Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Dr. Hans Erhard Lauer

Geboren 1899 in Schwenningen (Württemberg), besuchte das Humanistische Gymnasium in Basel, studierte in Basel, Tübingen, Heidelberg und Wien Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie, promovierte 1922 in Wien mit Dissertation über den Schweizer Philosophen J.P.V.Troxler, seit 1923 in Wien als Schriftsteller, Vortragender, Herausgeber der <<Österreichischen Blätter für freies Geistesleben>> tätig, seit 1935 Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich, 1938 Übersiedlung nach Belgrad, 1939 nach Basel, bis 1964 als Lehrer für Geschichte, Literatur- und Kunstgeschichte an den Rudolf Steiner-Schulen in Basel und Zürich tätig,
seit 1949 Herausgeber der <<Blätter für Anthroposophie>>.

 

Ein Prospekt  "Zur Zeit sind lieferbar" über seine Schriften, leider ohne Datum, mit einem Foto von H.E.Lauer:

 

Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart:

Die Volksseelen Europas. Versuch einer Psychologie der europäischen Völker auf geisteswissenschaftlicher Grundlage, 1965, 273S

Radio Straßburg: "Lauers Psychologie der europäischen Völker ist ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis der europäischen Aufgabe. Das Buch enthält unendlich viel Stoff und Quellen und stellt in klarer Aussage die ausgezeichnete Möglichkeit dar, von der geistig-seelischen Seite die eigentliche Völkerpsychologie zu beleuchten und somit Geschichte und Politik und mögliche Metamorphose in neuer Sicht vor sich erscheinen zu lassen.>>

Die dreifache Bedeutung des Christ-Ereignisses in der Darstellung Rudolf Steiners, 1964, 44S

Ein skizzenhafter systematischer Überblick über die Christosophie Rudolf Steiners.


 

Verlag die Kommenden, Freiburg:
Geschichte als Stufengang der Menschwerdung. Ein Beitrag zu einer Geschichtswissenschaft auf geisteswissenschaftlicher Grundlage. Drei Bände. (Später im Verlag "Freies Geistesleben" Stuttgart erschienen).
Ein umfassender Versuch, das neue Bild der geschichtlichen Menschheitsentwicklung in seinen wesentlichen Zügen zu zeichnen, das sich auf der Grundlage der Anthroposophie ergibt.
Band I: Erkenntnis und Erinnerung. 1956. 305S
Es ist vornehmlich der aus anthroposophischer Sicht gegebenen Charakteristik der Beziehungen zwischen Geschichte, Vorgeschichte und Urzeit gewidmet, die durch die Ergebnisse der prähistorischen und archäologischen Forschung unseres Jahrhunderts in den Vordergrund des Interesses gerückt sind.
Band II: Die Wiederverkörperung des Menschen als Lebensgesetz der Geschichte. 1958. 246S.
Die Gesetze der Wiederverkörperung der menschlichen Individualitäten und des Jüngerwerdens der Menschheit werden hier als die beiden sich ergänzenden Aspekte jener Grundgesetzmäßigkeit aufgewiesen, durch welche die Struktur der Geschichte bestimmt wird.
Band III: Der moralische Aspekt der Geschichte. 1961. 271S.
Die Geschichte der Menschheit im Lichte des sich wandelnden und stufenweise steigernden Gegensatzes von Gut und Böse.
Der menschliche Lebenslauf. Seine geschichtlichen Wandlungen und seine Gegenwartsprobleme. Ein Beitrag zu den Aufgaben der Erwachsenenbildung. 1952. 160S.
Das Buch stellt dar, wie sich die Wesensgliederung des Menschen in der inneren Struktur des menschlichen Lebenslaufes und in seinen geschichtlichen Wandlungen spiegelt, und weist die Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen für die Aufgaben der Kindererziehung und der Erwachsenenbildung auf.
Die Rätsel der Seele im Lichte der Tiefenpsychologie und der Anthroposophie. 1964. 119S.
Eine vergleichende Gegenüberstellung der Methoden und Ergebnisse der verschiedenen Richtungen der Tiefenpsychologie (Freud, Adler, Jung) und der Anthroposophie, mit einem Anhang über C.G.Jungs Selbstbiographie.
Ernst Busch Verlag, Bad Liebenzell:
Die Entwicklung der Musik im Wandel der Tonsysteme. 1960. 60S.
Eine Darstellung der geschichtlichen Wandlungen der Tonsysteme als Ausdruck der Wandlungen des menschlichen Bewußtseins von den Anfängen der Musik bis zur Gegenwart mit einem Ausblick auf die Zukunft.
Wie können wir menschlich leben in der Welt von morgen? 1960. 37S.
Die Forderungen des technischen Zeitalters an den Menschen.
Verlag R.G.Zbinden, Basel:
Die zwölf Sinne des Menschen. Umriß einer neuen, vollständigen und systematischen Sinneslehre auf Grundlage der Geistesforschung Rudolf Steiners. 1953. 191S.
Die erste Gesamtdarstellung der Sinneslehre Rudolf Steiners.
Erkenntnis und Offenbarung in der Anthroposophie. 1958. 87S.
Die Schrift zeigt, wie die zwei bisher getrennt verlaufenen und immer mehr divergierenden Strömungen, die der abendländischen Kultur ihren wesentlichen Inhalt gegeben haben: die Erkenntnis- (wissenschaftliche) Strömung und die Offenbarungs- (Glaubens-)Strömung, in der Anthroposophie zur Einheit verschmolzen sind. Die bisher wohl reifste Formulierung der Stellung und Mission, welche der Anthroposophie innerhalb der menschlichen Geistesentwicklung zukommt.
Klassik, Romantik und die Gegenwartsaufgaben des deutschen Geistes. 64S.
Die zwei Hauptströmungen der Blütezeit des deutschen Geisteslebens werden hier als die zwei komplementären Erscheinungsformen desselben Grundimpulses aufgewiesen, der sich in jener Blüte offenbarte, und in ihrem weiteren Verlaufe verfolgt, der in der Anthroposophie zu ihrer völligen Verschmelzung geführt hat.
Mozart und Beethoven im Entwicklungsgang der abendländischen Kultur. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung zu Mozarts 200. Geburtstag. 1956. 24S.
Die Klassiker der deutschen Musik in geisteswissenschaftlicher Schau als Gestalten des Mythos der modernen Welt.
Wie pflegt man Anthroposophie heute in zeitgemäßer Art? Fünfzig Jahre anthroposophische Bewegung und die Forderungen der Jahrhundertmitte. 1952. 67S.
Ein Versuch, die Fragestellungen zu formulieren und Begriffsprägungen zu gewinnen, welche durch den Gang der Geistesentwicklung unseres Jahrhunderts für die Vertretung der Anthroposophie in seiner zweiten Hälfte gefordert erscheinen.
Rudolf Steiners Lebenswerk. Ein einführenden Überblick über die Begründung der Anthroposophie. 1926. 139S.
Der erste nach dem Tode Rudolf Steiners von geisteswissenschaftlicher Seite unternommene Versuch, Wesen und Werden der Anthroposophie in seiner stufenweisen Entfaltung im Leben und Schaffen ihres Begründers darzustellen.
Rudolf Steiners Anthroposophie im Weltanschauungskampf der Gegenwart. Acht Aufsätze. 1927. 192S.
Verlag der <<Blätter für Anthroposophie>>, Basel:
Lebensfragen des Zeitalters der Freiheit. Freiheit, Wahrheit, geistige Führung. Zwei Vorträge. 1963. 72S.
Die Schrift beleuchtet Grundfragen des modernen Menschheitslebens, von deren Lösung seine Zukunft abhängt.
Rudolf Steiner - ein Bahnbrecher der Menschheitszukunft. Grundmotive seines Lebenswerks. Zu seinem 100. Geburtstag. 77S.
Ein kurzgefaßter Überblick über Leben und Werk des Begründers der Anthroposophie.
Der moralische Imperativ der Gegenwart. Vortrag, gehalten auf der Seelisbergtagung 1957 der Vereinigung für freies Unternehmertum. 47S.
Die soziale Problematik unsrer Zeit und die Weltlage der Gegenwart. Vortrag. 1962. 43S.
Ein geschichtlicher Überblick über die Entstehung der sozialen Frage, die in ihr enthaltenen Forderungen und den Weg zu ihrer Lösung.
Dr. Hans Erhard Lauer redigierte die von ihm begründete und herausgegebene Monatsschrift
Blätter für Anthroposophie und Mitteilungen aus der Anthroposophischen Bewegung
"Sie setzt sich für eine weltoffene, zeitnahe Vertretung der Anthroposophie in der Öffentlichkeit ein. Neben fortlaufenden Erstveröffentlichen von Vorträgen Rudolf Steiners bringt sie regelmäßig Beiträge aus anthroposophischer Forschungsarbeit auf verschiedenen Gebieten. Stellungnahmen zu Zeiterscheinungen und Gegenwartsproblemen, Berichte aus der anthroposophischen Bewegung und Besprechungen literarischer Neuerscheinungen anthroposophischer und nichtanthroposophischer Autoren."
(Redaktion und Administration: 4053 Basel, Sempacherstraße 61 [veraltet])
Im Folgenden ein Aufsatz von Dr. Hans Erhard Lauer aus den "Österreichischen Blättern für freies Geistesleben"
5. Jahr, 1. Heft, Jänner 1928
Rudolf Steiners erster anthroposophischer Vortrag
   In den Aufsätzen über "das literarische Wirken Rudolf Steiners während der Zeit, da er "Das Magazin" herausgab" (November- und Dezemberheft des vorigen Jahrgangs) habe ich dargestellt, wie Rudolf Steiner die Geisteswissenschaft, die auszubilden ihm als eine Notwendigkeit erschien, aus der modernen Naturwissenschaft herauszuentwickeln versucht hat. Ich zeigte, wie er diesen Versuch unternommen hat aus der Überzeugung heraus, daß in dem Impuls, der in dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstreben wirkt, das neue Element gegeben sei,, das unser Zeitalter der Menschheitsentwicklung einzufügen die Aufgabe habe, und daß dieses Element daher auch zu einer neuen, zeitgemäßen Gesamtweltanschauung müsse führen können, wie sie eben durch die Hinzufügung einer im selben Stile gehaltenen Geistesforschung zur Naturforschung entstehen könne.
   Anderseits war Steiner aber auch zu der Überzeugung gekommen, daß, solange eine Weiterentwicklung der in der Naturwissenschaft lebenden Erkenntnisimpulse im angedeuteten Sinne nicht erfolge, auch weiterhin an der Stell, die eben sie ausfüllen sollte, etwas anderes sich breit machen könne, das der Gegenwart und Zukunft nicht mehr angemessen ist und im vollen Widerspruch steht zu den an der Naturwissenschaft herangereiften Empfindungen, und daß dieses Alte, gerade indem seine Herrschaft weiter fortdaure, von sich aus wiederum unterdrücken werde, was als Versuch einer Fortentwicklung der in der Naturwissenschaft aufgetretenen Erkenntnisweise erstehen wolle. Dieses Alte, Veraltete erblickte Steiner in der Meinung, die ihren Anfang genommen hat in dem geschichtlichen Zeitpunkt, in welchem der Menschheit ihr uranfängliches instinktives Geist-Erleben verlorengegangen ist - in der Meinung: daß die menschlichen Erkenntniskräfte nur ausreichend seien für die Erfassung der Sinneswelt, bezüglich der übersinnliichen Welt jedoch lediglich eine gläubige Hinnahme dessen am Platze sei, was als Inhalt einer einstmaligen geistigen Offenbarung die Überlieferung aufbewahrt habe. Diese Meinung, die der Ausfluß einer - in dem Zeitpunkt, in dem sie aufkam, historisch geforderten - Resignation ist, hat seitdem das geistig-seelische Leben der Menschheit in zwei Stücke gespalten und den unselig-tragischen Dualismus zwischen Glauben und Wissen geschaffen, an dem die Menschheit seither leidet. Der in der Naturwissenschaft lebende Impuls, da er bisher nur gegenüber der sinnlichen Welt entfaltet worden ist, hat deshalb bisher zur Überwindung dieses Dualismus noch nichts tun können, ja er schien durch manche ungeschickte Übertragung von nur der Natur gegenüber berechtigten Methoden auf Rätsel des geistig-seelischen Lebens seine Wahrheit sogar zu bestätigen, und hat so zu seiner Weitererhaltung selbst nicht unwesentlich beigetragen. Und doch liegt in ihm die Kraft, jenen Zwiespalt zu überbrücken, indem er - wenn er eben in der richtigen Weise weiterentwickelt wird - uns auch auf jenen Gebieten zu Erkenntnissen führen kann, die bisher schienen dem Glauben vorbehalten bleiben zu müssen.
   Ich habe nun in den erwähnten Aufsätzen geschildert, wie Rudolf Steiner, als er um die Jahrhundertwende in Berlin innerhalb naturwissenschaftlich gesinnter Kreise Verständnis zu erwecken suchte für eine solche Weiterentwicklung der in der Naturwissenschaft lebenden Erkenntnisweise, die zu einer einheitlichen, auch das Geistige mit umfassenden, modernen Gesamtweltanschauung führen kann, mit seinen Bestrebungen keinen Erfolg hatte, und wie er sich dann für das, was er versuchte, an den Verständniswillen wenden mußte, der ihm von seiten der - Theosophen entgegengebracht wurde. Man hätte zwar glauben sollen, daß gerade in den Kreisen, welche die Einheitlichkeit der Weltanschauung in naturwissenschaftlicher Orientierung sogar zu ihrem Programm gemacht hatten: bei den "Monisten", ein Verständnis für die Bestrebungen Steiners sich hätte finden müssen. Aus solchen Kreisen war in Berlin damals der Giordano-Bruno-Bund gegründet worden. In ihm sollten sich, so erzählt Steiner in seiner Selbstbiographie, "solche Persönlichkeiten zusammenfinden, die einer geistig-monistischen Weltanschauung sympathisch gegenüberstanden". Aber er schildert dann weiter in Anknüpfung an einige Vorträge, die im Rahmen dieses Bundes gehalten wurden, wie ein Sinn für wirkliche "Einheitlichkeit" der Weltanschauung innerhalb desselben doch nicht vorhanden war. "Trotz alledem", so fährt er hierauf fort, "konnte ich später im Giordano-Bruno-Bund meinen grundlegenden anthroposophischen Vortrag halten, der der Ausgangspunkt meiner anthroposophischen Tätigkeit geworden ist" (S273). Dieser Vortrag fand unter dem Titel "Monismus und Theosophie" am 8. Oktober 1902 im Bürgersaal des Berliner Rathauses statt, und ist dann (Vgl. die Rudolf-Steiner-Bibliographie von C.S.Picht) von Steiner selbst auszugsweise wiedergegeben worden in der Monatsschrift "Psychische Studien" (29. Jahrgang, 12. Heft).
   Schaut man sich die Ausführungen dieses, für das Verständnis der Entstehung und der Ziel der Steinerschen Geisteswissenschaft demnach zweifellos grundwichtigen Vortrags an, so fällt vor allem auf, daß eben jene prinzipiellen Gedankengänge, die wir eingangs dieses Aufsatzes wieder zum Ausdrucke gebracht haben, im Mittelpunkt desselben stehen. "Klar muß es ausgesprochen werden - so heißt es gleich zu Anfang darin -, daß nur auf Grund der modernen Naturwissenschaft eine ernste Weltanschauung gesucht werden kann; ich werde niemals von dem Gedanken abweichen, daß nur in ihr ein Heil gegeben ist." Aber es wird dann auch sofort darauf hingewiesen, daß der in der Naturwissenschaft wirkende Erkenntnisimpuls noch nicht die ganze ihm mögliche Ausgestaltung erfahren hat, sondern erst gegenüber den Erscheinungen der sinnlichen Welt zur Anwendung gekommen ist, und daß innerhalb der Wissenschaft eine große Feigheit davor besteht, ihn freizumachen von der materialistischen Prägung, die er gerade gegenüber den Naturerscheinungen angenommen hat. "Die Naturwissenschaft erfüllt die Köpfe und Herzen aber noch immer auch mit ihrer materialistischen Weltanschauung, und wenn auch einzelne Schwärmer behaupten, wir seien längst über das Zeitalter der Büchner usw. hinaus; - wenn wir keine ideale Weltanschauung auf Grund der Naturwissenschaft konstruieren können, so wird sich der Materialismus der fünfziger Jahr noch weiter die Welt erobern." Solange sich aber die Naturwissenschaft nicht zu einer "idealen Weltanschauung" fortbildet, wird sie die Kluft nicht schließen können zwischen Glauben und Wissen, die sich seit langem in der europäischen Entwicklung aufgetan hat; oder wenn sie dies einfach dadurch tun zu können vermeint, daß sie in ihrer jetzigen materialistischen Ausbildung allein schon eine ganze Weltanschauung sein, das heißt die Gesamtheit aller Weltanschauungen erklären will, so kommt sie zu so banalen, nichtssagenden und daher unbefriedigenden "Erklärungen" wie derjenigen, welche der von Steiner angeführte Ausspruch des Engländers Ingersoll enthält: "Wir sind soweit, daß für uns die Äußerungen des Geistes nur eine naturwissenschaftliche Tatsache sind; unsere Gedanken sind nichts anderes als eine Umsetzung der Nahrung, die wir in unseren Organismus aufnehmen, und die Schöpfung des Hamlet ist nichtsanderes als der umgewandelte Nahrungsstoff, den Shakespeare zu sich nahm."
   Steiner führt dann weiter aus, daß der gekennzeichnete Dualismus zwischen Glauben und Wissen in seiner vollen Schärfe seit Augustinus in die abendländische Geistesentwicklung hineingekommen sei. Geht man in der Geschichte weiter zurück, so findet man - und es ist dies in um so höherem Grade der Fall, je weiter man zurückgeht - noch eine volle Einheit zwischen Erkenntnis und Religion. Ohne Bruch geht in jenen Zeiten die eine in die andere über. Religion reicht gleichsam herunter bis in die Betrachtung der einzelsten Naturerscheinung, und Erkenntnis steigt hinauf bis in die Sphären der Religion. Ja, die letztere ist eigentlich nur die in Empfindung umgesetzte Erkenntnis. Augustinus hat zum erstenmal scharf die Unerkennbarkeit der geistigen Welt betont und die Menschheit in bezug auf deren Inhalt an die von der Kirche verwaltete und überlieferte christliche Offenbarung verwiesen. Damit war der Dualismus zwischen Glauben und Wissen proklamiert, und er dauert bis zum heutigen Tag fort. Wie kann er aus der Naturwissenschaft heraus überwunden werden? Steiner weist an dieser Stelle darauf hin, wie ein erster, großartiger, allerdings nicht völlig geglückter Versuch zu seiner Überwindung innerhalb des deutschen Idealismus unternommen worden ist. Und er verweist namentlich auf ein Buch von Immanuel Hermann Fichte ("Das Erkennen als Selbsterkennen" 1833), in welchem die Lösung der Aufgabe, allerdings nur theoretisch-prinzipiell, ausgesprochen ist. In diesem Buche sagt - nach Steiners Wiedergabe - Fichte etwa: "Betrachten wir die Naturwesen, so sehen wir ihre ewigen Gesetze. Wenn wir aber die menschliche Seele selbst als einen Naturprozeß ansehen, so stehen wir vor einem Erkenntnisumschwung. Die Gesetze der Natur liegen außerhalb unserer Persönlichkeit in der Naturgrundlage, aus der wir hervorgegangen sind. Aber in unserer Seele sehen wir nicht fertige Naturgesetze, sondern wir sind selbst Naturgesetz. Da wird die Natur unsere eigene Tat, da sind wir Entwicklung. Da erkennen wir nicht bloß, da leben wir. Wir haben jetzt die Aufgabe, ewige eherne Gesetze zu schaffen, nicht mehr, sie bloß zu erkennen. An diesem Punkte lebt der Mensch nicht nur in seiner Naturerkenntnis, hier verwirklicht er und lebt er das Göttliche, das Schöpferische, an diesem Punkte geht die Philosophie in die Theosophie über."
   Fichte meint also, nach Steiners Auffassung , - und dieser Gedanke kann ja auch gerade vom Standpunkt der modernen Deszendenztheorie aus einleuchten -: im Menschen, wie er uns in uns selbst entgegentritt, haben wir nicht eine überwundene, überholte Form der allgemeinen Entwicklung, sondern deren höchste, letzte, in der sie unmittelbar gegenwärtig weitergeht. In ihm steht nicht etwas Fertiges vor uns, sondern etwas im Flusse Befindliches. Insofern aber der Entwicklungsprozeß innerhalb des Menschen sich in der historischen Entfaltung von dessen geistigem Leben fortsetzt, fällt hier Erkennen und Schaffen zusammen. Unser Erkennen wird hier zum Inhalt haben, was wir zuvor geschaffen haben. Und unser Schaffen wird wiederum nach dem sich richten, was wir erkannt haben.

   Damit ist einerseits auf die Methode gedeutet, die das Erkennen annehmen muß, wenn es von der Naturwissenschaft zur Geisteswissenschaft so aufsteigen will, daß eine in einheitlichem Stil gehaltene Gesamtweltanschauung zustande kommen kann. Anderseits ist damit ausgesprochen, daß, wenn eben in dieser Art fortgeschritten wird von der Naturerkenntnis zur Menschenerkenntnis, diese letztere ihrem Inhalte nach zur "Theosophie" wird, indem hier dasjenige, was man das "Göttliche" nennen darf: das in der Naturentwicklung schöpferisch Wirksame, nicht als ein metaphysischer Begriff gleichsam von außen bloß angenommen, erschlossen oder postuliert, sondern im eigenen Schaffen, welches ja die Fortsetzung der Naturentwicklung ist, innerlich erlebend ergriffen wird. Und Steiner weist ausdrücklich darauf hin, wie an dieser Stelle: in der genannten Fichteschen Schrift, aus dem deutschen Geistesleben für die Charakteristik einer wahren Geisteswissenschaft der Begriff "Theosophie" auftritt, und sagt weiter: "Wir sehen jetzt vielleicht schon eher, daß Theosophie nichts anderes ist als letzte Anforderung eines zwischen Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis vermittelnden wahren Monismus."

   Er spricht dann weiter davon, daß in unserer Zeit wieder ein Knotenpunkt der Entwicklung liege wie in den Tagen der Kopernikus und Galilei, daß aber, wie damals die moderne Naturforschung, so heute eine aus dieser zu entwickelnden Geistesforschung inauguriert werden müsse. Er weist zum Schluß auf die theosophische Bewegung und Annie Besant hin, und fügt hinzu: "Ich kenne die großen Mängel und Fehler der theosophischen Bewegung durchaus. Duboc hat die Theosophie eine 'weibliche Philosophie' genannt. Das können wir ändern, indem wir sie im kritischen Deutschland zu einer männlichen machen".

   Der Vortrag, der die Geburtsstunde der anthroposophischen Bewegung bezeichnet, zeigt, daß die Anthroposophie von ihrem Ausgangspunkt an in voller Klarheit und Eindeutigkeit als das begründet worden ist, als was sie sich dann weiterhin folgerichtig entwickelt hat: als die Ausgestaltung des in der modernen Naturwissenschaft lebenden Impulses - der ja kein anderer ist als der, in ihrer eigenen Terminologie ausgedrückt: Bewußtseinsseelenimpuls - für die Erfassung des menschlichen Daseins selbst. Nicht ist sie begründet worden als eine Erneuerung älterer Erkenntniswege, sondern als eine Fortführung modernen abendländischen Erkenntnislebens im Sinne von dessen eigener innerer Entwicklungslogik. Das heißt aber, daß in ihr auch nicht etwa bloß die moderne naturwissenschaftliche Forschungsweise unverändert auf das Gebiet des Geistig-Seelischen übertragen, sondern daß diese entsprechend der inneren Natur dessen, was als geistig-seelische Erscheinungen auftritt, fortentwickelt, metamorphosiert worden ist. Dadurch ist durch sie zum erstenmal eine wirklich wissenschaftliche Erkenntnis auch auf jenen Gebieten inauguriert worden, auf denen es eine solche bisher nicht gegeben hat. Denn bis zur Anthroposophie besaß in der Tat das Kantische Wort volle Geltung, daß Wissenschaft im strengen Sinne nur die Naturwissenschaft sei. Wir wollen in einem folgenden Artikel zeigen, wie beispielsweise die Erforschung der Geschichte erst durch Anthroposophie zum Range einer exakten vollgültigen Wissenschaft erhoben worden ist.

*

nächste Seite:  I.1 Geschichte, Vorgeschichte