Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Die Weisheit des Unbewußten in der Traumsymbolik

  Wer hätte noch nicht das reizvolle Spiel beim Einschlafen beobachtet, wenn die logischen Gedankenverbindungen sich zu lösen beginnen und jede Vorstellung ihren eigenen Weg geht, wobei oft humorvolle, oft groteske Assoziationen entstehen? Statt der durch das Gehirn bewirkten Ordnung unserer Begriffe, das als physisches Werkzeug unserer Gedanken ihnen die Logik eingeprägt und sie in Schach hält, entsteht ein Chaos von unzusammenhängenden Vorstellungen, Erinnerungsfetzen und seltsamen Einfällen. Eine Vorstellung löst sich von der anderen, wird selbständig und plustert sich auf, wobei oft lang vergessene Erinnerungen an Menschen, Landschaften, Erlebnisse aus den Seelentiefen auftauchen. Wenn es uns gelingt, uns in diesem bizarren Spiel wach zu halten, so können wir Zeuge werden des nächsten Stadiums im Einschlafprozeß. Denn jetzt beginnt ein verborgener Protheus sein Werk: Er schafft aus dem Chaos eine neue Ordnung, eine Ordnung, die nicht mehr von der Logik der Begriffe abhängig ist, sondern allein der Logik des Traumes folgt.

  Diese Traumlogik ist großzügiger als die Logik der Begriffe. Sie webt in mannigfachen Bildern ein buntes Gewebe, das in sich selbst vollkommen logisch erscheint, doch mit der Erdenlogik nichts zu tun hat. Denn sie offenbart sich in der Sprache der Symbolik, die völlig souverän alle kleinlichen Bedenken überspielt, da in ihrem Reich eine höhere Ordnung herrscht.

  So kann man drei Stufen beobachten, die den Einschlafprozeß begleiten:

1.Stufe: die Verstandeslogik des Gehirns.

2.Stufe: die sich auflösenden Begriffe und Vorstellungen, die ihre eigenen Wege gehen (Chaos).

3.Stufe: die neue Logik der Bildersymbolik, die das Chaos zu einer höheren Einheit zusammenfügt.

  Hier entsteht die Frage: Woher schafft der Traum seine symbolischen Bilder? Welche verborgene Gesetzmäßigkeit liegt seiner Sprache zugrunde? Beziehen sie sich auf eine höhere Ordnung, oder stellen sie nur chaotische Bruchteile unserer Erinnerung dar? -

  Wir träumen nur beim Einschlafen und beim Aufwachen. Der tiefe Schlaf ist traumlos. Die Verstandeslogik des Gehirns geht in dem Augenblick in die Traumlogik der Symbole über, wenn sich das Seelisch-Geistige als Träger unseres Bewußtseins vom physischen Leib und den ätherischen Bildekräften löst, welche die Träger der Erinnerungsbilder (Gedächtnis) sind. Dadurch, daß der Mensch im Schlafe aus einer Einheit eine Zweiheit wird, weht beim Einschlafen das sich lösende Seelisch-Geistige (Astralleib und Ich) auf dem zurückbleibenden physischen Leib und Lebensleib, und dieses Ineinanderweben erzeugt die so bunte und schwerelose Bilderwelt des Traumes. Die Elemente des Traumes stammen aus den Reminiszenzen unserer Tageserlebnisse<; die Art der Verbindung, das Wie des geheimnisvollen Spiels der Bilder, ist die eigene Schöpfung des Traumes, der alles zu einer symbolischen Märchenwelt zusammenschließt.

  Doch der Traum offenbart sich auf verschiedenen Stufen. Neben willkürlichen Erinnerungsfetzen enthüllt er seine tiefere Weisheit in den sogenannten prophetischen Träumen oder Warnungsträumen, die sich ebenfalls in symbolischen Bildern und Zeichen kundtun und den Träumer auf bevorstehende Ereignisse seines Lebens hinweisen. Manche dieser Symbole scheinen auch heute noch aktuell zu sein: Der Mensch träumt, daß er seine Zähne verliere oder auch seine Fingernägel, und er verliert nach einiger Zeit durch den Tod oder durch das Schicksal einen teuren Lebenskameraden. Bei wirklich einschneidenden Lebenswenden, seien es von innen bedingte Schicksalskrisen, seien es eingreifende äußere Veränderungen, wird man bei einiger Aufmerksamkeit derartige >Initialträume<, wie sie C.G.Jung nennt, bei sich entdecken können, da sie den Träumenden aufrufen, das in seinen Seelentiefen schlummernde >Unbewußte< sich zu assimilieren, und so auf einen Neubeginn in seinem Leben hinweisen.

  C.G.Jung fand nun in einer größeren Reihe von solchen Träumen (es handelt sich um eine Traumserie von über 1000 Träumen, die er >bearbeitete<, daß gewisse grundlegende Motive darin immer wiederkehren, die eine deutliche Beziehung zur Symbolik der Alchimisten aufweisen. Diese Verwandtschaft kommt aus dem Bildmaterial in seinem Buche >Psychologie und Alchimie< überzeugend zum Ausdruck. Obwohl der Träumer (es handelt sich um einen gebildeten jungen Mann) sich mit diesem Gebiet nicht befaßt hatte, spricht sich die Weisheit seines Unterbewußtseins in dieser alchimistischen Symbolik aus. Bevor wir auf das Rätsel des sogenannten >Unterbewußtseins< eingehen, seien einige dieser Traumsymbole hier wiedergegeben, da sie ein gutes Anschauungsmaterial liefern.

>1.Traum: Der Träumer ist in einer Gesellschaft, wo er sich beim Abschied statt des seinigen einen fremden Hut aufsetzt.

Kommentar: Der Hut als das den Kopf Bedeckende hat im allgemeinen die Bedeutung des den Kopf Einnehmenden. Wie man bei der Subsumtion >alle Begriffe unter einen Hut< bringt, so überdeckt der Hut wie eine Obervorstellung die ganze Persönlichkeit und teilt dieser ihre Bedeutung mit. Die Krönung erteilt dem Herrscher die göttliche Sonnennatur, der Doktorhut die Gelehrtenwürde, ein fremder Hut eine fremde Natur. Meyrink verwendet dieses Motiv im >Golem<, wo der Held den Hut des Athanasius Pernath aufsetzt und infolgedessen in ein fremdes Erleben versetzt wird.<

So deutet dieser Traum auf den Beginn eines neuen Erlebens, wodurch der Träumende in einen fremden Bereich eingeführt wird. Es ist das Hervortreten des verborgenen Unbewußten, was sich darin ankündigt.

>2.Traum: Fährt in der Eisenbahn, und indem er sich breit vor das Fenster stellt, versperrt er den Mitreisenden die Aussicht. Er muß sie ihnen freigeben.

Kommentar: Der Prozeß ist in Bewegung gekommen, und der Träumer entdeckt, daß er den hinter ihm Stehenden, nämlich den unbewußten Komponenten seiner Persönlichkeit, das Licht wegnimmt. Hinten haben wir keine Augen; infolgedessen ist >hinten< die Region des Unsichtbaren, d.h. des Unbewußten. Gibt der Träumer den Weg zum Fenster, d.h. zum Bewußtsein, frei, dann wird der unbewußte Inhalt bewußt.<

>3.Traum: An der Meeresküste. Das Meer bricht, alles überflutend, ins Land herein. Dann sitzt er auf einer einsamen Insel.

Kommentar: Das Meer ist das Symbol des kollektiven Unbewußten, weil es unter spiegelnder Oberfläche ungeahnte Tiefen verbirgt. Die hinter ihm Stehenden, die schattenhafte Personifikation des Unbewußten, sind wie eine Flut in die Terrafirma des Bewußtseins eingebrochen. Solche Einbrüche sind unheimlich, weil irrational und dem Betroffenen unerklärlich... Es ist etwas, >das man niemandem sagen kann<. Man fürchtet, der geistigen Abnormität geziehen zu werden; mit einem gewissen Recht, weil bei Geisteskranken ja ganz Ähnliches passiert. Immerhin ist es noch ein weiter Weg von einem intuitiv erfaßten Einbruch bis zur pathologischen Überwältigung, aber ein Laie weiß das nicht...<

  Der nächste Traum führt ihn nun um eine Stufe weiter in das fragwürdige Unterbewußte: >Er ist umgeben von vielen unbestimmten Frauengestalten. Eine Stimme sagt ihm: Ich muß erst weg vom Vater.<

Die >Seele erscheint oft in den Träumen in weiblicher Gestalt als eine wegweisende Führerin. So erlebte sie auch William Blake, der in seinen Illustrationen zu Dantes 'Göttlicher Komödie' obiges Aquarell schuf (Jung: Psychologie und Alchimie, Rascher Verlag Zürich


 Hier also macht sich der Gegensatz zwischen dem weiblichen Unterbewußten und dem als männlich erlebten Oberbewußtsein geltend. >Die traditionelle männliche Welt mit ihrem Intellektualismus und Rationalismus macht sich als Hindernis bemerkbar, woraus man schließen muß´, daß das Unbewußte, welches an ihn herantritt, in bedeutendem Gegensatz zu den Tendenzen seines Bewußtseins steht und daß der Träumer trotz diesem Gegensatz eine beträchtliche Neigung zur Seite des Unbewußten hat.<

  Dieser Gegensatz liegt in der intellektuellen Entwicklung begründet, wodurch sich der Mensch von den ursprünglichen mütterlichen Kräften gelöst hat. Dadurch klafft hier ein Gegensatz, der, wenn er unvermittelt auftritt, einen >panischen Schrecken< erzeugt. >Das Unbewußte als ein passives Objekt zu analysieren hat für den Intellekt nichts Bedenkliches; im Gegenteil entspräche eine solche Tätigkeit der rationalen Erwartung. Das Unbewußte aber geschehen zu lassen und es erleben wie eine Wirklichkeit, das übersteigt Mut sowohl wie Können des Durchschnittseuropäers... Für die Schwachen im Geist ist es auch besser so; denn dieses Ding ist nicht ungefährlich.<

  Die Reise in die verborgenen Seelentiefen offenbaren nun die folgenden Träume: eine Schlange beschreibt einen Kreis um den Träumer, der wie am Boden festgewachsen steht: <Daß der Träumer angewurzelt in der Mitte steht, ist eine Kompensation seines fast unüberwindlichen Dranges, vor dem Unbewußten davonzulaufen. Er hat nach dieser Vision ein angenehmes Gefühl der Erleichterung.< In diesem Bild kündigt sich schon das Mandala-Symbol an, auf das wir noch zu sprechen kommen. Nachdem die verhüllte Frauengestalt sich entschleiert hat, tritt im folgenden Traumbild das rosenkreuzerische Symbol der Regenbogenbrücke auf, der >Mercurius als Anthropos<, der mit seinen drei Häuptern auf dem Regenbogen thront, während ein vom Hasen

Der Mensch muß erst die Binde vor seinen Augen ablegen, bevor der neue Mensch geboren werden kann (Jung: Psychologie und Alchimie. Rascher Verlag, Zürich, S92).

geführter Mensch mit verbundenen Augen unter dem Regenbogen hindurchschreitet. Der Kommentar von Jung ist hier nicht ausreichend, wenn er sagt, daß nur Götter die Regenbogenbrücke beschreiten können, während Sterbliche dabei zu Tode fallen. Daß der blinde Mensch von einem Hasen geführt wird, deutet auf die wichtige Rosenkreuzersymbolik hin, nach welcher der Hase das Sinnbild der Wachsamkeit ist und oftmals direkt für das Wesen der Alchimie gebraucht wird. Wer blind am Hasen vorübergeht, der findet den Weg nicht zum >Berg des Adepten<, auf dem der neue Mercurius geboren wird. Diesen Weg hat der Träumende unbewußt eingeschlagen: das Symbol des Hasen sagt ihm, daß er noch im finsteren tappt und daß erst die Binde fallen muß, bis er sein Ziel erreichen kann.

  Um zu diesen Quellen vorzudringen, muß er den Weg erst ins Kinderland finden: >Die Quelle kann nicht aufgefunden werden, wenn sich das Bewußtsein nicht dazu bequemt, ins >Kinderland< zurückzukehren, um dort wie früher die Weisungen vom Unbewußten zu empfangen.< Daher führt ihn der nächsteTraum ins Kinderland. Dort wird ihm der Weg geöffnet zu den Wassern der Wiedergeburt: >Die Mutter gießt Wasser von einem Becken ins andere<... >Dann wird der Träumer vom Vater verstoßen.< - Fazit: >Das Wasser, welches die Mutter, das Unbewußte, in das Becken der Anima gießt, ist ein treffliches Symbol für das Lebendige des seelischen Wesens. Die alten Alchimisten wurden nicht müde, ausdrucksvolle Symbole dafür zu ersinnen.<

Im Totenskelett erlebte der Erkenntnis Suchende sein vergängliches Wesen, während die feuerstrahlende Kugel auf das Unvergängliche weist (Jung: Psychologie und Alchimie. Rascher Verlag, Zürich, Seite 131)

  Die Traumserie mündet zuletzt in das Bild eines Totenkopfes, der sich dann in eine rote Kugel verwandelt. Dieses Symbol entspricht einem wichtigen Erlebnis auf dem Rosenkreuzerweg, wie es in dem Totenskelett wiedergegeben ist, das auf einer feuerstrahlenden Kugel steht. Es tritt dann ein, wenn der Schüler auf diesem Wege die Erleuchtung erlebt, wodurch die Dinge ihr geistiges Wesen in Flammenschrift offenbaren. Er erschaut seinen Leib von außen als Totengerippe, da sein vergängliches Wesen (im Raben symbolisiert) dem Tode verfallen ist. Erst, wenn er sein intellektuelles Denken überwindet, kann ihm die geistige Sonne aufgehen, welche die Erde durchstrahlt. Diese Umwandlung wird im Symbol des >Wilden Mannes< erlebt, der ihn bedroht und den er erst bemeistern muß. Darauf erklärt eine Stimme: >Es muß alles vom Licht regiert werden!< - Hiermit endet die erste Traumserie. 

Die noch ungebändigten Seelenkräfte des Menschen treten ihm im Bilde des >wilden Mannes< entgegen. Er muß bekämpft und gezähmt werden, wenn das eigentlich Menschliche sich entfalten soll (Jung: Psychologie und Alchimie, Rascher Verlag Zürich, S133)

 

 

Die Tempellegende: der Kern der Rosenkreuzersymbolik  

  Ist der Stein der Weisen das geheime Ziel der Alchimisten gewesen, wovon die Goldmacherkunst und alle damit verwandten Metallverwandlungen zum Teil nur eine geschickte Tarnung darstellen, um den kirchlichen Behörden zu entgehen, die sie zu täuschen wußten, so bildet die Tempellegende den esoterischen Kern der Rosenkreuzersymbolik, die später in die Freimaurerei übergegangen ist, wie so vieles alte Wissen des Abendlandes und des Vorderen Orients in das Sammelbecken des Freimaurertums eingeflossen ist.

  Noch vor einigen Jahrzehnten wäre es unangebracht gewesen, über die esoterischen Hintergründe dieser Legende etwas zu veröffentlichen, ohne damit Anstoß zu erregen. Auch darin drückt sich der Wandel der Zeit aus, daß die Freimaurer selbst ihre Tore heute öffnen und um neue Mitglieder werben und in jedem Handbuch der Freimaurerlogen die bis dahin streng geheim gehaltenen Riten und Symbole veröffentlicht werden. Das gleiche gilt auf anderen Gebieten der okkulten Überlieferung. Da allerdings für die meisten dieser esoterischen Schätze die allgemein menschliche Grundlage fehlt, um ihre veredelnden Wirkungen auf weitere Kreise auszuüben, so führen sie in okkulten Zirkeln und Vereinigungen (gibt es heute doch an die 50 Rosenkreuzer-Vereinigungen und -Orden!) ein von der allgemeinen Zeitbildung getrenntes, fragwürdiges Dasein.

  Der erste große Veröffentlicher der antiken Mysterien ist der Christus Jesus. Und es liegt im Wesen des Christusimpulses, daß dem Rosenkreuzertum die Aufgabe zufiel, die bis dahin geheimgehaltene Mysterienweisheit in die allgemeine Menschheitskultur einfließen zu lassen. Dies zeigte sich gerade an der Tempellegende. Ihre menschheitliche Bedeutung erfaßt man am besten, wenn man sich zwei Strömungen vors Auge stellt, die bis zur Zeitenwende getrennt voneinander gehen und die sich durch den Christusimpuls zu einer höheren Einheit verbinden sollen. Die eine hat das Bestreben, das aus der Urweisheit Überlieferte zu bewahren, so daß es in der Befolgung von Sitte und Gesetz der Menschheit erhalten bleibt. Es ist die Priesterströmung, wie sie sich im Alten Testament zu ihrer Höhe entwickelte. Die andere Strömung ist dem prometheischen Impuls verwandt, indem sie die Zukunft durch aktives Eingreifen in die Erdengeschicke vorbereiten will.

  In den Mythos von Kain und Abel, den wir schon im ersten Kapitel erwähnten, sind diese beiden Strömungen in ihrer Urbildlichkeit dargestellt (1.Buch Moses). Abel, der Hirte, konserviert die alte Welt, er weidet die Herde, während Kain, der Ackerbauer, die Erde umwandelt, um den Acker der Zukunft zu bestellen. Dem blutigen Tieropfer des Abel stellt er das unblutige Früchteopfer entgegen als prophetisches Zeichen, das sich erst in einer späteren Zukunft erfüllen soll. Schon daraus geht hervor, daß beide Brüder einer verschiedenen Weltenordnung angehören: Kain der Sonnenordnung, Abel dem Monde.

  Die Bibel deutet in verschwiegener Art auf diese Gegensätzlichkeit, wenn es heißt, daß Kain nicht von Adam, sondern von Jehova selbst gezeugt worden ist: >Zum Manne erworben habe ich mir Jahwe< (1.Mos.4,1), was gewöhnlich übersetzt wird: > Ich habe einen Mann gewonnen mit dem Herrn<, da man mit dem rätselhaften Wort heute nichts mehr anfangen kann (15. Albert Steffen: Hieram und Salomo (Drama). Verlag für Schöne Wissenschaften Dornach). Kain ist also der letzte Sproß der vor der Geschlechtertrennung hermaphroditischen Zeugung, von der wir bereits gesprochen haben (16. Gerhard Wehr: Der androgyne Mensch. Die Kommenden Freiburg i.Br.).

  Dies spricht der Anfang der Tempellegende, die heute noch den Kern der Freimaurersymbolik bildet, aus: Sie sagt, daß Heva, die Urmutter alles Lebendigen, sich mit einem der sieben Elohim, den Schöpfergeistern der Sonne, verband und daß aus dieser Verbindung Kain hervorging, während der später geborene Abel der Sohn von Adam und Eva ist und daher schon der geschlechtlichen Zeugung als Erdenmensch entstammt. Hierin enthüllt sich der Gegensatz der beiden Brüder. Kain, der der alten Sonnenordnung noch angehört, ist der magische Mensch, der magische Willenskräfte in sich trägt, doch die Gesetze von Gut und Böse noch nicht kennt, da er nicht durch den Sündenfall gegangen ist. Abel hingegen ist der erste religiöse Mensch, der durch sein Opfer die Religio als Wiederverbindung mit der Gottheit anstrebt. Dadurch wird der Brudermord aus eine bloß menschlichen Sphäre in eine menschheitliche Höhe gehoben und muß von dieser verstanden und beurteilt werden. Die magische Willenskraft Kains will die alte Weltordnung durchsetzen, obwohl die Menschheitsführung bereits übergegangen ist an die Mondenordnung des Jahwe. So tötet der prometheische Blitz aus Kains Brust den schwächeren Abel.

  >Die Tragik, auf die Kain stößt, enthüllt sich um so mehr, je mehr man darauf aufmerksam wird, daß durch Kains unzeitgemäß gewordene Gaben dennoch ein wichtiger Fortschritt des kulturellen Lebens zum Ausdruck kommt. Kain ist gerade durch seine Zugehörigkeit zu einem bereits versunkenen Weltzustand der schöpferische Mensch gegenüber Abel, der zwar der Gegenwartsmensch ist, aber statt der Kraft, Neues hervorzubringen, nur die Fähigkeit entwickelt, das Alte zu pflegen und zu bewahren. Rudolf Steiner stellt einmal dar, daß in der Darbringung der Früchte des Feldes durch Kain eine wichtige Umstellung in der Ernährung des Menschen zum Ausdruck kommt: Zu der Milch als der alten Mondennahrung fügt sich hinzu die Ernährung durch die unter Sonnenwirkung stehenden oberen Teile und Früchte der Pflanzen. Das Sonnenmäßige tritt im Geistgebiet zurück, aber in der Gestaltung des äußeren Lebens bringt es einen neuen Einschlag hervor.< (17. Emil Bock: Urgeschichte. Das Alte Testament und die Geistesgeschichte der Menschheit. Urachhaus Stuttgart). (Anmerkung Kaesebier: Man bedenke, daß die Söhne Kains die verschiedensten Künste und Handwerke gebracht haben. Schaut man sich die Genealogie der Kainssöhne im Alten Testament an, so frägt sich, ob sie alle von Kain selber abstammen, und es stellt sich auch die Frage, was mit den anderen sechs Elohim bzw. mit den >Göttersöhnen< ist - AT6,1-4).

  Daß die Menschheitsführung mit Kain rechnet, geht daraus hervor, daß Jahwe dem Mörder Kains einen siebenmal schwereren Fluch androht als dem Mörder Abels. Kain wird mit dem Kainsmal gezeichnet: Es ist das Siegel der Erkenntnis, das Tao-Zeichen (T).

Kain wird unstet, er ist der erste heimatlose Mensch. Von ihm stammen die Techniker und Künstler ab, diejenigen, welche die Erze bearbeiten und die Erde abbauen: >Jubal, der erste der Lamech-Söhne aus dem Kainsgeschlecht, bringt der Menschheit die Kunst des Häuserbauens und der Tierzüchtung, der Viehzucht im eigentlichen Sinne des Wortes< (4.20). >Thubal-Kain ist der Meister >in allerlei Erz- und Eisenwerk< (4,22), und Jubal-Kain erschafft Instrumente, >von dem sind hergekommen die Geiger und Pfeifer< (4,21). Das Bedeutsame der Kains-Strömung ist, daß aus ihr die Mysterien hervorgegangen sind: >Kain erkannte sein Weib und wie wurde schwanger und gebar ihm einen Sohn Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch< (4,17).

Tao-Zeichen (aus >bewegte plastik.de<)

  Emil Bock weist darauf hin, daß Henoch soviel wie >der Eingeweihte< heißt und daß in diesem Namen das ägyptische Wort >anch< mitschwingt, die Hieroglyphe des Lebens, >die als Lebensschlüssel, als Siegel des jenseitigen Lebens, von den Strahlen der Sonne dargereicht, tausendfältig auf den altägyptischen Kunstwerken wiederkehrt.<

  Durch die Mysterien, die in der Stadt Henoch begründet werden, wird dem Tode seine Waffe entrissen und umgewandelt in das Organ der Erkenntnis. >Der Einweihungstod nimmt dem physischen Tode den Stachel, weil er ihm die Kraft der Auferstehung entringt.<

  Auf den Mysterien beruhte der Fortschritt der antiken Kulturen. Im dreitägigen Tempelschlaf, der den Mysten hart an die Grenze des Todes brachte, wird der Tod verwandelt zum Licht der Auferstehung. Was vor Christus nur einzelnen Auserwählten zuteil wurde, das sollte durch Christus allen Menschen, die sich im Glauben an den Erlöser mit ihm verbinden, erschlossen werden, damit der Menschheitstempel (Joh. 2,19) neu errichtet werden könnte. Dieser Tempel stand im Tempel Salomons als Urbild des menschlichen Leibestempels da. Zu seinem Bau vereinigten sich die beiden Strömungen, indem Salomo, ein Abelkind, den Plan entwarf, doch zu seiner Ausführung den phönizisichen Baumeister Hieram Abiff, das Kainskind, berief. Die Legende berichtet, wie durch die >drei üblen Gesellen<, die den Meistergrad nicht erhielten, ein Anschlag gegen Hieram verübt wurde, um ihn zu töten. Obwohl Salomo davon unterrichtet war, schwieg er aus Eifersucht, da Balkis, die Königin von Saba, die sich mit ihm verlobt hatte, ihre Hand Hieram geben wollte, den sie als den Zukunftsmenschen erkannte. In Balkis spiegelt sich die Menschheitsseele, die zwischen Vergangenheit und Zukunft schwankend steht, bis sie sich für Hieram, dem die Zukunft gehört, entscheidet. In anschaulicher Art findet man die Tempellegende in der Erzählung von Gérard de Nerval >Die Geschichte von der Königin aus dem Morgenland und Soliman, dem Fürsten der Genien< (Mellinger Stuttgart).

  Tiefe Weisheiten drücken sich in diesem Mythos aus: Die drei üblen Gesellen, wie sie Goethe im letzten Akt seines Fausts als die >die drei Gewaltigen< auftreten läßt, spiegeln die Hemmnisse der menschlichen Seele, die als Aberglaube, Zweifel und Illusion den Menschen verführen. Sie bewirken, daß der Guß des >Ehernen Meere< im Tempel mißlingt, welcher die Harmonisierung der Seelenkräfte verwirklichen soll. Als Feuer aus dem Guß heraufschlägt und alles flieht, tönt eine Stimme aus der Tiefe und fordert Hieram auf, sich in das Flammenmeer zu stürzen. Es ist Kain, sein Urahne, der im Mittelpunkt der Erde ist. Er überreicht Hieram das Zeichen der neuen Einweihung, die fortan durch die Kräfte der Erde errungen werden soll, den Hammer und das goldene Dreieck, das Symbol des höheren Menschen. Hieram will das Symbol noch retten, indem er es in einen Brunnen wirft, da niemand würdig ist, es zu empfangen, bevor er von den drei üblen Gesellen erschlagen wird. Seither muß das >verlorene Wort< gesucht werden, um den Schlüssel für die Mysterien wieder zu erlangen...

Dreieck - Symbol des höheren Menschen, auch der Harmonisierung von Denken, Fühlen und Wollen - Ehernes Meer

Diese Legende, die auf Christian Rosenkreuz zurückgeht, deutet an, wie die Mysterienströmung des Kain in das Verborgene untertauchen mußte, bis sie wieder ans Tageslicht emporsteigen konnte. Rudolf Steiner sagte, daß Christian Rosenkreuz im Besitz des >Goldenen Dreiecks< sei. Er inaugurierte die Mysterien für das Abendland, doch nun vom Kainsfluch entsühnt durch den Christusimpuls. Wir können diesen geheimnisvollen unterirdischen Strom, der durch die Geschichte geht, an einzelnen Stellen verfolgen, wenn wir ihn bei der Einweihung des Lazarus (Joh.11) wieder auftauchen sehen, den der Christus im Felsengrab von Bethanien erweckt und initiiert. Hier werden die alten Mysterien in den Christusstrom aufgenommen und geheiligt, um dann in der Morgenröte zur neueren Zeit die abendländische Initiation zu inaugurieren. Daher taucht heute im Anbruch der Ära des >Johanneischen Christentums< der Mysterienstrom in der modernen Initiations-Wissenschaft wieder neu aus der Verborgenheit hervor, um beide Strömungen, die Priester- und die Erkenntnisströmung, miteinander zu vereinigen.

  Wer die hier in kurz gedrängten Bildern wiedergegebene Tempellegende überdenkt, der wird zur Einsicht gelangen, wie die Kainssöhne, die Techniker und Künstler, die Könner (Kain heißt soviel wie >der Könner<), am tiefsten auf dem Individuationsweg hinabsteigen mußten, bis in die Kainsschlucht des Bösen, um aus der Tiefe die Kräfte der Erlösung zu holen. In diesen Symbolen sprechen sich die großen Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft aus, die nur erfüllt werden können, wenn die Kainssöhne den Geist nicht verleugnen und an die Materie verraten, sondern ihn in den Dienst zu ihrer Verwandlung und Erlösung stellten. Deshalb ist diese Legende der Kern des Rosenkreuzertums, das seine Aufgabe in der Umwandlung und Vergeistigung der Erde erblickt...

  Das Symbol des Rosenkreuzes, das auf den Begründer der Rosenkreuzströmung zurückgeht, vereinigt die Kainsströmung mit der des Abel, wenn beide sich brüderlich miteinander verbinden: Dann wird Abel aus seiner unerlösten Höhe herabsteigen, um sich mit den Todeskräften zu verbinden, und Kain, der Töter und Tötende, er wird in Christus die Kräfte der Auferstehung finden. So vereinigt das schwarze Kreuz, das Zeichen des Todes, mit den sieben roten Rosen der Auferstehung die Abel- und die Kainsströmung und kann zum Zeichen der Wiedergeburt für jeden Menschen werden, der den Rosenkreuzerweg in diesem Sinne beschreitet...

>Dreikönigsmotiv< von Rudolf Steiner bei: http://www.jungmedizinerforum.org : 

fff