Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Das Mittelalter


S34   Daß das Erkenntnisleben innerhalb der gedanklichen Sphäre selbst noch eine Weiterentwicklung erfahren könne, dazu mußte erst ein neuer Impuls in die Geistesentwicklung der Menschheit einschlagen. Dieser Impuls kam im Christentum. Freilich nicht in ihm allein, sondern außerdem in den Veranlagungen derjenigen Völker, die - weltgeschichtlich betrachtet - ungefähr gleichzeitig mit ihm als jugendfrische auf dem Schauplatz der Geschichte erschienen und seither die hauptsächlichen Träger derselben geworden sind: der Germanen. Denn es besteht die Tatsache, daß das Christentum erst auf germanischem Boden d.h. durch die Verbindung, die es mit den Anlagen dieser Völker einging, eine wesentlich neue Kulturgestaltung hervorgebracht hat. Versuchen wir, uns das Wesen dieser beiden Impulse in Kürze zu vergegenwärtigen und aus ihm heraus die Gründe zu verstehen, warum ihre Verschmelzung eine neue Kulturwelt und damit auch eine neue Epoche in der Entwicklung des menschlichen Erkenntnislebens heraufführte.

   Was zunächst den christlichen Impuls betrifft, so wollen wir sein Wesen einfach aus dem heraus zu verstehen suchen, was sich unter seinem Namen als religiöse Lehre geschichtlich herausgebildet hat. Denn es kommt hier nicht auf das an, was im Sinne dieser oder jener religionswissenschaftlichen Auffassung als das "Wesen des Christentums" oder die "Lehre Jesu" zu gelt, sondern auf das, was geschichtlich als christlicher Impuls tatsächlich gewirkt hat. Da ist fürs erste darauf hinzuweisen, daß im Sinne der christlichen Lehre in Christus der Sohn Gottes in Menschengestalt auf Erden erschienen ist, um durch seine Lehre und seinen Opfertod der Menschheit die Erlösung zu bringen von dem Sündenfalle, den sie im Paradies erlitten hat. Durch diese Tat wurde auf der einen Seite der Seelenblick der Menschheit, der sich in Auswirkung ihres Falles immer mehr von der göttlich-himmlischen zur irdisch-natürlichen Welt hingewandt hatte, wiederum über die letztere hinaus und auf die erstere, aber nun als auf ihr letztliches Strebensziel gerichtet. Auf der andern Seite empfing durch sie doch auch zugleich die irdisch-sinnliche Welt eine Bedeutung und eine Weihe, die sie vorher nicht gehabt hatte. Hatte doch in Christus die Gottheit selbst im Fleische auf der Erde gewandelt, gelehrt und gelitten. Zum Zweiten wurde der Mensch selbst, dem ja diese Erlösungstat gegolten hatte, durch sie in viel intensiverem Maße, als dies früher der Fall gewesen war, in den Mittelpunkt des Weltendaseins gerückt.

   Würde die Frage aufgeworfen nach einer möglichen Beziehung dessen, was in solcher Art als Inhalt eines religiösen Erlebens aufgetreten ist, zu dem, was wir im vorangehenden Kapitel vom Gesichtspunkt der Erkenntnisentwicklung aus als den geschichtlichen Wandel des menschlichen Bewußtseins skizziert haben, ferner nach der möglichen Bedeutung, welche diese religiösen Vorstellungen für den weiteren Fortgang der Erkenntnisentwicklung gewinnen konnten S35, so dürfte zunächst das Bild des paradiesischen Urzustandes wohl in eine gewisse Parallele gesetzt werden zu jenem mythologischen Bewußtseinszustand, in welche, wie wir oben ausführten, der Mensch alter Zeiten sich noch in völliger Einheit mit einer zugleich göttlichen und natürlichen Welt erlebt hatte. Den Fall (durch den Genuß vom Baum der Erkenntnis) und die Vertreibung aus dem Paradiese sodann müßten wir irgendwie in Zusammenhang bringen mit dem Verlust jenes mythologischen Erlebens, durch den einerseits das Denken (als die erste Form einer eigentlichen Erkenntnisbetätigung), andererseits das rein sinnliche Wahrnehmen entstanden ist, d.h. also mit jenem Entwicklungsvorgang, durch den der Mensch erst ein gegenüber der Welt selbständiges Wesen ward. Der Impuls des Christentums selbst aber würde dann, seiner erkenntnismäßigen Bedeutung nach, darin liegen, daß als ein letztes, fernstes Zukunftsziel angestrebt wird, die Einheit von Mensch und Welt, die im Ursprunge da war und verloren wurde, in neuer Art wiederzugewinnen. Und als Hindeutung auf diese neue Art dürfte betrachtet werden die Weihe und Würde, welche das Christentum sowohl der Sinneswelt als auch dem Menschen überhaupt verliehen hat. Sie wäre nämlich dadurch gekennzeichnet, daß die Momente, die durch den Zerfall der ursprünglichen Einheit erst als solche entstanden sind: das rein sinnliche Wahrnehmen und der Mensch als selbständiges, erkennendes Wesen, in der künftigen Einheit nicht wieder ausgelöscht, sondern zugleich in ihrer Selbständigkeit erhalten bleiben sollen. Was nun im besondern den Menschen betrifft, so hat ja das Christentum durch die Lehre, daß die Erlösungstat für alle d.h. für jeden Menschen geschehen sei, sowohl die Bedeutung und vollmenschliche Würde des einzelnen Menschen als auch die Tatsache der Gesamtmenschheit zum erstenmal ins Bewußtsein gehoben. Das eine zeigte sich u.a. in der allmählichen Überwindung der Sklaverei, das andre in der Tatsache, daß das Christentum sich in keiner Weise an geographische oder blutsmäßige Grenzen band, sondern als einzige Menschheitsreligion von Anfang an seine Lehre in gleichmäßiger Weise allen Völkern verkündete, die seinen Glaubensboten jeweils erreichbar waren. Mit diesem seinem Blick auf die räumliche Gesamtheit der Menschheit hing ferner zusammen, daß die Lehre des Christentums ihrem Inhalte nach auch die zeitliche Ganzheit des Menschheitslebens umfaßte: von dessen Beginn im Paradies bis zu dessen Ende, dem Jüngsten Gericht; und damit hat es zuerst auch den Sinn für die Geschichte der Gesamtmenschheit geweckt.

   Durch ihren geschichtlichen Aspekt schloß sich die christliche Lehre im übrigen zusammen mit Anschauungen, die sich in der einen oder andern Form bei allen ältern Völkern fanden über einen ursprünglichen Fall oder einen stufenweisen Abstieg von besseren, gottnäheren zu immer schlechteren Zuständen, und erwies sich zugleich als die Erfüllung all der Prophezeiungen, die bei den verschiedensten Völkern von einem künftig erscheinenden Gott-Erlöser sprachen, heiße er nun Messias oder Horus oder Adonis oder Dionysos Jakchos. Die letztgenannten Lehren hatten im Altertum alle den Charakter von Geheimnissen, die unmittelbar nur den Eingeweihten in den Mysterien geoffenbart wurden. Das Christentum brachte zugleich die Erfüllung und die "Veröffentlichung" des einstigen Mysterienwissens. Der Gott, dessen Kommen dieses Wissen vorherverkündete, war nach christlicher Lehre in Christus auf S36 dem Schauplatze der Sinneswelt als geschichtliche Gestalt erschienen. Seinen Zusammenhang mit dem einstigen Mysterienwesen dokumentiert das Christentum auch dadurch, daß es seine Lehre trotz ihrer Öffentlichkeit ihrem Inhalte nach als ein Mysterium kennzeichnet, das nur "geglaubt" werden kann und nur von der Kirche interpretiert werden darf. Seine "heiligen Schriften" liefert es bis zum Ende des Mittelalters nicht den Laien aus, sondern behält sie ausschließlich den Klerikern vor. Denn in der Kirche als seiner Priesterorganisation lebt das einstige Mysterienpriesterwesen in verwandelter Gestalt fort. Wie die alten Mysterien sich als die Kanäle betrachtet hatten, durch welche das noch außerirdische, auf Sonne, Mond, Planeten beheimatete Göttliche seine leitenden Impulse in das Menschendasein einfließen ließ, so will die Kirche das Gefäß sein, durch welches das auf Erden erschienene und durch die Folge seiner "Stellvertreter" sichtbar repräsentierte Göttliche seine Erlösungskraft dauernd der Menschheit zuteil werden läßt.

   Blicken wir nun auf das Germanentum hin, so dürfen wohl die Hauptimpulse, die es als seine spezifischen Anlagen in die Geschichte hereinbringt, gesehen werden in seiner Hingeordnetheit einerseits auf die irdische Natur, andrerseits auf die volle Entfaltung der menschlichen Individualität. Das erstere kommt auf geistigem Gebiete zum Ausdruck in der großen Bedeutung, die in älteren Zeiten einem religiösen Naturerleben (Naturheiligtümer!), in neuerer Zeit der wissenschaftlichen Naturerforschung zukommt; auf sozialem Gebiet zeigt es sich in der Bedeutung, die das Wirtschaftsleben erlangt, in älteren Zeiten in Form der Landwirtschaft, in neuerer Zeit in Form von Handwerk und Industrie. Man darf geradezu sagen: die gesamte Kulturgestaltung steigt - von einem gewissen Gesichtspunkt aus - innerhalb des Germanentums aus der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit der irdischen Natur auf. Der zweite Grundimpuls desselben aber offenbart sich darin, daß Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Person, Freiheitsstreben und Individualismus schon früh als charakteristische Momente seines sozialen Lebens hervortreten und in den letzten Jahrhunderten geradezu die maßgebenden Triebkräfte von dessen Entwicklung geworden sind.

   Diese beiden Momente treten in dem Grade, in welchem sie innerhalb des Germanentums zur Erscheinung kommen, als durchaus neue in der Geschichte auf. Indem sie nun aber, gemäß der von uns gegebenen Charakteristik, zugleich auch als Bestandteile in der christlichen Lehre enthalten sind bzw. als Antrieb sich aus der letzteren ergeben, liegt hierin die Verbindung von Christentum und Germanentum begründet. So werden die Germanen zunächst die hauptsächlichen Vertreter des Christentums und arbeiten zugleich mit der Entfaltung ihrer besonderen Wesensanlagen die diesen entsprechenden Momente des Christentums heraus. Selbstverständlich ist damit noch nicht der gesamte Inhalt des christlichen Impulses erschöpft; zukünftige Zeiten werden je nach den Anlagen, die ihre volksmäßigen Repräsentanten ihm entgegenbringen, noch andre Seiten desselben zur Verwirklichung bringen können und müssen. Und man kann jetzt schon deutlich bemerken, daß für die slawischen Völker der Schwerpunkt der christlichen Lehre in ganz anderen Momenten liegt, als dies bisher für die germanischen der Fall gewesen ist. S37   Mit all dem ist freilich erst auf den einen Hauptfaktor hingewiesen, durch den die Geistesgeschichte zunächst des Mittelalters bestimmt wird. Der andre Faktor ergibt sich durch die Entwicklungsstufe, auf der das Germanentum bei seinem Eintritt in die Weltgeschichte steht und durch die Art und Weise, wie es zu seiner Reife gelangt. Und da ist darauf hinzuweisen, daß das Germanentum noch über den Abschluß der sog. Völkerwanderungszüge hinaus, ja teilweise bis ins 10., 11. Jahrhundert noch auf der Entwicklungsstufe steht, die durch das mythologische, vorgedankliche Erleben gekennzeichnet ist. Wir kennen ja nicht nur eine orientalische und eine griechische, sondern auch eine nicht minder großartige germanische Mythologie. Nur geschieht eben dieses, daß dem Germanentum an Stelle seiner ursprünglichen mythologischen Religion oder religiösen Mythologie (denn beides ist auf dieser Bewußtseinsstufe dasselbe) noch während seiner mythologischen Epoche durch seine Christianisierung die christliche Religion eingepflanzt wird. Daß ein solcher Vorgang überhaupt möglich war, liegt in dem erwähnten Umstand begründet, daß die spezifischen Anlagen des Germanentums auf bestimmte Elemente des Christentums gleichsam hingeordnet waren und es deshalb für dessen Aufnahme empfänglich machten. Dieses Hingeordnetsein kommt bereits in der germanischen Mythologie zum Ausdruck und gibt ihr geradezu ihr besonderes Gepräge. In den Bildern, die sie von der Götterdämmerung oder von der Vidarfigur malt, deutet sie auf die Notwendigkeit, daß das Eigene zunächst untergehe, um durch die Aufnahme eines Neuen dereinst in verwandelter Gestalt wiedererstehen zu können. Nun bleibt aber trotzdem das Seelenleben des Germanentums, wie schon gesagt, bis gegen das Ende des ersten christlichen Jahrtausends auf der mythologisierenden Stufe stehen. Daher fließt die Gestalt Christi für sein Bewußtsein noch weitgehend zusammen mit der des wiederkehrenden Baldur oder der des Vidar. Und darum leben die Lehren des Christentums zunächst ganz in bildhafter, ja geradezu mythologischer Form im Germanentum, was dadurch noch unterstützt wird, daß sie dem Volke fast nur durch die Kunst: Malerei, Plastik, Kultische Dramaturgie (Weihnachts- und Osterspiele) nahegebracht werden. Dadurch aber ist es auch bedingt, daß die soziale Gestaltung jenen theokratischen Charakter beibehält oder sogar von neuem annimmt, der einstmals auch im Orient geherrscht hatte und eben der mythologischen Bewußtseinsstufe entspricht. "Von außen" her wird da das menschliche Leben durch Gott geordnet und gestaltet. Nur ist das "Außen" jetzt nicht mehr der Himmel, der Kosmos, sondern die römische Kirche. Und an die Stelle des "Gottes" ist dessen irdischer Stellvertreter: der Papst getreten. Die Gottesherrschaft hat sich in eine Kirchen- bzw. Papstherrschaft verwandelt. Alle bezüglichen Verhältnisse haben sich vermenschlicht und verirdischt.

   Den theokratischen Zug hatte das Christentum freilich schon in der Spätantike angenommen, zufolge der Rückwendung der letzteren zu orientalischen Geistes- und Lebensformen; es gestaltete ihn dann aber auf dem Boden der noch jungen germanischen Völker in bestimmter Art noch weiter aus. Der "Gottesstaat" des stark durch Plato und den Neuplatonismus beeinflußten Augustin z.B. war das Lieblingsbuch Karls des Großen. Zugleich hatte sich das Christentum aber auch mit den eigensten Grundkräften der griechisch-römischen S38 Kultur verschmolzen. Schon durch den Evangelisten Johannes war die Christusauffassung mit der dem einstmaligen ephesischen Mysterium entstammenden Logoslehre verbunden worden. Clemens von Alexandrien, Origenes, Dionysius Areopagita u.a. hatten dann die Darstellung der christlichen Weltanschauung völlig in das Element der griechischen Philosophie getaucht. Andrerseits hatte die staatsartige Organisation der christlichen Kirche das Erbe des römischen Staats- und Rechtswesens in sich aufgenommen und bewahrt. Das kanonische Recht, nach dem die Kirche lebt, ist aus dem altrömischen hervorgegangen. Indem nun diese Elemente vom Christentum aus auf das Germanentum einwirkten, weckten sie dieses allmählich aus seinem mythologisierenden Träumen auf und erregten in ihm die Kraft des Denkens und damit eines höheren Bewußtseins. Bezeichnend und bedeutsam aber ist es eben, daß im Gegensatze zu den Völkern der klassischen Antike, deren spezifische Veranlagung, Mission und Leistung darin bestanden hatte, sich selbst von der mythologischen zur gedanklichen Bewußtseinsart zu erheben und die letztere auszugestalten, das Germanentum diese Erweckung nicht aus sich selbst zu bewirken vermochte, sondern einer von außen empfangenen Einwirkung: eben derjenigen des antiken Geisteserbes verdankte. Und so durchlief es jetzt, wie in einer abgekürzten Wiederholung, man könnte auch sagen: wie durch einen Erziehungsprozeß hindurchgehend, auch seinerseits diese "philosophische" Bewußtseinsstufe. Seine ureigene Leistung dagegen, in der seine spezifischen Anlagen ihre volle Entfaltung erlebten, und mit der wieder ein ganz neuer Beitrag zur menschlichen Geistesentwicklung geliefert wurde, setzte im Grunde erst ein, nachdem es diese Schule durchlaufen hatte: seit dem Beginne der neueren Zeit. Und sie umfaßt alles das, was die letzten Jahrhunderte an charakteristischen Errungenschaften gebracht haben, und was wir im weitern Verlauf dieser Darstellung noch zu betrachten haben werden.

   Innerhalb des Erziehungsprozesses, den die mittelalterliche Kultur im wesentlichen bedeutet, kann man aber, wie auf allen andern Lebensgebieten, so auch auf dem der Erkenntnis, drei Hauptepochen unterscheiden, die sich zeitlich folgendermaßen abgrenzen lassen:

   Von etwa 800, wo die eigene philosophische Arbeit erst einsetzt, bis etwa 1200: die religiös-theokratische Epoche. Auf dem Erkenntnisgebiete stehen die rein theologischen Fragen noch ganz im Vordergrund. Von der antiken Philosophie wirkt vornehmlich der Platonismus (der, wie wir sahen, ja selbst einen Übergang vom mythologischen zum gedanklichen Erleben darstellte) und der vom Platonismus stark beeinflußte Augustinismus.

   Darauf folgt das 13. Jahrhundert, das die Mitte und Höhe der mittelalterlichen Geistesentwicklung bedeutet. Aristoteles, von dessen Werken bisher nur die Logik bekannt gewesen war, jetzt aber durch die Araber auch die Metaphysik und die naturwissenschaftlichen Schriften bekannt werden, wird zum maßgebenden Lehrer aus der Vergangenheit. Die Philosophie als solche tritt jetzt in den Mittelpunkt des geistigen Interesses. Durch sie wird versucht, die Verbindung und zugleich das Gleichgewicht zwischen Theologie und Naturforschung herzustellen. Das bedeutet, daß im Denken die Brücke und zugleich die Harmonie zwischen Glauben und Wissen gesucht wird. S39

   Vom 14. Jahrhundert an flutet die philosophische Bewegung ab. Es setzt einerseits mit dem Siege des Nominalismus die Vorbereitung der modernen Naturwissenschaft ein, andererseits mit der aufkommenden Mystik das geistige Sichaufsichselbststellen der menschlichen Individualität.

   So wichtig nun die Beachtung dieser zeitlichen Gliederung ist, so stellt die letztere doch nur die eine Seite der Sache dar. Die andre Seite ist dadurch gegeben, daß, wie wir schon erwähnten, sowohl die spezifischen Anlagen des Germanentums als auch die Eigenart des christlichen Impulses von allem Anfang an, also schon in der ersten der drei Epochen wirksam sind und den Gestaltungen derselben daher ein anderes Gepräge verleihen, als analoge Bildungen in älteren Zeiten gehabt haben. So tritt ja, um nur eines zui erwähnen, die nominalistische These ein erstes Mal bereits im 11. Jahrhundert auf, kann sich aber da noch nicht völlig durchsetzen. In der zweiten Epoche haben wir dann ein völliges Sicheinleben und reines Sichbewegen im Elemente des Denkens, unter gleichmäßiger Führung der beiden großen Meister des Gedankens aus der Antike: Platos und Aristoteles'. Aber während in der entsprechenden Zeit der Antike die mythologisch-theologische Betrachtungsweise zurückgetreten war, tritt jetzt deren Analogon: die christlich-theologische Problemstellung keineswegs in den Hintergrund; denn diese ist jetzt repräsentiert durch die weltbeherrschende Organisation der christlichen Kirche, und diese drängt den Denkern mit richtunggebender Macht ihre Fragestellungen und zugleich mit unantastbarer Autorität ihre religiösen Vorstellungen auf. Andrerseits erfolgt dieses Sicheinleben in das Gedankenelement jetzt mit ganz andern Kräften als in der Antike, - mit Kräften, in denen Impulse zur Entfaltung drängen, welche die Menschheit über die Bewußtseinsstufe der Antike hinauszuführen veranlagt sind. Hierin liegt der Grund, warum jetzt die Ausgestaltung des philosophischen Bewußtseins eine andre Färbung annimmt als im Griechentum. Hierin auch der Grund, warum der philosophische Erkenntnisbegriff, den wir zunächst an Hand der antiken Philosophie charakterisiert haben, jetzt noch eine weitere Durchbildung erfährt. Schließlich ist es hierdurch bedingt, daß dieser Fortschritt in der Entwicklung des philosophischen Erkenntnisbegriffs über Aristoteles hinaus erst nach einer Pause von fast anderthalb Jahrtausenden erfolgte. Er konnte eben erst eintreten, als dieselbe Bewußtseinsstufe in einer weltgeschichtlichen Wiederholung noch einmal durchschritten wurde mit Kräften, in denen bereits eine nächste Stufe veranlagt war. Was endlich die dritte der mittelalterlichen Epochen betrifft, so ist sie wiederum dadurch charakterisiert, daß in Nominalismus und Mystik noch stark die bestimmenden Impulse der zweiten, ja sogar der ersten nachwirken. Dies unterscheidet die letzten Jahrhunderte des Mittelalters von den ersten der Neuzeit: daß, obwohl alle Keime der letzteren sich dort schon deutlich zeigen, sie doch noch wie unter einer freilich immer dünner werdenden Decke liegen, die aus den nachwirkenden Antrieben der früheren Zeit besteht. Und was beim Übergang zur neueren Zeit geschieht, ist weniger das Wirksamwerden neuer Kräfte als vielmehr das Abstreifen einer schon spinnwebdünn gewordenen Hülle durch Kräfte, die seit langem herangereift sind.

   Das alles bedingt, daß im Mittelalter von seinem Anfang bis zu seinem Ende Altes und Neues durcheinanderwirkt, Vergangenes mit Künftigem verwoben ist und dadurch Spannungen von einer Stärke bestehen, wie sie die antike S40

Geistesentwicklung bei weitem nicht gekannt hat. Daher ist auch das, was auf dem Höhepunkt des Mittelalters: im Erkenntnisfelde etwa bei den Meistern der Scholastik, namentlich einem Thomas von Aquino als Erkenntnisgestaltung auftritt, keine bloße Mitte, sondern bringt in sich Gegensätze zum Ausgleich von einer Weite und Tiefe, wie wir sie in der antiken Philosophie nicht finden. In der Harmonisierung dieser Gegensätze haben solche Geister wohl auch selbst ihre wesentliche Aufgabe und zugleich deren hauptsächliche Schwierigkeit erblickt, und in der erreichten Durchführung derselben ist von jeher auch die Größe und Eigenart ihrer Leistung gesehen worden.

   Indem wir nun versuchen, auf dem Hintergrunde dieses Zeitbildes eine Skizze der Thomistischen Philosophie als der Gipfelerscheinung der Scholastik zu entwerfen, sei diese mit einer allgemeinen Charakteristik der letzteren eingeleitet.

   Die Philosophie des Thomas stellt wohl die reinste Verkörperung der rein im Elemente des Gedankens webenden Erkenntnisgestaltung dar. Ihr Schöpfer steht somit genau in der Mitte zwischen Plato, in dessen Denken noch stark das ältere mythologische Erleben hereinspielte, und Aristoteles, dessen Forschen bereits stark von der Sinnesbeobachtung bestimmt wurde. Hiermit hängt es zusammen, daß im Weltbilde des Thomas diejenigen der beiden antiken Philosophen zu einer Einheit verschmolzen sind. Hierdurch ist es ferner bedingt, daß von den drei Methoden, die Aristoteles aufstellte: der Induktion, der Deduktion und der zwischen beiden vermittelnden Dialektik die letzte von Thomas - wie überhaupt von der ganzen Scholastik - hauptsächlich angewandt wird. (So ist z.B. auch sein Hauptwerk: die theologische Summe in einer durch diese Methode bestimmten Form abgefaßt).

   Nun hat aber das Denken bei Thomas bereits einen andern Charakter als bei Aristoteles oder gar bei Plato. Der Ich-Impuls nämlich gibt ihm schon deutlich das Gepräge. Dieses besteht darin, daß das Denken in viel höherem Grade mit dem Charakter der Innerlichkeit, genauer: einer innern Tätigkeit der menschlichen Seele auftritt. Daher schreibt auch Thomas den tätigen Verstand, dessen Verhältnis zur menschlichen Persönlichkeit von Aristoteles noch nicht völlig geklärt worden war, in eindeutiger Weise der menschlichen Seele zu. Thomas kämpft geradezu um die Einheit der Seele. Was von Plato und auch noch von Aristoteles als verschiedene Teile der Seele unterschieden worden war, wird von Thomas zu bloß verschiedenen Vermögen der einheitlichen Seele herabgesetzt. Dieser sein Kampf um die Einheit der Seele und um den ihr individuell zukommenden tätigen Verstand ist zugleich ein solcher gegen die arabischen Philosophen, welche die aristotelische Seelenlehre in der Richtung einer völligen Zweiteilung des menschlichen Wesens fortgebildet hatten. Der tätige Verstand sollte nach ihnen als ein Einheitliches allen Menschen zukommen und als Universell-Übermenschliches in die einzelnen Persönlichkeiten nur während ihres Erdenlebens gleichsam hineinleuchten. Dem einzelnen Menschen als solchem aber sollte nur der leidende Verstand bzw. die empfindende Seele zukommen, die nach Aristoteles keinen Anspruch auf Unsterblichkeit machen können. So war der Kampf des Thomas zugleich ein solcher um die Unsterblichkeit der individuell am Geistigen teilhabenden Seele. Mit dieser Betonung des innerlich-individuellen Charakters des tätigen Verstandes war nun aber die Gefahr verbunden, den S41 Menschen als denkenden von der Welt zu trennen. Wenn das Geistige so mit der individuellen Innerlichkeit verknüpft wurde, so entstand die Gefahr, die Außenwelt rein materiell zu denken und dadurch zwischen ihr und der menschlichen Innenwelt eine Kluft aufzureißen. Dieser Gefahr war der Nominalismus erlegen. Ihm waren die Begriffe bloße unwirkliche Namen, durch die der Mensch die rein materiellen Tatsachen der Außenwelt in Gruppen zusammenfaßt. Hiergegen ergab sich nun die andre Frontstellung, in der Thomas zugleich kämpfte. Er wollte das Band zwischen Innenwelt und Außenwelt, d.h. zwischen Mensch und Welt nicht ganz abreißen lassen. Denn wir werden im folgenden sehen, daß es auch für ihn wenigstens zum Teil bereits zerriß. So mußte er die Feststellung treffen, daß der Mensch den Erkenntnisinhalt nur der Form nach erzeugt, dem Inhalte nach aber von der Außenwelt empfängt. Allerdings empfängt er ihn nicht - und hierin liegt die andre Seite des Unterschiedes zwischen Thomas und den antiken Philosophen - durch eine unmittelbare Ideenanschauung im Sinne Platos oder Aristoteles', die den Charakter einer geistigen Offenbarung hat, sondern ausschließlich aus der Sinneswelt. Genauer gesagt: er zieht ihn durch seinen tätigen Verstand aus den Erscheinungen der letzteren heraus. Er kann ihn aber nur aus ihnen herausholen, weil in den Dingen selbst ein Ideenartiges als ihr Wesen, ihr wahres Sein enthalten ist. Freilich ist es in ihnen nicht als Begriff enthalten, sondern als ihr Formprinzip. Indem der menschliche Verstand dieses in sich aufnimmt, wird es in ihm zum Begriff. Dieser stellt eine Art Bild von jenem dar. Und so bewegt sich der Mensch doch auch für Thomas mit seinem Denken in gewissem Sinne noch im Elemente des Seins. Daher ist die Philosophie auch für Thomas noch wesentlich Seinslehre, Ontologie. Allerdings muß diese aus seinen Voraussetzungen heraus eine kompliziertere Ausgestaltung erfahren als bei Plato und Aristoteles, - eine Ausgestaltung, welche jene älteren Seinslehren als Teile oder Momente in sich enthält. Als ein weiterer Teil nimmt außerdem ihre Erkenntnislehre in ihr einen breiten Raum ein. Ja, es ergibt sich eine Erkenntnisgestaltung, welche Seinslehre und Erkenntnislehre als zwei völlig im Gleichgewicht stehende Hälften und auch als gleichmäßige Erkenntnisquellen umfaßt. Um diese darzustellen, wollen wir nun aber an einem andern Punkt einsetzen.

   Wie die mittelalterliche Philosophie überhaupt, so geht auch diejenige des Thomas von der Theologie aus. In den ersten christlichen Jahrhunderten und auch im frühen Mittelalter hielt man eine Gotteserkenntnis noch für erlangbar: durch Aufsteigen vom Glauben zum Schauen, von der Pistis zur Gnosis. Dionysius Areopagita gibt eine Hierarchienlehre als Erkenntnisinhalt und Scotus Erigena lebt noch ganz in diesen Vorstellungen. Hiermit steht im Zusammenhang, daß jene Zeit vorwiegend platonisch orientiert war. Denn die Platonische Ideenlehre ist im Grunde auch Theologie. Für Plato ist die Erkenntnis eine Erinnerung an das vor der Geburt geschaute göttliche Ideenreich. Außerdem lehrt er aber auch ein Aufsteigen zu einem unmittelbaren Schauen der göttlichen Ideen (z.B. im Symposion). Das Streben nach Gotteserkenntnis bildet den Ausgangspunkt auch des Thomistischen Philosophierens. Es nahm seinen Anfang mit der Frage: was ist Gott?, die als Urfrage in der Seele des Jünglings lebte. Aber Thomas kann von Gotteserkenntnis nicht mehr in der früheren Bedeutung dieses Wortes sprechen. Ein Schauen des Göttlichen ist uns nach S42 seiner Auffassung erst jenseits des Todes erlangbar. Diesseits desselben aber steht an seiner Stelle das Glauben. Und wie einst der (platonischen) Ideenschau als ihre Quelle die Ekstasis oder Mania, so entspricht diesem Glauben als seine Quelle die geschichtliche Offenbarung des Göttlichen in Christus. An die Stelle einer naturhaften Geist-Offenbarung tritt also für Thomas eine geschichtliche. Beiden ist ein übergedankliches Moment gemeinsam. Dieses hatte bei Plato noch die Gestalt der mythischen Bildhaftigkeit; bei Thomas hat es diejenige des religiösen Dogmas. Freilich ist auch sein Inhalt in beiden Fällen ein verschiedener. Bei Plato bezieht er sich auf die Welt- und Menschenschöpfung sowie auf die vorgeburtlichen Erlebnisse der Seele: also im wesentlichen auf die Vergangenheit. Bei Thomas auf die Weltschöpfung, die Erlösungstat, die Gnadenmittel und die letzten Dinge: also auf Vergangenheit und Zukunft. Das hängt damit zusammen, daß das Griechentum in Gott nur die Ideenseite, das Weisheitselement sah und daher Gott bei der Weltschöpfung mit der Materie zusammenwirken lassen mußte, deren Wesen aber bei Plato mehr oder weniger im Dunkel bleibt. Thomas dagegen berücksichtigt auch das (schon vom Hebräertum betonte und dann namentlich vom Christentum geltend gemachte) Willensmoment. Er faßt das Göttliche als Einheit von Erkennen und Wollen, von Weisheit und Güte und kann daher als Ausfluß des göttlichen Wollens betrachten, was die Antike noch von der Materie herleitete. Gott gibt der Welt ihr Wesen durch sein Erkennen, ihre Wirklichkeit durch sein Wollen. Vor allem aber entspringen die Heilstatsachen seinem weisheitserfüllten Wollen. Was für Thomas als geistige Offenbarung gilt, hat also nicht mehr den Charakter eines mythischen Schauens wie bei Plato oder einer unmittelbaren Ideenerfassung wie bei Aristoteles, sondern den eines religiösen Glaubensinhaltes. Dieser wird, wenngleich er dem Denken von vornherein gegeben ist, doch zugleich bis zu einem gewissen Grade Erkenntnisinhalt. Denn das das Göttliche Wille und Weisheit ist, enthält der auf dasselbe bezügliche Glaubensinhalt auch Weisheitsoffenbarung. Insoweit fließt er mit dem zusammen, was die Vernunft von unten aufsteigend erfassen kann. Denn die letztere kann durch sich selbst bis zum Weisheitselemente des Göttlichen sich erheben. Freilich erfaßt sie dieses nicht in seiner eigenen Wirklichkeit, sondern nur wie im Spiegelbilde. Diese Verhältnisse klarzustellen, macht notwendig, die weiteren Unterscheidungen des Thomas zu entwickeln. Da ist vor allem jene Unterscheidung der drei Arten von Universalien zu nennen, die dem Mittelalter geläufig war und von Thomas zur höchsten Klarheit durchgebildet wurde.

   In der Lehre von den universalia ante res lebt in gewisser Weise der Platonismus fort. Freilich nur eben in gewisser Weise. Denn während für Plato die Ideen selbst schon das Göttliche waren oder wenigstens die höchste und allgemeinste derselben: die Idee des Guten mit dem Göttlichen zusammenfiel, erscheinen bei Thomas die universalia ante res bloß als Inhalte des göttlichen Erkennens, das der Schöpfung des so Erkannten vorangeht. Die Vielheit der Ideen lebt in der Einheit des göttlichen Wissens und Wesens. Dadurch unterscheidet sich der Thomistische Gottesbegriff aber nicht nur vom platonischen, sondern zugleich auch vom aristotelischen. Denn während für Aristoteles Gott als das sich selbst denkende Denken eigentlich nur von sich selbst, nichts von der Welt weiß und die letztere nur als Endursache d.h. zu sich hin in Bewegung S43 setzt, weiß im scholastischen Sinne Gott von der Welt durch die Ideen der Dinge und erscheint als deren wirklicher Schöpfer. Freilich sind im Gottesbegriff des Thomas diejenigen des Plato und des Aristoteles zugleich auch wieder in gewisser Art zur Einheit verschmolzen. Denn für Thomas ist Gott sowohl, wenn auch in etwas andrer Art als für Plato, der Weltschöpfer, von dem die ganze Welt ausgeht, als auch im Sinne des Aristoteles jenes höchste, vollkommenste Wesen, zu dem als ihrem letzten Ziele die ganze Welt sich hinbewegt. Die universalia ante res nun als die Urbilder der Dinge im Geiste Gottes sind als solche der menschlichen Erkenntnis nicht erreichbar. Würde man fragen: woher weiß dann aber der Mensch von ihrer Existenz?, so wäre hierauf im Sinne des Thomas zu antworten: aus der in Christus geschehenen geschichtlichen Offenbarung des Göttlichen sowie aus der natürlichen Geistoffenbarung, die im Denken der antiken Philosophen als ein letzter Rest der paradiesischen Uroffenbarung sich erhalten hatte. Dasjenige Denken jedoch, das Thomas für seine Zeit dem Menschen zuschreiben muß, ergreift lediglich, was wir im folgenden als eine Art Abbild der universalia ante res genauer charakterisieren werden, ermöglicht aber keine Teilnahme an den letzteren selbst. Damit werden hier dem menschlichen Erkennen zum erstenmal Grenzen gesetzt gegenüber einer außerhalb seiner liegenden Wahrheit. Denn da die universalia ante res den Inhalt eines göttlichen Erkennens bilden, stellen sie als solcher eine Wahrheit dar. Allerdings wird die Abgrenzung des menschlichen Erkennens gegenüber dem "Wesen" der Dinge hier erst insofern vorgenommen, als dieses Wesen den Charakter des in Gott beschlossenen Urbildes derselben hat. Immerhin aber haben wir es mit einer zweifachen Wahrheit: einer diesseitigen und einer jenseitigen, einer menschlichen und einer göttlichen zu tun. In Hellas, so sahen wir oben, hatten die Erkenntnisprinzipien noch Erkenntnis-Charakter gehabt. Der Begriff war zugleich Seins-Element und Erkenntnis-Inhalt. Das Sein hatte noch das Licht des Begriffs in sich, und das dem menschen in der Erkenntnis aufgehende Licht des Begriffs war noch eine unmittelbare Offenbarung des Seins. Die Scholastik vermag das Sein der Dinge nicht mehr im selben Sinne zu fassen. Sie blickt zunächst zu dem Ur- oder Vorlicht eines göttlichen Erkennens auf. Dieses geht in dem dinglichen Sein gewissermaßen in einen latenten Zustand über und leuchtet schließlich in dem Nachlicht des menschlichen Erkennens in andrer Art wieder auf. So steht das Sein der Dinge zugleich trennend und verbindend zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Erkennen.

   Damit kommen wir zur Kennzeichnung des Seins der Schöpfung. Es entsteht, indem der Inhalt der göttlichen Erkenntnis durch den göttlichen Willen verwirklicht wird. Die universalia ante res verwandeln sich in die universalia in rebus. Diese werden von Thomas nicht mehr Ideen oder Begriffe, sondern Formen (formae) oder Arten (species) genannt. Sie sind da nicht mehr Kategorien des Erkennens, sondern des Seins. Das göttliche Erkenntnislicht erlischt gleichsam in ihnen. Und die von Aristoteles nicht völlig geklärte Frage, ob das Sein dem Einzelding oder dem Begriff desselben zukomme, entscheidet Thomas in der Weise, daß zwar das Ding als die Verwirklichung der göttlichen Idee ein höheres Sein als diese darstelle, die Idee aber im Geiste Gottes S44 ein reineres, vollkommeneres Dasein hat als im Stoffe. Je nach dem Gesichtspunkte der Betrachtung kann man also das Sein mehr dem Einzelding oder seinem Begriffe zuschreiben. Im übrigen aber schließt sich Thomas bei der Charakteristik des dinglichen Seins ganz an Aristoteles an, indem auch er Form und Stoff, Potenz und Aktus usw. an ihm unterscheidet. In diesem Teil seiner Seinslehre wiegt also der Aristotelismus vor.

   Über die antiken Denker hinaus führt nun aber der dritte Teil des thomistischen Weltbildes: die Erkenntnislehre. Thomas erhebt sich im Erkenntnisakte nicht mehr in der Art, wie dies Plato und bis zu einem gewissen Grad auch Aristoteles getan hatten, über die Welt der Sinneserfahrung, sondern bleibt mit ihr verbunden. Er betont, daß die Begriffe ausnahmslos aus der Sinneserfahrung herausgezogen werden. Die Wissenschaft, so sagt er, hat die Aufgabe, die Dinge mittels der ihnen entsprechenden Begriffe zu erkennen. Dem Zusammengesetztsein der Dinge aus Stoff und Form entspricht dasjenige des Menschen aus Leib und Seele. Der letztere nimmt im Erkenntnisakte die species sensibilis durch seine Sinne als Phantasma, die species intellegibilis durch seinen Verstand als Begriff in sich auf. Insofern der menschliche Verstand die Fähigkeit hat, alle in der Welt verstofflichten Formen in sich eingehen zu lassen, ist er der intellectus possibilis. Insofern er diese vom Stoffe ablöst und als Begriffe in seiner Seele gestaltet, ist er der intellectus agens (tätiger Verstand). Der Mensch kann nun die Begriffe nicht nur ihrem Inhalte nach als Repräsentanten des Wesens der Dinge, sondern auch ihrer Fiorm nach als Gestaltungen seines tätigen Verstandes denken. Dann erfaßt er sie als Inhalte seines Innenlebens und erlangt insofern eine Erkenntnis seiner selbst. Diese Selbsterkenntnis ist die Quelle der Erkenntnislehre, wie sie von Thomas entwickelt wird. Es findet diese Selbsterkenntnis als ihre Voraussetzung freilich die Welterkenntnis vor, wie die universalia post res zu ihrer Voraussetzung die universalia in rebus haben. Sie wird also nur mittels einer Reflexion auf dasjenige Erkennen erlangt, das der Mensch gegenüber der Welt betätigt. Mit anderen Worten: der Mensch erfaßt sein Selbst - insofern dieses im Denken tätig ist - nur eben denkend, nicht anschauend. Die Anschauung bleibt immer ein an die Sinne gebundene. "Der Mensch, so erläutert der Thomas-Biograph K.Werner diese Auffassung, hat in der Zeit keine Anschauung von seinem Ich, dem verborgenen Grunde seines geistigen Wesens und Lebens; er erfaßt es denkend eben nur als den zwar nicht unerschöpflichen, aber vor Ablauf der Erdenzeit nicht erschöpften Grund ungezwungener Selbstgestaltung, als der Hort seiner sittlichen Freiheit, der sich ihm einst im unverhüllten Lichte der ewigen Wahrheit aufdecken soll. Er wird aber nie dazu kommen, sich selbst anzuschauen" (O.Willmann: Geschichte des Idealismus, Bd. II S401). Wir sind, von den universalia ante res ausgehend, hier, im Bereiche der universalia post res, gewissermaßen am entgegengesetzten Ende des thomistischen Weltbildes angekommen. Zugleich aber auch an der andern Schranke, die dem menschlichen Erkennen von diesem gesetzt wird. Wie dort die Unmöglichkeit für den Menschen festgestellt wurde, an den universalia ante res als Inhalte des göttlichen Erkennens unmittelbar teilzuhaben, so hier die Unmöglichkeit, dasjenige, was in der Gestaltung der universalia post res tätig ist, für die Anschauung zu erreichen. S45

   Überblickt man die Entwicklung der mittelalterlichen Philosophie im Ganzen, so tritt als eine ihrer bezeichnendsten Erscheinungen der durch Jahrhunderte sich hinziehende Universalienstreit hervor, der alle ihre Vertreter in die zwei Richtungen der Realisten und der Nominalisten scheidet. Man kann diesen Streit als einen solchen um diejenige Frage auffassen, die eben das Grundproblem der philosophischen Erkenntnisepoche bildet: die ontologische d.h. die Frage nach dem Wesen des Seins, genauer: die Frage darnach, wie das Einzelne und das Allgemeine bzw. Sinneserscheinung und Begriff in ihrem Verhältnis zum Sein zu denken seien. Und mann kann das Charakteristische dieses Streites darin sehen, daß die in dieser Frage enthaltene Problematik sich auf die entgegengesetzte Seite verlagert hat wie im Griechentum. Damals stand der Seinscharakter der Begriffe außer Zweifel und die Frage ging darum, wieweit er auch den Sinneserscheinungen zuzuschreiben sei. Plato schloß die letzteren noch vom Sein aus, Aristoteles dagegen nahm sie in dieses mit auf, indem er es als die Einheit von Wesen und Erscheinung faßte. Für das Mittelalter ist es ausgemacht, daß den sinnlich erscheinenden Einzeldingen das Sein zukomme, und die Frage geht nun dahin, wieweit auch die Begriffe an diesem teilhaben. Der Nominalismus, der sie ganz von ihm ausschließt und als bloße Namen betrachtet, könnte einfach als der äußerste Gegensatz zur platonischen Auffassung angesehen werden. Und er ist dies auch, insofern auch er noch an der charakteristischen Fragestellung des philosophischen Zeitalters festhält. Blicken wir aber auf den Realismus hin, so sehen wir, daß er nicht einfach die mittlere Lösung des Aristotelismus erneuert, sondern die komplizierte Lehre von den drei Arten der Begriffe oder universalia entwickelt, durch welche eine Mitte in solcher Art vertreten wird, daß gleichzeitig allen drei Lösungsversuchen: dem Platonismus, dem Aristotelismus und dem Nominalismus ein gewisses Recht zuerkannt und die Wahrheit in einem bestimmten Gleichgewichte derselben gesucht wird.

   Das aber deutet darauf hin, daß die verschiedenen Bewußtseinsarten, die den drei Lösungen zugrundeliegen, im Mittelalter und gerade auch in den Seelen der Realisten - wie wir schon in der einleitenden Charakteristik hervorgehoben haben - in gleicher Stärke neben- und durcheinander wirken, und daß Denker wie Thomas nur eben sich dazu durchzuringen vermochten, sie zu einem harmonischen Ausgleich in sich zu bringen. Daß aber diese verschiedenen, ja gegensätzlichen Haltungen zugleich wirken, hat darin seinen Grund, daß jene neuen Impulse, die wir als diejenigen des Christentums und der Germanentums charakterisierten, inzwischen wirksam geworden sind und in den Menschen nach innen das Erleben ihres Ichs, nach außen in einer neuen Weise dasjenige der Natur bzw. der Sinneswelt erregen, zugleich aber auch die Sehnsucht, beides miteinander in eine Verbindung zu bringen. Nur kleidet sich das Wirken dieser Impulse zunächst noch in ältere Formen des Erlebens. All das kommt im Universalienstreit zu einem symptomatischen Ausdruck. Es schattet sich in den Formulierungen seiner gegensätzlichen Standpunkte wie in Gedankenträumen ab. Was diese "Träume" erzeugt, ist die Tatsache, daß der Mensch jetzt in der Bildung der Begriffe sich selbst innerlich tätig empfindet. Dadurch erlebt er die letzteren nicht mehr als ein durch geistige Offenbarung ihm gegebenes Stück der Welt selbst, sondern als etwas von der letzteren S46 bloß durch sein Ich Abgezogenes. Sie verlieren die frische Farbe der Wirklichkeit und verblassen zu bloßen Bildern derselben. Als Wirklichkeit aber erlebt der Mensch jetzt einerseits die seelisch seines Selbst, andrerseits die sinnliche der Natur. Als Innenwelt und Außenwelt treten die beiden einander schroff gegenüber. Den Begriff aber vermag der Mensch durch die Art, wie er sie innerlich erlebt, unmittelbar keine Wirklichkeitsbedeutung zu verbürgen. So bleibt nichts anderes übrig als entweder denc Gedanken die Realität abzusprechen und als Wirklichkeiten nur gelten zu lassen die materielle der Natur und die seelische des eigenen Selbst, wie es der Nominalismus getan hat. Freilich fand für ihn die Realität der Seele ihre Begründung nur in den religiösen Glaubenswahrheiten, so daß er zu der "doppelten Wahrheit" einer auf die Sinneserfahrung sich gründenden Wissenschaft und einer auf dem Glauben beruhenden Religion geführt wurde. Oder aber, wenn man den Realitätscharakter der Begriffe retten (und mit ihm das Band zwischen Glauben und Wissen bewahren) wollte, mußte man jene Unterscheidung der drei Arten von Universalien durchführen, die der Realismus vorgenommen hat. Indem er den Begriffen in der menschlichen Seele die Formen in den Dingen und diesen wieder die urbildlichen Ideen im göttlichen Seele die Formen in den Dingen und diesen wieder die urbildlichen Ideen im göttlichen Geiste entsprechen ließ, erhielten die menschlichen Begriffe eine Wirklichkeitsstütze durch die Natur hindurch von einem göttlichen Erkennen her. Durch eine so komplizierte Vermittlung mußte also dem Begriff jetzt die Wirklichkeitsbedeutung gewährleistet werden, die er unmittelbar durch sich selbst nicht mehr offenbarte. Die Lehre von den drei Arten der Universalien ist also im Grunde die Antwort auf die Frage: in welchem Sinne kann jetzt, wenn überhaupt noch, der Begriff als ein Wirklichkeitselement verstanden werden?

   Zugleich aber ist diese Universalienlehre der Realisten, die sich wie ein Grundmotiv durch ihre ganze Weltauffassung hindurchzieht, noch von einem andern Gesichtspunkt aus interessant. Zwar kehrt ja, wie wir bei Thomas gesehen haben, in einem Teile dieser Weltauffassung: nämlich in jenem, der sich auf das dingliche Sein bezieht, die aristotelische Unterscheidung von Form und Stoff, Aktus und Potenz wieder. Doch aber darf man behaupten, daß das aristotelische Weltbild selbst (und in etwas anderer Gestaltung auch das platonische) im Ganzen durch die Unterscheidung eben dieser Zweiheit charakterisiert ist, das realistisch-scholastische dagegen seiner Gesamtstruktur nach durch die Unterscheidung der Dreiheit von Universalien. Das antike Weltbild war ein dualistisches, wenn auch in Aristoteles diese Dualität einen Gleichgewichtszustand erreicht hatte. Im Mittelalter dagegen tritt zum erstenmal, in einer ersten Gestaltung, ein trinitarisches Weltbild auf. Das antik-dualistische hatte ein statisches Gepräge; obzwar bei Aristoteles das Sein der Welt als ein in einer zielstrebigen Bewegung befindliches erscheint, so ist diese Bewegung doch, wie wir sahen, gleichsam eine "stehende", ohne Anfang und Ende. Das mittelalterliche Weltbild hingegen bringt ein Werden zum Ausdruck; es ist ein wesentlich "geschichtliches", - Geschichte freilich noch nicht als die des Menschen, sondern als die des gesamten Kosmos aufgefaßt. Denn zwischen den universalia ante res, in rebus und post res besteht ein Verhältnis des Nacheinander. Sie deuten auf die Hauptstufen der kosmischen Entwicklung und charakterisieren diese durch den Gang, den der intellegible Gehalt des S47 Kosmos durch die verschiedenen Bereiche des Seins hindurch nimmt. Diese Bereiche sind ihrer Reihenfolge nach: Gott, Welt oder Natur, Mensch. Denn "ante res" bedeutet, von den Universalien ausgesagt: im Geiste Gottes befindlich; "in rebus": in der Welt oder Natur verkörpert; "post res": in der menschlichen Seele lebend. Indem aber das "post res" von dem "in rebus" unterschieden wird, ist hier zum erstenmal das im Menschen sich abspielende Erkennen ausdrücklich als etwas Verschiedenes neben das in der Welt wesende Sein hingestellt. Und zugleich ist auf die kosmische Bedeutung des Menschen als des Erkennenden hingewiesen. Die Welt ist ohne den Menschen nicht fertig. Seine Erkenntnis ist nicht seine "Privatsache", die mit der Welt nichts zu tun hat. Vielmehr gehört es zu dem Weltprozeß selbst - sofern dieser mehr umfaßt als das bloße Seiende - als eine seiner Hauptstufen hinzu, daß der Wesensinhalt der Welt auch noch in Gestalt des menschlichen Erkenntnisinhaltes auftritt. Der Weltprozeß kommt darin erst gewissermaßen zu seinem Abschluß. So ist hier die menschliche Erkenntnis nach ihrer kosmischen bzw. ontologischen Bedeutung voll gewürdigt. Aber zunächst eben nur nach dieser, noch nicht dagegen in vollem Maße nach der Bedeutung, die sie für den Menschen selber hat. Dies hängt damit zusammen, daß, wir wir sahen, der Wesenskern des Menschen im Mittelalter noch nicht für die Anschauung, d.h. aber für eine volle Erkenntnis erobert werden konnte. Dies zu erlangen, bildet, wie wir sehen werden, die wesentliche Aufgabe unsrer Epoche.

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