Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

II

Die Auseinandersetzung mit Haeckel und Nietzsche

als den Repräsentanten des Zeitbewußtseins


   Im vorangehenden Kapitel haben wir die Vorgeschichte und die aus dieser für Rudolf Steiner sich als notwendig ergebenden Vorarbeiten für dasjenige geschildert, was dann durch ihn als Anthroposophie in die Welt getreten ist. Wir sahen, daß diese Vorgeschichte von zwei Seiten her gegeben war. Auf der einen Seite lag sie in der Entwicklung, welche das neuzeitliche Geistesleben in die Abgeschnürtheit von der geistigen Weltwirklichkeit, das heißt in den Materialismus hinein genommen hatte. Auf der anderen Seite in den übersinnlichen Seelenerfahrungen, durch die Rudolf Steiner diese geistige Weltwirklichkeit von Kind auf tatsächlich erlebte. Und aus dem Gegenüberstellen dessen, was er in der übersinnlichen Welt erlebte, mit dem, was er als die Bewußtseinsverfassung seiner Zeit wahrnahm, ergab sich ihm die Erkenntnis, daß die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins in der Richtung, in der sie in den letzten Jahrhunderten verlaufen, den Punkt erreicht habe, wo ihm die geistige Welt wieder eröffnet werden müsse, wenn nicht durch das Auseinanderklaffen der Welt ihres Bewußtseins und der Welt ihres Seins ein Niedergang der menschlichen Kultur einsetzen solle. Aber für die Verwirklichung dieser Aufgabe, die er zunächst als seine Lebensaufgabe betrachtete, schien ihm gerade aus den geschilderten Voraussetzungen heraus eine doppelte Vorarbeit notwendig: Einerseits mußte das moderne Menschenbewußtsein dafür aufgeschlossen werden, Offenbarungen aus der geistigen Welt aufzunehmen. Anderseits mußte der Offenbarungsstrom, der sich aus der geistigen Welt ergiessen wollte, in eine Form gefaßt werden, in der er in die physische Welt hereinfliessen konnte.


   Das Erstere: das Aufschliessen des modernen Bewußtseins für die geistige Welt, durfte nun aber nicht so geschehen, daß dieses dadurch von der Bahn seiner Entwicklung abgelenkt wurde, in der (S32) es nun einmal im Laufe der Menschheitsgeschichte fortschreitet. Im Gegenteil: Rudolf Steiner musste, was er ja als Tatsache erkannt hatte, diesem Bewußtsein auch zeigen: daß gerade diese Entwicklungsbahn selbst, so wie sie es einmal aus der geistigen Welt herausgeführt hat, es heute auf ihrem nächsten Wegstück wieder an die Schwelle der übersinnlichen Welt heranführe. Und zwar mußte er im Konkreten zeigen, wie und wodurch dies der Fall sei. Wir schilderten nun, wie er in seinen erkenntnis-theoretischen Schriften dargestellt hat, wie die Menschheit im Beginne der neueren Zeit zu einer gegenüber früheren Epochen höheren Bewußtheit erwacht sei und mit dieser zunächst die äußeren Naturtatsachen aufgefaßt habe. Wie sich aber im Verlaufe ihrer weiteren Entwicklung - das Auftreten der erkenntnis-theoretischen Fragestellung ist das Symptom dafür - das Bedürfnis geltend gemacht habe, das Licht dieser Bewußtheit nicht nur über die äußere Natur, sondern auch über ihre eigene erkennende Tätigkeit zu verbreiten. Denn es ist ein Gesetz der Menschheitsentwicklung, daß, wenn einmal ein bestimmter Grad der Bewußtheit auf einem Gebiete des menschlichen Erlebens erreicht ist, sich dann die Notwendigkeit einstellt, ihn auch für die übrigen Gebiete zu erringen, weil alles, was nicht im Lichte dieser Bewußtheit, das heißt also noch instinktiv verläuft, dann je länger, je mehr seine Kraft verliert. An dieser Stelle zeigt es sich nun aber, daß die Natur die menschliche Bewußtseinsentwicklung nur bis zu einer gewissen Höhe führt und daß ihren weiteren Fortschritt von da an der Mensch selbst mitbewirken muß. Denn um mit derselben Bewußtseinshelligkeit, mit der er die Natur beobachtet, auch seine eigene erkennende Seelentätikeit anzuschauen, muß er diese zuerst in ihrer Intensität verstärken, damit sie in den Bereich der inneren Wahrnehmung eintrete. Das bloße Denken muß da also übergehen in die Denkübung. Gelangt der Mensch dadurch aber zu einem inneren Anschauen seiner Denktätigkeit, so erlebt er diese als ein übersinnliches Geschehen, durch das er sich eingegliedert schaut einer Welt lebendigen, objektiven Gedankenwebens. Dies also war die Art, in der (S33) Rudolf Steiner zeigte, wie der moderne Mensch auf der Stufe seiner Bewußtseinsentwicklung, auf der ihn die erkenntnis-theoretischen Bemühungen der Gegenwart zeigen, sich der übersinnlichen Welt aufschließen muß, wenn er wirklich nur im Sinne ihres bisherigen Ganges den nächsten Schritt vorwärts machen will.


   Und die andere Vorarbeit: das Umgießen seiner übersinnlichen Erkenntnisse in Begriffsformen des gegenwärtigen Bewußtseins! Wir sahen, wie er in den von Goethe in seinen Naturforschungen geschaffenen Begriffen die Gedankenformen fand, in denen Tatbestände der geistigen Welt wissenschaftlich ausgesprochen werden können und die sich weiterbilden lassen zur Aufnahme noch viel umfassenderer Geisterlebnisse, als sie Goethe gehabt hat.


   Wäre nun Rudolf Steiner nach diesen Vorarbeiten des Erkenntnisweges in die höheren Gebiete der geistigen Welt hinauf und mit der Beschreibung dieser übersinnlichen Welt selbst - welche beiden Kapitel den wesentlichen Inhalt der "Anthroposophie" ausmachen - sogleich hervorgetreten, so wären bei der Geistesverfassung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert nun einmal vorhanden war, trotz dieser gediegenen Vorarbeiten doch in der Hauptsache noch zwei Mißverständnisse möglich gewesen. Und zwar nach den beiden bezeichneten Richtungen hin, in denen sich die Ausgestaltung der Anthroposophie bewegen mußte. Auf der einen Seite hätte der Erkenntnisweg in die übersinnlichen Welten, den es auszuarbeiten galt, von der modernen Menschheit abgelehnt werden können, weil sie ihn für eine Vergewaltigung ihrer sittlichen Freiheit und Selbstbestimmung hätte halten können. Auf der anderen Seite hätte das Mißverständnis entstehen können, daß dasjenige, was nun als Darstellung des übersinnlichen Weltinhaltes selbst zu geben war, nur ein Aufwärmen eines längst überwundenen primitiven Geisterglaubens oder alter mythologischer Phantasien, oder aber, gerade weil es in wissenschaftlich-begriffliche Form gefaßt werden mußte, ein bloß ausgedachtes Weltanschuungssystem sei. Um nun die Möglichkeit zur Entstehung dieser beiden Mißverständnisse von vornherein abzuschneiden, suchte (S34) Rudolf Steiner, bevor er mit der Anthroposophie selbst hervortrat, zuerst noch über diejenigen zwei Dinge volle Klarheit herzustellen, aus deren unklarem Empfinden die gekennzeichneten beiden Mißverständnisse hätten hervorgehen können. Das eine war die Frage: Was ist eigentlich das Wesen des Sittlichen, und in welcher Form muß es auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheitsentwicklung zur Darstellung und zur Wirksamkeit kommen? Und das andere die Frage: Was kann der moderne Mensch als gültige Erkenntnis anerkennen? Was verlangt er eigentlich, und was muß er ablehnen, wenn er auf der Höhe seiner Zeit stehen will?


   Diese beiden Grundfragen des menschlichen Seelenlebens beantwortete Rudolf Steiner zunächst selbständig in seinem philosophischen Hauptwerke "Die Philosophie der Freiheit" (1894) und dann in Anknüpfung an die Anschauungen zweier zeitgenössischer Persönlichkeiten, in denen er die Situation, in der sich die Menschheit am Ende des 19. Jahrhunderts in bezug auf Erkenntnis und in bezug auf Sittlichkeit tatsächlich befand, am reinsten und deutlichsten zum Ausdrucke gebracht sah und die er insofern voll bejahen mußte: Ernst Haeckel und Friedrich Nietzsche (Vgl. seine beiden Schriften "Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit" -1895- und "Haeckel und seine Gegner" -1899-, ferner auch seine Ernst Haeckel gewidmeten "Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert" -2 Bde 1900-). Die Auseinandersetzung mit diesen beiden Persönlichkeiten und mit den charakterisierten Grundfragen des menschlichen Seelenlebens bedeutete für ihn zugleich ein noch innigeres Zusammenwachsen mit den Lebenskräften und Entwicklungsforderungen unseres Zeitalters und gab ihm die Möglichkeit, noch enger an die Seelenbedürfnisse der Zeit anzuknüpfen und aus ihnen herauszugestalten die Darstellungsformen dessen, was er ihr als deren Erfüllung zu bringen sich berufen sah.


   Was nun zunächst das zweite der aufgeworfenen Probleme betrifft, so zeigte Rudolf Steiner, daß alles menschliche Erkennen aus den zwei Quellen: Wahrnehmen und Denken fliesse und daß nur dasjenige von dem modernen, erkenntnis-theoretisch gebildeten (S35) Menschen als gültige Erkenntnis anerkannt werden könne,  was durch den Zusammenfluß dieser beiden Quellen zustande gekommen sei. Jede der beiden Tätigkeiten ist notwendig, damit Erkenntnis entstehe; und doch kann keine von ihnen für sich allein Erkenntnis erzeugen. Auf der einen Seite muß alle Erkenntnis aus der Wahrnehmung oder Erfahrung hervorgehen; und doch ist bloße Erfahrung, sei sie nun sinnlicher oder übersinnlicher Natur, noch keine Erkenntnis. Denn die Erfahrung ist für jeden Menschen, entsprechend seinem Standort in der Welt, eine andere. Erst die Durchdringung derselben mit dem Denken, welches das für alle Menschen gleiche ist, erhebt ihren Inhalt zu allgemeiner Gültigkeit und Bedeutung. Auf der anderen Seite muß jede Erkenntnis im Denken wurzeln; aber auch das Denken könnte für sich allein ohne die Erfahrung keine Erkenntnis hervorbringen, weil das bloß Gedachte keine Realität hat. So entsteht Erkenntnis eigentlich dadurch, daß ein individueller Erfahrungsinhalt in der gemeinsamen Sprache des Denkens ausgesprochen wird.


   Dasjenige nun, was uns aus älteren Zeiten an Mythologien und Glaubensvorstellungen überliefert ist, wurzelt zwar in bestimmten - übersinnlichen - Erfahrungen der älteren Menschheit - Erfahrungen, die uns Heutigen, da wir an einer ganz anderen Stelle der Menschheitsentwicklung stehen, im großen und ganzen nicht mehr möglich sind. Aber es ist in der Form der bloßen Wahrnehmung stecken geblieben und nicht durch eine denkerische Verarbeitung hindurchgegangen, aus dem einfachen Grunde, weil in jenen Zeiten das wissenschaftliche Denken noch gar nicht entwickelt war. Eben deshalb aber können diese alten mythologischen und Glaubensvorstellungen für uns nicht den Wert von Erkenntnissen haben, und wir können sie weder im ganzen noch in einzelnen Stücken als solche hinnehmen. Nachträglich sie durch denkerische Bearbeitung zu strengen, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erheben, ist bei den mannigfaltigen Veränderungen und Verstümmelungen, die sie im Laufe der Zeiten erlitten haben, ebenfalls nicht mehr möglich. Dies dürfte nur derjenige tun, der dieselben (S36) Erfahrungen, aus denen diese mythologischen und Glaubensvorstellungen einstmals erflossen sind, heute ursprünglich wieder als eigene haben könnte. Nur äußerlich aber sie zu übernehmen, sei es als Erkenntnisse, sei es auch nur als Erfahrungsunterlagen zur Bildung von Erkenntnissen, muß der moderne Mensch durchaus ablehnen.


   Auf der anderen Seite sind dem modernen Menschen aus der Geschichte der Philosophie die verschiedenen spekulativen Gedankensysteme überliefert. Von diesen aber, und namentlich von den idealistischen Systemen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, zeigte nun Rudolf Steiner, daß bei ihnen die umgekehrte wissenschaftliche Unbrauchbarkeit vorliege wie bei den alten mythologischen und religiösen Vorstellungen: Sie sind aus dem bloßen Denken hervorgegangen und ermangeln des Elementes der Erfahrung. Spinoza zum Beispiel baute sein philosophisches System auf frei aufgestellten metaphysischen Definitionen und Grundsätzen nach der Art der geometrischen Erkenntnisentwicklung auf. Fichte wollte die ganze Welt aus der Selbstentfaltung des "Ichs" herausspinnen, und Hegel rühmte sich dessen sogar, daß seine ganze Philosophie, ohne ein außergedankliches Element zu Hilfe zu nehmen, lediglich aus der Selbstbewegung der Begriffe hervorgegangen sei. Aber auch diese Art der philosophischen Spekulation, so zeigte Rudolf Steiner, muß der moderne Mensch ablehnen, ebenso wie die alten Mythologien; beide sind, durch entgegengesetzte Mängel, ungeeignet, Erkenntnisse zu erzeugen, die wir moderne Menschen als für uns gültige anerkennen können.


   Diesen Weltanschauungserzeugnissen stellte er nun gegenüber als ein vorbildliches Beispiel für echte wissenschaftliche Erkenntnisbildung die naturwissenschaftliche Forschungsart Ernst Haeckels, soweit diese sich innerhalb des rein naturwissenschaftlichen Gebietes selbst hielt. Auf der einen Seite hat Haeckel  mit bewunderungswürdigem, kühnem Erkenntnismute zum erstenmal alle Vorstellungen aus der Naturforschung ausgetilgt, die bis dahin aus den alten Glaubenstraditionen noch immer von dieser übernommen (S37) wurden: Begriffe, wie die der Zweckmäßigkeit, der göttlichen Schöpfung des Menschen, des Sündenfalles usw. Er wollte nur das zu sich sprechen lassen und zur Grundlage seines wissenschaftlichen Denkens machen, was die Natur selbst der Beobachtung darbietet und durch ihre Tatsachen über Ursprung und Entwicklung der Lebewesen usw. aussagt. Auf der anderen Seite suchte er die Beobachtungstatsachen in energischer, großzügiger, philosophischer Weise mit Gedanken zu durchdringen; aber mit dieser Gedankenarbeit wollte er sich nicht, wie die idealistischen Philosophen, von den Tatsachen entfernen, sondern immer in Zusammenhang und Übereinstimmung mit ihnen bleiben. Das Denken sollte lediglich das Mittel sein, die Erscheinungen zu verbinden, zu ordnen und durch diese Ordnung sich selbst erklären zu lassen. Auf diese Art kam er zu den Anschauungen über Natur und Mensch, wie er sie in seiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" und vielen anderen seiner Schriften dargestellt hat.


   Als Vorbild in bezug auf wissenschaftliche Methode hat Steiner den Naturforscher Haeckel hingestellt. Damit war er keineswegs zum Haeckelianer geworden. Seine Meinung war vielmehr diese: In Haeckels Naturforschung ist eine Erkenntnisart aufgetreten, die rücksichtslos alle überkommenen Auffassungen, die sich dem heutigen Menschen aus dem Tatsachenmaterial heraus nicht mehr als richtig ergeben, aus sich auszumerzen und ausschließlich mit den Erkenntnismitteln: Beobachtung und Denken, wie sie uns heute zu Gebote stehen, zu einer Welterkenntnis zu gelangen sucht. Diese Art entspricht den Erkenntnisbedürfnissen der Gegenwart. Ihre Resultate stellen ungefähr das Weltbild dar, zu dem der moderne Mensch kommen muß, wenn er unter Verzicht auf jegliche Überlieferung nur die Erkenntniskräfte aufwendet, die ihm heute eigen sind. Daß diese Weltanschauung in dieser Reinheit aber auftreten konnte, ist ein Beweis dafür, daß die Überlieferungen im wesentlichen erstorben sind. Wer sich daher durch die Weltansicht, die aus der Haeckelschen Naturforschung folgt, nicht befriedigt fühlt und eine bessere an deren Stelle setzen will, der kann (S38) jedenfalls nicht hinter ihre Art der Erkenntnisbildung zurückgehen, sondern muß, wenn seine Weltanschauung für die moderne Menschheit soll lebendig werden können, diese aus einer Weiterentwicklung der gegenwärtigen Erkenntniskräfte herausarbeiten. Und ein solches Über-sie-hinausgehen liegt ja durchaus im Sinne der Haeckelschen Naturbetrachtung; denn in ihrem Mittelpunkt steht ja der Entwicklungsgedanke. Für Haeckel sind die Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis nicht, wie für Kant, ein für allemal festgesetzt, sondern, wie der ganze Mensch selbst, so ist auch seine Erkenntnisfähigkeit in stetiger Entwicklung begriffen. Von Erkenntnisgrenzen zu sprechen, hat daher auf Grund der Haeckelschen Naturanschauung keinen Sinn. Im Gegenteil: sie fordert, gerade wenn sie angenommen wird, daß sie durch eine weitere Entwicklung über sich selbst hinausgeführt werde. Denn so, wie die Kräfte der Welt aus unbestimmten Organen allmählich die heutigen menschlichen Sinne herausgebildet haben, so können sie aus der menschlichen Organisation auch noch höhere "Sinne" herausbilden. Und wie das Denken von früheren unvollkommeneren Formen sich zu seiner heutigen Höhe entwickelt hat, so ist kein Grund dafür vorhanden, daß es sich nicht noch zu höheren Fähigkeiten weiterentwickeln könne. Rudolf Steiner fand also, wie man sieht, in den naturwissenschaftlichen Anschauungen Haeckels nicht nur etwas, was er in bezug auf seine Methode als zeitgemäß anerkennen und bejahen mußte, sondern auch etwas, das ihm in seiner zentralen Idee: dem Entwicklungsgedanken, zu den im vorigen Kapitel genannten Goetheschen Begriffen eine weitere wichtige Begriffsform hinzulieferte, in der er in einer dem Zeitalter verständlichen Art darstellen konnte, was er ihm als Weg zu einer höheren Welterkenntnis zu zeigen hatte. Und so hat er wichtige Erkenntnisse der übersinnlichen Forschung später an Hand des modernen Entwicklungsgedankens zur Darstellung gebracht (Vgl. z.B. seine Schrift "Reinkarnation und Karma. Vom Standpunkt der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen").


   Indem er sich nun so rückhaltlos auf den Boden der Gegenwart (S39) stellte und sich zu ihren Erkenntnisforderungen bekannte, indem er einseitige philosophische Spekulation, wie das Übernehmen alter Glaubensvorstellungen in die wissenschaftliche Begriffsbildung gleichermaßen als ungeeignet für das Zustandekommen echter Erkenntnis nachwies, glaubte er sich vor dem Mißverständnis geschützt, als wolle er, wenn er nun mit Darstellungen der übersinnlichen Welt hervortrat, einen alten Geisterglauben erneuern oder aber die Welt mit einem neuen spekulativen Gedankensystem beglücken.


   Und die andere Frage: nach dem Wesen des Sittlichen und der Form, in der dieses auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheitsentwicklung sich darstellen und darleben muß! Ihre Beantwortung ergab sich für Rudolf Steiner als die Konsequenz dessen, was sich ihm als die gegenwärtige Lage der Menschheit in bezug auf die Erkenntnis dargestellt hatte. In früheren Zeiten empfand der Mensch durch jene Erfahrungen, denen die mythologischen und religiösen Weltbilder entstammen, die sittlichen Impulse als in seine Seele hereintönende Gebote der Götter. Die Frage nach dem Wesen des Sittlichen hätte damals für ihn keinen Sinn gehabt, da er unmittelbar erlebte, was es war und woher es erfloß. Auch in späteren Zeiten, da die unmittelbare Verbindung der Menschenseele mit der geistigen Welt verlorengegangen war und nur noch eine mittelbare sich erhalten hatte in den religiösen Traditionen und Institutionen, war das Sittliche für den Menschen noch kein Problem. Da floß es aus von denjenigen, die als die Übermittler des göttlichen Willens an das Erdenleben angesehen und daher als moralische Autoritäten anerkannt wurden. Als aber in der neueren Zeit auch die Lebenskraft dieser alten Traditionen und Institutionen versiegte und der Mensch gar nichts mehr wußte von der Existenz einer geistig-göttlichen Welt, in der er früher unmittelbar und später wenigstens noch mittelbar de Ursprung des Sittlichen geschaut hatte, da begannen dessen Wesen und Quellen für ihn fragwürdig zu werden. Wir haben im vorangehenden Kapitel geschildert, wie man es jetzt als Produkt des Überkommens der (S40) Menschen untereinander oder aber als ein Gebot der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit zu erklären und zu begründen suchte. Man konnte es freilich auch anders erklären: man konnte, wie zum Beispiel Nietzsche, auf diejenigen hinschauen, die sich als die Verkündiger der moralischen Gebote in der menschlichen Gesellschaft aufspielen und man konnte, wenn man die Machtstellung sah, die sie sich dadurch seit alters über die Gemüter der Menschen verschafft und bewahrt haben, den Verdacht schöpfen, die sittlichen Gebote seien nur als Mittel zu erklären, durch die sich herrschende Klassen von jeher ihre Herrschaft über Unterdrückte zu begründen und zu verewigen suchen. Sie seien daher immer so gestaltet, wie es für diejenigen am vorteilhaftesten sei, die sie ausgeben. Und hinter allem Sittlichen stehe als sein wahrer Ursprung der Wille zur Macht derjenigen, von denen es jeweils ausgeht. Es war nun kein Wunder, daß diese Interpretation, da sie ja hervorgegangen war aus dem Nichtwissen von der Existenz einer geistigen Welt, einerseits auch hineingedeutet wurde in die früheren Zeiten der Menschheit, wo sie die teilweise Richtigkeit, die sie für die Gegenwart zweifellos hatte, natürlich gänzlich verlor. Und daß anderseits die Konsequenz aus ihr gezogen wurde, es müsse das "Sittliche", nachdem es solange seine Wirkung gehabt in einer Maskierung, die seinen wahren Zweck verhüllte, jetzt aber in seinem wahren Wesen erkannt werden, was es in Wirklichkeit sei: Wille zur Macht, zur Erhöhung des eigenen Lebens. Rückhaltloses Jasagen zu seinem Dasein und rücksichtsloses Auswirken seines Lebens- und Entwicklungswillens sei dem Menschen als das oberste "sittliche" Gebot zu verkünden.


   Zwar nannte Nietzsche dieses, was so nach seiner Meinung an die Stelle der bisherigen "Moral" treten sollte, nicht mehr "moralische", sondern "immoralische" Maximen, da er unter "Moral" nur die bisherige Gestalt derselben verstand (wie er ja auch mit "Christentum" immer nur eine bestimmte historische Gestalt desselben meinte). Worauf es aber ankommt, sind nicht die Worte, sondern dieses, daß durch die Nietzschesche Anschauung der einzelne (S41) Mensch selbst zum Schöpfer seiner "moralischen" oder wenn man will: "immoralischen", d.h. derjenigen Ideale gemacht wurde, die an die Stelle der bisherigen moralischen Gebote treten sollten. Denn, welche Richtlinien sich für sein Verhalten im Konkreten aus jener neuen Grundmaxime ergeben, das ist für jeden einzelnen, je nach dem Standort, an dem er in der Welt steht, verschieden, und das kann jeder nur für sich selbst beurteilen. Und so könnte man denn sagen: dasjenige, was an die Stelle des früheren "Moralisch-sein" treten soll, heißt im Sinne Nietzsches soviel wie: in allen Lebenslagen die Entwicklung seines eigenen Ichs zur Richtschnur seines Verhaltens machen, in allen Dingen sich selbst treu sein.


   In diesen Anschauungen sah nun Rudolf Steiner etwas, worin, wie immer man sich zu ihnen stellen mochte, doch dasjenige Verhältnis zum Sittlichen zur Offenbarung kam, das für den Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Tatsache geworden war. Dieses Verhältnis zum Sittlichen aber muß als sittliche Freiheit bezeichnet werden. Denn indem der moderne Mensch sowohl die unmittelbare innere als auch die durch äußere Institutionen vermittelte Verbindung mit der geistigen Welt verloren hat, aus der er früher immer in letzter Instanz seine sittlichen Impulse empfangen, können ihm diese nun von nichts Äußerem mehr zufließen, und es bleibt ihm daher nichts anderes übrig, als aus seinem eigenen Wesen heraus sich seine sittlichen Lebensrichtlinien zu geben. Er ist in der Tat selbst zum Schöpfer seiner sittlichen Ideale, das heißt eben sittlich frei geworden, und er kann sich sogar nur insoweit ls sittlich empfinden, als er die Richtlinien für sein Handeln immer wieder aus seinem individuellen Wesen heraus ursprünglich hervorbringt.


   Insofern sie dieses Tatsächliche zum Ausdruck brachten, mußte Rudolf Steiner die Nietzscheschen Anschauungen bejahen, und er sagte sich, daß man auch auf sittlichem Gebiete nicht mehr hinter das nun einmal zur Realität Gewordene zurückgehen, sondern lediglich eine positive Weiterbildung desselben anstreben könne, wenn man für die sittliche Entwicklung der Menschheit (S43) etwas wirken wolle, was von ihr mit ihren gegenwärtigen Kräften soll als ein wirklich Lebendiges ergriffen werden können. Und solche Weiterbildung schien ihm nun in der Tat die moderne Weltanschauung auch nach dieser Seite, nach welcher sie durch Nietzsche in besonderer Weise ausgestaltet worden war, aus sich selbst heraus dringend zu fordern. Denn in der Gestalt, wie sie Nietzsche für das Sittliche formuliert hatte, war sie zunächst hart an den Rand eines gefährlichen Abgrundes herangekommen. Und an diesem konnte sie nur vorbeigeführt werden, wenn zu einer genaueren Bestimmung fortgebildet wurde, was in Nietzsches Formulierung in Unbestimmtheit steckengeblieben war. "Sittlich" ist für Nietzsche der Mensch insoweit, als er aus seinem eigenen Wesen heraus lebt. Worin aber erfassen wir unser eigenes Wesen? fragte nun Steiner. Wenn unsere Instinkte, Triebe, Leidenschaften, kurz: unsre Natur spricht, ist das unser eigenes Wesen, oder ist es nicht vielmehr etwas diesem Fremdes, Äußerliches, vielleicht sogar Feindliches? Wo aber ergreifen wir dann wirklich uns selbst? Steiner antwortete: Zunächst einzig und allein in unsrer denkend-erkennenden Tätigkeit. Wir schilderten ja im vorangehenden Kapitel, wie er gezeigt hatte, daß diese uns aus eben diesem Grunde nicht anschaulich bewußt wird, weil wir mit unserm Selbst ganz in ihr leben. Was heißt demnach nun also, aus sich selbst heraus handeln? Steiner mußte darauf antworten: Diese denkend-erkennende Tätigkeit nicht nur Quelle unsres Erkennens sein zu lassen, sondern auch zur Quelle unsres Handelns zu machen. Dies ist nun aber, so einfach es klingt, doch nur unter der Voraussetzung möglich, daß unser Denken nicht dabei stehen bleibt, nur solche Begriffe zu erfassen, die in äußeren Naturgestaltungen realisiert sind, sondern sich bis zur Erfassung solcher Ideen erhebt, die nur durch menschliches Handeln zur sinnlichen Darstellung kommen können, - Ideen also, deren Inhalte Impulse für das menschliche Handeln bilden. Oder wir können es auch umgekehrt so ausdrücken: es ist nur dadurch möglich, daß Impulse des menschlichen Handelns in Ideenform erfaßt werden können. Dies wiederum - so (S43) zeigte nun Rudolf Steiner - vermag aber nur derjenige, dessen Denken sich frei vom Gängelbande sinnlicher Erscheinungen in der rein ideellen Welt bewegen kann. Denn da die sittlichen Ideen ja erst realisiert werden müssen, zunächst also noch kein Korrelat in der Sinneswelt haben, können sie nur auf eine völlig sinnlichkeitsfreie, rein ideelle Weise erfaßt werden. Nur der, der in solcher Art sein Handeln aus in Ideenform erfaßten Impulsen heraus gestalten kann, macht, was aus dem Gange der Menschheitsentwicklung heraus für den modernen Menschen eigentlich erst als ein Postulat erwachsen ist: die sittliche Freiheit, voll zur Wirklichkeit. Denn dadurch, daß sie in Ideengestalt ergriffen werden, verlieren die Impulse des menschlichen Handelns alles Zwingende. Denn Ideen zwingen nicht. Was zu ihrer Ausführung veranlaßt, ist lediglich die sittliche Liebe zu ihrer Verwirklichung. Die Antriebe zu dieser letzteren müssen da also ganz aus der menschlichen Individalität herauskommen.


   Durch diese Kennzeichnung des freien sittlichen Handelns war nun einerseits die gefährliche Klippe, an der durch ihre Nietzschesche Formulierung die Sittlichkeit zu zerschellen drohte: die Gefahr der Auflösung alles Bande menschlicher Gemeinschaft und des Krieges aller gegen alle, umschifft und der Entwicklung des Sittlichen eine ganz neue Wendung gegeben. Ohne daß das geringste Stück von der Freiheit aufgegeben wurde, die sich die Menschheit in Nietzsche für das sittliche Leben errungen hatte, war dieses doch wieder in eine objektive, gemeinsam gültige Sphäre hinaufgehoben. Denn die Welt der Ideen ist, wenn auch ein jeder von einer andern Stelle aus in sie  eindringt, doch eine identische für alle. Daher wird sich in den Handlungen der Menschen, die aus der Ideenwelt fließen, eine vollkommene Harmonie ergeben. Zugleich war dadurch aber auch ein Weg gewiesen, auf dem das, was von Nietzsche im Grunde doch nur als eine leere Forderung hingestellt worden war, wirklich erfüllt werden könne. Denn wenn aus sich selbst heraus handeln, so viel ist, wie aus in Ideengestalt ergriffenen Impulsen heraus handeln, dann werden wir diesem Ziele dadurch immer näher (S44) kommen können, daß wir unsre Erkenntniskraft so verstärken und erweitern, daß sie uns auf immer weiteren Lebensgebieten und in immer schwierigeren Lebenlagen Ideen für unser Tun und Verhalten liefern kann. Eine neue Quelle sittlicher Produktivität war also zugleich erschlossen, und zwar in der Erweiterung und Verstärkung des menschlichen Erkenntnisvermögens. So allein aber - zeigte Steiner in seiner "Philosophie der Freiheit" - könne und dürfe im Zeitalter der sittlichen Freiheit Moralität begründet werden. An den modernen Menschen können moralische Impulse nicht mehr unmittelbar von außen herangebracht werden. Sie können lediglich in seinem Innern dadurch zur Entzündung gebracht werden, daß seine Erkenntnis aufsteigend von der Durchdringung der Sinnenwelt so weit in die Ideenwelt hinaufgeführt wird, bis sie in dieser auf Ideen stößt, die noch gar keinen Bezug zur sinnlichen Welt haben, sondern einen solchen erst dadurch gewinnen können, daß sie durch den Menschen zur sinnlichen Darstellung gebracht werden. Die Fähigkeit aber, sie in die sinnliche Welt herunterzutragen, nannte Rudolf Steiner die moralische Phantasie. Sie ist die eigentliche Quelle der sittlichen Produktivität im Zeitalter der moralischen Freiheit. So konnte Rudolf Steiner in seinem Buche "Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit", sein Verhältnis zu dessen Anschauungen mit den Worten bezeichnen: "Erst derjenige Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern für das Handeln zu schaffen, in meiner 'Philosophie der Freiheit' die 'moralische Phantasie' genannt. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muß notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber anderseits ist es auch eine unbedingte Notwendigkeit, daß dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der 'dionysische' Mensch kein Knecht des 'Herkommens' oder des 'jenseitigen Willens', aber er ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte."


(S45)   Damit war von Rudolf Steiner auch von der moralischen Seite her auf die Notwendigkeit einer Erweiterung der menschlichen Erkenntnis hingedeutet, wie er sie dann in seiner Anthroposophie gebracht hat. Diese war eine Forderung, die sich nicht nur aus der Erkenntnisentwicklung selbst heraus, sondern auch für die Entwicklung des sittlichen Lebens ergab, bei dem Charakter, den dieses in der neueren Zeit angenommen hat.


   Auf der anderen Seite sollte damit die Grundlage geschaffen sein zu einem richtigen Verständnis des Erkenntnisweges, wie ihn Rudolf Steiner nun in die geistigen Welten hinaus dazustellen hatte. Dieser Erkenntnisweg - wir werden das im nächsten Kapitel zu zeigen haben - entspricht durchaus den sittlichen Forderungen unseres Zeitalters. Erkenntnisse über die Welt, den Menschen und seine Entwicklung werden da zunächst vor den Schüler hingestellt. Es wird gezeigt, durch welche Kräfte und Einwirkungen die menschliche Organisation sich zu ihrer gegenwärtigen Gestalt entwickelt hat, und hieraus verständlich gemacht, wie sie sich zu höheren Stufen der Vollkommenheit erheben kann. Das alles in einer Form, die sich nur an sein vollbewußtes denkendes Begreifen wendet. Da ist nicht, was als ein "du sollst" an ihn heranträte, aber auch nichts, was ihn ohne sein Bewußtsein und ohne seinen Willen suggestiv in eine bestimmte Bahn hineinziehen könnte. Will er dann in eine innere Schulung seiner Seele eintreten, so kann er dies nur aus seinem eigenen freien Willensentschluß heraus tun. Und die spezielleren Übungen, die er zu diesem Zwecke angegeben findet, sind so gehalten, daß er ihre Gestaltung in allen ihren Teilen, ihren Zweck und ihre Wirkung vollkommen überschauen kann. Er bleibt dadurch während der ganzen Schulung in seinem Willen vollkommen frei und verhält sich zu seinem "Lehrer" nicht anders, als man sich zu einem Mathematiklehrer verhält, der einem die Lehren der Mathematik darstellt und die Wege zeigt zur Aneignung ihrer Erkenntnisse.


   Nachdem nun durch diese Vorarbeiten die Fundamente nach allen Seiten aus dem Boden des Zeitalters herausgearbeitet waren, (S46) auf denen Anthroposophie aufgebaut werden sollte, und alles hinweggeräumt war, was zu Mißverständnissen über ihr Wollen hätte Anlaß geben können, hielt Rudolf Steiner den Zeitpunkt für gekommen, mit ihrer Darstellung zu beginnen. Es war mittlerweile die Jahrhundertwende herangekommen, und er hatte die Empfindung, daß mit ihr zum Abschluß gekommen sei die Zeit, in der die moderne Naturwissenschaft durch ihre eigene Entwicklung die geistige Entwicklung der Menschheit hat vorwärtstragen können. Er glaubte, daß mit dem neuen Jahrhundert ein neues geistiges Licht für die Menschheit aufgehen müsse, das ihr aber nur eine als objektive Fortsetzung der Naturwissenschaft auftretende Geisteswissenschaft bringen könne. Wie sich nun der erste Eintritt dieser Geisteswissenschaft in die moderne Kultur schicksalsmäßig gestaltete, werden wir im nächsten Kapitel darstellen.