S60 Hätte das theokratische Kastensystem der geschichtlichen Frühzeit unbegrenzt fortgedauert, so hätte das spezifisch Menschliche im Menschen niemals zur Entfaltung kommen können. Darum mußte es im Fortgang der Geschichte durch eine andere Gesellschaftsform abgelöst werden. Würde unsere heutige Industriegesellschaft auf die Dauer fortbestehen so wäre das Menschentum des Menschen zum Absterben verurteilt, ja es wäre sogar die physische Existenz der Menschheit vom Untergang bedroht. Darum muß auch diese Gestalt der Gesellschaft in Zukunft von einer andern abgelöst werden. Die Gefahren, die ein weiteres Festhalten an ihr mit sich bringt, zeichnen sich heute schon mit erschreckender Deutlichkeit ab. Hier seien nur ihre hauptsächlichsten Momente vergegenwärtigt.
Die Ausbeutung der Erdennatur für die Zwecke der Wirtschaft hat heute ein solches Übermaß an Zerstörung, Verschmutzung und Vergiftung erreicht, daß, wenn in dieser Beziehung in baldiger Zukunft keine wesentliche Änderung eintritt, die Erde schon in wenigen Jahrzehnten der Menschheit keine zureichende Existenzgrundlage mehr wird bieten können. Da aber dem heutigen Wirtschaftssystem die Tendenz zu unbegrenztem Wachstum der Produktion innewohnt, kann aus ihm heraus der Naturzerstörung nicht Einhalt geboten werden.
Die ausschließliche Begründung aller wirtschaftlichen Betätigung auf das egoistische Streben nach materiellem Gewinn für das je eigene Selbst hat dazu geführt, daß heute etwa ein Viertel der Weltbevölkerung in einem Überfluß von wirtschaftlichen Gütern, drei Viertel dagegen in Armut, Hunger und Elend leben. Dieser Zustand provoziert für eine nahe Zukunft den Ausbruch eines weltweiten Aufstandes der Benachteiligten gegen die Privilegierten mit S61 all dem, was er an Vernichtung von Menschenleben und Zerstörung von Kulturwerten mit sich bringen wird.
Hinzu kommt, daß durch die beherrschende Stellung, welche das so geartete Wirtschaften innerhalb der heutigen Gesamtgesellschaft einnimmt, Aggressionen und Gewalttätigkeiten aller Arten über die Erde hin in solchem Grade zugenommen haben, daß das menschliche Dasein sich immer mehr in einen Kampf aller gegen alle verwandelt. Hierdurch ist es bedingt daß die Kriegsrüstungen heute ein nie dagewesenes quantitatives Ausmaß erreicht haben und außerdem ihrer Qualität nach sich dadurch kennzeichnen, daß sie Zerstörungsinstrumente mit umfassen, die es der Menschheit technisch ermöglichen, sich als ganze in kürzester Zeit auszurotten. diese Waffen sind in den Kriegsarsenalen der Supermächte in Massen aufgehäuft, die ein Vielfaches dessen betragen, was zu dieser Selbstvernichtung hinreichte, und sie werden trotzdem noch immer weiter vermehrt und vervollkommnet.
Die Staaten haben dadurch, daß sie völlig in die Abhängigkeit von der Wirtschaft versunken sind, die Möglichkeit verloren, die Rechtsgleichheit ihrer Bürger zu verwirklichen und zu sichern. Indem in den politischen Parteien verschiedenartige oder gegensätzliche wirtschaftliche Interessengruppen sich formiert haben und die Organe der Gesetzgebung und Regierung von Vertretern wirtschaftlicher Machtgruppen besetzt sind, wird durch Politik und Gesetzgebung immer ein Teil der Bevölkerung bevorrechtet, ein anderer benachteiligt.
Das Geistesleben hat dadurch, daß es völlig der Herrschaft des Staates, das heißt der Politik und durch diese der Oberherrschaft der Wirtschaft, unterworfen wurde, seine Produktivität, soweit diese über die Sphäre des Wirtschaftlichen und Technischen hinausgeht, völlig eingebüßt. Die wissenschaftliche Forschung hat sich dermaßen in Spezialgebiete zersplittert, daß - von den Laien gar nicht zu reden - die Vertreter derselben sich gegenseitig nicht mehr verstehen. An die Stelle der Kunst ist die Antikunst getreten. Die Schönheit wurde von der Absurdität und Perversität verdrängt. Und die öffentliche und private Moral schwindet immer mehr dahin. Kriminalität jeder Sorte nimmt von Jahr zu Jahr zu.
S62 In welche Richtung muß nun die Umgestaltung der Gesellschaft erfolgen, wenn die Entwicklung derselben eine Fortsetzung soll erfahren können? Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um ein Geschehen, das zur Ablösung der einstigen Theokratie im Verhältnis einer Parallelität und zugleich einer Umkehrung steht. Damals ging es darum, das Klassenherrschaftssystem dadurch zu überwinden, daß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kasten durch rechtliche Gleichstellung derselben beseitigt wurden. Für die Zukunft geht es darum, daß das Herrschafts- bzw. Knechtschaftsverhältnis der verschiedenen Sachgebiete der Gesellschaft zueinander überwunden wird durch die Herstellung des gesellschaftlichen Gleichgewichts zwischen ihnen. Wie es sich damals um die rechtliche Gleichstellung von Menschengruppen handelte, so heute um das gesellschaftliche Gleichgewicht von Lebensbereichen. Und während damals die rechtliche Gleichstellung wesentlich bewirkt wurde durch die blutsmäßige Vermischung der verschiedenen Menschengruppen, so kann nun umgekehrt das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Lebensbereichen nur erreicht werden durch die verwaltungsmäßige Trennung und Verselbständigung derselben gegeneinander. Das bedeutet aber die verwaltungsmäßige Dreigliederung des gesellschaftlichen Organismus. Nur durch solche Verselbständigung kann ein Gleichgewicht an gesellschaftlicher Macht und Bedeutung zwischen ihnen hergestellt werden.
Freilich ist untrennbar damit verbunden, daß dann jedes der drei Gebiete: Kultur, Staat und Wirtschaft, gemäß seinen eigenen Funktionsbedingungen organisiert und verwaltet wird. Welches sind diese Bedingungen?
Diejenige des Geisteslebens wurde bereits an früherer Stelle mit dem Hinweis auf die Gewissens-, Forschungs- und Lehrfreiheit genannt. Zu ihrer weiteren Begründung sei hier noch folgendes hinzugefügt:
Warum gibt es überhaupt dieses spezielle Sachgebiet der Gesellschaft? Weil es - im Unterschied von den Tieren, die als Naturwesen der Natur integriert sind und bleiben - das Wesen des Menschen ausmacht, über geistige Schöpferkraft zu verfügen und S63 vermittels dieser in der Hervorbringung von "Kultur" sich eine eigene Umwelt zu schaffen. Er ist deshalb für sein Dasein darauf angewiesen, diese Schöpferkraft betätigen zu können. Ihr Wirken erfolgt in geschichtlichen Wandlungen seiner Art und Form. In alten Zeiten, das heißt in den Epochen der leiblichen Entwicklung der Menschheit, entquoll dieses Schaffen den Kräften der Leiblichkeit. Es trug darum je nach der Artung verschiedenen Charakter. Durch Reinerhaltung des Blutes der Gemeinschaften konnte im Laufe vieler Generationen die ihnen je eigene Art geistigen Schaffens zur höchsten Ausbildung gebracht werden. Hierauf gründete sich noch in der ersten Epoche des geschichtlichen Werdens das Prinzip der blutsmäßigen Abschließung der verschiedenen Berufsstände gegeneinander. Durch diese wurden die ihnen je eigenen Fähigkeiten der Weisheit (Priester), der Tapferkeit (Krieger) usw. zur höchsten Vollkommenheit herangezüchtet.
Als im Laufe der griechisch-römischen Antike die Kasten sich blutsmäßig zu vermischen begannen, versiegten die ehemaligen, der Leiblichkeit entquellenden Schöpferkräfte. An ihre Stelle trat als Träger geistigen Schöpfertums die seelische Persönlichkeit des Menschen. Ein entscheidender Zufluß dieser neuen Kräfte ergoß sich in die Menschheit durch die Menschwerdung des Gottessohnes in Christus. Seitdem trat an die Stelle blutsmäßiger Züchtung immer mehr die Erziehung der Menschen als individueller Persönlichkeiten. Denn diese neuen Schöpferfähigkeiten bedurften der Übung und Schulung, um zu ihrer Vollkraft heranzureifen. Damit nahm das geistige Leben der Menschheit immer mehr den Charakter eines Bildungswesens an, und im Laufe der Jahrtausende hat sich dieses von der Vorschul- über die Schulerziehung bis zum Hochschulstudium, ja schließlich bis zur Erwachsenenbildung erweitert und ausgestaltet. Denn die Entwicklung der in der menschlichen Persönlichkeit veranlagten schöpferischen Kräfte ist niemals abgeschlossen. Ihr dient als Anregung und Förderung letztlich alles, was auf wissenschaftlichem, künstlerischem, moralischem Felde an geistigen Schöpfungen hervorgebracht wird. Sie kann, so alt der Mensch auch werden mag, immer weiter fortgesetzt werden. Und sie unterliegt ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten, S64 die dem menschlichen Wesen gewissermaßen eingeschrieben sind. In diesen Gesetzmäßigkeiten ist es begründet, daß die Bildung dieser Kräfte bis zur Mündigwerdung im wesentlichen den Charakter einer Fremderziehung trägt, von da an sodann in immer höherem Grade den der Selbsterziehung annehmen muß. Nur in dem Maße, als die Bildung des Menschen, sei es des heranwachsenden durch fremde Erzieher, sei es des erwachsenen durch Selbsterziehung, gemäß jenen Gesetzen erfolgt und nichts anderes bezweckt als die Entwicklung des also im Menschen Veranlagten, erfüllt sie ihren Sinn. Es ergibt sich hieraus für die Gestaltung des Bildungswesens als erste Forderung, daß es in dieser Hinsicht frei sein muß, daß es nicht in den Dienst fremder Zwecke politischer oder wirtschaftlicher Art gestellt werden dar, wenn es der in seinem Wesen begründeten Aufgabe gerecht werden soll Vor dieser Entfremdung kann es aber nur bewahrt werden, wenn es von denen verwaltet wird, die als Erzieher, sei es von Heranwachsenden oder ihrer selbst, tätig sind.
Zum zweiten ist zu bemerken, daß die hier in Frage kommenden Gesetzmäßigkeiten einer wahren Menschenerkenntnis durchaus erfaßbar sind und damit einer Erziehungsplanung zugrunde gelegt werden können. Es kann dies allerdings nicht in Form von Vorschriften oder Rezepten geschehen, sondern lediglich in Gestalt erkenntnismäßiger Darstellungen derselben. Diese müssen den erzieherisch Tätigen zum Inhalt eigener Erkenntnis werden, wenn sie für deren Tätigkeit fruchtbar werden sollen. Nur insoweit sie ihr erkenntnismäßiges Eigentum geworden sind, wird ihre Erziehertätigkeit positive Ergebnisse zeitigen können. Auch dafür ist die Vorbedingung, daß sie sich die betreffenden Erkenntnisse in voller Freiheit anzueignen und sie in Unterrichtsmethoden umzuwandeln die Möglichkeit haben. Einer dritten Freiheit schließlich bedarf der Zögling: der Freiheit nämlich, diejenige Bildung sich anzueignen, die seinen besonderen Begabungen und Bedürfnissen sowie auch seiner jeweiligen Entwicklungsreife entspricht.
Nur wenn es im Zeichen dieser dreifachen Freiheit organisiert und verwaltet wird, kann das Bildungswesen die Aufgabe erfüllen, die in seinem Wesen begründet ist, das heißt: den geistigen Schöpferkräften S65 jene Produktivität verleihen, deren die Kultur zu ihrer Fortentwicklung bedarf. Damit wird es zugleich das gesellschaftliche Gewicht erlangen, das ein Gleichgewicht der verschiedenen Lebensgebiete ermöglicht.
Was die Funktionsbedingungen des Staatslebens in unserer Zeit betrifft, so genügen hierüber wenige Bemerkungen. Denn es war ja schon wiederholt davon die Rede, daß seit den Erklärungen der Menschenrechte und der Abschaffung der Ständeordnung nurmehr das Prinzip der Rechtsgleichheit aller oder der Demokratie für seine Ordnung bestimmend sein kann. Freilich muß hinzugefügt werden, daß trotz dem Gerede von Demokratie und Demokratisierung, das die Gegenwart erfüllt, dieses Prinzip noch kaum irgendwo verwirklicht ist. Denn solange der Staat Bildung, Wissenschaft, Kunst und teilweise auch noch religiöses Leben verwaltet, andererseits regulierend in das Wirtschaftsleben eingreift oder gar selbst wirtschaftet, werden immer auch aus diesen beiden Gebieten weltanschaulich-ideologische oder konfessionelle sowie wirtschaftliche Machtbestrebungen in seinen Gesetzgebungs- und Regierungsakten zur Geltung kommen, durch welche die Rechtsgleichheit seiner Bürger verletzt wird. Erst dann, wenn er seine Kompetenzen ganz auf die Fixierung und Sicherung der Rechtsverhältnisse beschränkt, wird er in diesen die Gleichheit des Rechtes verwirklichen können.
Was schließlich die Funktionsbedingungen des heutigen Wirtschaftslebens angeht, so hat das Prinzip der Teilung und Spezialisierung der Arbeit, das dem Industrialismus innewohnt, indem es nicht nur innerhalb des einzelnen Produktionsbetriebes, sondern auch zwischen Betrieb und Betrieb, zwischen Branche und Branche, ja zuletzt zwischen Ländern und Kontinenten sich durchsetzte, die Wirtschaft schließlich zur einheitlichen Weltwirtschaft sich auswachsen lassen, in der keiner ihrer Teile mehr sich selbst versorgen kann, sondern jeder auf die Fremdversorgung durch die Erzeugnisse und Dienstleistungen aller anderen angewiesen ist. Das bedeutet, daß de facto jeder für alle anderen und alle für jeden einzelnen arbeiten. Dies kann aber nur dann in gesunder Art funktionieren, wenn der Betrieb der Wirtschaft aus der Gesinnung - nicht des "Nur für sich selbst", sondern des gegenseitigen Füreinanders S66, das heißt: der Sozialität - heraus organisiert und geführt wird. Das heißt praktisch, daß die wirtschaftliche Betätigung nicht auf den Gewinn für das jeweilige Selbst ausgerichtet wird, sondern auf die Befriedigung des Konsumbedarfs aller Teile der Menschheit. Eine solche Ausrichtung kann dadurch erreicht werden, daß aus einem ständigen gleichberechtigten Zusammenwirken der Vertreter von Produktion, Handel und Konsum in entsprechend organisierten Assoziationen derselben Quantität und Qualität der zu erstellenden Produkte und Dienstleistungen sowie ihre Preisbildung bestimmt werden. Eine solche assoziativ strukturierte Wirtschaft wäre in gewisser Weise eine dritte Alternative zwischen freier Markt- und staatlicher Planwirtschaft. Für ihre Verwirklichung wird sich allerdings eine Umgestaltung der Eigentumsform für die industriellen Produktionsmittel als notwendig erweisen. Denn der Privatbesitz derselben in seiner heutigen Form widerspricht der Tatsache, daß die industrielle Produktion im Unterschied zur früheren handwerklichen eine Gemeinschaftsproduktion geworden ist. Dieser Widerspruch kann nicht durch eine Verstaatlichung der Produktionsmittel beseitigt werden. Sie hat nur zur Folge, daß die Produktion anstatt in den Dienst des Gewinnstrebens einzelner Unternehmer in den der Machtambitionen jener gestellt wird, welche die Herrschaft über den so "sozialisierten" Staat ausüben. Die Lösung liegt vielmehr in der Umwandlung des Besitzeigentumes in ein Nutzungs- oder Verwaltungseigentum, das bestimmte Verpflichtungen des Eigentümers gegenüber dem von ihm geleiteten Unternehmen und gegenüber der Gesamtgesellschaft in sich schließt. Ein Analoges gilt auch für das natürliche und unvermehrbare Produktionsmittel des Bodens. Denn eine solche Umwandlung des Eigentums bedeutet zugleich eine analoge Einschränkung der heute weit überdehnten Kompetenzen der Wirtschaft auf ihre spezifischen Aufgaben, wie sie auch der Staat braucht, um die seinigen erfüllen zu können. Durch den heutigen Privatbesitz an Boden und industriellen Produktionsmittel beziehungsweise Geldkapital werden nämlich Dinge zu Waren das heißt zu Gegenständen des Handels, des Kaufs und Verkaufs, gemacht, die ihrem Wesen nach keine Waren sind, sondern nur vom Geistes- und Rechtsleben her S67 eine sachgerechte Ordnung und Regelung erfahren können: Boden, Arbeit und Kapital. Was die Arbeit betrifft, so versetzt ihr Verkauf auf dem Arbeitsmarkt ihren Anbieter mit einem Teil seines Wesens in jenen sklavenartigen Zustand, der als die Lohnsklaverei bezeichnet wurde und der im Gegensatz steht zu der Aufhebung der Klassengesellschaft durch den demokratischen Staat. Hinsichtlich von Boden und Kapital aber setzt ihr Privatbesitz anstelle der für ihre Verwaltung und sachgemäße Nutzung notwendigen schöpferischen Geistesarbeit ein lediglich durch Besitz zustandekommendes arbeitsloses Einkommen.
So unsozial auch die ungleiche Verteilung von Vermögen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern innerhalb der heutigen Industriegesellschaft ist, der Hauptschaden der letzteren liegt nicht in ihr, sondern darin, daß die Wirtschaft überhaupt das Ganze der Gesellschaft beherrscht und das Streben nach materiellem Wohlstand zum ersten aller Lebensziele geworden ist. Daran aber würde eine andere Art der Vermögensbildung, das heißt eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital, nichts ändern. Auch nicht am Prinzip der ständigen Gewinnsteigerung durch dauernde Expansion der Wirtschaft auf Kosten sowohl der Erdennatur als auch des menschlichen Geisteslebens. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Wandlung der Ordnungsprinzipien der Wirtschaft. Nur aus einer solchen kann sich auch eine gesunde Eingliederung derselben in das Ganze der Gesellschaft ergeben.
Es erwüchsen also als die Ordnungs- und Verwaltungsprinzipien der drei Gebiete der Gesellschaft: Freiheit für das geistige, Rechtsgleichheit für das staatliche, Sozialität, Gemeinschaftssinn, Altruismus für das wirtschaftliche Leben. Setzen wir für das letzte die Bezeichnung "Brüderlichkeit", so haben wir im ganzen wieder drei Parolen: Liberté, Egalité, Fraternité, die schon von der Französischen Revolution für die von ihr angestrebte Neugestaltung der Gesellschaft formuliert worden waren. Und so stellt sich diese noch in einem neuen, weiteren Zusammenhang dar, - in einem Zusammenhang nämlich mit der Idee der sozialen Dreigliederung!
Wie verhält es sich mit diesem Zusammenhang? Die Beantwortung dieser Frage setzt diejenige der Vorfrage voraus: Warum, wenn die S68 genannten drei Parolen ihre eigentliche Losung waren, hat sich die Französische Revolution dann im wesentlichen doch auf die Verwirklichung der Gleichheit beschränkt? Wo sind die beiden anderen Ideale geblieben? Zur Lösung dieser Frage muß allerdings ein noch größerer Zusammenhang ins Auge gefaßt werden. In Wahrheit sind es drei Hauptrevolutionen, die in der neuzeitlichen Geschichte stattgefunden haben. Die erst derselben war die kirchliche Reformation des 16. Jahrhunderts. Sie bezog sich auf das geistige Leben, das damals im wesentlichen noch durch die Religion repräsentiert wurde. Ihr lag ganz eindeutig der Freiheitsimpuls zugrunde. "Von der Freiheit eines Christenmenschen", lautete der Titel einer der Schriften Luthers, mit denen er sein reformatorisches Wirken eröffnete und begründete. Dem Versuch des Reichstags zu Worms, ihn unter Hinweis auf die Autorität der Kirche zum Widerruf seiner Thesen zu zwingen, setzte er die Verweigerung desselben entgegen mit der Erklärung, er sei zu diesem Widerruf nur bereit, wenn ihm aus der Heiligen Schrift die Irrtümlichkeit seiner Thesen mit schlüssigen Argumenten bewiesen werde. Die hier in Anspruch genommene Glaubens- und Gewissensfreiheit hat sich denn auch in den von der Reformation begründeten neuen Konfessionen durchgesetzt. Ihr äußerstes Maß erreichte sie in Holland und England, insbesondere im Independentismus des dortigen Puritanertums. Man hatte damals noch eine Empfindung dafür, daß gemäß dem Worte Christi: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen", das Christentum Freiheit fordert, und man suchte diejenige Form religiöser Vergemeinschaftung, die dieser Forderung entspricht. Damit begann in Wahrheit schon damals der Versuch, den christlichen Impuls auch für die Ordnung der Gesellschaft, zunächst auf dem Gebiet des Geisteslebens, zum bestimmenden zu machen. Da die sich für den legitimen Repräsentanten des Christentums haltende Kirche noch am vorchristlichen Theokratismus festhielt, mußten die Träger dieser Verchristlichung des geistig-religiösen Lebens als Preis hierfür ihre Loslösung von dieser Kirche bezahlen.
Als zweite Revolution folgte am Ende des 18. Jahrhunderts die S69 politische in Frankreich. Da sie die mittlere unter den dreien war und sich auch auf die mittlere Sphäre der Gesellschaft bezog, klangen in ihr zwar in ihren drei Parolen die neuen Ordnungsprinzipien aller drei Bereiche der Gesellschaft auf; aus demselben Grunde vermochte sie selbst aber nur die auf diese mittlere Sphäre bezügliche Forderung der Gleichheit zu verwirklichen. Da die "alleinseligmachende" Kirche noch immer auf ihrem Theokratismus beharrte, mußte jetzt für die neue Errungenschaft ein noch höherer Preis bezahlt werden: nicht nur die Loslösung von dieser Kirche, sondern vom Christentum überhaupt mit der Ersetzung desselben durch die "Religion der Vernunft".
Die dritte Revolution, die sich mit der Begründung der sozialistischen Bewegung im 19. Jahrhundert anbahnte, kam dann im ersten Drittel des 20. zum Ausbruch mit dem kommunistischen Umsturz in Rußland. Sie bezog sich auf das Wirtschaftsleben und suchte innerhalb desselben anstelle des im Kapitalismus verkörperten Egoismus das Prinzip des Sozialismus, der Gemeinschaft, der Bruderliebe zu verwirklichen, das im Wesen des Industrialismus veranlagt ist. Da vom Christentum als das höchste seiner moralischen Gebote die allgemeinmenschliche Liebe verkündet wird, sollte mit der Verwirklichung derselben durch den Sozialismus die Durchchristung der Gesellschaft ihre Vollendung erreichen. Da aber auch jetzt noch die christlichen Kirchen, insbesondere die katholische, auf ihrem Theokratismus beharrten - erhob die letztere doch noch im Jahre 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes zum Glaubensdogma! -, so mußte die sozialistische Bewegung jetzt den höchsten Preis für die Verwirklichung ihrer Ziele bezahlen - einen Preis, der so hoch war, daß an ihm diese Verwirklichung scheiterte. Sie wandte sich nämlich von jeglicher Religion schlechthin ab, indem sie dem Atheismus der marxistischen materialistischen Geschichtsauffassung verfiel. Hierin liegt die tiefe Tragik, die das Schicksal dieser sozialistischen Bewegung kennzeichnet.
Seitdem die Französische Revolution die drei Ideale, die zu den Ordnungsprinzipien für die Gesellschaft der Zukunft geworden sind, erstmals in ihrer Gesamtheit formuliert hatte, sind diese der Hauptinhalt aller gesellschaftlichen und politischen Bewegungen S70 geworden und geblieben, die seit damals Zukunftsziele für die soziale Ordnung verfolgt haben. Es gibt keine anderen derartigen Bewegungen als die drei des Liberalismus, des Demokratismus und des Sozialismus, wenn sie auch in den verschiedenen Ländern mannifaltigste Nuancierungen angenommen haben. Zwar bestehen auch noch andere politische Parteien, wie die klerikalen oder die nationalen; aber beide sind im Grund reaktionär. Die klerikalen erstreben irgendwie die Wiederherstellung der Theokratie. Und auch die nationalen versperren dem den Weg, was die Zukunft erfordert: der Ordnung des menschlichen Lebens nach vom Menschheitlichen her zu gewinnenden Prinzipien. Die Wirtschaft ist von der Stufe der Volkswirtschaft zu derjenigen der Weltwirtschaft fortgeschritten. Auf staatlichem Gebiet sind in unserem Jahrhundert im Völkerbund und dann in der UNO erstmals übernational-weltpolitische Organisationen geschaffen worden. Und die wissenschaftliche Forschung wird längst in übernationalen Forschungsgemeinschaften betrieben. Die modernen Nachrichten- und Verkehrsmittel haben alle nationalen Grenzen gesprengt.
In die Zukunft weisen allein die Ziele der liberalen, demokratischen und sozialistischen Parteien. Freilich wird bisher noch kaum irgendwo gesehen, wie diese drei Zielsetzungen den drei Sachbereichen der Gesamtgesellschaft zugeordnet sind und daß sie nur in ihrer Gesamtheit der Gesellschaft eine wirklich neue, lebensfähige Gestalt zu geben vermögen. Über werden nur eines oder höchstens zwei von ihnen angestrebt und dieses oder diese dann verabsolutierend für die Ordnung des Ganzen der Gesellschaft geltend gemacht - und zwar geschieht dies in einer Weise, die durch die jeweilige nationale Veranlagung bedingt ist. Die westlichen Völker Europas und die nordamerikanische Bevölkerung sind besonders für die Freiheit veranlagt. Daher wird diese dort in ganz einseitiger Weise für alle Gebiete der Gesellschaft: das geistige, das staatliche und das wirtschaftliche, gefordert. Die Folge davon ist, daß die Freiheit in diesem Teile der Welt ganz in egoistischen Machtwillen entartet ist und Aggressivität und Gewalttätigkeit in allen Formen dem Leben das Gepräge gegen. Das Element der Sozialen fehlt völlig.
S71 Umgekehrt liegen die Dinge im Osten Europas. Das Slawentum, am meisten das russische, ist zur Sozialität, zur Brüderlichkeit in besonderem Maße veranlagt. Daher wird dort nicht nur die Wirtschaft, sondern auch der Staat und das Geistesleben "sozialisiert": das führt im Staat zur Einparteiendiktatur, im Geistesleben zur intolerantesten Alleinherrschaft der kommunistischen Heilslehre. Die Freiheit wird mit Füßen getreten, ja völlig ausgelöscht.
In der europäischen Mitte wird vor allem die Demokratie hochgehalten und praktiziert. Dies führt hier zur Verpolitisierung und Verbürokratisierung des gesamten Lebens. Freilich wird die Demokratie in zweifacher Form vertreten: von den einen als freiheitliche Demokratie, von den andern als soziale Demokratie oder demokratischer Sozialismus. Die ersteren wollen nichts vom Sozialismus wissen. Der östliche Kommunismus ist ihnen ein rotes Tuch. Sie sehen in der privatkapitalistischen freien Marktwirtschaft die einzig akzeptable Form des Wirtschaftens. Um den antisozialen Charakter derselben zu verschleiern, haben sie ihr das Epitheton der "sozialen Marktwirtschaft" verliehen. Die Vertreter des demokratischen Sozialismus beziehungsweise der sozialen Demokratie dagegen haben, wie besonders ihre Behandlung aller Probleme des Bildungswesens zeigt, für die Freiheit nichts übrig. Und so sehen wir allüberall, ob wir nach Westen, nach Osten oder zur Mitte hin blicken, Verhältnisse und Formen der Gesellschaft, in denen die eine oder andere Seite des Menschen und seiner gesellschaftlichen Forderungen zu kurz kommt - in denen der Mensch sich in seiner Ganzheit nicht darleben kann.
Warum ist das so? Nun, der eine Grund hierfür wurde soeben schon genannt: er liegt in der Verschiedenheit der nationalen Veranlagungen. Aber die Menschen fühlen sich heute nicht mehr bloß als Glieder ihrer Nation, sondern als Menschen und damit als Glieder der Menschheit, die ja in ihrer Gesamtheit ihr Leben immer mehr bestimmt. Der andere Grund liegt darin, daß die heute herrschende naturwissenschaftlich-materialistische Denkweise es ihnen verunmöglicht, die Gliederung des gesellschaftlichen Organismus und die Funktionsbedingungen seiner einzelnen Bereiche sich ins Bewußtsein zu heben. Zwar empfinden sie in den unbewußten Tiefen ihrer S72 Seelen aufs innigste die hieraus sich ergebenden sozialen Forderungen. Darum drängen sich immer wieder die Postulate der Freiheit, der Demokratie, des Sozialismus aus diesen Tiefen mit elementarischer Gewalt an die Oberfläche ihres Bewußtseins. Und so hat der Streit um die Verwirklichung derselben gerade in der unmittelbaren Gegenwart einen höchsten Grad von Heftigkeit erreicht. Aber da die Menschen diese Postulate nicht auf die ihnen zugeordneten Lebensbereiche zu beziehen wissen, bleiben diese Forderungen bloße Worte ohne einen konkreten Inhalt. Und so gibt es heute kaum andere Worte der Sprache, die in solchem Maße zu inhaltslosen Phrasen ausgehöhlt worden sind wie diejenigen der Freiheit, der Demokratie, des Sozialismus. Damit sind aber diese Begriffe zugleich zutiefst diskreditiert; denn durch ihre inhaltliche Entleerung können sie als Worthülsen mißbraucht werden und werden zumeist als solche verwendet, in denen alles mögliche an Tendenzen und Absichten verhüllt wird, was mit ihrem ursprünglichen Sinn nichts mehr zu tun hat.
Wie aber soll denn die soziale Dreigliederung in dem hier gemeinten Sinne ihre Verwirklichung erfahren? Hier ist auf das zweite Haupthindernis hinzuweisen, das dieser heute noch entgegensteht. Zwar ist die einstige Ständeordnung seit zwei Jahrtausenden formal abgeschafft. Aber ihr jahrtausendelanger Bestand wirkt doch bis heute noch nach. Die Menschen fühlen sich, trotz ihrer demokratischen Rechtsgleichheit, noch immer weitgehend als Glieder eines bestimmten Standes, einer bestimmten Bevölkerungsschicht. Hinzu kommt die durch den Industrialismus entstandene neue Schichtung in die Klassen der Arbeitgeber (Bourgeoisie) und der Arbeitnehmer (Proletarier). Und nicht zuletzt der nie dagewesene Grad beruflicher Spezialisierung, den die neueste Zeit mit sich gebracht hat. Das alles hat zur Folge, daß die Interessen der meisten Menschen die Grenzen ihres Standes- oder Berufsmileus kaum überschreiten. Daneben gehen sie in erster Linie ihren privaten Liebhabereien nach. Ihr sogenanntes gesellschaftliches Engagement gilt größenteils der Durchsetzung ihrer Standes- oder Berufsinteressen.
Dem steht die Tatsache gegenüber, daß durch die (in den S73 vorangehenden Kapiteln skizzierte) Gestaltung, welche die Gesellschaft in ihren verschiedenen Bereichen des geistigen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens in den letzten Jahrhunderten angenommen, sowie durch die rechtliche Gleichstellung aller Menschen, welche die Idee der Demokratie bewirkt hat, heute jeder Mensch in allen drei Bereichen der Gesellschaft drinnen steht und für die sachgemäße Ordnung derselben mitverantwortliche geworden ist. Die Herrschaftsposition, welche innerhalb der Gesellschaft durch lange Zeit der Staat eingenommen hat und - wenigstens formal - heute noch immer einnimmt, hat die Menschen aber daran gewöhnt, alle gesellschaftliche Verantwortung ihm zuzuschieben. Und so ist er heue it Verantwortungen und Zuständigkeiten derart überladen, daß er ihnen schon ihrer Überfülle wegen, aber auch seinem Wesen nach gar nicht mehr zu genügen vermag. Die Regierungen und Parlamente sind in ihren Aufgaben weit überfordert und versagen deshalb in ihren Maßnahmen ständig. Die Bürger aber fühlen sich gegenüber der staatlichen Allmacht zur Ohnmacht verurteilt und verfallen deshalb einer resignierenden Staatsverdrossenheit oder aber begehren gewaltsam gegen die staatlichen Maßnahmen auf, die ihnen ungerecht erscheinen.
Innerhalb einer dreigegliederten Gesellschaft wird jeder einzelne je nach der Art, wie er in ihren drei Bereichen drinnensteht, an der Ordnung und Verwaltung aller mitzuwirken die Möglichkeit haben. Er wird sich aber auch zu dieser Mitwirkung verpflichtet und für ihre rechte Durchführung verantwortlich fühlen müssen. Sein gesellschaftliches Engagement wird ein weit größeres sein müssen als das heute durchschnittliche. Solange dieses erhöhte Engagement nicht eingegangen wird, hat die soziale Dreigliederung keine Chance ihrer Verwirklichung. Selbst wenn sie durch irgendeine heute nicht vorherzusehende geschichtliche Situation machtmäßig "eingeführt" werden könnte, hätte sie ohne eine entsprechende Ausbreitung jenes Engagements keine Chance ihres Bestandes. Sie würde nach kurzer Zeit zusammenbrechen. Denn die geordnete Einheit wie auch der Zusammenhalt der Gesellschaft wird dann durch die Menschen repräsentiert und gewährleistet, von denen ein jeder alle drei Gebiete in sich umfaßt und miteinander verbindet.
S74 Wie aber müßte ein solches Engagement für ihre Verwirklichung zum Zuge kommen? Alle bisherigen gesellschaftlichen Umwälzungen sind zustande gekommen durch Aufstände beziehungsweise Revolutionen derjenigen Schichten, die sich innerhalb der je betreffenden Gesellschaft unterdrückt fühlten, wenn auch diese Aufstände nicht gleich beim ersten Anlauf Erfolg hatten. So hören wir im Altertum von Sklavenaufständen, im Aufgang der neueren Zeit von Bauernrevolten und Bauernkriegen, in der Französischen Revolution erhob sich das Bürgertum das Proletariat gegen die Herrschaft der Bourgeoisie. Die Aufständischen kämpften für ihre Rechte, für ihre Befreiung.
Auch für die Umgestaltung unserer heutigen Gesellschaft bedarf es eines Aufstandes, eines Befreiungskampfes. Dieser kann aber nicht mehr derjenige einer Schicht, einer Klasse sein, sondern nur derjenige eines Lebensbereiches, der heute am meisten im Zustande der Knechtschaft sich befindet. Es ist dies, wie im vorangehenden gezeigt wurde, das Geistesleben beziehungsweise das Bildungswesen. Um seine Befreiung von der Herrschaft des Staates und der Oberherrschaft der Wirtschaft geht es in der nächsten Zukunft. Diese kommt aber nicht nur ihm zugute, sondern der Gesellschaft als ganzer. Denn die heute bestehende Herrschaft des Staates über das Geistesleben lähmt dessen Produktivität immer mehr, und die Oberherrschaft der Wirtschaft bringt die moralischen Kräfte immer mehr zum Absterben, verstrickt uns immer tiefer in einen Kampf aller gegen alle und liefert uns der Entmenschlichung durch die Technik und unserem Untergang durch die Zerstörung der Erde aus. Nur die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den drei Bereichen kann unsere Zukunft retten. Dies ist aber nur zu erreichen durch die Befreiung des Geisteslebens, welche ihm gegenüber der Wirtschaft ein Machtgleichgewicht verschaffen kann.
Der Aufstand, den wir brauchen, kann also nicht von einer Klasse, sondern muß von allen ausgehen, insofern sie als Schüler, Studenten, Lehrlinge, als Eltern von Schulkindern, als Lehrer, Forscher, S75 Künstler, als Theaterpublikum, als Besucher von Kunstausstellungen, als Konsumenten von Literatur usw. am geistigen Leben teilnehmen. Dieser Aufstand ist seit einem Jahrzehnt bereits auch im Gange: als die weltweite Revolte der Jugend, die es in dieser Art und Dimension noch niemals gegeben hat. In ihr erhoben sich erstmals nicht Vertreter einer Klasse, eines Standes, sondern Vertreter eines Lebensalters, einer Generation, die aber verschiedensten Schichten angehören. Zwar richtet sich dieser Aufstand gegen die heutige Gesellschaft im ganzen, in erster Linie aber gegen das von Staat und Wirtschaft in ihren Sklavendienst gezwungene Bildungswesen. Denn dieser Bereich der Gesellschaft ist es, in dem die Heranwachsenden vornehmlich drinnenstehen. Was sie in ihm suchen, ist ihre Heranbildung zu vollen Menschen. Was sie heute in ihm finden und erfahren, ist ihre Manipulation, ihre Spezialisierung, ihre seelische Deformation zu Knechten einer Industriegesellschaft, die ihrer Selbstzerstörung entgegentreibt. Schon vor zwei Jahrzehnten hat der bekannte Heidelberger Bildungsforscher Georg Picht deshalb von der Bildungskatastrophe gesprochen, in welche die Verhältnisse innerhalb unseres Bildungswesens eingemündet sind. Heute haben sie deshalb fast in allen Industriestaaten bürgerkriegsartige Formen angenommen. Und eine Lösung der Probleme ist nirgends in Sicht, da den staatlichen Verwaltungen jegliches Bildungskonzept fehlt außer dem der immer strafferen politischen Kontrolle und wirtschaftlichen Effektuierung der Bildungsanstalten. Dadurch aber wird die Jugend nur zu immer gewalttätigerem Widerstand provoziert. Mit Gewalttätigkeit ist jedoch dieser Aufstand nicht mehr zu einem fruchtbaren Ergebnis zu führen. Lediglich durch Einsicht in die Grundursachen der heutigen Bildungsmisere und durch Entfaltung von aus solcher Einsicht erfließenden Initiativen, Initiativen nämlich zur Gründung von Kindergärten, Schulen, Hochschulen für Wissenschaft und Kunst, heilpädagogischen Anstalten, Krankenhäusern usw., die nicht vom Staate verwaltet werden, sondern sich in Freiheit selbst verwalten und welche die Bildung oder Wiederherstellung des Menschen zum vollen Menschen als ihr oberstes Ziel verfolgen. Gründungen solcher Art sind aus der anthroposophischen Bewegung seit einem S76 halben Jahrhundert in großer Zahl und in verschiedensten Ländern der Welt hervorgegangen - die bekanntesten unter ihnen sind die Waldorfschulen -, und mit ihnen sind Keime eines autonomen Geisteslebens gepflanzt worden, die sich in kräftigem Wachstum befinden. Hier, auf diesem Gebiete liegt der konkrete, in der Sache selbst begründete Anfang der gesellschaftlichen Umgestaltung, die wir brauchen. Denn nur aus solchem Bildungswesen kann jenes neue Bewußtsein, jenes erhöhte gesellschaftliche Engagement erwachsen, durch das - wie heute schon viele, die um die Menschheitszukunft besorgt sind, einsehen und zum Ausdrucke bringen - die notwendige Wandlung der Gesellschaft allein zu erreichen sein wird.
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