wirklich ergriffen werden könnten. Und so ist es nicht ganz ohne Berechtigung, wenn in einer Kritik über sein Buch, die er selbst in seiner Vorrede abdruckt, dieses so charakterisiert wird, daß der Verfasser sich immer nur um denselben Punkt herumdrehe. Indem nun diese Schrift in der Art, wie wir es andeuteten, die Stirnersche und die Kierkegaardsche Weltanschauung miteinander verschmilzt, dürfen wir in ihren Ausführungen in gewissem Sinne de vollkommensten Gegenpol zur Hegelschen (S133) Philosophie erblicken. Wir sehen somit einerseits in Hegel, anderseits in Ebner in ihren markantesten, extremsten Repräsentanten zwei Weltanschauungsarten geschildert, die, wie wir eingangs erwähnten, sich in der neueren Zeit immer mehr zu Gegensätzen herausgebildet haben und sich als solche in der Gegenwart durchaus auf breiter Front in unversöhnlicher Schärfe gegenüberstehen. Auf der einen Seite - um sie nun zusammenfassend zu charakterisieren - stehen diejenigen, die danach streben, alle Gestaltungen des geschichtlich und kulturellen Lebens in irgendeinem Sinne als berechtigt zu verstehen, zu bejahen, zu schätzen, denen aber die Gefahr droht, dabei zuletzt sich selbst, wie Hegel, an eine traumhaft-unwirkliche Welt zu verlieren. Auf der anderen Seite sind jene, die, weil sie an einem Punkte einmal von einer höheren Wirklichkeit berührt wurden, die gewöhnliche Welt als eine unwirkliche empfinden und daher jegliche Betätigung innerhalb derselben als etwas verneinen, das den Menschen von dem abzieht, worauf es nach ihrer Meinung allein ankommt: zu der wahren Wirklichkeit aufzuwachen - die diese aber tragischerweise, wie hartnäckig sie auch gegen sie anrennen, doch nicht erobern können, weil sie den Weg nicht wissen, auf dem man aus der unwirklichen Welt heraus- und in die wirkliche hineingelangt.


   Anthroposophie - wenn nun gezeigt werden darf, wie sie auch diesen Gegensatz zur Versöhnung bringt - kann sich zu der letzteren Art von Menschen zunächst durchaus bejahend verhalten. Sie kann ihnen darin zustimmen, daß die gegebene Welt eine unwirkliche sei, daß es dem Menschen daher einzig und allein darum zu tun sein könne: in die wirkliche Welt hinein zu erwachen. Sie gibt ihnen auch zu, daß mit dem Denken diese wahre Wirklichkeit aber nicht ergriffen werden könne. Da jedoch der moderne Mensch außer dem Denken nun einmal keine andere Seelenfähigkeit hat, in deren Betätigung er vollwach sein kann, tut sie, um die wahre Wirklichkeit doch wachend ergreifen zu können, das folgende: Wie der Vater den Sohn erzeugt, der einerseits jenem gegenüber ein völlig selbständiges Wesen ist, anderseits aber doch (S134) demselben Geschlecht wie jener angehört, so lehrt sie das Denken eine Fähigkeit aus sich erzeugen, die einerseits ihm gegenüber eine durchaus eigene, selbständige ist, anderseits noch derselben "Gattung" wie das Denken zugehört, das heißt auch eine Erkenntniskraft ist. So kann das Denken nun ruhig vor dem Tor zur geistigen Welt, zur wahren Wirklichkeit stehen bleiben. Mit der aus ihm erzeugten neuen Fähigkeit aber, der Imagination, kann der Mensch dieses Tor durchschreiten. Mit ihr erst kann er sein wahres Ich in Wirklichkeit ergreifen - jenes Ich, auf das Stirner immer hindeutete, aber ohne ihm einen Inhalt geben zu können. Einen konkreten Inhalt bekommt das Icherleben erst durch die Imagination. Aber von diesem Wesen, das da aus dem Denken heraus geboren wurde, erkennt man ald, daß es eigentlich das höhere ich, der höhere Mensch im Menschen selbst ist, der da, aber eben zunächst erst nach seiner Gedankenseite, zur Erscheinung gekommen ist. Kann man ihn nun durch eine entsprechende Entwicklung seiner Gefühlskräfte auch nach seiner Gefühlsseite in sich ausbilden, dann wird dadurch, als ein Erlebnis der Inspiration - seine Beziehung zu der ihn umgebenden und zu ihm gehörigen geistigen Außenwelt, zu seinem wahren "Du" hergestellt, wie es Ebner erahnt und ersehnt. Zugleich aber erlebt der Mensch an dieser Stelle auch, wie es der Christus ist, der seine Seele hinaus- und hinaufträgt zu der sie umgebenden geistig-göttlichen Welt, und im Zusammenhang mit diesem Erlebnis steigt aus den Tiefen der Seele das ganze  Wissen um "Sündenfall" und "Erlösung" herauf. Und kann endlich der aus der  Seele heraus geborene höhere Mensch auch nach seiner Willensseite hin entwickelt werden, so daß er nun in Vollständigkeit da ist, dann tritt damit, durch Intuition, die Erinnerung an frühere Erdenleben in das Bewußtsein ein und die Einsicht in das Wirken des Schicksals von Verkörperung zu Verkörperung. Dann erst wird der Mensch im vollen Sinne, was Kierkegaard vorgeschwebt hat: ein "existierender Denker": denn jetzt versteht er erst wirklich, warum und wozu er als der ganz bestimmte, einzelne Mensch in (S135) einem bestimmten Ort und Zeitpunkt lebt und welches die Forderungen sind, auf deren Erfüllung es in diesem bestimmten Leben in Wirklichkeit "ankommt".


   So kann man sagen: Anthroposophie bejaht nicht nur, was Denker wie Stirner, Kierkegaard, Ebner als positive Ideale aufstellen, sie bringt ihm zugleich auch erst seine wahre Erfüllung und Verwirklichung. Sie macht es dem Menschen, durch das Herausgebären des in ihm verborgenen höheren Menschen, erst möglich, sein ureigenes wirkliches "Ich" zu erleben, in diesem die Beziehung zu seinem wahren "Du" zu finden, sich mit allen seinen Kräften in das "existentielle Leben" hineinzustellen.


   Eben dadurch, daß sie dies alles verwirklichen kann, vermag sie aber zugleich noch ein anderes. Sie kann nämlich anderseits doch auch die in der "unwirklichen" Sinnenwelt verlaufende menschliche Kulturarbeit bejahen, ja sogar mittätig sich selbst in diese hineinstellen. Wieso? Wenn man auch, wie wir erwähnt haben, mit dem gewöhnlichen Denken in die wahre Wirklichkeit nicht eindringen kann, so kann man doch, wenn mn in diese durch den entwickelten höheren Menschen hineinkommt, das, was man in ihr findet, wenigstens nachträglich in die Sprache des gewöhnlichen Denkens übersetzen. Das heißt aber: in einer für jedermann verständlichen Sprache mitteilen und dadurch dem geistigen Allgemeingut der Menschheit einverleiben. Dadurch aber wird diese Möglichkeit für die Anthroposophie geradezu zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben.. Denn nur auf diesem Wege kann, wer die wahre Wirklichkeit in ihrem Sinne gefunden hat, die andern auch zu ihr hinführen. Auf diese Weise aber - denn was durch diese Mitteilung entsteht, ist ein in Begriffe gestaltetes Weltbild - verliert das Gedankengestalten alles Spielerische und erhält einen ganz neuen Sinn. Und so kann sich Anthroposophie sinnvoll in die Reihe der Bemühungen hineinstellen, in Gedanken das Wesen der Welt auszusprechen. So tritt sie als ein bestimmtes Weltbild mit anderen in die Schranken. Freilich unterscheidet sie von diesen der fundamentale Umstand, daß bei ihr die Begriffe nur das Kleid (S136) bedeuten, in das ein übergedanklich gewonnener Inhalt nachträglich gehüllt wird, während die Inhalte der anderen in der begrifflichen Sphäre entstehen. Dadurch ist auch die Wirkung, die sie bei dem Aufnehmenden hervorbringt, eine völlig verschiedene von derjenigen der andern: Bei diesen bleibt man entweder: wenn die Begriffe nur die ordnenden Formen sind, in die Sinnliches gefaßt wird,innerhalb der sinnlichen Tatsachenwelt befangen - ein "Besessener" oder "Träumer" der modernen Art im Sinne Stirners - oder: wenn die Begriffe als solche, wie bei Hegel, der Weltengrund sein sollen, aus dem die Dinge entstanden sind, innerhalb der Gedankentraumwelt - ein Besessener der älteren Art. Durch anthroposophische Darstellungen wird man, obwohl man Begriffe empfängt, doch nicht in eine bloße Gedankenwelt eingesponnen, sondern durch die Begriffe hindurch an geistige Realitäten herangeführt - an das eigene wahre Ich, an die konkrete geistige Wet, aus der unsere Existenz mit ihren Forderungen und Schicksalen fortwährend hervorquillt. Man wird also durchaus auf das existenzielle Leben verwiesen, kann dieses aber zugleich mit Erkenntnislicht durchleuchten. (Es kann diese Verschiedenheit der inneren Bedeutung der Begriffe bei anthroposophischen und bei sonstigen weltanschaulich-philosophischen Darstellungen nicht scharf genug betont werden. Denn die anthroposophische Art der Verwendung der Begriffe ist im Grunde etwas, das so noch niemals in der Geistesentwicklung der Menschheit da war. Das ist ja auch einer der Gründe, warum viele so schwer verstehen, was mti den anthroposophischen Darstellungen eigentlich gemeint ist. Die einen halten ihre Inhalte für bloße Gedanken oder Symbole. Die andern, die wissen, daß sie auf die Erforschung der realen übersinnlichen Welt ausgeht, begreifen nicht, warum sie sich dann in dem unwirklichen Elemente eines begrifflichen Weltbildes ausgestaltet. Diese Mißverständnisse rühren eben davon her, daß es heute noch ungewohnt ist, Begriffe als Gefäße aufzufassen, in die eine geistige Wirklichkeit hineingegossen ist. Für diejenigen, die sich in dieses Ungewohnte hineinfinden können, entsteht jedoch daraus gerade (S137) ein Erlebnis, das man durch nichts anderes sonst in der Welt empfangen kann: man nimmt Begriffe auf und wird durch diese hindurch zugleich mit einer Wirklichkeit in Berührung gebracht; man erlebt eine Wirklichkeit und kann dabei zugleich ein Erkennender sein. Man wird mit anderen Worten gleichzeitig in allen seinen Wesenskräften ergriffen und erlebt sich dadurch in der Totalität seines Menschenwesens.)


   Aber nicht nur an den Bemühungen, das Wesen der Welt in Gedanken zu fassen, nimmt Anthroposophie - wenn auch auf eine besondere Weise - durch dieses ihr Wesen teil, sondern an allem kulturellen Schaffen im weitesten Umfang. Sie vermag nämlich das im Geiste Erlebte nicht nur in der Sprache der Begriffe, sondern sogar noch viel weitgehender - weil diese noch ein geeigneteres Gefäß dafür ist - z.B. in der Sprache künstlerischer Gestaltung zu verkündigen. Sie verleiht dadurch der Kunst, ohne ihr den Charakter des "Spiels" im Schillerschen sinne zu nehmen, den sie ihrem Wesen nach haben muß, zugleich den Ernst und  die Wahrheit des geistigen Lebens. Und so wird die Kunst etwas, das den Menschen nicht mehr ablenkt von dem Einen, was nottut, sondern ihm im Gegenteil als einer der bedeutungsvollsten Wege zu diesem hinführt.


   So bringt Anthroposophie die beiden geschilderten Strömungen zur Versöhnung: indem sie einerseits ganz der geistigen Welt zugewandt ist, anderseits aber, weil sie an diese nicht bloß anstößt, sondern in sie eindringt, sich zugleich auch verständnisvoll bejahend und tätig in das geistig-kulturelle Schaffen innerhalb der Sinnenwelt hineinstellen kann - hineintragend in dieses die Realität und den Ernst der geistigen Welt und so nicht nur dem einzelnen Menschen, sondern auch dem Erdensein die Erlösung bringend, die ja nicht nur der Mensch, sondern - nach einem Paulus-Worte - auch "die ganze Natur mit Ängsten und Seufzen erwartet".

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Anthroposophie/Weltanschauungsideale