Die Erneuerung des sozialen Lebens
Im vorangehenden Kapitel haben wir geschildert, wie Rudolf Steiner von einem gewissen Zeitpunkt der Entwicklung der Anthroposophie an zu der Darstellung der geistigen Welt in der Begriffssprache der Wissenschaft diejenige der Formensprache der Künste hinzufügte. Und wie dadurch die verschiedenen Kunstgattungen eine gründliche Lebenserneuerung erfuhren. Denn es wurden diese dadurch wieder zum gemacht, was noch Goethe als ihr Wesen erkannt hat, was sie aber in der neueren Zeit zu sein so gut wie ganz aufgehört hatten: "Manifestation höherer Naturgeheimnisse" - höherer nämlich, als sie durch die Wissenschaft zur Offenbarung gebracht werden können. Denn was die wissenschaftliche Darstellung, selbst wenn sie eine geisteswissenschaftliche ist, enthüllen kann, bezieht sich im Grunde immer nur auf das in der Vergangenheit Gewordene. Auch wo sie über die Zukunft spricht, kann sie dies nur insoweit tun, als diese aus der Vergangenheit heraus bestimmt ist. Um aber das unmittelbar Gegenwärtige, das lebendig Werdende zu schildern, muß die Offenbarung aufsteigen von der wissenschaftlichen Form zur künstlerischen. Denn nur diese kann das Lebendige voll lebendig in sich erhalten. Um aber diesen Aufstieg von der wissenschaftlichen zur künstlerischen Darstellung vollziehen zu können, muß eine Erkenntnis von Anfang an den Keim eines solchen Lebens in sich tragen, das sich je nach den Forderungen ihrer Gegenstände zu immer höheren Gestaltungen entfalten kann. Dieses Leben aber - das suchten wir in den vorangehenden Kapiteln zu zeigen - entsteht nur als Frucht einer durch die Verbindung mit der lebendigen Christuskraft erreichten Überwindung des Todes. Denn es ist das Leben der Auferstehung. Und weil in der anthroposophischen Geisterkenntnis ein solches Leben waltete - denn sie war ja errungen durch die Auferweckung der (S96) Erkenntniskräfte der modernen Menschheit aus dem Tode, in diese in der neueren Zeit verfallen waren - deshalb vermochte sie jene Entwicklung zu nehmen, deren Stufen wir in Umkehrung einer von Ernst v. Lasaulx gegebenen Charakteristik der vorchristlichen Kulturentwicklung kennzeichneten als die des Wissenschafters, des Künstlers und endlich des Helden. Denn die höchsten Weltengeheimnisse - und das sind diejenigen, die sich auf die Gestaltung der Zukunft beziehen, insofern diese durch die Vergangenheit noch nicht vorbestimmt ist - können auch durch die Kunst nicht geoffenbart werden, sondern erst durch die Verwirklichung von aus dem Geiste fließenden sittlichen Idealen. Denn auch diese sind - ihrem wahren Wesen nach erfaßt - zugleich "Manifestationen höherer Weltgeheimnisse" - aber eben noch höherer, als sie selbst die Kunst zu offenbaren vermag. Von Weltgeheimnissen, für die - weil sie sich auf das Nochnichtdaseiende beziehen - ihre Offenbarung in eins zusammenfällt mit ihrer Verwirklichung. Wir werden nun im folgenden zu schildern haben, wie die Anthroposophie eine dritte Stufe ihrer Entwicklung dadurch erlebte, daß Rudolf Steiner von einem weiteren Zeitpunkt an zu der Offenbarung der geistigen Welt in wissenschaftlicher und in künstlerischer Form diejenige in Gestalt von sittlich-sozialen Ideen und Impulsen hinzufügte, und wie dadurch einerseits immer höhere und höhere Geheimnisse der geistigen Welt enthüllt wurden, anderseits - indem eben dadurch das wahre Wesen des sittlichen Strebens wiederhergestellt wurde - auch das sittlich-soziale Handeln und Gestalten - im weitesten Sinne des Wortes - von Grund auf erneuert, d.h. in diesem Falle zu einem wirklich fruchtbaren, wirklichkeitsstarken, lebenspraktischen gemacht wurde.
Hier ist nun an erster Stelle jene Idee zu nennen, die auf die Bitte von Freunden hin schon während des Weltkrieges, besonders aber in der Zeit nach der Beendigung desselben, als hauptsächlich in Mittel- und Osteuropa durch den Zusammenbruch der alten Staatsformen die Notwendigkeit neuer sozialer Lebensformen erkannt und nach solchen gesucht wurde, von Rudolf Steiner ausgesprochen (S97) worden ist, und von deren Verwirklichung alle weiteren, später von ihm gegebenen Impulse in gewissem Sinne als Teilglieder angesehen werden können: die Idee der "Dreigliederung des sozialen Organismus". Man darf von dieser Idee wohl sagen, daß sie die größte und umfassendste Idee zur Gestaltung und Fortentwicklung des sozialen Lebens ist, die die neuzeitliche Geistesentwicklung hervorgebracht hat; und in diesem ihren umfassenden Charakter darf wohl auch eine Bürgschaft für ihre Realisierbarkeit gesehen werden. Denn was alle die zahllosen sozialen Reformideen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgetreten sind, immer wieder als unzulänglich erwiesen hat, war dieses, daß sie alle in einseitiger Art aus bestimmten nationalen, Standes- oder Berufsstandpunkten heraus gedacht waren und deshalb die soziale Problematik unserer Zeit niemals nach ihrem vollen Umfang und daher auch nie in ihren tiefsten Wurzeln erfaßten. Die Dreigliederungsidee faßt die soziale Frage so an, daß das Aufweisen der Richtungen, in denen sie gelöst werden kann, gleichzeitig das Verbreiten eines Lichtes ist über die Art, wie diese sich durch den ganzen Gang der Menschheitsentwicklung aus deren tiefsten Triebkräften heraus auf den verschiedenen Lebensgebieten in unserem Zeitalter herausgebildet hat. Und so ergeben sich, indem sie dadurch tiefste Offenbarungen über die Entwicklungsgeheimnisse der Menschheit vermittelt, aus ihr zugleich Tatgedanken, deren Größe und Weite der Größe der Probleme wirklich gewachsen ist.
Indem wir nun in Kürze den Inhalt der Dreigliederungsidee zu skizzieren versuchen, werfen wir zunächst einen Blick auf den Wandel der Gestaltungen, die das soziale Leben in den verschiedenen Epochen der Menschheitsentwicklung gehabt hat. Dieser Rückblick kann allerdings nur in andeutenden Hinweisen gehalten sein, für welche die geschichtlichen Belege an dieser Stelle nicht in Ausführlichkeit beigebracht werden können.
Drei Epochen kann man unterscheiden in bezug auf die Impulse, die dem sozialen Leben im Laufe der Geschichte seine Gestalt gegeben haben. Eine erste umfaßt die Zeit jener frühen Kulturen, (S98) die bis etwa zum ersten vorchristlichen Jahrtausend in Indien, Persien, Ägypten, Syrien, Kleinasien geblüht haben. Der Schwerpunkt des sozialen Lebens lag in allen diesen Kulturen im geistigen Leben, das von den Mysterienstätten aus verwaltet wurde, die wir in ihnen ja überall antreffen und deren eingeweihte Priester nicht nur zugleich die Funktion von Königen ausübten, sondern auch alle Anordnungen trafen, die zur richtigen Besorgung des wirtschaftlichen Lebens notwendig waren. Denn ein selbständiges Staatsleben gab es damals noch nicht, und das primitive Wirtschaftsleben beschränkte sich noch auf die einfachste Art der Gewinnung und Verwertung der Naturerzeugnisse, für deren Herstellung und Behandlung die Eingeweihten aus ihrem Wissen heraus die notwendigen Anweisungen geben konnten.
Eine zweite, mittlere Epoche umfaßt die Zeit des alten Griechentums, der römischen und der mittelalterlichen Geschichte, blühte also hauptsächlich in Süd- und Mitteleuropa. In ihr hat das soziale Leben seinen Schwerpunkt ganz deutlich im staatlichen Leben. Ja, dieses wird in ihr zum erstenmal als ein selbständiges ausgebildet. In Griechenland sind zuerst die Grundtypen aller politischen Verfassungen aufgestellt worden; das römische und das deutsche Recht sind die beiden einzigen - wenn auch in ihrem Charakter verschiedenen - Rechtsschöpfungen von welthistorischer Bedeutung. Die "Polis" in Griechenland, die "Res publica" in Rom, das "Reich" im Mittelalter bedeuteten für ihre Angehörigen jeweils den Inbegriff der höchsten und wichtigsten menschlichen Angelegenheiten.
Eine dritte Epoche in der Entwicklung des sozialen Lebens ist endlich heraufgezogen mit dem Beginne der neueren Zeit. Wiederum hat sich dabei sein Schwerpunkt verschoben. Er liegt jetzt im Wirtschaftsleben. Und da dies hauptsächlich in den westlichen Ländern Europas, am allerreinsten aber in dem seit dem Beginn der neueren Zeit in die Geschichte eingetretenen amerikanischen Kontinente der Fall ist, so sind von diesen westlichen Gebieten die bestimmenden Impulse für die Gestaltung des sozialen Lebens in (S99) dieser dritten Epoche ausgegangen. Daß die wirtschaftlichen Interessen in den letzten Jahrhunderten in der Tat zu den bestimmenden im sozialen Leben geworden sind, wird kein Unbefangener bezweifeln. Aber nur dadurch konnte das moderne Wirtschaftsleben, in Verbindung mit der Ausbildung der modernen Technik, die gewaltige Entwicklung und Ausgestaltung erfahren, der keine frühere Zeit ein Ähnliches an die Seite zu setzen hat. Für das soziale Leben sind nun vor allem zwei Folgeerscheinungen dieser gigantischen modernen Wirtschaftsentwicklung bedeutsam geworden. Erstens die innige wirtschaftliche Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit, die sich dadurch zunächst zwischen dem amerikanischen und westeuropäischen einerseits und dem mitteleuropäischen Gebiet anderseits herausgebildet hat, zweitens diejenige, die sich dann in dem Maße, als sich das moderne Wirtschaftsleben schließlich zur Weltwirtschaft ausweitete, zwischen der westlichen und der östlichen Welthälfte einstellte. Denn auf den Wegen dieser Wirtschaftsbeziehungen, die sich da zwischen den Ländern und Kontinenten anbahnten, sind allmählich auch die Sozialimpulse des Westens, da sie ja die modernsten und in gewisser Hinsicht fortgeschrittensten waren, von der mitteleuropäischen und der östlichen Menschheit aufgenommen worden. Und in diesem Eindringen der im Westen ausgebildeten, durch das bestimmende Vorherrschen des Wirtschaftlichen gekennzeichneten Sozialstruktur in die beiden anderen Menschheitsgebiete liegen die Wurzeln der sozialen Frage. Denn da bis heute im Osten sich jene schon in den geschilderten uralten Kulturen ausgebildete Empfindung, daß die Sozietät aus dem geistigen Leben heraus ihre Gestaltung erhalten müsse, in Mitteleuropa aber diejenige, daß im rechtlich-staatlichen Leben der Ursprung sozialer Ordnung liege, erhalten hat, führte das Einfließen der westlichen, wirtschaftlich orientierten Sozialgestaltung in diesen Gebieten zu den sozialen Erkrankungsprozessen, deren Symptom eben das Auftreten der sozialen Frage ist.
Für den Westen ist es selbstverständlich, daß das Wirtschaftliche das bestimmende Element im sozialen Leben ist, und daß das (S100) staatliche und das geistige Leben nur dienende Kräfte desselben sind. Daher ist auch die Gestaltung, die die letzteren in England und Amerika haben, nicht eine ursprüngliche, aus ihrem eigenen Wesen stammende, sondern aus den Lebensbedingungen des Wirtschaftlichen abgeleitete. Indem nun diese Sozialstruktur in Mitteleuropa eindrang, wurde auch hier der Staat zum Instrument für das Wirtschaftsleben gemacht. Aber da er hier ein ursprüngliches Eigenleben hat und auch geschichtlich aus ganz anderen als wirtschaftlichen Voraussetzungen seine Konfiguration erhalten hat, konnte er hier nie zu einem wirklich brauchbaren Instrument des Wirtschaftslebens werden; im Gegenteil: er wurde dadurch zu einem hemmenden Reglementierer desselben. Und so haben sich in Mitteleuropa Staat und Wirtschaft in einer Art Ringkampf ineinander verknäuelt, der beide immer mehr zugrunde zu richten droht. Das Wirtschaftsleben kann sich nicht frei bewegen, weil ihm der Staat überall die Fesseln seiner Verordnungen anlegt. Der Staat verliert immer mehr seine Autorität, weil er in allen seinen Maßnahmen durch das Wirtschaftsleben beeinflußt oder behindert wird.
Im Osten aber, dessen geschilderte Lebensempfindung nicht nur den fernen Orient, sondern auch die östlichen Gebiete Europas beherrscht, hat das Eindringen der westlichen Sozialgestaltung dadurch krankmachend gewirkt, daß das Geistesleben zu einem Knecht des Wirtschaftslebens ward, indem es in den Dienst des Staates gestellt wurde, der selber wiederum im Dienste der Wirtschaft arbeitete. Da aber im Osten das soziale Leben bis in das Wirtschaftliche hinein vom Geistigen her seine Gestaltung empfangen will und muß, so entstand hier das Paradoxon, daß das geistige Leben in der Theorie sich als etwas Unwirkliches, bloß Abgeleitetes betrachtete, in der Praxis aber, da es im Osten nun einmal nicht anders kann, doch aus sich heraus dem wirtschaftlich-sozialen Leben seine Gestaltung gab. Und dieses Paradoxon hat sich zu seiner extremsten Form gesteigert im Bolschewismus. Denn wodurch könnte dieser treffender gekennzeichnet werden, als dadurch, daß (S101) in ihm das soziale, das wirtschaftliche Leben zu organisieren versucht wird aus einer Weltanschauung, die geradezu mit den Allüren einer neuen Religion auftritt, d.h. also aus einem Geistigen heraus, dessen Eigentümlichkeit aber darin besteht, die selbständige Wirklichkeit und Schöpferkraft des Geistigen zu leugnen und das Wirtschaftlich-Materielle für das allein Wirkliche zu erklären?!
Dies ist aber erst die eine Seite der sozialen Frage. Die andere stellt sich uns dar, wenn wir den oben angestellten Rückblick auf die Geschichte des sozialen Lebens nach einer gewissen Richtung hin erweitern.
Im alten Indien, welches für die charakterisierte erste Epoche der Sozialentwicklung den repräsentativsten Kulturkreis bildet, war die Bevölkerung in vier "Kasten" geschichtet. Wie alles in jener Kultur, so war auch diese Klassenschichtung durch die tonangebende Stellung bestimmt, welche das geistige Leben damals einnahm. Die Rangfolge die einzelnen Kasten war gegeben durch die Nähe oder Ferne, in welcher die Angehörigen derselben zu einer rein geistigen Betätigung standen. Die höchsten bildeten die Brahmanen, d.h. die Priesterweisen; die niedrigste die Handeltreibenden, das heißt eigentlich die Vertreter des Wirtschaftslebens. Das klassenbildende Prinzip war also ein geistiges.
Im alten Griechenland und Rom finden wir im wesentlichen zwei Klassen der Bevölkerung: Freie und Sklaven. Aber hier hat die Klassenbildung im staatlich-rechtlichen Leben ihren Ursprung. An diesem mitbestimmend teilnehmen konnte nur der Freie, der Sklave nicht. Frei sein, hieß Rechte haben; Sklave sein, jeden Rechtes entbehren. Zu den Rechten gehörte auch das auf Eigentum. Der Freie allein konnte Eigentümer sein; der Sklave nicht, im Gegenteil: er war Eigentum. Die Klassenunterschiede im alten Rom verwischten sich aber allmählich in dem Maße, als das Christentum sich ausbreitete. Denn mit seiner Lehre vertrugen sie sich nicht. Durch Christus war ja jeder Mensch mit dem Göttlichen wieder verbunden worden. Er nannte alle seine Brüder. Und sogar besonders die Armen und die Sünder. Mit dem Christentum (S102) war etwas in die Menschheit eingetreten, mit dessen fortschreitender Ausbreitung die Klassenbildung ihre Berechtigung verlieren mußte. So sehen wir denn die junge germanisch-mittelalterliche Kultur anfänglich als eine klassenlose auftreten. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem deutschen und dem römischen Recht. Das Lehenswesen (Feudalverfassung) des Mittelalters mit der Gegenseitigkeit der Verpflichtungen des Lehensherrn und des Vasallen ist auf der Anerkennung der Freiheit und Gleichberechtigung jedes Menschen begründet. Erst am Ende des Mittelalters entsteht eine neue Klassenschichtung: einerseits aus der Landwirtschaft heraus in dem Hörigen- und Leibeigenenwesen, anderseits aus dem zur Industrie sich umwandelnden Handwerk heraus, in dem Unterschied zwischen Arbeiter und Unternehmer, den die Arbeitsteilung bewirkt, die durch die Dienstbarmachung der heraufkommenden Technik für das Wirtschaftsleben sich immer mehr herausbildet. Daß aber diese aus der Entwicklung des Wirtschaftslebens entstehenden Differenzierungen zu einer neuen Klassenschichtung führen, rührt daher, daß sie erfaßt werden von den Hohlformen des römischen Rechtes, das in derselben Zeit von der neueren Zivilisation rezipiert wird. Und so entsteht die moderne, durch wirtschaftliche Verhältnisse bestimmte Klassenschichtung in Proletarier und Kapitalisten.
Das Eigentümliche ist nun, daß diese moderne, aus dem Wirtschaftsleben heraus sich bildende Klassenschichtung von den westlichen Völkern nicht eigentlich als etwas Menschenunwürdiges empfunden wird. Da sie sich aus der Gestaltung des Wirtschaftslebens nun einmal ergibt und dieses als die hauptsächlichste Sphäre der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen empfunden wird, sieht man sie als etwas ganz Natürliches an. Und da die rechtlichen und die geistigen Beziehungen zwischen den Menschen nur wenig erlebt werden, so verbleibt diese Klassenschichtung auch im großen und ganzen innerhalb des Wirtschaftslebens.
In Mitteleuropa dagegen, wo die Rechtsverhältnisse intensiv erlebt werden, wird es als ungerecht empfunden, wie durch die (S103) Rezeption der römischen Rechtsbegriffe die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Stellung innerhalb des Staatslebens in einer Verschiedenheit der Rechte zum Ausdrucke kommt. Hier empört sich das Rechtsgefühl dagegen, daß der Staat nur ein Werkzeug des Wirtschaftslebens und die Rechtsverhältnisse nur ein Abklatsch der Wirtschaftsverhältnisse geworden sind. Der Mitteleuropäer fühlt: das ist ein letztes Stück der Sklaverei; und deshalb hat das Wort Karl Marx' hier so zündend in die Seelen der Arbeiter eingeschlagen: daß der moderne Arbeiter zwar nicht mehr wie der Sklave im alten Rom als ganzer Mensch, aber doch noch mit einem Teil seines Wesens Ware sei. Denn wie im alten Rom der ganze Sklave verkauft wurde, so wird heute vom Arbeiter noch ein Stück seines Wesens, seine Arbeitskraft, als Ware verkauft. Die proletarische Bewegung in Mitteleuropa hat ihre Wurzeln in einer Verletzung des Rechtsgefühls.
Durch den modernen Einheitsstaat, der auch das geistige Leben regelt, während er selbst ein Werkzeug des wirtschaftlichen ist, bestimmt daher die wirtschaftliche Stellung eines Menschen nicht nur seine rechtliche mit, sondern letzten Endes auch seine Stellung innerhalb des geistigen Lebens. Was für eine wirtschaftliche Stellung einer hat, darnach sind seine politischen Rechte, darnach ist aber auch seine Weltanschauung. In dieser kommt also nicht Wahrheit oder Unwahrheit zum Ausdruck, sondern eine wirtschaftliche Position. Und dies ist es nun, was besonders der östliche Mensch empfindet. Während des Mitteleuropäers Rechtsgefühl dadurch verletzt wurde, daß der Staat zum Knecht der Wirtschaft geworden ist, empfindet es der Osteuropäer und der Orientale als unsittlich, daß durch die moderne Sozialordnung in die geistigen Beziehungen zwischen den Menschen, die er als die ursprünglichen, heiligsten und wichtigsten erlebt, die Einflüsse des Wirtschaftslebens sich störend und zerstörend hineinmischen. Die Wurzeln der sozialen Bewegung im Osten liegen in einer Verletzung des moralischen Gefühls.
Hiermit sind die Ursachen aufgedeckt, aus denen in der neueren (S104) Zeit allmählich die soziale Frage entstanden ist. Sie liegen, wie man sieht, in einer ungesunden Verquickung, welche zwischen den verschiedenen sozialen Lebensgebieten in Mittel- und Osteuropa dadurch eingetreten ist, daß sich durch die geschichtliche Entwicklung verschiedenen Epochen entstammende, verschiedene, ja sogar entgegengesetzt soziale Gestaltungsprinzipien hier ineinandergeschoben haben. Und hier liegt auch der Grund dafür, warum die soziale Frage - von der viele glauben, sie erschöpfe sich in rein wirtschaftlichen Forderungen - gerade in Mittel- und Osteuropa zu so mächtigen sozialen Bewegungen und auch zu so mannigfaltigen, freilich zunächst auch so unglücklichen Lösungsversuchen geführt hat, obwohl das moderne Wirtschaftsleben gerade nicht in diesen Gebieten, sondern im Westen seine stärkste Ausbildung erfahren hat. Und hieraus werden nun wohl auch die Richtlinien verständlich, die Rudolf Steiner durch die Dreigliederungsidee für die Lösung der sozialen Frage gewiesen hat.
Aus dem Westen kann diese Lösung nicht kommen; denn er empfindet die moderne Sozialordnung, da er sie ja aus seinen Anlagen hervorgebracht hat, nicht als ungesund. Aus dem Osten aber kann die Lösung auch nicht kommen; denn dieser erlebt die soziale Frage nur von ihrem einen Pol: vom Geistigen her. Am umfassendsten wird sie in Mitteleuropa erlebt. Hier muß daher der Anfang mit ihrer Lösung gemacht werden. Und hierin liegt der eigentliche, eigenste Weltberuf Mitteleuropas für das kommende Zeitalter. Dadurch aber wird die soziale Frage einer Lösung entgegengeführt werden, daß hier zunächst ein jedes der drei sozialen Lebensgebiete: das geistige, das staatliche, das wirtschaftliche, in seine eigene Verwaltung gegeben wird. Auf der einen Seite muß das geistige Leben entstaatlicht und auf sich selbst gestellt werden. Indem es dadurch befreit wird von seinem Frondienst für den Staat und durch diesen hindurch für die Wirtschaft, und sich lediglich den aus seinem eigenen Wesen fließenden Aufgaben und Idealen zuwenden kann, wird es sich durch diese Freiheit die innere Kraft, die Fruchtbarkeit und damit auch die soziale Anerkennung erringen, (S105) durch die ihm freiwillig die wirtschaftlichen Mittel zufließen, die es braucht. Man wird den Segen und die Notwendigkeit eines solchen freien Geisteslebens so stark empfinden, daß man ihm auch die notwendigen materiellen Mittel zukommen lassen wird.
Indem aber dadurch anderseits dem Wirtschaftsleben die Einflußnahme auf die Arbeitsrichtung des Geisteslebens, die ihm nicht zukommt, genommen wird, kann es sich dann mit um so größerer Kraft seinen eigenen Aufgaben widmen, die in der Produktion, Zirkulation und Konsumtion von Waren beschlossen sind. Es wird dann alle wirtschaftlichen Angelegenheiten in seine eigene Verwaltung nehmen können. Es wird nicht mehr nötig haben, daß ihm bei der Regelung seiner Tätigkeit der Staat durch seine Verordnungen von außen her eine - ja recht fragwürdige - Hilfe leistet oder einen Teil seiner Aufgaben durch seine staatswirtschaftlichen Betriebe abnimmt, sondern alles Wirtschaftliche wird völlig entstaatlicht werden können. Das Wirtschaftsleben wird sich in Form von assoziativen Bildungen allmählich selbst die Gestaltung und Regelung geben, die seinen eigenen Lebensbedingungen angemessen ist.
Durch dieses Abgeben der Regelung der geistigen und der wirtschaftlichen Angelegenheiten an die selbständigen Verwaltungen dieser beiden Lebensgebiete und durch die Beschäftigung dieser Verwaltung mit einer so umfassenden Ordnung ihrer eigenen Verhältnisse wird endlich drittens das Staatsleben einerseits Ruhe bekommen von Einflüssen, die sich von außen her in seine Angelegenheiten einmischen, anderseits die Möglichkeit erhalten, sich endlich ausschließlich mit dem zu beschäftigen, was seine ureigenste Aufgabe ist: mit der Schaffung eines gerechten, dem modernen Empfinden angepaßten Rechts. Desjenigen Rechts, nach welchem, wie wir zeigten, gerade in der mitteleuropäischen sozialen Bewegung eine so tiefe Sehnsucht lebt, und dessen Schaffung recht eigentlich die Lösung der sozialen Frage für Mitteleuropa bedeutet. Aber diese Lösung kann eben nur gefunden werden, wenn in der oben gekennzeichneten Weise die beiden anderen (S106) Gebiete des sozialen Lebens ganz auf sich selbst gestellt und restlos mit sich selbst beschäftigt werden.
Durch diese Dreigliederung seines sozialen Lebens wird nun Mitteleuropa einerseits sich diejenige Lebensform schaffen, die seinen eigenen Bedürfnissen für Gegenwart und Zukunft entspricht; anderseits sich in richtiger, segensvoller Weise als vermittelndes Glied hineinstellen können in die Polarität von Westen und Osten. Der Westen nämlich wird für eine solche Dreigliederung Verständnis zeigen, weil er dann mit einem Wirtschaftsleben in Mitteleuropa in Verbindung treten kann, das, wie es auch bei ihm selbst der Fall ist, sich lediglich aus seinen eigenen Lebensbedingungen heraus, ungestört von einem staatlichen Bureaukratismus, gestaltet. Für den Osten aber wird eine solche soziale Dreigliederung in Mitteleuropa erstens ein Schutzwall sein können gegen das unvermittelte, übermächtige Eindringen der ihm ganz gegensätzlichen westlichen Sozialimpulse, anderseits aber zugleich lichtbringend werden für das, was er auf seinem eigenen Gebiet ersehnt. In einem freien mitteleuropäischen Geistesleben wird er ein Vorbild dessen erblicken, was er selbst zu erringen hat; er wird zu einem solchen vertrauensvolle, fruchtbare Beziehungen anknüpfen können.
Damit werden dann die Konfliktstoffe aus der Welt geschafft sein, die in Wahrheit schon den Weltkrieg verursacht haben - denn dieser war nicht ein Krieg wie frühere Kriege, sondern nur der erste Akt der sozialen Katastrophe, in der die zunehmende Erkrankung des sozialen Lebens sich zuletzt entladen mußte - und die bereits einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident entgegentreiben. Aber es wird auch die soziale Frage nach der anderen Seite hin gelöst werden können, die wir berührt haben. Klassenschichtung nämlich - das zeigte der kurze historische Rückblick - entsteht immer dann, wenn das Verhältnis, das ein Mensch zu einem sozialen Lebensgebiet hat, bestimmend wird für seine Stellung im ganzen sozialen Leben, wenn ein Lebensgebiet der ganzen sozialen Gestaltung seinen Stempel aufdrückt. Das Christentum hat die Klassenschichtung als etwas (S107) Menschenunwürdiges, zu Überwindendes betrachten gelehrt. Die Forderung einer klassenlosen Gesellschaft lebt als ein Ideal im modernen Menschen. Sie lebt besonders in der proletarischen Bewegung, auch wo diese vom Christentum nichts mehr wissen will. Die Gliederung des sozialen Lebens in drei selbständige Verwaltungsgebiete ist der einzige Weg, auf dem auch diese Forderung erfüllt werden kann. Denn, wenn aufhört, die wirtschaftliche Stellung eines Menschen bestimmend zu sein für seine staatliche, oder seine staatliche Stellung für seine wirtschaftliche oder geistige, sondern wenn er in jedem Gebiet nur nach den aus diesem selbst fließenden Bedingungen drinnen steht - dann kann keine Klassenschichtung entstehen. Die drei Gebiete des sozialen Lebens verbinden sich nur in jedem einzelnen Menschen, aber in jedem auf eine individuelle Art.
In diesem letzten Satze liegt zugleich auch die Erledigung des naheliegenden Einwandes, daß durch solche Dreigliederung das soziale Leben in drei Stände auseinandergerissen werde. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil: die Verbindung der drei Glieder des sozialen Lebens wird dadurch eine noch innigere, denn sie wird dann durch den Menschen selbst hergestellt, durch alle einzelnen Menschen, aus denen ja schließlich die menschliche Gesellschaft besteht. Es kann dann jeder Mensch in allen drei Gebieten des sozialen Lebens drinnen stehen. Diese werden sich aber gegenseitig in ihren notwendigen Funktionen nicht stören.
In dem 1919 erschienenen Buche "Die Kernpunkte der sozialen Frage" hat Rudolf Steiner dieser Dreigliederungsidee eine grundlegende, umfassende Darstellung gegeben. Im Anschluß an dasselbe wurde dann ein "Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus" begründet, welcher der Verbreitung und Realisierung dieser Ideen dienen sollte. Er fand anfänglich eine rasche, große Ausbreitung, erfuhr aber dann sowohl von kapitalistischer Seite als auch von seiten der sozialistischen Parteien so heftige Anfeindung, daß die Hoffnung, eine Volksbewegung für die Idee zustande zu bringen, aufgegeben werden mußte. Man versuchte daraufhin in (S108) den Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft, in der Überzeugung, daß im Sinne der Dreigliederungsidee an jedem Punkte des Lebens aufzubauen begonnen werden könne, selbst Anfänge einer Realisierung der Dreigliederungsidee vor die Welt hinzustellen, d.h. Beispiele auf der einen Seite für ein freies Geistesleben, auf der anderen für ein assoziatives Wirtschaftsleben.
Für ein freies Geistesleben war ja die Anthroposophie als solche von allem Anfang an ein Beispiel gewesen. Nur weil sie sich immer freigehalten hatte von jeder Verbindung mit staatlich-politischen Institutionen, hatte sie die ganz aus ihrem innersten Wesen sich ergebende Entwicklung nehmen können, die wir bisher geschildert haben. In ihr war also ein Keim für ein freies Geistesleben vorhanden, und es konnte naturgemäß nicht aus dem kahlen Boden gestampft, sondern nur aus einem solchen Keim heraus entwickelt werden, was als beispielgebende Gestaltung eines freien Geisteslebens hingestellt werden sollte. Und so wuchsen denn die verschiedenen Institutionen, die von der anthroposophischen Bewegung als Beispiele eines freien geistigen Lebens begründet wurden, als Früchte aus dem anthroposophischen Geistesstreben heraus.
An erster Stelle ist hier zu nennen die schon 1919 von Emil Molt begründete Freie Waldorfschule in Stuttgart - so genannt, weil sie zunächst in erster Linie für die Kinder der Angestellten und Arbeiter des Waldorf-Astoria-Unternehmens gedacht war, dessen Chef Emil Molt war. In ihr hat, indem auf die Bitte des Gründers Rudolf Steiner die geistige Leitung derselben übernahm, die Anthroposophie eine ihrer schönsten und segensreichsten Früchte gezeitigt. Denn in dem vorbereitenden seminaristischen Kurs, den er den von ihm ausgewählten Lehrern gab, und in den zahlreichen weiteren Kursen, die er später noch hinzufügte, hat Rudolf Steiner aus der anthroposophischen Menschenkunde heraus eine ganz neue Erziehungskunst begründet und ausgearbeitet (Vgl. seinen "Lehrerkurs am Goetheanum" und seine Schrift "Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft). Und diese hat sich bereits als ein so unbeschreibliches Segensgeschenk für die (S109) Menschheit erwiesen, daß die Waldorfschule in den sechs Jahren ihres Bestehens Weltruf erlangt hat als eine einzigartige Mustererziehungsstätte und heute (Anmerkung: Stand 1926), während die mit 200 Schülern angefangen hat, bereits deren 1000 zählt, die aus allen europäischen Ländern und aus allen Gesellschaftsschichten sich rekrutieren. Innerhalb der zahlreichen Reformbestrebungen, die auf pädagogischem Gebiete in der Gegenwart aufgetreten sind, steht die Waldorfschulpädagogik als der einzige zielsichere, wirklich erfolgreiche Reformversuch da. Ihr Wesentliches liegt darin, daß sie das Kind durch Erweckung seiner produktiven Kräfte zu einem freien, selbständigen, harmonisch ausgebildeten Vollmenschen zu erziehen sucht und in der Tat auch vermag, weil sie auf eine Erkenntnis der Entwicklungsgesetze und Entwicklungsbedingungen des heranwachsenden Menschen begründet ist, wie sie eben nur durch anthroposophische Geisteswissenschaft zu erlangen ist.
Ein weiterer, ebenso segensreicher Anfang eines freien geistigen Lebens wurde gemacht auf medizinischem Gebiete, indem Rudolf Steiner auf die Bitte von Ärzten hin auch eine neue ärztliche Wissenschaft und Heilkunst aus der anthroposophischen Geisteserkenntnis heraus begründete, welche dem Arzte ermöglicht, wieder zu einem wirklichen Heilkünstler zu werden, was er durch die materialistische Naturwissenschaft zu sein weitgehend aufgehört hat. Denn die auf die moderne Naturwissenschaft begründete Medizin hat ja die zwei Dinge immer mehr verloren, ohne die eine wirkliche Heilkunst nicht möglich ist: erstens eine Erkenntnis des ganzen Menschenwesens, zweitens eine Erkenntnis des Zusammenhanges der menschlichen Organisation mit den Kräften und Substanzen der Natur. Ohne die erstere ist aber keine Pathologie, ohne die letztere keine Therapie möglich. Denn die Krankheit ist etwas, das aus der bloßen Leiblichkeit, welche die heutige Medizin allein kennt, nimmermehr zu verstehen ist, sondern allein aus dem ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist und aus der Einsicht in das Zusammenwirken dieser seiner Wesensglieder. Und die Anwendung von Heilmitteln, in der ja schließlich die Therapie der Hauptsache (S110) nach besteht, kann eine richtige und rationelle nur dann sein, wenn sie aus der Erkenntnis des Verhältnisses der menschlichen zur außermenschlichen Natur fließt. Die von Rudolf Steiner begründete "Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen" (Grundlegendes zur Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen" ist der Titel des von ihm gemeinsam mit Dr. Ita Wegman verfaßten medizinischen Werkes) besteht in einem Weg zu wirklicher Krankheitserkenntnis und in der Begründung von Heilmethoden und Erzeugung von Heilmitteln, welche in den Kliniken, die ebenfalls aus der anthroposophischen Bewegung heraus begründet worden sind, bereits mit großen Erfolgen angewendet werden.
Ein weiteres Glied innerhalb dieses erneuernden sozialen Wirkens, zunächst auf geistigem Felde, bildet die Begründung von "staatsfreien" wissenschaftlichen Forschungsinstituten, für deren Arbeiten Rudolf Steiner ebenfalls die Grundlage gegeben hat durch eine Reihe von naturwissenschaftlichen Kursen, in welchen er die anthroposophische Geisteserkenntnis bis in einzelne naturwissenschaftliche Forschungsgebiete hinein ausbaute und dadurch der Naturforschung eine Fülle neuer Arbeitsperspektiven eröffnete. Neben Vortragsreihen historischen und allgemeinen Charakters sind an speziellen zu nennen ein optischer, ein Wärme-, ein astronomischer Kurs (Der letztere ist in einer Bearbeitung von Wilhelm Kaiser unter dem Titel "Astronomie in geisteswissenschaftlicher Beleuchtung" veröffentlicht worden). Auf Grundlage dieser geisteswissenschaftlichen Anregungen sind aus diesen Forschungen bereits eine Anzahl, z.T. epochemachender naturwissenschaftlicher Arbeiten veröffentlicht worden. Zu nennen wäre weiter ein national-ökonomischer Kurs, in welchem Rudolf Steiner aus der Geistesforschung heraus eine neue Wirtschaftswissenschaft begründete.
Alle diese Kurse sind dadurch einzigartige Geistesgeschenke, daß sie sich - abgesehen von der beispiellosen Universalität der schöpferischen Erkenntniskraft, die in ihnen zum Ausdruck kommt - ebensosehr auszeichnen durch das grenzenlose geistige Schauen, das ihnen zugrunde liegt, wie durch die restlose Art, in der die Inhalte (S111) dieses geistigen Schauens in eine stufenweise sich aufbauende, klargegliederte wissenschaftlich-begriffliche Darstellung gegossen sind. Denn in jedem einzelnen derselben wird mit einer immer von neuem Bewunderung erregenden Genialität eine neue Wissenschaft von Grund auf systematisch aufgebaut.
Auf staatlich-politischem Gebiete konnte im Sinne der Dreigliederung zunächst nichts unternommen werden, da ja dasjenige, was hier positiv geschaffen werden muß, aus der gleichberechtigten Mitwirkung aller Menschen entstehen will.
Dagegen wurden auf wirtschaftlichem Gebiete, als "Keimzellen" für ein assoziativ gestaltetes Wirtschaftsleben, Assoziationen begründet, in welchen industrielle und landwirtschaftliche Betriebe, ferner die oben erwähnten wissenschaftlichen Forschungsinstitute als geistige Institutionen so miteinander verbunden waren, daß die Reinerträgnisse der einen der wirtschaftlichen Unternehmungen zum Teil den anderen, weniger ertragreichen, aber einem gesunden Bedürfnis dienenden Betrieben, zum Teil den geistigen Institutionen zugute kamen. Diese Assoziationen waren jedoch von vornherein darauf angelegt, sich so zu erweitern, daß sie allmählich ein ganzes, relativ geschlossenes Wirtschaftsterritorium umfassen und in diesem dann eine assoziative Wirtschaftsgestaltung herbeiführen sollten. Sie verloren von dem Augenblick an ihren Sinn, als durch die leidenschaftliche Bekämpfung, die sie von verschiedenen Seiten her erfuhren, dieses Ziel aufgegeben werden mußte. Und dies führte dann nach einiger Zeit zur ihrer Wiederauflösung.
Dafür konnte Rudolf Steiner für das rein landwirtschaftliche Gebiet noch eine erlösende Tat vollbringen, indem er in einem auf die Bitte von Landwirten zustande gekommenen landwirtschaftlichen Kurs grundlegende Richtlinien gab für eine Befruchtung des landwirtschaftlichen Arbeitens durch anthroposophische Geisteserkenntnis. Daß die letztere für dieses Gebiet wirklich Erlösendes zu sagen haben konnte, wird man verstehen, wenn man bedenkt, daß die Richtlinien für die landwirtschaftliche Arbeit in jenen Zeiten, da es noch keine Naturwissenschaft gab, den Menschen (S112) auch aus einer geistigen, allerdings noch instinktiven Erkenntnis der Natur erfloß, und daß überdies die moderne Naturforschung, so große Einsichten in die Außenseite der Erscheinungen sie zutage gefördert hat, über das innere Wesen, namentlich der lebendigen Natur, mit der es doch der Landwirt zu tun hat, eigentlich nichts zu sagen weiß. Das zeigt sich ja auch darin, daß überall, wo Naturwissenschaft für die Landwirtschaft "fruchtbar" gemacht werden will, dies zur Schädigung der letzteren führt. Da aber in unserer Zeit Naturwissenschaft aus den Städten immer mehr aufs Land hinausdrängt, würde dadurch die alte Weisheit, aus der heraus, wenn auch nur noch in Form von Bauernregeln auch heute noch die Landwirtschaft hauptsächlich betrieben wird, völlig aussterben, und man hätte nichts mehr, wonach man sich richten kann. Deshalb ist es eine dringende Notwendigkeit, daß aus einer neuen, bewußten Geisteserkenntnis, wie sie in der Anthroposophie lebt, der Landwirtschaft wieder wirkliche Einsichten in das Leben der Natur geschenkt werden. Und dies ist durch den landwirtschaftlichen Kurs in Überfülle geschehen.
Ein letztes Gebiet des sozialen Lebens endlich, für welches Rudolf Steiner die Grundlage zu einer Erneuerung gegeben hat, ist das religiöse. Einer Anzahl von Theologen und Theologiestudierenden, die ihn um Rat fragten, wie durch Anthroposophie dem heute so sehr darniederliegenden religiösen Leben aufgeholfen werden könne, gab er zunächst die Auskunft, daß, wie Wissenschaft ihr Leben nur im offenbarenden Worte, Kunst nur im Hervorbringen von Kunstwerden habe, so Religion nur in der kultischen und sakramentalen Heiligung des menschlichen Daseins ein wirkliches Leben haben könne. Daß das religiöse Leben entweder, wie im Protestantismus, keinen Kult mehr, oder wie im Katholizismus, nur einen nicht mehr verstandenen, erstarrten Kult habe, darin liege die Ursache für seinen Niedergang. Zu einem Aufgang könne es daher nur kommen durch eine zeitgemäße Erneuerung des Kultus, die aber nicht aus dem Verstand, sondern nur aus der Erkenntnis der geistigen Welt heraus zustande kommen könne. Und als diese (S113) Theologen sich dann zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen hatten, die bereit war, einen so erneuerten Kult zu pflegen, da vermittelte ihr Rudolf Steiner einen christlichen Kultus und christliche Sakramente, wie sie gegenwärtig aus der geistigen Welt heraus gebildet werden können. Denn Kultus und Sakrament sind, wenn sie echt sind, Nachformungen dessen, was in der betreffenden Weltenzeit die reale, geistige Struktur des Weltendaseins ist. Die Verwaltung und Pflege dieser kultischen Güter machten sich nun diese Theologen als "Christengemeinschaft" zur Aufgabe. Von den traditionellen christlichen Bekenntnissen unterscheidet sich diese Christengemeinschaft dadurch, daß die Zugehörigkeit zu ihr nicht geknüpft ist an das Bekenntnis zu einem religiösen Dogma oder zu einer Weltanschauung, sondern in der freien, tätigen Teilnahme an dem von ihr gepflegten kultisch-sakramentalen Leben besteht. Auch diese Christengemeinschaft hat in den vier Jahren ihres Bestehens zunächst in Deutschland eine rasche und große Ausbreitung erlangt und hat heute in allen großen Städten Deutschlands z.T. recht zahlreiche Gemeinden.
Zu betonen ist freilich, daß die Christengemeinschaft eine gegenüber der anthroposophischen durchaus selbständige Bewegung ist. Ja, gerade durch ihre Begründung ergab sich erst die Möglichkeit, in voller Deutlichkeit sichtbar zu machen, daß die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung als solcher in etwas ganz Anderem und viel Umfassenderem liegt als darin, das religiöse Leben zu erneuern oder gar eine neue Religion zu begründen. Um das letztere kann es sich in der Gegenwart überhaupt nicht mehr handeln und am wenigstens demjenigen, der im Sinne der Anthroposophie die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha erfaßt hat. Eine Erneuerung des religiösen Lebens aber ist notwendig und möglich dadurch, daß dem Christentum und seinen religiösen Gütern eine wirklich zeitgemäße Form gegeben wird. Und eine solche zu pflegen, ist das Ziel der Christengemeinschaft, die eine echte und daher rein religiöse Bewegung, bzw. Gemeinschaft sein will.
Aufgabe der anthroposophischen Bewegung aber ist es zunächst (S114), die Erkenntnis der geistigen Welt zu suchen und zu pflegen und aus dieser Erkenntnis heraus in alle Gebiete des menschlichen Lebens die Lebenskräfte fortdauernd einfließen zu lassen, die diese für ihre Entwicklung brauchen, aber nur aus der geistigen Welt empfangen können, weil in dieser die Wurzeln des menschlichen Daseins liegen. Dieser Zufluß von geistigen Lebenskräften war im Laufe der neueren Zivilisation allmählich versiegt, weil die geistige Welt sich verschlossen hatte: darin liegt die Ur-Ursache ihres heutigen Niederganges. Es ist eine Lebensforderung der Zivilisation selbst, daß die geistige Welt wieder aufgeschlossen werde, und daß künftig innerhalb der menschlichen Sozietät Institutionen vorhanden seien, durch welche die geistigen Lebenskräfte immerfort aus der geistigen Welt in die verschiedenen Gebiete des Daseins hineingeleitet werden können. Diese Aufgabe erfüllten in alten Zeiten die Mysterienstätten; sie wird von der Gegenwart an ein neues, zeitgemäßes Mysterienwesen übernehmen müssen. Und echte, moderne Mysterienerkenntnis zu pflegen, soll Aufgabe der anthroposophischen Bewegung sein. Es ist dies eine universale Menschheitsaufgabe. Dieses zum sichtbaren Ausdruck zu bringen, ergab sich daher für Rudolf Steiner als letzte Aufgabe seines Lebens: in der Begründung einer modernen Mysterienstätte als des geistigen Mittelpunktes der anthroposophischen Bewegung. Einer Mysterienstätte, welche die für die Zukunft der Menschheitsentwicklung notwendige Verbindung zwischen der geistigen und der physischen Welt in einer neuen, modernen Art pflegen soll. Wie diese Mysterienstätte von ihm im Goetheanum in Dornach begründet und gestaltet wurde, soll nun der nächste und letzte Abschnitt zeigen.