Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

6. Die Wiederverkörperung im Bewußtsein der Menschheit

Östliche und westliche Reinkarnationslehre

Wiedergeburt und Auferstehung


I.

(S143)  Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, daß im geschichtlichen Prozeß zwei Strömungen sich überkreuzen: eine fortschreitende, die in der Aufeinanderfolge der Inkarnationen der menschlichen Individualitäten verläuft, und eine rückläufige, die in der Aufeinanderfolge der leiblichen Generationen sich bewegt. Dies bedeutet, daß diejenigen Kräfte, die im Menschen durch die Wiederverkörperung von Inkarnation zu Inkarnation sich entfalten, immer mehr zunehmen, jene dagegen, die durch die Vererbung von Generation zu Generation fließen, im gleichen Maße abnehmen. Oder, wenn man den Begriff der Vererbung in einem weiteren Sinne faßt: was geistig (aus früheren Leben) "vererbt" wird, gewinnt, - was leiblich (von den Vorfahren) vererbt wird, verliert an Bedeutung.

   Der Blick auf diese Tatsache müßte zur Schlußfolgerung führen, daß, wenn zu der sogearteten Entwicklung diejenige des menschlichen Bewußtseins in einer sinnvollen Entsprechung stehen soll, auch das Wissen von der Reinkarnation im Verlauf der Geschichte in einer stetigen Zunahme begriffen sein müßte. Dieser Schlußfolgerung scheint die Tatsache zu widersprechen, daß uns die Lehre von der Wiederverkörperung schon in verhältnismäßig frühen Zeiten der Geschichte, namentlich im alten Indien, entgegentritt und im Weltbild seiner Bevölkerung sogar eine zentrale Stellung einnimmt, während sie dagegen innerhalb der modernen abendländischen Zivilisation bisher keine oder wenigstens keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Hierin liegt ja auch der Grund, warum die Reinkarnationslehre, wie die Anthroposophie sie heute vertritt, zumeist als etwas betrachtet wird, was diese aus der orientalischen Überlieferung übernommen habe. Nun entspricht diese Auffassung zwar nicht der Wahrheit. Vielmehr wurde die Tatsache der Reinkarnation von Rudolf Steiner - wie aus seinen mannigfaltigen Darstellungen derselben für jeden Unbefangenen zweifelsfrei hervorgeht - aus eigener geistiger Erfahrung, unabhängig von der orientalischen Tradition, wiederentdeckt und in allen Einzelheiten ihres Wie erforscht. Außerdem unterscheidet sich die (S144) anthroposophische Reinkarnationsauffassung auch ihrem Inhalte nach grundlegend von der altindischen. Aber selbst wenn dies zugestanden wird, könnte es dennoch als ein Rätsel empfunden werden, daß die Reinkarnationslehre überhaupt, wenn auch in anderer Gestalt, schon in so früher Zeit auftreten und so große Bedeutung erlangen konnte, wie dies in Indien der Fall war, - vorausgesetzt nämlich, daß es mit dem eingangs zusammengefaßten Ergebnis unserer früheren Ausführungen seine Richtigkeit hat, daß die Bedeutung der auf den menschlichen Geist bezüglichen Inkarnationsreihe im Laufe der Geschichte im Zunehmen, diejenige der auf den Leib bezüglichen Generationszusammenhänge dagegen im Abnehmen begriffen sei. Dieses Rätsel löst sich, wenn man den eigentümlichen Charakter der altindischen Reinkarnationslehre ins Auge faßt.

   Diese findet sich bekanntlich in den ältesten Teilen der Veden-Literatur (Rigveda) noch nicht; sie tritt erst innerhalb der Vedanta-Philosophie auf, d.h. in den Upanishaden, die einer späteren Zeit entstammen, in welcher die arischen Stämme in Indien seßhaft geworden waren, mit dessen älterer Bevölkerung sich teilweise vermischt hatten, und ihre eigenen religiösen Lehren mit denjenigen der von ihnen unterworfenen Stämme sich mehr und mehr verschmolzen. Als ihr erster Verkünder erscheint da der Weise Yajnavalkya, dessen Wirken etwa in den Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends angesetzt werden muß. Und die Art, wie sie an der für ihr Auftauchen entscheidenden Stelle zwischen ihm und seinem Schüler besprochen wird, läßt sie hier noch als eine nicht für die Masse bestimmte Geheimlehre erscheinen. Die betreffende Stelle findet sich in der Brihadâranyaka-Upanishad (3,2,13) und lautet:

   "'Yajnavalkya', so sprach er (der Sohn des Ritabhâga), 'wenn nach dem Tode dieses Menschen seine Rede in das Feuer eingeht, sein Odem in den Wind, sein Auge in die Sonne, sein Manas in den Mond, sein Ohr in die Pole, sein Leib in die Erde, sein Atman in den Akasha, seine Leibhaare in die Kräuter, seine Haupthaare in die Bäume, sein Blut und Samen in das Wasser, - wo bleibt dann der Mensch?' Da sprach Yajnavalkya: 'Faß mich, Artabhâga, mein Teurer, an der Hand; darum müssen wir beiden unter uns allein uns verständigen, nicht hier in der Versammlung.' Da gingen die beiden hinaus und beredeten sich; und was sie sprachen, das war Werk (Karma) und was sie priesen, das war Werk. Fürwahr, gut wird einer durch gutes Werk, böse durch böses" (P.Deussen, Die Philosophie der Upanishads, 4.Aufl.S297).

   Seit jener Zeit rückte diese Lehre allerdings immer mehr in den Mittelpunkt des allgemeinen Bewußtseins, gleichzeitig mit der vollen Ausprägung des Kastensystems, die ja ebenfalls als eine Folge der Überlagerung einer älteren Bevölkerung durch die arischen Stände zustandekam, und ging mit der Deutung der Kastenordnung jene eigenartige Verbindung ein, durch welche sie zu einer der stärksten Stützen derselben wurde. Dies deutet (S145) darauf hin, daß die Reinkarnationslehre keineswegs - wie hie und da angenommen wird - ein spätes Produkt der indischen Geistesentwicklung darstellt, sondern daß in ihr während der erwähnten Zeit eine uralte Anschauung nur aus der Verborgenheit hervortrat, die als geheimgehaltenes Wissen bei denjenigen Bevölkerungen gelebt hatte, die Indien schon in vorarischer, ja bereits in der jüngeren und mittleren Steinzeit bewohnte, d.h. in jenen beiden Epochen der nachatlantischen Entwicklung, welche von der Anthroposophie als die "urindische" und die "urpersische" Kulturperiode bezeichnet werden, und die wir schon wiederholt als das "Präludium" der eigentlich geschichtlichen Entwicklung charakterisiert haben (Siehe hierzu auch H.v.Glasenapp: "Unsterblichkeit und Erlösung in den indischen Religionen" Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 1938). Wir wiesen schon im ersten Bande darauf hin, daß diese Bevölkerungen in bezug auf ihre Bewußtseinsform damals noch auf verschiedenen Stufen der vorgeschichtlich-atlantischen Entwicklung verblieben waren. Zwar wurden in sie durch die von Innerasien her erfolgenden Mysterienkolonisationen die ersten Keime der nachtatlantisch-geschichtlichen Entwicklung eingepflanzt. Diese Keime gelangten aber damals erst zu einer alleranfänglichsten Entfaltung und gediehen auf indischem Boden zu einer gewissen Reife erst in der durch die arischen Stämme getragenen klassischen indischen Kultur. Neben ihnen erhielten sich aber auf diesem Boden in ganz besonderem Maße durch diese ganze Zeit hindurch die Erbschaften einer uralten Vergangenheit. Und zu diesen gehörte vor allem eine bestimmte Lehre von der Reinkarnation. Diese Lehre, die dann in geschichtlicher Zeit an die Oberfläche kam und im indischen Geistesleben zu dauernder Herrschaft gelangte, kennzeichnet sich denn auch in der Tat dadurch, daß ihr Inhalt im strengen Sinne eigentlich nur den Verhältnissen entspricht, die in vor- und noch in frühgeschichtlicher Zeit bestanden hatten, - nur daß sie dann eben im Sinne der späteren religiösen und philosophischen Anschauungen durchgearbeitet und ausgestalte wurde.

   Im zweiten Kapitel dieses Bandes (2. Wiederverkörperung + Fortschritt) führten wir aus, wie die Wanderung der Seelen durch aufeinanderfolgende Verkörperungen schon im Übergang von der Urzeit zur Vorgeschichte (im Beginne der atlantischen Phase) ihren Anfang dadurch genommen habe, daß ein Teil der ursprünglichen menschlichen Geistigkeit (die man sich am Ausgangspunkte der menschlichen Erdenentwicklung in gewissem Sinne noch als eine einheitliche vorzustellen hat) damals in solcher Weise in die nun erdenreif gewordene menschliche Leiblichkeit einzog, daß er sich in einzelne Seelen differenzierte. Wir bezeichneten diese dort als "Seelen", um damit zum Ausdrucke zu bringen, daß in dem, was sich in solcher Art in Individualitäten zerteilte, das Moment des Einzelnen, Speziellen in einseitiger Weise (gegenüber dem Allgemein-Universellen) überwog, oder (S146) anders ausgedrückt, daß diese Seelen sich in gewisser Weise abgetrennt hatten von jenem anderen Teil der ursprünglichen menschlichen Geistigkeit, welche in vorgeschichtlicher Zeit noch als überindividuell-kollektive, zunächst nur blutsmäßig sich nuancierende Geistigkeit auf naturhafte Weise in der Gesamtmenschheit lebte und wirkte. Man könnte, in der Sprache der mosaischen Genesis, auch sagen, daß diese Herausbildung von nur als Einzelwesen sich fühlenden Seelen eine Folge des "Sündenfalles" war, den die Menschheit am Ende der "Urzeit" erlitten hatte. Diese Seelen waren es, die seit damals durch wiederholte Erdenleben hindurchwanderten. Entsprechend dieser Tatsache wurde denn auch noch im alten Indien die Reinkarnation nicht als eine "Wiederverkörperung des Geistes", sondern lediglich als eine "Seelen-Wanderung" aufgefaßt. Das heißt, sie wurde als eine Sache betrachtet, die sich auf die Seelen nicht als Glieder der Menschheit bezieht, sondern deren Bedeutung sich in dem erschöpft, was sie für die Seelen als Einzelwesen bedeutet. Sie kann nach dieser Auffassung daher für diese Einzelwesen vorübergehend auch in Dasein in einem tierischen Leibe mit sich bringen. In vor- und frühgeschichtlicher Zeit hatte sie auch keine andere als bloß individuelle Bedeutung. Alles, was im Sinne eines Fortschrittes der Gesamtmenschheit in jener Epoche wirkte, ging damals aus den naturhaft sich darlebenden Begabungen des Blutes und der Hautfarben hervor bzw. von der durch die damaligen "Orakel" und Mysterien repräsentierten geistigen Führung der Menschheit aus (in der Art, wie dies im ersten Bande S166 geschildert wurde: III.2 Kosmogonische ... Zeit). In der geschichtlichen Zeit dagegen hat sich die Bedeutung der Reinkarnation für die menschlichen Seelen entscheidend dadurch erweitert, daß die ehemals kollektive Geistigkeit ebenfalls sich in eine individuelle verwandelte. Von dem Ganzen dieser Bedeutung faßte aber die indische Reinkarnationslehre auch jetzt nur den Teil ins Auge, der sich auf die Seelen als Einzelwesen bezieht. Noch nicht wurde mit ihr verbunden der Blick auf die geistig-schöpferischen Fähigkeiten, welche sich die Seele nun von Erdenleben zu Erdenleben erwirbt und durch welche sie über ihr bloßes Einzeldasein hinauswächst, zum Repräsentanten der Menschheit heranreift und als solcher am Fortgang der geschichtlichen Entwicklung in zunehmendem Maße sich produktiv beteiligt und sich für ihn mitverantwortlich fühlt. Das bedeutet aber, daß der Begriff der Wiederverkörperung von der indischen Reinkarnationslehr mit dem der geschichtlichen Entwicklung noch in keinerlei Beziehung gesetzt wurde. Dies war freilich deshalb auch gar nicht möglich, weil in den Zeiten, in denen die Reinkarnationslehre ihren Ursprung hatte, ein Geschichtsbegriff noch gar nicht vorhanden sein konnte, - hatte doch die geschichtliche Phase des Menschheitswerdens damals entweder überhaupt noch nicht oder gerade erst begonnen, das Eigentümliche ihres Wesens (die Überkreuzung der eingangs genannten zwei Strömungen) aber noch nicht in Erscheinung treten lassen. Und so kommt denn auch der Charakter einer (S147) fortschreitenden Strömung der Geschichte, welcher der Inkarnationsfolge eignet, in der indischen Seelenwanderungslehre in keiner Weise zur Geltung.

   Was aber die Bedeutung betrifft, die ihr zufolge die Wanderung durch die wiederholten Erdenleben für die einzelnen Seelen besitzt, so liegt diese in einer anderen Richtung. Sie ist durch das bedingt, was dem Eintritt der Seelen in irdische Verkörperungen überhaupt zugrundeliegt. Dies ist aber auch nach indischer Auffassung ein im Verlaufe des Weltenwerdens erfolgter stufenweiser Abstieg in das materielle Dasein und die mit diesem verbundene Herauslösung der Seelen aus einer ursprünglichen einheitlichen Geistigkeit zum individualisierten Einzelsein. Das letzte Ziel ihrer Wiedergeburten kann daher für die Seele nur darin liegen, dieses Einzelsein zu überwinden und sich in der allgemein-einheitlichen göttlichen Geistigkeit wieder aufzulösen. Und so bildet denn ein zweites Hauptmoment der indischen Seelenwanderungslehre ihr Verknüpftsein mit einer Erlösungslehre, die auf die Auslöschung des Ichs bzw. dessen Wiedervereinigung mit der göttlichen Geistigkeit zielt. Auf diese Wiedereinswerdung war schon in der klassischen brahmanischen Zeit das ganze indische Geistesleben ausgerichtet.

   All dies ist aber nur die eine Seite der indischen Reinkarnationsauffassung. Ihr steht eine andere in seltsamem Widerspruch gegenüber. Wir hatten schon im zweiten Kapitel (S61- 2. Wiederverkörperung + Fortschritt) angedeutet, daß die Seelen, die in vorgeschichtlicher Zeit in den Kreislauf der Wiederverkörperungen eingetreten waren, nur in den Zeiten, da sie von einem Erdenleib umschlossen waren, ein fühlendes Wissen von sich selbst entwickelten, in jenen anderen Zeiten dagegen, die sie zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in der geistigen Welt verbrachten, dieses Selbstgefühl immer wieder erlosch. Sie konnten sich daher in dem Maße, als sie dieses Selbstgefühl ausbildeten, an frühere Erdenleben nicht mehr zurückerinnern und damit auch nicht die Identität ihrer in der je gegenwärtigen Inkarnation lebenden Seele mit der in einem früheren Erdendasein verkörperten erleben. Dies hatte zur Folge, daß sie sich als Seelen entweder nur ein befristetes Weiterleben nach dem Tode, aber keine Unvergänglichkeit (Unsterblichkeit) zuschreiben konnten, oder sogar nur ein durch den Leib erzeugtes Scheindasein zuerkennen mußten. Wir treffen in der Tat selbst bis weit in geschichtliche Zeiten hinein im allgemeinen Bewußtsein der älteren Völker die Idee einer Unvergänglichkeit der menschlichen Seele nicht an. Dadurch ergab sich aber für die Vorstellung von der Wiederverkörperung ein eigentümlicher Widerspruch. Auf der einen Seite wurde diese als eine Wanderung der Seelen durch wiederholte Erdenleben gedacht. Auf der anderen konnte diese Wanderung aber den Seelen - im Hinblick auf ihre Vergänglichkeit oder gar bloße Scheinexistenz - doch eigentlich nicht zugeschrieben werden. Hieraus wird es verständlich, warum das ganze Schwergewicht der orientalischen Reinkarnationslehre auf dem Begriff des "Karma" liegt. Denn (S148) dieses: - der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen dem moralischen Verhalten in einem früheren und der Schicksalsgestaltung in einem späteren Leben - erschien nun als der rote Faden, der sich allein durch eine Folge von zusammengehörigen Erdenleben verbindend hindurchzieht. Die Reinkarnation stellte sich für den Orientalen, genau genommen, als eine solche des Karmas dar. So tritt sie uns auch in der oben wiedergegebenen Erklärung durch Yajnavalkya in den Upanishaden zunächst entgegen. Freilich hat diese Auffassung nicht durch die ganze indische Geistesgeschichte hindurch unverändert fortbestanden. Vielmehr gewahren wir in ihrem Verlaufe teils ein in großen Pendelschlägen erfolgendes Hin- und Herschwanken zwischen entgegengesetzten Anschauungen, teils ein dauerndes,mehr oder weniger beziehungsloses Nebeneinanderbestehen von solchen. Während in den Brahmanas und zum Teil in den Upanishaden die Auffassung von dem bloßen Scheincharakter oder wenigstens von der Vergänglichkeit der Seele noch vorherrscht, gelangt schon in den letzteren, besonders aber in einer späteren Phase der indischen Geistesentwicklung innerhalb der Shankya-Philosophie die Lehre von der Unvergänglichkeit und Unveränderlichkeit der rein geistig gedachten Einzelseelen zur Ausbildung. Noch spääter wurde diese auch durch den Jainismus vertreten. In all dem machte sich schon die Wirkung geltend, welche das Gedankenleben auf die menschliche Seele ausübte, das damals auch in Indien, in einer den dortigen Verhältnissen entprechenden Art, sich zu voller Blüte entfaltete. Dagegen wandte sich der Buddhismus bekanntlich in entschiedenster Weise zu der älteren Auffassung von dem bloßen Scheincharakter der menschlichen Einzelseele zurück. Für ihn ist es wiederum nicht die menschliche Seele selbst, sondern lediglich das Karma, das in immer wieder neuen Verkörperungen in Erscheinung tritt. Von daher ergab sich eine weitere Veranlassung zu der Vorstellung, daß unter diesen Verkörperungen - je nach der Qualität eines Karmas - auch solche in einem tierischen Leibe zustandekommen können.

   Nun ist aber an jeder Verleiblichung nach indischer Auffassung als mitwirkender Faktor jener "Durst nach Dasein", jene Begierde nach Selbst- und Sinnengenuß beteiligt, welche schon den ersten, ursprünglichen Abfall vom Göttlichen-Geistigen bewirkt hat. Und da die sinnliche Welt selbst als die vom Göttlichen abgefallene, zum Sitz des Bösen gewordene dieses Begehren immer wieder in uns erregt, so wird in jedem Erdendasein neben dem schicksalsmäßigen Ausgleich früherer Verfehlungen zugleich auch stets wieder neue moralische Schuld aufgehäuft, die abermals nach Ausgleich in einem nächsten drängt. Die Flge davon ist, daß sich der Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) ins Endlose weiterbewegt und, im Wesentlichen gesehen, eine stetige Wiederkehr des Gleichen darstellt. Denn, wie sehr auch das Verhältnis zwischen guten und bösen Taten in den aufeinanderfolgenden Verkörperungen variieren mag, das Grundgesetz der letzteren bleibt dasselbe, und auf diese (S149) allgemeingültige Gesetzmäßigkeit des menschlichen Lebens, nicht auf das Besondere, Einmalige eines einzelnen Lebens war der Blick des Inders gerichtet. Was dieser Gesetzmäßigkeit zugrundeliegt, ist das Hineingestelltsein der Wesen zwischen zwei gegensätzliche Welten: die göttlich-geistige mit ihren moralischen Forderungen, die sich mit unerbittlicher Gewalt im Ausgleich der bösen Taten durchsetzen, und die sinnlich-natürliche, die immer wieder das Böse in ihnen erregt. So stoßen wir hier von einer neuen Seite her auf das Motiv der ewigen Wiederkehr des Gleichen, das wir schon im ersten Bande vom Gesichtspunkte des Zeitbegriffes aus als charakteristisch für die ganze vorchristlich-heidnische Welt kennengelernt hatten (III.1 Zeit und Geschichte).

   Wie aber läßt sich mit der Auffassung von der eben gekennzeichneten Gesetzmäßigkeit jenes weiter oben erwähnte, schon die Blütezeit des Brahmanismus beherrschende Streben des indischen Menschen in Einklang bringen, die Reihe der Wiedergeburten zu beenden und als Einzelseele mit der allumfassenden Weltgeistigkeit des Brahma wieder eins zu werden? Wenn wir dabei zunächst absehen von dem Schillern und Schwanken der Vorstellungen zwischen dem Glauben an eine Wanderung der Seelen und dem an eine bloße Wiederverkörperung des Karmas, so ergab sich für den Inder die Möglichkeit eines solchen Strebens aus dem Gedanken, daß der Mensch in der Sinneswelt sich von allen Banden, die ihn mit ihr verknüpfen, in solchem Maße loszulösen vermag, daß er auf eine Weise in ihr lebt, als wenn er nicht mehr in ihr lebte. Eine solche Loslösung zu vollziehen, dazu sollte die Lebensgestaltung dienen, die den Angehörigen der höheren Kasten, vornehmlich aber denjenigen der Brahmanenkaste, die schon durch diese Zugehörigkeit bewiesen, daß sie auf dem Pfade der moralischen Läuterung durch viele Wiedergeburten hindurch bereits eine hohe Stufe erklommen hatten, als allgemeingültiges Lebensideal vorgeschrieben war. Diesem Ideale gemäß gliederte sich das Leben des Brahmanen in vier Phasen:

   In der ersten - in der Jugend - begibt er sich in die Lehre bei einem Brahmanen, der ihn in den heiligen Überlieferungen der Veden und des Vedanta unterweist. In der zweiten gründet er eine Familie, erzeugt Nachkommenschaft und geht dem Erwerb nach, - kurz: erfüllt die Pflichten und leistet die Dienste ab, die er schicksalsgemäß der physischen Welt gegenüber schuldet. In der dritten, in die er mit dem Ergrauen des Haars eintritt, übergibt er seine Habe seinen Kindern, löst sich aus seinen Schicksalszusammenhängen heraus und geht als Einsiedler in den Wald, um nurmehr der Meditation zu leben. In der vierten entsagt er auch seinem Stand, stirbt gewissermaßen der Welt völlig ab und wird zum Bettler. Indem er auf den letzten Stufen seines Lebens jegliche Betätigung in irdischen Zusammenhängen aufgibt, entsteht kein neues Karma mehr, das nach Ausgleich verlangt, und so kann seine Seele nach dem Tode sich mit dem Allgeist wiedervereinigen. Die stufenweise sich steigernde (S150) Weltentsagung ist also das Mittel, sich aus der Verstrickung in die Kreisläufe des Daseins zu befreien.

   Mit dieser Gestaltung des äußeren Lebens muß allerdings eine entsprechende des inneren Hand in Hand gehen. Die letztere besteht darin, dasjenige, was in der Jugend als Lehre aufgenommen wurde, durch meditative Vertiefung (Yoga) in eigene Erfahrung zu verwandeln. Und hier kommt nun gerade die Lehre von der Realität der Einzelseele in Betracht, welche die indische Philosophie zur Zeit des klassischen Brahmanismus ausbildete. Diese ihre Realität erblickte man durch die Tatsache verbürgt, daß sie sich in ferner Vergangenheit einmal aus der allgemeinen Weltgeistigkeit (Brahma) zum Einzelsein herausgesondert hat. Dieses Einzelsein ist nichts anderes als ein Zustand der Verdüsterung ihres Bewußtseins von ihrem wahren Wesen. Vermag sie durch meditative Versenkung diese Verdüsterung zu überwinden, so erkennt sie, daß sie in ihrem innersten Kern (Atma) noch immer wesensgleich mit dem Weltgeiste (Brahma) geblieben ist. Diese Erkenntnis, zur Erfahrung erhoben, läßt alles sinnliche Begehren in ihr ersterben, allen Durst nach physischem Dasein erlöschen und erfüllt die Seele fortan nurmehr mit dem einzigen Streben, die Wiedereinswerdung des Atma mit dem Brahma zu erlangen. Ja, es ist diese Wiedervereinigung in gewisser Weise mit der Erkenntnis ihrer Einheit schon erreicht, - und sie erlangt mit dem Tode nur den höchsten Grad der Vollkommenheit. So liegt in der wahren Erkenntnis bereits auch die Erlösung aus dem Verflochtensein in die Daseinskreisläufe.

   Man könnte an dieser Stelle die Frage aufwerfen, wie die Lehre von der Reinkarnation in jenen alten Zeiten, als deren geistige Erbschaft wir sie oben bezeichneten, überhaupt hatte entstehen können, wenn damals den menschlichen Seelen, wie wir behaupteten, an frühere Lebensläufe sich zu erinnern nicht möglich war. Denn die Annahme, daß sie ihren Ursprung lediglich einer gedanklichen Spekulation verdankte, verbietet sich schon aus dem Grunde, weil in jenen vorgeschichtlichen Zeiten der Mensch eines solchen spekulativen Denkens noch gar nicht fähig war. Daß sie, nachdem sie einmal in das allgemeine Geistesleben eingetreten war, sich die Gemüter der Menschen eroberte und sich im Orient durch Jahrtausende behauptete, liegt darin begründet, daß sie, indem sie einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem moralischen Verhalten in einem früheren und der Schicksalsgestaltung in einem späteren Leben statuierte, einerseits dem Moralischen eine Wirklichkeitsbedeutung im Weltzusammenhang zuerkannte, andererseits eine einleuchtende Erklärung der offensichtlichen, aus dem je gegenwärtigen Dasein nicht ableitbaren Schicksalsbestimmtheit gab, die über dem menschlichen Leben waltet. Und diese Schicksalsbestimmtheit konnte wohl nirgends so intensiv erlebt werden wie gerade im alten Indien, wo es schlechterdings unmöglich war, daß ein Mensch aus der Kaste, in die er einmal hineingeboren war, aus ihren (S151) blutsmäßigen Zusammenhängen, aus ihrer Berufstätigkeit, aus ihrer herrschenden oder dienenden sozialen Position sich herauslöste. Daß der in dieser Schicksalsbestimmtheit zum Ausdruck kommende Ausgleich moralischer Taten oder Verfehlungen früherer Leben, je nachdem, wie die Reinkarnation aufgefaßt wurde, auch dann als ein solcher betrachtet werden mußte, wenn es sich in den aufeinanderfolgenden Leben nicht um dieselbe Seele, sondern lediglich um einen sich fortspinnenden karmischen Zusammenhang handelte, beeinträchtigte für den Angehörigen der altindischen Kultur die Bedeutung der Reinkarnationslehre nicht; denn da sein Persönlichkeitsgefühl noch nicht in dem Maße entwickelt war wie etwa beim heutigen Europäer, beurteilte er solche Zusammenhänge nicht vom Standpunkte ihres Wertes für seine Persönlichkeit, sondern nach ihrer Bedeutung als objektiver Weltgesetzlichkeit. Es war für ihn ebenso wenig ein Einwand gegen die Weltgerechtigkeit, daß z.B. das Leid, das er in seinem gegenwärtigen Leben - durch die Art, wie er schicksalsmäßig ins Dasein hereingestellt war - zu erdulden hatte, ja gar nicht von seiner Seele in einem früheren Leben verursacht worden ist, - wie es z.B. für die alten Hebräer ein solcher war, daß nach ihrer Auffassung die Kinder und Kindeskinder für die Verdienste oder Missetaten ihrer Väter von ihrem Gotte belohnt oder bestraft wurden. Für Inder sowohl wie für Hebräer wog viel schwerer die Tatsache, daß es überhaupt eine ausgleichende, wenn auch über das Persönliche hinausreichende oder hinweggehende, Weltgerechtigkeit gab.

   Mit all dem ist aber die Frage nach dem Ursprung der Reinkarnationslehre nicht beantwortet. Ihre Beantwortung ergibt sich nur der schon oben erwähnten Tatsache her, daß sie vor ihrem Eintreten in das allgemeine Geistesleben als Geheimlehre bestanden hat, d.h. daß ihr Ursprung in dem Mysterienwesen gesucht werden muß, das, wie bei anderen Bevölkerungen, so auch bei denjenigen vorhanden war, die vor dem Eindringen der arischen Stämme in Indien gewohnt hatten. Denn - wie schon an früherer Stelle erwähnt (S101-3. Fortschritt + Rückschritt) -: diejenigen, welche innerhalb dieser Stätten die Einweihung bis in höhere Grade hinauf durchmachten, nahmen die allgemein-menschliche Entwicklung, die in der geschichtlichen Ära sich vollzieht, insofern voraus, als sie diejenige Geistigkeit, die in der übrigen Menschheit noch als kollektive wirkte, in einer bestimmten Weise sich als Individualitäten zu eigen machten. Und vermöge dieser Durchgeistigung ihrer Seelen konnten sie sich allerdings eine Rückschau in ihre früheren Erdenleben erringen. Hierauf beruht es, daß große geistige Führergestalten wie ja z.B. auch Buddha für sich Fähigkeit der Erinnerung an ihre früheren Verkörperungen in Anspruch nahmen. Dieser Umstand trug übrigens auch dazu bei, daß schon in der Blütezeit des Brahmanismus die Auffassung von einer Wanderung der Seelen durch wiederholte Erdenleben in den Vordergrund trat. Diese konnte allerdings nur ein Glaube (S152) bleiben, da der Mensch als bloße Seele eben einer Erinnerung an frühere Lebensläufe nicht fähig ist. Der Weg zur Erfahrung der Wiederverkörperung konnte aber damals noch nicht öffentlich und allgemein gelehrt werden, da hierfür die durchschnittliche Entwicklung der Menschheit noch nicht reif war, - und so blieb die Wahrheit über die Wiederverkörperung im Orient dauernd in einem dämmerhaften Zwielicht, - wie ja auch die volle Bedeutung, die sie für die geschichtliche Menschheit erlangen sollte, damals noch nicht zutage treten konnte.

   Ja, es arteten die populären Vorstellungen von ihr sogar weitgehend in Irrtum und Aberglauben aus. Zu den letzteren ist nicht nur die Meinung zu rechnen, daß die Wanderung durch die Wiederverkörperungen zeitweilig auch durch tierische Inkarnationen führen könne, - sondern es gehören hierzu auch solche Vorstellungen von der Reinkarnation, denen zufolge bedeutende Führergestalten immer wieder in denselben volksmäßigen Blutszusammenhängen sich verkörpern, Vorstellungen, wie sie z.B. dem tibetanischen Lamaismus zugrundeliegen. Derartige Vorstellungen pflanzten sich besonders bei Bevölkerungen bis in späte Zeiten fort, welche - wies auch für die tibetanische gilt - bei vor- oder frühgeschichtlichen Bewußtseinszuständen in gewisser Weise stehengeblieben sind. Sie bilden eigentlich ein dekadentes Überbleibsel jenes an das Blut und damit an die leibliche Vererbung gebundenen "Kollektivgedächtnissen", das, wie wir im ersten Band ( II.1 Vorgeschichtliche Erinnerung S113) geschildert haben, der vor- und frühgeschichtlichen Menschheit eigen war, und in welchem Ereignisse und Schicksale, welche die in einer Blutsgemeinschaft lebende Kollektivgeistigkeit betrafen, in deren Angehörigen durch Jahrhundert fortlebten. Dieses Kollektivgedächtnis mochte in frühgeschichtlicher Zeit oftmals in Mitgliedern solcher Blutsgemeinschaften die Vorstellung hervorrufen, als lebe in ihrer Seele diejenige eines Ahnen sich reinkarnierend wieder auf, der in früheren Zeiten als geistiger Führer, als Volksheros in seinen Taten die Kollektivgeistigkeit dieses Blutsverbandes repräsentativ dargelebt hatte. Solche Vorstellungen konnten dann auch mit Absicht kultiviert und entweder von denjenigen selbst, in denen sie aufstiegen, oder von solchen Kreisen, die gewisse Machtpositionen innehatten, zur Erreichung oder Stabilisierung ihrer Führungsansprüche ausgenützt werden.

   Gegen die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends kam, wie schon erwähnt, auch in Indien die Ausbildung des in Allgemeinbegriffen sich bewegenden Denkens zum vollen Durchbruch, wie dies in noch durchschlagenderem Maße zur selben Zeit in Griechenland der Fall war. Hand in Hand damit vollzog sich der Übergang zur vollen Geschichtlichkeit und die geistige Verselbständigung der menschlichen Persönlichkeit. Dieser Übergang mußte für die indische Kultur in besonderem Maße zu einer Zeit der Krise sich gestalten. Denn auf der einen Seite trug sie - im Gegensatz etwa zum alten (S153) Ägypten - durchaus die Anlagen dazu in sich, wenigstens bis zu einem gewissen Grade bis zur Stufe des Vollgeschichtlichen sich fortzuentwickeln. Auf der anderen Seite stand den Forderungen, welche der Eintritt in die volle Geschichtlichkeit mit sich brachte, in Indien das stärkste Nachwirken uralter, früh- und vorgeschichtlicher Vergangenheiten entgegen, wie es z.B. gerade in der dort zur Herrschaft gekommenen Form der Reinkarnationslehre zum Ausdrucke kam. Die Verselbständigung der Persönlichkeit hatte, wie überall, wo diese Stufe der Bewußtseinsentwicklung erreicht wurde, so auch hier das Erwachen eines gewissen Dranges zur Freiheit zur Folge. Dieser Drang mußte sich in Indien in geistiger Beziehung vor allem gegen das wenden, was hier als die stärkste Fessel der Notwendigkeit empfunden wurde: das Verstricktsein in den Kreislauf der Wiedergeburten, wie es im Sinne jener Reinkarnationslehre sich darstellte; in sozialer Beziehung gegen das Eingegliedertsein in die Kastenordnung, die ja, wie schon bemerkt, in dieser Reinkarnationslehre ihre Erklärung und Rechtfertigung zu finden schien. Mehr als jemals früher wurde das also geartet bzw. vorgestellte Dasein in der Welt daher jetzt als Leiden empfunden, und die Sehnsucht nach Befreiung von dem Zwang, der dieses Leiden verursacht, wurde übermächtig.

"Das Verlangen, vom Leid der Wiedergeburten befreit zu werden, steht fortan im Mittelpunkte alles Denkens; es wird das Zentrum der religiösen und philosophischen Ethik aller Schulen und Sekten. Wie sehr dieses Suchen nach einem Weg zur Vollendung in dieser Periode immer mehr die Geister beschäftigte, ist deutlich erkennbar aus der Tatsache, daß auch Systeme, die ursprünglich keine Heilsordnung gelehrt hatten, sich im Laufe der Zeit veranlaßt sahen, eine solche sich anzugliedern" (H.v.Glasenapp: Brahma und Buddha, S138).

Und so sehen wir denn, wie in dieser Zeit vor allem zwei große Heilsverkündigungen bzw. Erlösungslehren auftreten: der Jainismus und - diesen an geschichtlicher Wirkung noch weit überragend und bald über die Grenzen Indiens hinaus über das ganze östliche Asien und die es umgebende Inselwelt sich verbreitend - der Buddhismus. Im Zentrum beider steht beherrschend die Weisung eines Weges zur Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten; im Buddhismus erscheint sie ausgesprochenermaßen als Erlösung vom Leiden, welches das Verflochtensein in diesen Kreislauf bedeutet. Während der Jainismus diese Erlösung jedoch als nur für Wenige, geistig Vorgeschrittene erlangbar bezeichnet, wird sie von Buddha als eine Möglichkeit für alle verkündigt. Damit steht im Zusammenhang, daß, während der Jainismus die Kastenordnung noch voll bejaht, im Buddhismus, ohne daß er diese Gesellschaftsordnung direkt bekämpft, die Tendenz zu ihrer Überwindung liegt.

   Worin besteht nun aber der von beiden gewiesene Weg zur Befreiung vom Zwange der Wiedergeburten? Wenn wir auf die Form hinsehen, in der sich diese Religionen geschichtlich ausgestaltet haben - beim Buddhismus ist seine (S154) ursprünglichste Gestalt kaum mehr aus den geschichtlichen Quellen zu eruieren -, so ist es auch hier der schon vom Brahmanismus gelehrte Weg der Weltentsagung. Nur erfährt dieses Prinzip hier nun die höchste Steigerung. Was für den Brahmanismus die letzte Stufe seines Heilsweges bildete: Einsiedler- und Bettlertum, - das steht in diesen Religionen im Mittelpunkt. Beides sind Lehren der Askese, - auch der Buddhismus, wenngleich sein Begründer seinen Heilsweg als "mittleren Pfad" zwischen dem der Befriedigung der Sinneslust und dem der asketischen Selbstqual lehrte; denn er wandte sich damit nicht gegen die Askese an sich, sondern lediglich gegen die entartete, veräußerlichte Form, welche diese in der bloßen Marterung und Abtötung des Körpers angenommen hatte. Wurde doch die von ihm gestiftete Religion später zur klassischen Religion des Mönchstums! Und so erscheint gerade bei ihr die für das Indertum überhaupt charakteristische Verknüpfung der Reinkarnationslehre mit einer Erlösungslehre gleichsam in dichtester Verschlingung. Ja noch mehr: Da, wie schon oben bemerkt, im Gegensatz zum Jainismus, der noch an der Vorstellung von der Realität der Einzelseelen festhält, der Buddhismus in entschiedener Weise die ältere Lehre von dem bloßen Scheincharakter der individuellen Seele erneuert, so bedeutet bei ihm das Zum-Stillstand-bringen des Rades der Wiedergeburten die Überwindung dieses Scheindaseins der Einzelseele und deren völliges Erlöschen im Eingehen ins Nirwana.

   Mit seiner Reinkarnationsauffassung, die, weil sie vorgeschichtlichen Zeiten entstammte, auch nur den vorgeschichtlichen oder frühgeschichtlichen Verhältnissen entsprach, konnte der Inder nicht so in die vollgeschichtliche Zeit eintreten, daß er sich mit ihr als wirklich in der Geschichte stehender Mensch hätte fühlen können. Hätte er das erstrebt, so hätte er zwar die Reinkarnationslehre nicht überhaupt aufgegeben, aber sie zu einer solchen Form umbilden müssen, daß innerhalb derselben die Momente der Freiheit und des Fortschrittes hätten Raum finden können. Dazu waren aber damals in der allgemeinen Menschheitsentwicklung die Voraussetzungen noch nicht vorhanden und zumal in Indien die Nachwirkungen uralter Vergangenheiten viel zu stark. Da das Indertum aus diesem Grunde seine Auffassung von der Reinkarnation nicht aufzugeben vermochte, so blieb ihm nichts anderes übrig, als nach der Überwindung der Tatsache der Reinkarnation (wie sie ihm zufolge dieser Auffassung erschient) auf einem Wege zu streben, der grundsätzlich schon vom Brahmanismus gelehrt worden war, nur jetzt eben mit viel größerem Elan eingeschlagen wurde. Da dieser Weg aber im Grunde schon immer ein solcher gewesen war, durch den ein selbst der Vorgeschichte vorangehender Zustand der Urzeit wieder hergestellt werden sollte, so steigerte sich das Ungeschichtliche seines Begehens durch diese seine Intensivierung jetzt geradezu zu einem (S155) Antigeschichtlichen. Und hierin offenbart sich die Krisis, d.h. die Entscheidung, in welche das Indertum beim Übergang zur vollgeschichtlichen Zeit gestellt war: Die der Vorgeschichte entsprechende Haltung konnte in der bisherigen Art nicht mehr beibehalten werden. Es war jetzt vor die Wahl gestellt, ganz in das Element des Geschichtlichen einzutreten oder sich diesem ganz entgegenzustellen und in gewisser Weise nach der "Urzeit" zurückzustreben. Der Buddhismus bedeutet die Entscheidung gegen die Geschichte, - die in Indien nicht anders fallen konnte. Diese Entscheidung dokumentiert sich in der (auch von Toynbee so gekennzeichneten) Interesselosigkeit gegenüber der Geschichte, in der Flucht aus dem Irdisch-Geschichtlichen, zu der seine Lehre führt. Und so ist es für das Indertum bezeichnend, daß die erste Gestalt seines geistigen Lebens, die im vollen Lichte der Geschichte steht: Buddha - ihm die Wendung zum Antigeschichtlichen hin gegeben hat. Diese Wendung hatte zur Folge, daß seit den Jahrhunderten, die auf Buddha folgten, Indien aus einem Subjekt der Geschichte sich immer mehr in ein bloßes Objekt derselben verwandelte, und die geschichtlichen Ereignisse, die sich seitdem (bis zum Beginne unseres Jahrhunderts) auf seinem Boden abspielten, nicht sowohl die Taten seines eigenen als vielmehr diejenigen jener Völker zum Inhalte haben, die in der Folge der Jahrhunderte der Reihe nach als Eroberer eingedrungen sind und ihre Herrschaftssysteme dort aufgerichtet haben.

   Dennoch ist es auch wiederum bezeichnend, daß im älteren Buddhismus (Hinajana) sehr bald die Auseinandersetzungen darüber begannen und sich durch Jahrhunderte fortsetzten, ob der menschlichen Einzelseele nur ein Scheindasein oder doch wirkliche Realität und damit den Tod überdauernder Bestand zukomme. Und noch bedeutungsvoller erscheint die Tatsache, daß in der Mahajana-Strömung, die um die Zeitenwende zur Entwicklung kam, auch der Buddhismus von einem Einschlag geschichtlichen Empfindens und Bewußtseins insofern durchdrungen wurde, als wenigstens hinsichtlich der großen geistigen Führer der Menschheit (der Boddhisattvas) die Anschauung sich durchsetzte, daß sie nicht nur auf dem Wege ihrer eigenen Erlösung vom Zwange der Wiedergeburten ihren Mitmenschen als Vorbilder voranschreiten, sondern auch, wenn sie für sich selbst sich dieser Notwendigkeit entrungen haben, aus Liebe zu den letzteren freiwillig neue Verkörperungen auf sich nehmen, um unter ihnen als Lehrer und Helfer zu wirken. Im Sinne dieser Lehre entwickelte sich im späteren Buddhismus im Hinblicken auf das dereinstige Erscheinen des Maitreya Buddha sogar eine geschichtliche Zukunftserwartung. Schließlich darf an dieser Stelle daran erinnert werden - was in der Einleitung zu diesem Buche bereits erwähnt wurde - (Hans E. Lauer: Geschichte II): daß mit dem geistigen Erwachen Indiens zu neuer, eigener geschichtlicher Aktivität, wie es in unserem Jahrhundert erfolgt ist, Hand in Hand geht jene Umgestaltung (S156) seiner Reinkarnationsauffassung durch seinen bedeutendsten modernen Denker Shri Aurobindo, durch welche diese weitgehend derjenigen sich annähert, die in unserer Zeit im Abendland durch Rudolf Steiner begründet worden ist.


II.

   Anders als auf dem vergangenheitsbeladenen Boden Indiens vollzog sich im Laufe des letzten vorchristlichen Jahrtausends bei den Völkern der Mittelmeerländer, insbesondere bei den Griechen und den Hebräern, der Übergang zum vollgeschichtlichen Dasein. Ihnen hatten in dieser Richtung die Kulturen Vorderasiens und Ägyptens schon vorgearbeitet.

   Wenden wir uns zunächst dem Griechentum zu, so darf als dessen hauptsächlichste Errungenschaft auf dem hier in Rede stehenden Problemgebiete diese bezeichnet werden, daß im Verlauf seiner geschichtlichen Blütezeit die menschliche Einzelpersönlichkeit als das, was sie in dieser Phase der geschichtlichen Menschheitsentwicklung überhaupt geworden war, zur freiesten Entfaltung ihrer Kräfte gelangen konnte. Diese Entfaltung war wesentlich bedingt und ermöglicht durch die Entwicklung, welche das rein begriffliche Denken hier erfuhr. Sie hatte zur Folge, daß - wenigstens im allgemeinen Empfinden der griechischen Bevölkerung - die menschliche Persönlichkeit, wie sie sich in ihrem irdischen Leben und Wirken offenbarte, nicht mehr als eine bloße Scheinwirklichkeit sich darstellen konnte, sondern als eine vollgültige Realität erlebt wurde, - als eine Realität, die zudem nun in die Helle eines vollbewußten, vollwachen Erlebens rückte. Diese Realität wurde als eine solche insbesondere dann empfunden, wenn der Blick des Griechen sich auf das Besondere, Einmalige richtete, als welches sich in reichster Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit die einzelnen geschichtlichen Persönlichkeiten innerhalb seines Volkstums darlebten. Und das Hinblicken auf dieses Einmalig-Individuelle drängte sich dem Griechen ja eben dadurch auf, daß der geschichtliche Charakter des menschlichen Daseins hier zur vollen Ausprägung gelangte. Gerade weil es in seiner irdisch-geschichtlichen Offenbarung aber in je ganz bestimmten geschichtlichen Zusammenhängen und Situationen erfaßt wurde, darum wurde die leiblich-seelische Totalität einer menschlichen Erscheinung - mit Einschluß ihrer geschichtlichen Umwelt - so sehr als ein untrennbar-einheitliches Ganzes erlebt, daß Blick und Interesse dafür erlosch, inwiefern in dem Sichdarstellen derselben eine frühere menschliche Existenz wiederholend sich fortsetzen könnte. Und so sehen wir hier - wenigstens im allgemeinen Volksbewußtsein - die orientalische Reinkarnationsvorstellung in Vergessenheit versinken. Schon die Dichtungen Homers, welche den Inhalt dieses Bewußtseins widerspiegeln, kennen sie nicht mehr. Wir haben es bei (S157) diesem Prozeß mit einem eigentümlichen Gegenstück zu dem zu tun, was in Indien durch den Buddhismus geschah. Während dieser an der Schwelle der eigentlich geschichtlichen Ära, weil das Indertum von einer uralten Form der Reinkarnationsvorstellung nicht loskommen konnte, die Tatsache der Reinkarnation mit allen Kräften zu überwinden strebte mit dem Ziel des Erlöschens des individuellen Seelenseins in der Geistwelt des Nirwana, verschwindet in Griechenland diese alte Vorstellung von der Reinkarnation von der Bildfläche zugunsten der aufkommenden Empfindung von der vollen Realität der im Erdenleibe verkörperten Einzelseele.

   Der Verlust dieses Wissens mußte allerdings bestimmte Folgen nach sich ziehen, welche dem Lebensgefühl des Griechentums eine ganz wesentliche und charakteristische Tingierung verliehen.

   Auf der einen Seite besaß auch das Griechentum noch eine entschiedene Empfindung für das, was als ein Element schicksalsmäßiger Vorherbestimmtheit das menschliche Leben durchzieht. Da es dieses aber nicht mehr als eine Folge früherer Lebensläufe zu verstehen vermochte, so mußte es ihm als das Schicksalslos erscheinen, das schicksalbestimmende Gottheiten (Moira, Tyche) aus einem unerkennbaren Ratschlusse heraus einem jeden Menschenleben in bestimmter Weise zuteilen. Die Unabwendbarkeit dieser Schicksalsbestimmung einerseits, die Undurchdringbarkeit ihrer Gründe andererseits ließ so für das Empfinden der Griechen - schon von der Seite der Geburt her - auf die Helle des menschlichen Erdenlebens einen tiefen Schatten der Tragik fallen, umso mehr, als sie mit dem Streben nach Selbstbestimmung, das in der sich als selbständige Realität erfühlenden Seele aufkeimen mußte und vielfach schon in Selbstüberhebung (Hybris) ausartete, in schneidenden, oftmals vernichtenden Widerspruch trat. Diesen Schatten der Tragik nehmen wir nicht nur wahr in zahlreichen Aussprüchen über die Nichtigkeit menschlichen Strebens und Wollens gegenüber dem Walten der Schicksalsmächte, die uns aus dem Griechentum überliefert sind, - wir sehen ihn vor allem in erschütternder Weise künstlerisch zur Darstellung gebracht in den klassischen Werken der griechischen dramatischen Kunst (Siehe hierzu Alfred Weber: Das Tragische und die Geschichte, 1943).

   Auf der anderen Seite wurde für das Empfinden des Griechen der Sonnenglanz des menschlichen Erdenlebens in nicht geringerem Maße von der anderen: der Seite des Todes her verdüstert. Denn da er das Leibliche und das Seelische des Menschen als eine zusammengehörige Ganzheit und un nur in dieser Einheit als volle Realität erlebte, konnte ihm das Seelische, wenn es sich im Tode vom Leibe trennte, nurmehr als ein blutloser, des Bewußtseins und damit auch der Erinnerung verlustig gehender Schatten erscheinen, der dazu verurteilt ist, in einer Welt, die das Gegenbild der sonnenlichtbeglänzten (S158) Oberwelt darstellt: im Reiche der finsteren Erdentiefen ein trauriges, allmählich vergehendes Nachleben zu verbringen. Schon bei Homer klingt uns aus dem Munde der abgeschiedenen Seele des Achilleus (zu dem ins Totenreich hinabsteigenden Odysseus) das Wort entgegen:

Lieber ein Bettler auf der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten!

Von einer Unsterblichkeit der Seele konnte wenigstens hinsichtlich der geschichtlichen Menschen für den Griechen nicht die Rede sein. (Lediglich die Heroen, namentlich denjenigen einer mythischen Vorzeit, schrieb er ein unvergängliches Leben in elysischen Gefilden zu.) Diese düstere Perspektive des nachtodlichen Daseins dämpfte insbesondere in der Spätzeit der griechischen Kultur die Lebensstimmung ihrer Angehörigen immer tiefer herab und ließ sie in Massen sich hinwenden zu dem, was ihnen die verschiedensten religiösen Sekten, Geheimlehren und Mysteriengemeinschaften über die Möglichkeiten einer "Erlösung" der abgeschiedenen Seele aus den Banden der Unterwelt zu verkündigen hatten.

   Damit kommen wir zur anderen Seite des hellenischen Lebens: zu dem, was auch innerhalb seiner Entfaltung noch als Mysterienwesen und Geheimwissen fortgelebt hat. Hier sind insbesondere die aus Thrakien stammenden orphischen Mysterienbünde zu nennen, denen die Begründung des Dionysoskultes zugeschrieben wurde, dern dann im Mysterium von Eleusis seine hauptsächlichste Pflegestätte fand. In diesen Kreisen wurde die Lehre von der Reinkarnation in einer durchaus an indische Gestaltung erinnernden Form weiter fortgepflanzt: die Lehre nämlich von einem ursprünglichen Sturz in die Materie, durch den die Reihe der Verleiblichungen ihren Anfang nahm, von dem Körper als einem Kerker der Seele, und von den Wegen zu deren endlicher Befreiung aus dem Zwang dieser Gefangenschaft. Nur wird im Unterschied zum Oriente - und hierin kommt der Fortgang zum Ausdruck, den die Persönlichkeitsentwicklung inzwischen genommen - fürs erste die Befreiung von dem Zwange der Wiedergeburten hier als eine solche zu einem unsterblichen Dasein der Seele in einer höheren Welt gelehrt. Und als der Weg zu dieser Befreiung gilt eben die Erlangung der bacchischen Weihen. Und zum zweiten zieht sich dies alles nun eben in die Verborgenheit des Mysterienwesens zurück und wird als Geheimwissen gepflegt.

   Von da aus fließt später die Reinkarnationslehre, wie so viele andere Inhalte des Mysterienwissens auch, in die sich entfaltende griechische Philosophie ein. Und so tritt sie uns denn, in verschiedener Nuancierung, bei Pythagoras, Parmenides, Empedokles, aber auch bei dem Dichter Pindar, und vor allem bei Plato (Siehe Erwin Rohde: Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2.Auflage1898). Trotz dem Exoterischwerden, das die Reinkarnationslehre auf diesem Wege erfuhr, darf man sich jedoch nicht vorstellen, daß sie von der (S159) Philosophie her nun in das allgemeine Volksbewußtsein übergegangen wäre. Dafür stand ihr Begriff von der Seele und von deren Unvergänglichkeit doch zu sehr im Widerspruch mit der herkömmlichen allgemeinen Auffassung von dieser und ihrem nachtodlichen Schattendasein. Und dafür bildete vor allem die asketische, weltverneinende Grundanschauung und Grundstimmung, die mit der Reinkarnationslehre auch jetzt noch verbunden war, einen zu scharfen Gegensatz zu dem sinnenfreudigen, ganz diesseitig orientierten Lebensgefühl, von dem das Griechentum, wenigstens während seiner geschichtlichen Blütezeit, beseelt war. Zudem verlor sich die Reinkarnationslehre im weiteren Verlauf auch aus der Philosophie selbst. Schon Demokrit und Anaxagoras verneinten überhaupt eine Fortdauer der Seele nach dem Tode. Aristoteles sprach nur dem Geiste (Nus) des Menschen einen unvergänglichen Fortbestand nach dem Tode zu, allerdings ohne Gedächtnis und "Phantasie" ( da diese zu ihrer Betätigung der Anregung durch die sinnliche Erfahrung bedürfen), - ließ ihn jedoch erst mit der Entstehung eines Menschenleibes durch einen schöpferischen Akt der Gottheit ins Dasein treten, - so daß seiner Auffassung zufolge dem individuellen menschlichen Geiste nur eine "halbe" Ewigkeit zukommt, nämlich nach der Zukunft hin.

   Erst in der Spätzeit des Griechentums gewinnen die Mysterienlehren von Unsterblichkeit und Reinkarnation der Seele wieder an Bedeutung und Verbreitung. Innerhalb der Philosophie treten sie bem zu Initiationswesen und Mysterienerkenntnis sich zurückwendenden Neuplatonismus (Plotin, Jamblichus) wieder auf. Und auch für das Bewußtsein der Massen schwand durch die inzwischen erfolgt weiter Entwicklung und geistige Emanzipation der Persönlichkeit aus ihren bluts- und standesmäßigen Gebundenheiten die Möglichkeit immer mehr dahin, in den überkommenen Vorstellungen von dem mit dem Tode erfolgenden Versinken der Seele in das Schattenreich der Unterwelt Genüge zu finden, und so erhielten jene, zum Teil durch ägyptische und vorderasiatische Einflüsse neu auflebenden Geheimbünde und Mysteriengemeinschaften stets wachsenden Zustrom, welche ihren Angehörigen Wege der "Einweihung" wiesen, auf denen Erfahrungen gemacht werden konnten, die eine Bürgschaft für ein geistig erhöhtes Fortleben der Seele nach dem Tode bedeuteten.

   In anderer Art als im Griechentum gestaltet sich im alten Hebräertum der vollgeschichtliche Charakter seines Lebens und damit die Auffassung vom nur einmaligen Erdendasein des Menschen aus. Denn auch hier treffen wir im allgemeinen Volksbewußtsein den Gedanken der Reinkarnation nicht mehr an. Haben wir es im Griechentum mit dem Volke der Denker zu tun, welches die Philosophie und im Zusammenhang mit ihr die Naturerkenntnis zur ersten großartigen Entfaltung bringt, so nehmen im Bewußtsein des Hebräertums die Probleme des Sittlich-Moralischen die erste Stelle ein, im Zusammenhang (S160) mit dem Erleben eines Göttlichen, mit dem sich dieses Volk in einem einzigartigen Bunde stehend weiß. Zwar ist sich auch der Hebräer der Neigung zum Bösen bewußt, der der Mensch im Erdenleben unterworfen ist. Aber er führt diese nicht - wie der Inder - auf die Wirkung zurück, welche die irdische Sinnenwelt (als die vom Göttlichen abgefallene) in jedem neuen Leben immer wieder von außen in den Menschen einpflanzt, sondern auf ein einmaliges Ereignis der Urzeit, durch welches die Menschheit selbst sich mit dem Göttlichen entzweit und das Böse in sich aufgenommen hat. Er blickt zum zweiten auf ein weiteres einmaliges Ereignis hin, durch welches in der Mitte seines eigenen Volkes der Menschheit durch göttliche Offenbarung eine Stütze geschenkt wurde, mit deren Hilfe sich der Mensch der Übermacht des Bösen bis zu einem gewissen Grade entringen kann: auf die durch Moses erfolgte Moralgesetzgebung. Und seit der Prophetenzeit endlich sieht er in der Zukunft einem dritten einmaligen Ereignis entgegen, durch welches die Macht des Bösen endgültig überwunden und in gewisser Weise der paradiesische Zustand des Friedens und der Gerechtigkeit für die ganze Menschheit wiederhergestellt werden wird: dem Kommen des Messias, dessen Erscheinen ebenfalls aus seinem Volke zu erwarten steht. In diesem Sinne ist schon die Moralauffassung des Hebräertums aufs engste mit einer die ganze Menschheit umfassenden Geschichtsanschauung verschmolzen, innerhalb welcher es sich selbst zu einer einzigartigen Mission erwählt weiß. Das Motiv der Einmaligkeit, welches das Griechentum nur gegenüber dem einzelnen Menschendasein geltend machte, hat daher beim Hebräertum seinen Schwerpunkt in der Einzigartigkeit der Sendung, die ihm als Volk innerhalb der Menschheitsgeschichte zukommt. Erwuchs im Griechen- und Römertum aus dem Hinblicken auf die Einmaligkeit des einzelnen Menschenlebens und dessen Hineingestelltsein in eine bestimmte geschichtliche Situation die Darstellung der Biographien individueller Persönlichkeiten (Plutarch und Nepos), so brachte darum das Hebräertum in den Büchern des Alten Testaments als die ihm eigentümliche geschichtsschreiberische Leistung seine eigene Volksbiographie im Rahmen einer geschichtlichen Menschheitsbiographie hervor. Diese Biographie kann aber ebenso gut als diejenige jenes Gotteswesens gelten, das sich mit ihm als Volkstum bei dessen Entstehung in Abraham in einer analogen Art verbunden hatte, wie sich bei der Geburt eines individuellen Menschenleibes mit diesem aus der geistigen Welt heraus ein menschliches Ich verbindet, - bezeichnete sich dieses Gotteswesen später doch selbst als der "Ich bin der Ich bin". Und trug es doch in der Vorstellung des Hebräertums im eminentesten Maße die Züge einer Persönlichkeit! Das im geschichtlichen Sinne verstandene Einmalig-Einzigartige des mit diesem Gotte verbundenen Volkstums und seiner Sendung kam schließlich noch in der Einzigartigkeit und Superiorität zum Ausdruck, welche das Hebräertum diesem seinem göttlichen "Volks-Ich" gegenüber der Vielheit der (S161) von den heidnischen Völkern verehrten bloßen Naturgottheiten zuschrieb, und welche den strengen Monotheismus seiner Religion begründete. Wie des ferneren die Biographie des einzelnen Menschen durch die Art und das Maß ihre Gestaltung empfängt, in welchen dessen Ich sich zum inneren Herrscher in ihm zu machen und die ihm widerstrebenden Kräfte, die aus der Leibesnatur heraus sich geltend machen, zu besiegen vermag, so erhielt die Volksbiographie des Hebräertums ihre charakteristischen Züge durch den unaufhörlichen, unerbittlichen Kampf, in welchem Jahwe gegen die aus der hebräischen Volksnatur oder von außen kommenden Verführungen derselben immer wieder gegen ihn sich erhebenden Gegenkräfte und Widerstände seine Herrschaft durchgesetzt und behauptet hat.

   Während in der Frühzeit der alttestamentlichen Kultur der einzelne Hebräer das göttliche "Volks-Ich" noch unmittelbar in seinem Blute erlebte und daher, wenn er sein Leben als echtes Glied seines Volkstums und als rechter Bekenner seines Glaubens verbracht hatte, hoffen durfte, nach dem Tode "zu seinen Vätern versammelt" bzw. "in den Schoß Abrahams aufgenommen" zu werden, erwuchs in der Spätzeit, namentlich während des babylonischen Exils und nach demselben für ihn immer mehr die Forderung, dieses göttliche Volks-Ich durch Überwindung des niederen, persönlichen Eigenwillens auch unmittelbar in sein individuelles Ich aufzunehmen. Im Zusammenhang damit tritt in der Nach-Exilzeit auch im Hebräertum der Gedanke einer persönlichen Unsterblichkeit, ja einer künftigen "Auferstehung" der Seele aus dem Reiche des Todes in einer höheren Welt zutage.


III.

   Auf dem Boden des Hebräertums trat, "als die Zeit erfüllt war", das Christentum in die Welt. Wenn wir nun im folgenden einiges über die Lehren ausführen, die innerhalb desselben hinsichtlich der menschlichen Seele, ihrer Fortdauer nach dem Tode usw. ausgebildet worden sind, so fassen wir damit also zunächst ins Auge, was in Anknüpfung an die Ereignisse von Palästina als christliche Glaubensvorstellungen entstanden ist. Diese sind ja dadurch zustandegekommen, daß, indem man aus den wesentlichsten der in der damaligen Mittelmeerkultur vorhandenen weltanschaulichen Vorstellungsinhalte heraus ein Verständnis bzw. eine Interpretation der Bedeutung anstrebte, welche der Christuserscheinung zukomme, die religiösen Lehren des Judentums mit den religiösen und philosophischen Anschauungen des Griechentums zu einem umfassenderen Ganzen verschmolzen worden sind. Die frühesten Repräsentanten dieses Verschmelzungsprozesses haben wir bereits in Paulus und in dem Verfasser des Johannesevangeliums zu sehen, spätere in den (S162) großen Kirchenlehrern von Alexandria wie Clemens, Origenes u.a. Wir sehen hier von dem ab, was im Zusammenhang mit diesem Prozeß in Lehre und Kultus des Christentums in den ersten Jahrhunderten seiner Entfaltung eingeflossen ist aus der Gnosis als dem damals exoterisch werdenden Geisteserbe vorchristlicher Mysterienweisheit; denn dies ist seit dem 3. und 4. Jahrhundert wieder teils als völlig ausgerottet, teils so verdeckt worden, daß es als solches nicht mehr erkennbar war. Womit wir es im folgenden zu tun haben, ist also die Welt der Glaubensvorstellungen, die sich dann im Übergang zum Mittelalter dogmatisch kristallisierte.

   Hier kommen nun insbesondere zwei Lehren in Betracht. Anknüpfend an den mosaischen Bericht vom Sündenfall und an die im Judentum hervorgetretene Prophetie von zu erwartenden Kommen des Messias wurde die Tat auf Golgatha dahin interpretiert, daß in Christus die zweite Person der Gottheit (der göttliche Sohn) Mensch geworden und durch das stellvertretende Leiden und Sühneopfer seines Todes die Erbschuld, welche die Menschheit durch ihren Fall im Paradiese auf sich geladen, getilgt, damit die Menschheit von der Übermacht des Bösen erlöst und ihr die Wiederverbindung mit der Gottheit ermöglicht habe. Wer sich die Gnadenwirkungen, die von der Tat auf Golgatha ausgehen und ihm von der Kirche durch ihre Sakramente vermittelt werden, teilhaftig mach, der darf deshalb hoffen - und hiermit knüpft diese Lehre nun an die dem Griechen- und Römertum eigenen Vorstellungen von der menschlichen Seele und ihrem nachtodlichen Schicksal an -, daß seine Seele nach dem Verlassen des Leibes nicht mehr dazu verurteilt sein werde, als bloßer bewußtloser Schatten in einer finsteren Unterwelt einem allmählich dahinschwindenden Dasein anheimzufallen, sondern - nach einer angemessenen Zeit der Läuterung (Purgatorium) - werde aufsteigen können in eine lichte überirdisch-himmlische Welt, um dort im Anschauen Gottes einer unvergänglichen Seligkeit teilhaftig zu werden. In dieser Verheißung eines der Menschenseele erlangbaren unvergänglichen Fortlebens im Reiche der Himmel wurde zugleich im christlichen Sinne uminterpretiert des Aristoteles Lehre von der Unsterblichkeit des individuellen menschlichen Geistes (Nus), indem nun eben die menschliche Seele überhaupt als Geistseele aufgefaßt wurde.

   Diese Erlösungsbotschaft ergriff denn auch mit zündender Kraft insbesondere die Angehörigen der griechisch-römischen Kultur, brachte sie doch der Erlösungssehnsucht, die in vielen von diesen damals verzehrend lebte, eine Erfüllung, der die Opfertat eines Gottes eine Gewähr der Gewißheit verlieh, wie sie ihnen die Lehren der verschiedenen Sekten und Mysteriengemeinschaften jener Zeit nicht zu bieten vermochten. Der Tod hatte die Schrecken verloren, mit denen er die menschlichen Seelen innerhalb dieses Kulturkreises immer stärker erfüllt hatte.

  So entsteht hier also für die westliche Menschheit eine Erlösungsreligion, die (S163) ein Gegenstück bildet zu derjenigen, welche ein halbes Jahrtausend früher im Buddhismus für die östliche Menschheit erstanden war. Wie charakteristisch verschieden sind sie aber voneinander! Zwar geht es in beiden zuletzt und zutiefst um die Überwindung der Folgen eines Sturzes oder Falles, der in urzeitlicher Vergangenheit geschehen ist. Nach indischer Auffassung aber wirken sich diese Folgen in dem Verstricktsein des Menschen in den Kreislauf der Wiedergeburten aus. Und so besteht die Erlösung von ihnen darin, das Rad dieser Wiedergeburten zum Stillstand zu bringen und den durch seinen Kreislauf erzeugten Schein eines individuell-seelischen Seins dadurch aufzuheben, daß dieses durch sein Eingehen ins Nirwana zum Erlöschen gebracht wird. Im Sinne der westlichen Auffassung dagegen, die von einer Reinkarnation nichts mehr weiß, wirkt sich jener urzeitliche Sturz darin aus, daß die Seele des Menschen dazu verurteilt ist, nach ihrem einmaligen Erdenleben in ein Schattendasein in der Finsternis unterirdischer Tiefen, getrennt von der lichten Welt des Göttlichen, zu versinken - ein Dasein, das in christlicher Sicht jetzt als die Verdammnis zu ewiger Höllenpein erscheint. Denn auch in dieser Beziehung wird durch das Christentum der Seele als Geistseele die Unvergänglichkeit zugesprochen. Und die Erlösung besteht hier nun darin, daß die Seele dem Verfallen in diesen zweiten, geistigen "Tod" entrinnen und aufsteigen kann in die geistig-himmlische Welt, um in dieser im Anschauen Gottes eine ewige Seligkeit zu genießen. Diese Erlösung vermochte allerdings nach christlicher Lehre der Menschheit nur die Opfertat eines menschgewordenen Gottes zu bringen, während die Erlösungsbotschaft, die dem Oriente zuteil wurde, in der Stiftung einer bloßen Lehre durch einen "Erleuchteten" bestand, welche die Erkenntnis von den Ursachen des leidvollen Daseins enthüllte und den Weg zu ihrer Aufhebung wies. Darum kann im Sinne des Christentums die Erlösung auch nur durch die gläubige Hingabe an den göttlichen Erlöser und das Sichzueignen der von seiner Tat ausgehenden Heilswirkungen erlangt werden, während sie nach der Lehre des Ostens durch bloße Erkenntnis bzw. die bloße Auslöschung des Durstes nach Sinnesdasein mittels Askese und Weltentsagung erreicht wird. Anders gesehen, läßt sich auch sagen: für den Osten besteht die Erlösung in der Überwindung der immer wieder sich erneuernden Geburt, für den Westen in derjenigen des ewigen "Todes" der Seele. Oder noch anders: für den Osten in der Auslöschung der individuell-seelischen Existenz innerhalb des Nirwanas, für den Westen in der Erhaltung derselben für die Ewigkeit in der geistig-göttlichen Welt.

   So groß aber auch diese Unterschiede zwischen den beiden Erlösungslehren sind, - in der Gestalt, die das Christentum im Laufe des Mittelalters annahm, weist es doch zugleich auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Buddhismus auf, - jene Verwandtschaft, auf die schon im ersten Kapitel dieses Buches hingedeutet wurde (1.Persönlichkeit und Geschichte) . Dadurch, daß unter seinen Bekennern die Meinung sich (S164) ausbildete, daß sich die Hingabe an Christus am besten erreichen lasse durch Sinnenfeindschaft und Weltentsagung, entstand jene asketisch-weltflüchtige Haltung, die ihre Verkörperung fand im christlichen Mönchswesen, und durch die gewaltige Ausbreitung, welche dieses im Mittelalter erlangte, innerhalb des christlichen Europa ähnliche Verhältnisse entstehen ließ, wie sie der Buddhismus als die klassische Mönchsreligion in seinen Ausbreitungsgebieten geschaffen hat. Zum zweiten hat auch das Christentum, indem es nur das Hinblicken auf ein einziges Erdenleben des Menschen gelten ließ, als dessen "Ziel" die Erlangung der nachtodlichen ewigen Seligkeit in einer jenseitigen Welt erschien, den Menschen mit seinen Interessen nicht in vollem Maße sich mit dem Gang der Geschichte auf Erden verbinden lassen, - so wie der Buddhismus durch sein Streben, überhaupt jeglichem weiteren Erdenleben zu entrinnen, das Interesse am Fortgang der Geschichte bei seinen Bekennern völlig ertötet hat. Wichtig schien den Angehörigen beider Religionen nur die Erlangung des eigenen, persönlichen Heils in der Art, wie man dieses da und dort eben auffaßte. Dieses Heil war für beide mit der Geschichte nur insoweit verbunden, als in einem bestimmten Zeitpunkte ihrer Vergangenheit die Stifter ihrer Religionen aufgetreten waren und durch ihre Lehre bzw. Opfertat die Grundlagen für die Erlangung des eigenen, persönlichen Heils geschaffen haben. Nur soweit sie den Charakter der die eigene Erlösung ermöglichenden Heilsgeschichte trägt, war sie für den Einzelnen von Bedeutung.

   Innerhalb des Christentums entsprach eine solche Haltung allerdings nicht dem tiefsten Sinn und eigentlichsten Wesen seiner religiösen Verkündigung. Sie konnte sich daher auch nur insoweit verbreiten, als im Bewußtsein nicht in genügendem Maße vergegenwärtigt wurde jene andere Lehre, die auch gleichsam als die andere Hälfte der christlichen Heilsbotschaft bezeichnet werden darf, und in der erst das Einzigartige voll zum Ausdrucke kommt, durch das sich das Christentum über alle anderen Religionen erhebt. Auch diese Lehre geht von Auffassungen des Alten Testamentes aus; sie führt diese aber in ihrer eigenen Sphäre, d.h. im Geiste ihres durch durch geschichtlichen Charakters folgerichtig zu Ende. Der im Paradies erlittene Fall hatte nicht nur zur Folge, daß das Böse seither Oberhand über den Menschen gewann, sondern auch, daß der Mensch, der im Paradies den Tod nicht kennen sollte, durch die Vertreibung aus diesem sterblich wurde. "Der Tod ist der Sünde Sold". Die Überwindung der Macht des Bösen, die durch die Opfertat auf Golgatha erfolgte, mußte folglich gipfeln in der Besiegung des Todes, wie sie durch die Auferstehung Christi denn auch besiegelt wurde. Diese bildet aber nach christlicher Lehre das Unterpfand dafür, daß am Ende der Zeiten alle Menschen vom Tode auferstehen werden. Diejenigen, die beim "Jüngsten Gericht" als Gerechte werden erfunden werden - es sind jene, die schon vorher der Seligkeit teilhaftig geworden waren -, werden mit einem verklärten, dem (S165) Tode entrungenen Leibe umkleidet werden und fortan nicht mehr als Seelen (Geistseelen), sondern als leiblich-geistseelische, kurz: als ganze Menschen die himmlischen Sphären bewohnen. Mit dieser Verheißung ist erst das letzte, höchste, eigentlichste Daseinsziel bezeichnet, welches das Christentum seinen Bekennern vor Augen stellt. Diese Vorstellung wurde denn auch mit in das christliche Glaubensdogma aufgenommen, und sie hat im Laufe des Mittelalters auch unzählige künstlerische Verbildlichungen erfahren bis hin zu jener großartigsten, die Michelangelo an die Altarwand der Sixtinischen Kapelle gemalt hat.

   Dennoch hat sie im Bewußtsein der Christenheit nicht im selben Maße Raum gewinnen können wie die Vorstellungen von der Erlösung der individuellen Menschenseele nach dem Tode. Dies war nicht nur deshalb der Fall, weil sie sich auf Vorgänge bezieht, die erst in einer unbestimmt fernen Zukunft sich abspielen werden. Es hatte auch darin seinen Grund, daß bei der Annahme eines bloß einmaligen Erdenlebens des Menschen der Gedanke der Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tage einen Knäuel von unauflösbaren Fragen mit sich brachte - wie etwa die nach Alter, Geschlecht und sonstigen Beschaffenheiten des Auferstehungsleibes -, mit denen wir schon Augustinus in seinem "Gottesstaat" sich herumschlagen sehen. Darüber hinaus aber besteht offensichtlich auch eine gewisse inneres Spaltung zwischen den beiden Lehren von den Schicksalen der Einzelseele nach dem Tode und dem Gericht über die Menschheit am Jüngsten Tage. In ihr wirkt der Unterschied nach zwischen dem ganz der Einmaligkeit des einzelnen Menschenlebens zugewendeten Seelenblick des Griechentums und der auf das Ganze der Menschheitsgeschichte gerichteten Schau des Judentums. Zweifellos bedeutet zwar das Umkleidetwerden mit einem unsterblichen Leibe insofern eine Erhöhung des himmlischen Daseins, als der Zustand des "Ab-geschiedenseins", d.h. des Getrenntseins der Seele vom Leibe dadurch überwunden und ein seliges Leben als "ganzer" Mensch erlangt wird. Aber die Notwendigkeit des Jüngsten Gerichts bleibt angesichts der Tatsache fraglich, daß die Seelen ja schon nach dem Tode je nach dem moralischen Fazit ihres Lebens entweder in die Hölle fahren, - also bereits gerichtet werden. Und so erweckt ja z.B. auch die Schilderung der jenseitigen Welten und der ihre verschiedenen Sphären bevölkernden Seelen, die Dante in seiner "Göttlichen Komödie" gibt, durchaus den Eindruck, daß da ein Gericht und eine Scheidung der Seelen schon stattgefunden hat und daß dieses erste Urteil, das über die Seelen nach dem Tode gesprochen wurde, das entscheidende ist. Von hier aus läßt sich denn auch wieder verstehen, warum den Bekennern des Christentums in erster Linie die Erlangung des persönlichen Heils nach dem Tode am Herzen liegen und der beim Jüngsten Gericht zu erwartende Urteilsspruch als eine Angelegenheit (S166) von sekundärer Bedeutung erscheinen mußte. Damit wurde aber das Interesse doch wieder auf die individuelle Erlösung hingelenkt, die in gewissem Grade unabhängig von dem Gang der Geschichte erlangt werden kann, - und die Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tage, welche der ganzen Menschheit, d.h. sowohl den Guten wie den Bösen, vorbestimmt ist und für welche der Einzelne sich auf den Endpunkt von deren Geschichte verwiesen sieht, in den Hintergrund gedrängt. Die Vorstellungen von der letzteren konnten eben unter der Herrschaft einer Auffassung, derzufolge der Mensch nur ein einziges Mal auf der Erde lebt, die ihnen innewohnende Möglichkeit für ein vollständiges erkenntnis- und empfindungsmäßiges Hineinstellen des einzelnen Menschen in das Ganze der Menschheitsgeschichte nicht entfalten, da ihnen vom Standpunkte dieser Auffassung aus gesehen immer etwas unauflösbar Rätselhaftes und zugleich Mirakulöses anhaftete.


IV.

   Für eine solche Entfaltung wurden die Voraussetzungen erst geschaffen durch die Neugeburt der Reinkarnationserkenntnis in der Form, wie sie in unserer Zeit mit der Begründung der Anthroposophie erfolgt ist.

   Wir haben schon im ersten Bande dargestellt, wie diese Erkenntnis sich Rudolf Steiner dadurch neu enthüllte, daß er den Akt der Selbsterfassung des Ichs - welcher ja die Grundoperation alles neuzeitlichen Philosophierens bildet und zunächst im Denken einsetzt - durch fortgesetzt geübten Vollzug, in welchem immer wieder neue, tiefer gelegen Wesenskräfte zur Mitbeteilung aufgerufen werden, zu solchen höheren Stufen und Formen steigern konnte, auf welchen der Inhalt der Selbsterfassung sich schließlich bis zum erinnernden Rückblick auf frühere Erdenleben desselben erweitert. Die Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit hat eben durch die moderne Geistesentwicklung so viel an ehemals instinktiv-kollektiv wirkender Geistigkeit in individuelle verwandelt, daß, indem sich diese als seelisch-geistige Wesenheit voll erfaßt, ihre Kräfte sich als in früheren Erdenleben erworbene und von der Seele in das gegenwärtige herübergetragene für die Selbstanschauung enthüllen. Was also den Rückblick in vergangene Verkörperungen ermöglicht und damit dem menschlichen Ich die Unvergänglichkeit verbürgt - denn für eine wirkliche Erkenntnis der Reinkarnation ist ja solche Erfahrung derselben unerläßlich -, das ist die von diesem Ich erworbene Geistigkeit. Daher spricht die Anthroposophie von der Wiederverkörperung des menschlichen Geistes, wobei dieser als ein individualisierter, ich-haft gewordener aufgefaßt wird. Der Seele kann also insofern die Reinkarnation und auch die Unvergänglichkeit nicht zugesprochen werden, als sie aus sich allein heraus einer Rückschau auf (S167) frühere Leben nicht fähig ist. Denn wenn sie auch faktisch durch wiederholte Leben hindurchgeht, so reißt doch der Faden des Bewußtseins bzw. der Erinnerung zwischen diesen für sie immer wieder ab. Da aber Bewußtsein und Erinnerung zu ihren konstitutiven Merkmalen gehören, so geht sie als Seele im eigentlichen Sinne doch nicht durch die Folge der Verkörperungen hindurch. Bei jeder Verkörperung haben wir es im Grunde mit Neuentstehen und Wiedervergehen des Seelischen zu tun. Aus diesem Grunde hatte ja, wie im Beginne dieses Kapitels schon geschildert, der Orient trotz seines Glaubens an die "Seelen-Wanderung" doch der Seele keine Fortdauer und Wiederkehr zugeschrieben, sondern als den die Kette der Inkarnationen durchziehenden Faden das unpersönlich wirkende Karma bezeichnet. Dieses wirkt sich dann zwar immer wieder für die Seele aus, wie es auch durch die Seele immer wieder verursacht wird. Aber diese vermöchte aus ihren Kräften heraus den gerechten Ausgleich früherer Taten nicht herbeizuführen. In diesem Ausgleich sah der Inder noch die unpersönlich-allgemeine geistige Welt wirken. Das Karma bzw. die in ihm wirkende geistige Welt stand in seiner Reinkarnationsanschauung gleichsam stellvertretend für das noch nicht individualisierte Geistige des Menschen da.

   Wird die Erkenntnis der Reinkarnation heute auf den Wegen wieder errungen, die Rudolf Steiner dafür eröffnet hat und beispielhaft gegangen ist, so enthüllt sich, daß es das inzwischen individuell gewordene Geistige des Menschen selbst ist, welches von Leben zu Leben den schicksalsmäßigen (karmischen) Ausgleich früherer Taten bewirkt. Denn dieses Geistige trägt die Impulse bzw. Gesetze der geistigen Welt als sein eigenes Wesen in sich. Damit verliert das "Karmagesetz" das unerbittlich Zwingende; es erweist sich als die Tat des Menschen selbst, die der Geist desselben, wenn sein Bewußtsein in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt das Seelisch-Persönliche abgestreift hat, seinem Wesen gemäß will. Diesem Wollen liegt allerdings außerdem ein bestimmter Tatbestand zugrunde, auf den wir weiter unten zu sprechen kommen werden.

   Zunächst aber ist noch darauf hinzuweisen, was der Durchgang durch die wiederholten Erdenleben für den Geist selber bedeutet. Außer der Vorbereitung des karmischen Ausgleichs moralischer "Verfehlungen" früherer Leben im Ausarbeiten bestimmter "Schicksalsanlagen" für das kommende erfahren durch ihn im Dasein zwischen Tod und neuer Geburt die moralischen "Errungenschaften" - in dieses Wortes weitestem Sinn - der vergangenen Leben eine Umwandlung in "Fähigkeitsanlagen" geistig-schöpferischer Art, mit denen er sich dann im nächsten Erdenleben ausgestattet zeigt. In diesen Fähigkeiten erscheint in der Art, wie dies im vorigen Kapitel dargestellt wurde, von Leben zu Leben stufenweise fortschreitend in individuell-geistige Begabung verwandelt, was in früheren Zeitaltern in der Menschheit noch als (S168) kollektiv-geistig instinktive Begabungen gewirkt hat. Und so zeigt sich, daß der "Kreislauf" der Reinkarnation für den menschlichen Geist keine Wiederkehr des Gleichen bedeutet, sondern einen Fortschritt in seiner Entfaltung als individuelle Wesenheit, - eben jenen Fortschritt, von dem wir in den vorangehenden Kapiteln dargelegt haben, daß er in der Geschichte stattfindet und daß er durch die Folge nicht der Generationen, sondern der Reinkarnation zustandekommt. Denn die Vermehrung dieser individuell-geistigen Fähigkeiten erweist sich durchaus daran gebunden, daß der menschliche Geist auf dem Wege durch seine Verkörperungen die verschiedenen Epochen der Geschichte durchwandert und sich nach seinen Möglichkeit jeweils zueignet, was deren besondere Kulturgestaltungen ihm zu geben vermögen. Hierin bezeugt sich der innigste gegenseitige Zusammenhang zwischen der so verstandenen Wiederverkörperung und der Geschichte. Weder ließe sich ohne den Blick auf die Geschichte und den Wechsel ihrer Kulturen verstehen, in welchem Sinne und in welcher Art der menschliche Geist im Wandel seiner Inkarnationen eine fortschreitende Entfaltung erfährt, noch läßt sich ohne den Blick auf die Tatsache der Reinkarnation der Menschen als geistiger Individualitäten das Was und das Wie des Fortschrittes begreifen, der im Gang der Geschichte stattfindet.

   Damit beantwortet sich auch die Frage nach Anfang und Ende der Wiederverkörperungen. Diese setzen sich keineswegs ins Endlose fort, sondern sind - als solche des Geistes - speziell der geschichtlichen Phase des gesamtirdischen Menschheitswerdens als das verborgene Vehikel ihres Fortgangs zugeordnet. Sie setzen in dem Maße ein, als mit dem Übergang zur geschichtlichen Entwicklung die Individualisierung der ehemals kollektiven Geistigkeit beginnt, und sie werden so lange dauern, bis die ganze Summe dieser kollektiv-instinktiven Geistigkeit in individuell-bewußte umgewandelt sein wird. Dann werden die geistigen Individualitäten in eine andere, rein geistige Daseinsform übergehen.

V.

   Wie ist das zu verstehen? Was ist damit eigentlich gemeint?

   Wir haben im vorletzten Kapitel geschildert, wie die in Vor- und Frühgeschichte wirksame Kollektivgeistigkeit ein Teil jener menschlichen Urgeistigkeit war, die in der Urzeit im Verein mit den weltschöpferischen göttlichen Mächten (den universalia ante res) den menschlichen Leib aufgebaut und ihm seine menschliche Form gegeben hatte. Wir stellten des weiteren dar, wie, nachdem aus jener menschlichen Urgeistigkeit sich herausgelöst hatte, was dann zu den menschlichen Einzelseelen geworden ist, ihr übriggebliebener Teil (S169) als Kollektivgeistigkeit in die Menschheit als ganze (insofern sie leiblich betrachtet ein Kollektiv-Organismus ist) einzog und in der Vorgeschichte durch die Kräfte des Leibes, d.h. in instinktiver Art ihre kulturschöpferische Wirksamkeit entfaltete. Wir haben ferner gezeigt, wie diese Kollektivgeistigkeit im Lauf der Geschichte von Hautfarben über Völker und Familien immer mehr auf die einzelnen Menschen als solche überging, und die letzteren im selben Maße sich bewußtseinsmäßig aus ihren blutsmäßigen Gebundenheiten emanzipierten und geistig auf sich selbst stellten. Der stärkste Anstoß, den dieser Prozeß im Laufe der Geschichte je empfing, war derjenige, der mit der Begründung des Christentums erfolgte. Denn dieses war es ja, welches zuerst in entscheidender Weise die menschliche Seele als Geistseele, d.h. als Träger individueller Geistigkeit ansprach und seine Verkündigung deshalb an keine irgendwie geartete Blutsgemeinschaft mehr richtete, sondern an die einzelnen Menschen in aller Welt. Freilich: der Prozeß der Geist-Individualisierung war damals noch keineswegs an sein Ziel angelangt, sondern befand sich erst in der Mitte seines Verlaufes. Neben der schon individuell gewordenen wirkte damals noch viel blutsmäßig-kollektive Geistigkeit, in verschiedenem Grade bei älteren und bei jüngeren Völkern. Darum konnte auch das Christentum in der Zeit, da es in die Welt trat, noch nicht von der Reinkarnation des (individuellen) Geistes sprechen; denn um diese Tatsache als Erfahrung erringen zu können, dazu hatte die Entwicklung des Individuell-Geistigen in der Menschheit damals noch bei weitem nicht die nötige Reife erlangt. Sie war erst so weit fortgeschritten, daß der Geistseele des Menschen wenigstens die Unsterblichkeit zugeschrieben werden konnte, - zunächst in der Vorstellung eines bloß nachtodlichen Daseins in der geistigen Welt. Durch diesen Umstand wird jedoch die Tatsache nicht widerlegt, daß gerade der durch das Christentum gegebene Impuls in seiner Aus- und Fortwirkung die Erkenntnis von der Wiederverkörperung des individuellen menschlichen Geistes einmal reifen lassen mußte. Und so sehen wir denn, wie seit Lessing innerhalb des christlichen Europa - und bei Lessing selbst sogar gerade aus dem Bemühen um ein tieferes Erfassen des Christentums - der Gedanke der Wiederverkörperung bei einer großen Zahl von Repräsentanten des modernen Geisteslebens sich an die Oberfläche ringt (Siehe hierzu das Buch von Emil Bock: Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschiche).

   Rudolf Steiner schließlich hat als ein entscheidendes Moment jenes Weges seelisch-geistiger Entwicklung, welchen er als die Methode der anthroposophischen Geistesforschung ausarbeitete, und auf welchem er neben vielen anderen auf das Wesen des Menschen bezüglichen Forschungsergebnissen auch die Tatsache der Reinkarnation in übersinnlicher Erfahrung neuentdeckte, (S170) immer wieder dieses geltend gemacht, daß auf ihm eine von aller Überlieferung unabhängige unmittelbare Geist-Begegnung mit jener göttlichen Wesenheit erfahren werde, die durch das Ereignis von Golgatha sich mit der Erdenmenschheit verbunden hat. Der Eintritt des Bewußtseins in jene Sphären übersinnlicher Erkenntnis, in welchen die Tatsache der Reinkarnation des Geistes aufgefunden wird, kann nach seiner Darstellung nicht erlangt werden, ohne daß diese Geistbegegnung zur innerlichsten Verbindung der Seele mit der Christuswesenheit führt. Hierbei wird die letztere geradezu als diejenige Wesenheit erfahren, welche ihr in geistig-moralisch gerechtfertigter Art die Erkenntnis der Reinkarnation erschließt. So daß Rudolf Steiner diesen Tatbestand öfters auch dahin formuliert hat: Christus selbst sei in der Gegenwart der Lehrer der Wiederverkörperung. (Hat dieser doch zu seinen Jüngern gesagt, er habe ihnen noch viel zu sagen, was sie jetzt noch nicht tragen könnten, und er bleibe bei uns alle Tage bis an der Welt Ende.)

   Von dieser Behauptung aus erstrahlt ein bedeutsames Licht, wenn wir sie zusammenhalten mit der Beantwortung der Frage, wie denn eigentlich die Entfaltung jener höheren, übersinnlichen Erkenntniskräfte sich vollzieht, deren Betätigung als die zentralste der auf das Menschenwesen bezüglichen Erkenntnisse diejenige von der Reinkarnation zu verdanken ist.

   Hier dürfen wir auf das verweisen, was wir im ersten Band (III.3 Struktur der Zeit) hierüber ausgeführt haben. Wir zeigten dort, daß diese Entwicklung auf einem stufenweisen inneren Ergreifen und Umwandeln jener Kräfte durch das Ich beruht, welche in den drei ersten Jahrsiebenten des menschlichen Lebens am Aufbau und Wachstum des menschlichen Leibes wirksam gewesen und dann, nach Abschluß dieser Wirksamkeit in der menschlichen Wesenheit - wie Steiner in dem dort wiedergegebenen Zitat vergleichsweise sich ausdrückt - "schlafen gegangen sind". Und wir wiesen darauf hin, wie das "Aufwecken" und Umwandeln dieser bildend-gestaltenden Kräfte in Erkenntniskräfte auf den höheren Altersstufen des Lebens dadurch eine Unterstützung erfährt, daß sie sich vom Leibe stufenweise selbst zurückziehen. Während diese Kräfte durch dieses Zurückziehen dem Menschen sonst schlechthin verloren gehen und sich mit der geistigen Welt, der sie entstammen, wiedervereinigen, werden sie durch dieses Ergreifen vom menschlichen Ich angeeignet, und dadurch wird, was ursprünglich (in der Jugend) ein gattungshaft-leibbildendes Wirken derselben war, in eine individuell-geisterkennende Wirksamkeit verwandelt. Durch diese Wirksamkeit erschließt sich aber nicht nur nach der Vergangenheit hin der erkenntnismäßige Rückblick auf das vor der Geburt verbrachte rein geistige Dasein und auf frühere Erdenlebensläufe, sondern erbilden sich auch nach der Zukunft hin bestimmte Wirkensmöglichkeiten in dem auf den Tod folgenden Geistdasein und damit für die kommenden Erdenleben. In den (S171) bisherigen Epochen der Menschheitsgeschichte konnten die menschlichen Seelen von der früheren Kollektivgeistigkeit durch ihr geistig-moralisches Streben zwischen Geburt und Tod im allgemeinen nur erst so viel individualisieren, daß daraus (im jeweiligen Durchgang durch das Geistdasein zwischen Tod und neuer Geburt) wiederum nur Fähigkeiten sich erbildeten, die sich im nächsten Erdenleben als solche des seelisch-geistigen Erlebens und Schaffens erwiesen. Durch jenes Ergreifen und Umwandeln der in Kindheit und Jugend leibaufbauend gewesenen Kräfte jedoch, das auf dem geisteswissenschaftlichen Erkenntniswege erfolgt, eignet sich das menschliche Ich Kräfte zu, die auf dem Durchgang durch die Geistwelt zwischen Tod und neuer Geburt wieder in leibgestaltende Fähigkeiten zurückverwandelt werden können, nur daß diese jetzt nicht mehr als gattungsmäßige, sondern als individuelle sich betätigen können. Ein Mensch, der eine solche innere Entwicklung in einem vorhergehenden Leben durchgemacht hat, wird also in dem nächstfolgenden mit Fähigkeiten wiedererscheinen, durch welche er in Kindheit und Jugend von seinem Ich her bis in den Aufbau seines Leibes hinein gestaltend wird wirken können. Ein solcher Leib wird dann in seiner Physiognomie, in seinen Gesundheitsverhältnissen usw. nicht mehr die volks- und familienmäßigen Gattungsmerkmale aufweisen, sondern ganz und gar Ausdruck der ihn beseelenden Individualität sein.

   Man muß diese Tatsache, um sie in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen, in den Zusammenhang jenes geschichtlichen Jüngerwerdens der Menschheit hineinstellen, das wir im vorangehenden Kapitel dargestellt haben. Wir schilderten dort, wie die gattungshaft wirkenden leibaufbauenden Kräfte schon in unserem Zeitalter im menschlichen Lebenslauf sich bereits im vierten Lebensjahrsiebent (21. bis 28. Jahr) in dem Sinne erschöpfen, daß sie dem seelisch-geistigen Leben des Menschen von da an nach dem Abschluß ihrer leibgestaltenden Wirksamkeit keinen Überschuß mehr zufließen lassen, aus dem dessen weitere Entwicklung und Reifung gespeist werden könnte. Und wir wiesen am Schlusse darauf hin, daß in einer kommenden Epoche (deren Verhältnisse in den Anlagen des russischen Slawentums sich heute schon andeuten) die innere Erschöpfung dieser Kräfte - auf dem Wege des geschilderten Jüngerwerdens - bis in das Jahrsiebent vom 14. bis zum 21. Jahre fortgeschritten sein wird. Der Mensch wird vom Leibe her dann nicht einmal mehr die Fähigkeiten mitbekommen, die der seelischen Reife des Erwachsenseins, der Volljährigkeit entsprechen. Wir deuteten - freilich nur ganz im allgemeinen - darauf hin, wie der Mensch dann jedoch in der Lage sein wird, von seinem Ich her vermöge der Fähigkeiten, welche dieses aus den bis dahin noch durchlaufenen Inkarnationen mitbringen wird, zu ersetzen, was ihm so vom Leibe her fehlen wird.

   Der Rückgang der naturhaft leibgestaltenden Kräfte wird sich jedoch in einer (S172) noch ferneren Epoche - es wird dies die siebente und letzte der geschichtlichen Entwicklung sein - noch weiter fortsetzen bis in den Lebensabschnitt vom 7. zum 14. Jahre hinein, und dies wird zur Folge haben, daß diese selbst die Bildung der menschlichen Leiblichkeit bis zu ihrer vollen Erdenreife zustandezubringen allmählich die Fähigkeit verlieren werden. Man könnte sich im Hinblick auf diese Perspektive zur Frage gedrängt fühlen, was denn die entsprechende Höherentwicklung der geistigen Fähigkeiten des Ichs dann nütze, wenn dieses für deren Auswirken auf Erden keine zureichende Leibesgrundlage mehr wird finden können. Auf diese Frage gibt nun eben das oben Geschilderte die Antwort. Was heute auf dem geisteswissenschaftlichen Schulungswege errungen werden kann, bedeutet ja nur die Vorausnahme der weiteren Stufen der geistigen Entwicklung, welche die menschliche Individualität von unserer Zeit an in die kommenden Jahrhundert und Jahrtausende hinein wird nehmen müssen, wenn diese überhaupt eine Fortsetzung in den einzelnen Menschen und durch diese erfahren soll. Indem dieser Weg aber zu einer stufenweisen Aneignung jener Kräfte durch das menschliche Ich führt, durch welche dieses in kommenden Verkörperungen in immer höherem Grade bis in den Aufbau seiner Leiblichkeit hinein bildend und gestaltend sich wird betätigen können, wird vom Individuellen her das Manko ersetzt werden können, das vom Gattungsmäßigen her zunehmend auftreten wird. Eine solche aus den Ichkräften heraus aufgebaute Leiblichkeit wird allerdings im Vergleich mit unserer heutigen eine vergeistigte sein in einer Art, die näher zu charakterisieren jedoch nicht mehr zu den Aufgaben dieser Darstellung gehört.

   Nur nach einer Richtung hin soll hier die Frage noch beantwortet werden, womit man es bei diesem ganzen hier angedeuteten Prozeß eigentlich zu tun hat. Durch ihn wird ja die menschliche Leiblichkeit, insoweit sie als naturhaft-gattungsmäßige Bildung dem Absterben, dem Tode entgegengeht, diesem Tode entrissen und vom Ich her mit einem Leben ausgestattet, das der Vergänglichkeit nicht mehr unterliegt, weil es aus Kräften gespeist wird, die als ichhaft-gewordene an der Unvergänglichkeit des menschlichen Ichs teilhaben. Wir haben es mit anderen Worten hierbei mit dem zu tun, was das Christentum als die Prophetie der künftigen Auferstehung der menschlichen Leiblichkeit vom Tode verkündigt. Nur enthüllt sich jetzt eben, daß diese Auferstehung nicht ein einmaliges mirakulöses Geschehen darstellt, das sich am Ende der Tage ereignen wird, sondern einen Prozeß, der, durch die Tat auf Golgatha veranlagt, durch die ganze kommende Geschichte der Menschheit hindurch stufenweise sich vollzieht und am "Ende" der Geschichte nur eben seine Vollendung erreichen wird. Der Weg aber, auf dem dieses Ziel erreicht wird, ist die geschichtlich fortschreitende Individualisierung der ursprünglichen Kollektivgeistigkeit und die im Durchgang durch den (S173) "Kreislauf" der Wiederverkörperungen stufenweise erfolgende Verwandlung der naturhaft-gattungsmäßigen in geistig-ichhafte Kraft der Leibesgestaltung.

   Anmerkung: Man kann daher zwar wohl sagen, daß das Christentum - sowohl als Tatsache des Erlösungsgeschehens wie als dieses Geschehen interpretierende Lehre verstanden - wesenhaft und zentral sich bezieht auf die Probleme von Sündenfall und Auferstehung, - nicht auf die Reinkarnation als solche. Mann kann diese Tatsache sowohl interpretieren ohne Berücksichtigung der Reinkarnation, wie es in der bisherigen Geschichte des Christentums geschehen ist, als auch mit Berücksichtigung derselben. Der Unterschied ist eben nur der, daß ohne ihre Berücksichtigung alle diese Geschehnisse: Sündenfall, Erlösungstat, Auferstehung mirakulöse Ereignisse bleiben, die nur Inhalt eines Glaubens, aber nicht einer erkenntnismäßigen Vorstellung werden können, - während sie dagegen unter Berücksichtigung der Reinkarnation erkenntnismäßig faßbar und in ihrem Wie vorstellbar werden. Da aber unsere Zeit die Forderung mit sich gebracht hat, die bisherigen Glaubensinhalte als Inhalte eines Erkennens neu zu erringen, so mußte eben mit der Erfüllung dieser Forderung notwendig mitauftreten die Erringung einer neuen Erkenntnis der Reinkarnation.

Daß wir die Auferstehung nicht erst am Ende der Tage als ein mirakulöses Geschehen zu erwarten haben, sondern schon im jeweiligen Hier und Jetzt an ihr arbeiten können, war übrigens bereits die Überzeugung der mittelalterlichen Alchimisten; nur wurde sie von ihnen noch nicht vom geschichtswissenschaftlichen und damit vom Aspekte der Reinkarnation aus vertreten, sondern noch vom naturwissenschaftlich-physiologischen Gesichtspunkt aus. Denn der "Stein der Weisen" (lapis philosophorum), den sie zu bereiten suchten, ist nichts anderes als der Leib der Auferstehung. Und daß dieser Stein in Beziehung steht zu dem Auferstehungsleib Christi, wurde schon von Raimundus Lullus, aber auch von vielen anderen ausgesprochen. In anderer Weise kommt dieselbe Überzeugung auch im Namen des "Christian Rosenkreutz" zum Ausdruck, mit welchem der Begründer jener Strömung bezeichnet wurde, die ja der wesentliche Träger der christlichen Alchimie war. Denn das Bild des Rosenkreuzes symbolisiert ebenfalls den Prozeß jener inneren Verwandlung, deren Ziel die Überwindung des Todes bildet. Schließlich spricht sich eben diese Überzeugung und das aus ihr resultierende Streben sogar schon in den Bildern der Gralssage aus.

In einem noch engeren Sinne ist es das Einmünden dieses Weges in jenen Prozeß innerer geistiger Entwicklung, durch welchen die Erkenntnis der Wiederverkörperung als Erfahrung erlangt wird. Denn so viel an wirklicher Erfahrung der Wiederverkörperung durch höhere Erkenntnisfähigkeiten errungen wird, so viel wird jeweils an Kraft errungen, auf dem Wege der Auferstehung Fortschritte zu machen. Reinkarnationserkenntnis als Erfahrung zu gewinnen und Auferstehungskraft zu entwickeln, sind nur die zwei - auf Vergangenheit und Zukunft bezüglichen - Seiten einer und derselben Sache. Hierdurch erweisen sich Reinkarnationserkenntnis in dem Sinne, wie sie heute durch die Anthroposophie vertreten wird, und Auferstehungsimpuls untrennbar in eins verschlungen, - und damit ist ein letzter (S174) fundamentaler Unterschied zwischen der ersteren und der einstigen altorientalischen Reinkarnationslehre aufgewiesen.

   Die letztere konnte den Auferstehungsgedanken noch nicht in sich enthalten, weil die menschliche Ichentwicklung damals noch nicht in genügendem Maße fortgeschritten und im besonderen das Christusereignis als der mächtigste Impuls derselben noch nicht in die Welt getreten war. Sie brauchte ihn aber auch noch nicht in sich zu enthalten, weil die menschliche Leiblichkeit damals noch voll jugendfrischen Lebens war und aus dessen Kraftüberschüssen die seelische Entwicklung des Menschen durch das ganze Leben hindurch mit schöpferischen Kräften speisen konnte. Dafür aber war die orientalische Reinkarnationsauffassung mit jener Erlösungssehnsucht verbunden, die den Menschen dazu drängte, das irdisch-leibliche Leben abzutöten und die Reihe der Inkarnationen so bald wie möglich zu beenden. Denn das noch übermächtige Leben des Leibes wurde als ein Kerker der Seele empfunden, dessen Fesseln man nur durch Askese und Weltentsagung sprengen konnte.

   Die moderne Reinkarnationserkenntnis ist nicht mit einer solchen weltflüchtigen Stimmung verbunden; sie erzeugt nicht die Sehnsucht, die Folge der Verkörperungen durch Weltentsagung nach Möglichkeit abzukürzen. Denn aus ihr ergibt sich die Einsicht, daß die Erlangung des persönlichen Heils, d.h. der Aufstieg in die geistige Welt nach dem Tode nicht das Endziel, sondern nur Mittel und Weg ist, um im Prozesse der Auferstehung einen Schritt vorwärts zu machen, - in jenem Prozeß, durch welchen die ihrem Ersterben entgegengehende menschliche Leiblichkeit dem Tode entrissen werden kann. Und es erfließt aus ihr die weitere Einsicht, daß dieser Prozeß nicht in einem Leben vollendet werden kann, sondern daß es dazu vieler Leben bedarf; vor allem, daß sein Fortgang an die Aufeinanderfolge der geschichtlichen Epochen gebunden ist, weil man in der Entwicklung der Auferstehungskräfte auf die Möglichkeiten angewiesen ist, welche einem die verschiedenen Zeitalter hierfür bieten. Und so resultiert aus dieser Reinkarnationsanschauung im Gegenteil der Wille, immer wieder zu neuem Leben auf der Erde zu erscheinen, um alles das sich an solchen Kräften zuzueignen, was bis zum Ende der Geschichte von solchen erworben werden kann. Man sieht Aufgaben von solcher Größe vor sich, daß man keinen anderen Wunsch empfinden kann als den, solange auf Erden sich wiederverkörpern zu dürfen, bis man diese vollendet haben wird. Man ist sich aber dessen bewußt, daß man diese Aufgaben nur in dem Maße zu erfüllen vermag, als man in seiner Seele die Verbindung findet mit der göttlichen Wesenheit, die durch ihre Menschwerdung und ihre vorbildhafte Besiegung des Todes erst den Keim der Auferstehung in die Menschheitsentwicklung hineingepflanzt hat.

   Damit lenkt sich der Blick schließlich auch noch auf den Fortgang, welchen die Entwicklung der christlichen Heilsbotschaft selbst durch die Erringung der (S175) modernen Reinkarnationserkenntnis erfährt. Indem durch sie erfahren wird, daß die Unvergänglichkeit, die dem Menschenwesenskern zukommt, nicht in der Form einer bloßen Fortdauer desselben nach dem Tode in einem ewigen Dasein himmlischer Seligkeit dargelebt wird, bzw. in einem zunächst rein geistigen Himmelsdasein, das schließlich am Jüngsten Tage durch eine rätselhafte Wiedererweckung des Leibes zu einem auch leiblichen Ewigkeitsdasein erhöht wird, sondern vielmehr in der Weise, daß das, was den Menschen an geistig-moralischen Lebenserträgnissen nach dem Tode in die göttlich-geistige Welt hinaufträgt, ihn wieder ins Erdendasein hinunterführt, um dort, in erhöhte Fähigkeiten umgewandelt, ihm eine weitere Durchgeistigung der naturhaft-leiblichen Kräfte zu ermöglichen, und daß dieser von irdischem und himmlischem Dasein so lange fortdauert, bis alles Natürliche in Geistiges, alles Vergängliche in Unvergängliches umgewandelt sein wird, - schließt sich die Kluft zwischen dem Erstreben des persönlichen Heils des Einzelnen nach dem Tode und dem Erhoffen dessen, was der ganzen Menschheit für den Jüngsten Tag verheißen ist. Die individuelle Daseinsvollendung erweist sich in diejenige der Menschheit verschlungen, wie sie sich stufenweise im Gang der Geschichte erfüllt, - und die Auferstehung verliert das unbegreiflich Mirakulöse und enthüllt sich als der wesenhafte innere Prozeß, der sich in der Geschichte seit ihrer Mitte vollzieht.

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