Hans Erhard Lauer
Die Entwicklungsstufen Der Menschlichen Gesellschaft
1. Die Gesellschaft als sozialer Organismus
S7 Zu den hauptsächlichsten Problemen, die der Menschheit in unserem Jahrhundert zur Lösung aufgegeben sind, gehört dasjenige, das man in der Bezeichnung der "sozialen Frage" zusammenzufassen pflegt. Sie beinhaltet nichts Geringeres als eine tiefgreifende Umgestaltung der gegenwärtigen Form der menschlichen Gesellschaft. Denn diese hat in den verschiedenen Abwandlungen, in denen sie sich in den verschiedenen Teilen der Erde ausgebildet hat, eine Fülle von Problemen entstehen lassen, die sich, wie die Gegenwartsverhältnisse genugsam erweisen, aus ihr selbst heraus nicht mehr lösen lassen. Vermöchte sie nicht in absehbarer Zeit eine Metamorphose zu erfahren, so wäre sie und mit ihr die Menschheit zum Verfall, ja zum Untergang verurteilt. Unter den vielen Vorschlägen, die seit dem Beginn unseres Jahrhunderts für die notwendig gewordene Umbildung der Gesellschaft theoretisch und praktisch verfochten wurden, ist einer der am wenigsten bekannt gewordenen oder am meisten vergessenen die Idee der "Dreigliederung des sozialen Organismus", die von Rudolf Steiner aus seinen Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten der uns tragenden geistigen Welt heraus in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Wort und Schrift vertreten wurde und für deren Verwirklichung er damals eine Volksbewegung ins Leben zu rufen versuchte.
Wenn jener erste erste Versuch ihrer Verwirklichung auch an den Widerständen scheiterte, die sich ihm entgegenstellten, so hat sie damit ihre Bedeutung doch keineswegs verloren. Sie hat vielmehr in der unmittelbaren Gegenwart erneute Aktualität erlangt - eine Aktualität von noch höherem Grade, als sie sie damals besaß. Aus diesem Grunde soll im folgenden versucht werden, von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, der sich freilich nur als einer unter vielen anderen S8 möglichen versteht, einen Beitrag zum Verständnis dieser Idee zu liefern. Es liegt im Wesen der Sache begründet, daß dieser Beitrag zugleich ein solcher sein wird zum Verständnis der gesellschaftlichen Gegenwartsforderungen überhaupt.
Wie schon in der Bezeichnung der genannten Idee zum Ausdrucke kam, lag ihr die Auffassung zugrunde, daß die menschliche Gesellschaft ein Organismus, das heißt: ein Lebewesen, sei. Damit ist auch schon der Grund genannt, warum sie von der breiten Masse der Zeitgenossenschaft nicht verstanden wurde und auch heute noch nicht verstanden wird. Denn schon damals wurde die Gesellschaftswissenschaft - wie übrigens auch die anderen Kulturwissenschaften - methodisch durch die in unserem Zeitalter beherrschend gewordene Form der Naturwissenschaft bestimmt, und sie ist es heute noch in viel höherem Grade. Diese Form kennzeichnet sich dadurch, daß die exakten Wissenschaften: Physik und Chemie, das heißt die Wissenschaften vom Anorganischen, zu den methodischen Modellen aller wissenschaftlichen Forschung geworden sind. Da diese Wissenschaften ihre Methoden: Sinnesbeobachtung, Experiment, rein quantitativ-mathematische begriffliche Verarbeitung am Wesen des Anorganischen ausbildeten, läßt sich mit diesen auch nur das Anorganische verstehen. Die Ausdehnung dieser Methoden auch auf andere Gebiete der Forschung hatte zur Folge, daß Newton seine astronomische Theorie zur "Himmelsmechanik" ausgestaltete, für welche die Sternenwelt ein von Gott konstruiertes und in Bewegung gesetztes mechanisches Uhrwerk darstellt - daß Descartes Pflanzen und Tiere als "Maschinen" bezeichnete - und daß im 18. Jahrhundert De la Mettrie in seinem bekannten Buche "L'homme machine" auch den Menschen für eine bloße Maschine erklärte. Für diese Auffassung gibt es in der Welt überhaupt nur Anorganisches, - und was uns als Lebendiges erscheint, ist ihr zufolge nur ein komplizierter gebautes und funktionierendes Totes - wodurch dann allerdings die bis heute noch nicht gelöste Frage entsteht, aus welcher Ursache und auf welche Weise diese komplizierteren Strukturen entstanden sind.
Von den Eigenschaften nun, die das Anorganische charakterisieren, seien hier nur drei hauptsächlichste angeführt: Eine erste ist diese, S9 daß alles Tote, das heißt zum Leichnam Gewordene, in Verwesung übergeht, verwittert, zerbröckelt, das heißt sich in seine Teile auflöst. Dieser Prozeß vollzieht sich bei den verschiedenen Substanzen freilich in sehr verschiedenem Tempo, je nach ihrer inneren Beschaffenheit und den von außen einwirkenden Umständen. In dieser Sachlage ist es begründet, daß die Wissenschaften vom Anorganischen den Atomismus ausgebildet haben, das heißt die Auffassung, daß die Materie aus kleinsten, unteilbaren "Bausteinen" zusammengesetzt sei. Bis in unser Jahrhundert herein wurden als solche die Atome aufgefaßt - inzwischen wurden auch diese in noch kleinere Teile zerspalten: die "Elementarteilchen", und man ist seither auf der Suche nach immer weiteren Arten von solchen. Zum zweiten steht das Anorganische so in der Zeit drinnen, daß ein Früheres als Ursache gemäß einer je bestimmten Gesetzmäßigkeit ein Späteres zur Folge hat, dieses in derselben Art ein noch späteres usw. Diese Gesetzmäßigkeit wird durch den Begriff der Kausalität erfaßt, der deshalb zu den Grundbegriffen der exakten Wissenschaften gehört. Kennte jemand - so behauptete der berühmte Astronom Laplace - alle Weltverhältnisse eines bestimmten Zeitpunktes, so könnte er gemäß den ihnen entsprechenden Formen dieses Gesetzes den ganzen weiteren Ablauf des Weltgeschehens vorausberechnen.
Zum dritten wohnt dem Anorganischen - wegen des Zerfallsprozesses, in dem es sich befindet - die Tendenz inne, jede zunächst vorhandene Form aufzulösen, das heißt, ins Formlose, Amorphe überzugehen. Aus diesem Grunde kennen die exakten Wissenschaften höchstens Struktur-, aber keine Gestaltbegriffe, sondern bringen die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die Prozesse des Anorganischen vollziehen, in Form von bildlosen mathematisch-algebraischen Gleichungen zum Ausdruck.
Was macht all dem gegenüber nun das Wesen des Organisch-Lebendigen aus? Auch davon sei hier nur ein Dreifaches hervorgehoben: Fürs erste ist jeder Organismus ein Ganzes, das sich freilich im Lauf seines Lebens in bestimmte Teile oder Organe gliedert. Jedes der S10 letzteren ist aber in seiner Beschaffenheit durch das Ganze des Organismus bedingt und kann deshalb nur aus einer Ganzheitsbetrachtung desselben verstanden werden. Schon Aristoteles formulierte für das Lebendige den Satz: Das Ganze ist vor den Teilen. Und dieser ist durch den anderen zu ergänzen: das Ganze ist mehr als nur die Summe seiner Teile.
Zum zweiten lebt alles Organische so in der Zeit, daß es nicht allein durch eine von der Vergangenheit zur Zukunft sich bewegende Wirkensweise bestimmt wird, sondern gleichzeitig auch durch eine solche, die in umgekehrter Richtung verläuft. Das Zusammenwirken beider erzeugt eine Daseinsform, die sich in sich wiederholenden Rhythmen bewegt: von Entstehen und Vergehen, Jugend und Alter, Geburt und Tod, kurz: von Folgen sich fortpflanzender Generationen. Das Lebendige kann deshalb nicht mittels des Kausalbegriffes verstanden werden, wie er für das Anorganische gilt, sondern nur von seinen Daseinsrhythmen her.
Zum dritten stellt das jeweilige Ganze, das durch diese Rhythmen hindurchgeht, immer eine bestimmte Gestalt dar, die sich in diesem Hindurchgang bildet, umwandelt, wieder auflöst, neu bildet usw. Es bedeuten diese Rhythmen deshalb einen ständigen Gestaltwandel (Metamorphose), der nur aus einem entsprechenden Gestaltbegriff heraus verstanden werden kann.
Das Lebendige fordert zu seinem Verständnis also eine Erkenntnismethode beziehungsweise Denkweise, die sich in Gestaltbegriffen bewegt, welche ein jeweils Ganzes repräsentieren, das im Hindurchgang durch die bezeichneten Daseinsrhythmen sich in stetiger Wandlung befindet.
Gibt es heute eine solche Erkenntnismethode? Sie ist im Laufe der neueren Zeit einzig und allein von Goethe entwickelt worden, und zwar zunächst für den reinsten Repräsentanten des Lebendigen: die Pflanzenwelt - in seiner Lehre von der Metamorphose der S11 Pflanzen. Die Grundlage dieser Lehre und dieser Erkenntnisart bildet der Begriff der "Urpflanze", des Urbildes aller pflanzlichen Gestalten, in einer anderen Abwandlung in Erscheinung tritt. Dieses Urbild ist aber kein starres, sondern ein in den Lebensrhythmen der Pflanze sich wandelndes und beinhaltet zugleich das Gesetz dieser seiner Metamorphose. Und es repräsentiert schließlich immer das Ganze der Pflanze und erklärt als solches alle die einzelnen Teile, in welche sich dieses sich gliedert.
Es war nun gerade Rudolf Steiner, der in seinen Schriften über Goethes Naturforschung aus den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, durch die er zuerst in der literarischen Öffentlichkeit bekannt wurde, diese organologische Forschungsmethode erstmals erkenntnistheoretisch begründet und gerechtfertigt hat. In einer dieser Schriften bezeichnete er Goethe deshalb als den "Kopernikus und Kepler der organischen Welt", das heißt als denjenigen, dessen Leistung für die Wissenschaft vom Organischen dieselbe grundlegende Bedeutung zukommt wie den Leistungen der beiden Astronomen für die wissenschaftliche Erforschung der Sternenwelt.
Wenn nun Rudolf Steiner später im Zusammenhang mit der Idee der sozialen Dreigliederung die menschliche Gesellschaft als "sozialen Organismus" bezeichnet hat, so darf darum wohl angenommen werden, daß dies darin seinen Grund hatte, daß er Goethes organologische Erkenntnisart auf die Erforschung der Gesellschaft angewandt hatte und dadurch zur Idee ihrer Dreigliederung geführt worden war. Freilich handelte es sich hierbei keineswegs etwa um eine bloß schematische Übertragung derselben auf dieses Gebiet. Denn inzwischen hatte Rudolf Steiner ja seit der Jahrhundertwende als seine eigenste und eigentlichste Lebensleistung die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft als spezifische "Wissenschaft vom Menschen" begründet, indem er zur organologischen Forschungsmethode Goethes in analoger Art dem Wesen des Seelischen und des Geistigen entsprechende, noch höhere (psychologische und pneumatologische) Erkenntnisformen hinzuentwickelte. Zu den Inhalten dieser Wissenschaft vom Menschen S12 gehörte darum wesentlich die scharfe - von der neueren Naturwissenschaft und Anthropologie immer mehr verwischte - Unterscheidung der verschiedenen Reiche des Anorganischen, des Organisch-Lebendigen, des Tierischen und des Menschlichen. Wenn er in seiner Gesellschaftswissenschaft als einem Teilgebiet dieser "Wissenschaft vom Menschen" für die Gesellschaft in analoger Art, wie Goethe es für die Pflanzenwelt mit der Idee der "Urpflanze" getan hatte, ein Urbild statuierte, so konnte dieses darum kein anderes sein als das Urbild des Menschen überhaupt - nicht in der Form, wie es im einzelnen Menschen, sondern in derjenigen, in der es in der menschlichen Gesellschaft zur Erscheinung kommt. Dieses Urbild hatte er schon in seinem 1904 erschienenen grundlegenden anthroposophischen Werke "Theosophie" als das des in die Dreiheit von Leib, Seele und Geist sich gliedernden Wesens gezeichnet. In seinem 1917 erschienenen Buche "Von Seelenrätseln" skizzierte er dann erstmals, wie dieses Urbild des Menschen schlechthin sich speziell im Leibe des einzelnen Menschen, insofern er einen Organismus darstellt, abbildet in dessen physiologischer Dreigliederung in das Sinnes-Nerven-System, das rhythmische System und das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System. Und im selben Jahr, zunächst in Form zweier Memoranden, die er zu Händen der damaligen deutschen und österreichischen Regierung verfaßte, wies er auch auf, wie dieses Urbild in der menschlichen Gesellschaft als sozialem Organismus sich abbildet in jener Dreiheit von Bereichen derselben, die auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe sich darstellen als das geistig-kulturelle, das rechtlich-staatliche und das wirtschaftliche Leben. Auch in der physiologischen und in der sozialen Dreigliederung kommt somit zum Ausdruck, was den Menschen von den Reichen des Pflanzlichen und des Tierischen unterscheidet. Bezüglich der Pflanze hatte bereits Goethe aufgewiesen, daß sie dem Wesen nach nur einziges Organ besitzt, das er als "Blatt" bezeichnete. Alles, was wir an der Pflanze wahrnehmen, als Wurzel, Stengel, Laubblatt, Blütenblatt, Frucht usw., sind nur verschiedene Metamorphosen dieses Organs, welches mit dem Wesen der Pflanze identisch ist. Der tierischen Leiblichkeit dagegen, selbstverständlich bei jeder Tierart in anderer Abwandlung, liegt als S13 Strukturprinzip eine Polarität zugrunde, welche als die von Vorne und Hinten, von Kopf und Schwanz, vom Sinnes- un d Bewegungs- beziehungsweise Genitalsystem gekennzeichnet werden kann. Der menschliche Leib schießlich gliedert sich seiner physiologischen Struktur nach in die oben genannte Dreiheit von Systemen.
Zu diesem Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen kommt noch derjenige hinzu, der hinsichtlich seines Verhältnisses zur Zeit besteht. Zwar ist auch das menschliche Leben durch die zwei gegensätzlichen Wirkensweisen bestimmt, die von der Vergangenheit zur Zukunft und umgekehrt verlaufen. Insofern finden auch hier rhythmische Wiederholungen statt. Diese sind hier aber einem höheren Prinzip zeitlicher Struktur unter- beziehungsweise eingeordnet. Es ist nämlich der Gang sowohl der einzelnen menschlichen Individualität - für die sich der anthroposophischen Forschung Steiners das Gesetz der Wiederverkörperung enthüllte - als auch der Menschheit als menschlicher Gesellschaft durch die Zeit ein einmaliger, einziger. Er kommt zum Ausdruck in ihrer geschichtlichen Daseinsform, durch die sich der Mensch von den geschichtslos in stetiger Wiederholung des Gleichen lebenden Naturwesen unterscheidet. Die Geschichte der Menschheit wie auf der Entwicklungsgang der menschlichen Individualität setzen sich, von diesem höheren Prinzip ihres Daseins aus betrachtet, aus lauter einmaligen Geschehnissen zusammen. Des weiteren ergab sich für Steiner aus seiner menschenwissenschaftlichen Forschung, daß die Zeit, durch welche das menschliche Wesen sich hindurchbewegt, eine Mitte hat und dadurch das, was vor und was nach dieser liegt, das heißt Vergangenheit und Zukunft, in einem symmetrischen Verhältnis zueinander stehen.
Es ist daher zwar jede Gestalt, welche das Urbild der Gesellschaft im geschichtlichen Prozeß seine Metamorphosen annimmt, in S14 einem höheren Sinne verstanden, eine einmalige, sich nicht wiederholende; doch steht jede dieser Gestalten zu einer anderen, die gleich weit auf der entgegengesetzten Seite von der Mitte der sie umfassenden Zeit entfernt ist, in einer spiegelbildlichen Beziehung. Wer im Lichte des dreigliedrigen Urbildes der Gesellschaft ihre geschichtlichen Metamorphosen zu erfassen vermag, für den stellt sich deshalb, weil dieser Wandlungsprozeß ein einmaliger ist und seinen Abschluß noch nicht erreicht hat, fürs erste deutlich heraus, an welcher Stelle desselben wir in der Gegenwart stehen und welches die gegenwärtige Erscheinungsform desselben ist. Zum zweiten zeigt sich - wegen des Symmetrie-Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Zukunft -, welche Form dieses Urbild in der noch vor uns liegenden Zukunft gemäß dem Gesetz seiner Entwicklung annehmen will beziehungsweise wird annehmen müssen. Was seit dem ersten Auftreten der Dreigliederungsidee durch Rudolf Steiner üblicherweise als "soziale Dreigliederung" bezeichnet wird, meint diese Zukunftsform des dreigliedrigen sozialen Organismus. Diese ist aber wohl zu unterscheiden von dem Urbild des dreigliedrigen sozialen Organismus, das für alle Zeiten der Geschichte, das heißt für alle Erscheinungsformen desselben, gültig ist und nur im Geiste als Idee erfaßt werden kann.
Nach diesen methodischen Vorbemerkungen sollen nun die verschiedenen Entwicklungsgestalten der Reihe nach skizziert werden, welche die menschliche Gesellschaft seit ihrer "Geburt" im bisherigen Verlauf der Geschichte nacheinander angenommen hat.
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